Kommunikative Aneignung von fiktionalen Filmen während Open-Air-Kino Vorführungen

Eine Diskursanalyse


Magisterarbeit, 2008

106 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG
1.1. Vorgehensweise und Ziel der Arbeit
1.2. Das Open-Air-Kino
1.2.1. Mobilität
1.2.2. Distribution
1.2.3. Öffentlichkeit
1.2.4. Dispositive der Wahrnehmung
1.3. Filmgeschichte Wanderkino
1.3.1. Die Frühphase des Wanderkinos in Europa
1.3.2. Das deutsche Wanderkino nach
1.4. Die Kinosituation in Göttingen
1.5. Arbeitsdefinition Open-Air-Kino

2. DIE ANEIGNUNG DER CULTURAL STUDIES
2.1. Das Encoding-Decoding Modell
2.1.1. Das Filmprogramm als Diskurs
2.1.2. Die Aneignung des visuellen Zeichens
2.1.3. Kultur als Bedeutungszuweisung
2.2. Fernsehaneignung
2.2.1. Kinoaneignung als Vermittlungsprozess
2.3. Der filmische Diskurs
2.3.1. Die filmischen Codes
2.3.2. Kommunikative Aneignung
2.3.3. Die populäre Ökonomie
2.4. Das Konzept der Artikulation
2.5. Kontexte des Filmkonsums
2.6. Fragestellung und Bereiche der Analyse

3 METHODEN
3.1. Teilnehmende Beobachtung
3.2. Filmanalyse
3.3. Programmanalyse
3.4. Kulturgeographie
3.5. Visuelle Anthropologie und Photointerview

4. DAS SOMMERKINO GRONE
4.1. Der Stadtteil Grone- Diskurs des Lebensraumes
4.2. Die Filmfreunde Grone
4.2.1. Der Programmdiskurs
4.2.2. Genres, Produktionsländer, Themen
4.2.3. Genres, Produktionsländer, Themen 2003 bis
4.3. Der Aneignungsdiskurs
4.3.1. Die Vorführung des Filmes Grüne Tomaten
4.3.1.1. Der Inhalt des Filmes
4.3.1.2. Der Aneignungsdiskurs von Grüne Tomaten
4.3.1.3. Der Gender-Diskurs
4.3.1.4. Der Ehegewalt- Diskurs
4.3.1.5. Der Alters- Diskurs
4.3.1.6. Der Freiheits- Diskurs
4.3.1.7. Der Wohlstands- Diskurs
4.3.1.8. Der Rassismus- Diskurs
4.3.2.Die Vorführung des Filmes 8Mile
4.3.2.1. Der Inhalt des Filmes
4.3.2.2. Der Aneignungsdiskurs von 8Mile
4.3.2.3. Der Rassismus- Diskurs
4.3.2.4. Der Familien- Diskurs
4.3.2.5. Der Sport- Diskurs
4.3.2.6. Der Sex- Diskurs
4.3.2.7. Der Verantwortungs- Diskurs
4.3.2.8. Der Beziehungs- Diskurs
4.3.2.9. Familie, Sex und Rassismus
4.3.3. Der Hassan- Exkurs
4.4. Rezeptionskulturelle Unterschiede
4.5. Die Dekonstruktion des Sommerkinos

5. ZUSAMMENFASSUNG UND BEANTWORTUNG DER FRAGESTELLUNG

6 SCHLUSSBETRACHTUNG

LITERATURVERZEICHNIS

VERWENDETE ZEITUNGSARTIKEL

ELEKTRONISCHE QUELLEN

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

TABELLENVERZEICHNIS

FOTOVERZEICHNIS

1. Einleitung

Das Begehren sagt: >> Ich möchte nicht in jene gefährliche Ordnung des Diskurses eintreten müssen; ich möchte nichts zu tun haben mit dem, was es Einschneidendes und Entscheidendes in ihm gibt; ich möchte, dass er um mich herum eine ruhige, tiefe und unendlich offene Transparenz bilde, in der die anderen meinem Erwarten antworten und aus der die Wahrheiten eine nach der anderen hervorgehen; ich möchte nur in ihm und von ihm wie ein glückliches Findelkind getragen werden.<< Und die Institution antwortet: >> Du brauchst vor dem Anfangen keine Angst zu haben; wir alle sind da, um Dir zu zeigen, dass der Diskurs in der Ordnung der Gesetze steht; dass man seit jeher über seinem Auftreten wacht; dass ihm ein Platz bereitet ist, der ihn ehrt, aber entwaffnet; und dass seine Macht falls er welche hat, von uns und nur von uns stammt.<< (Foucault 1972/2003: 10)

In diesem Zitat, in dem Michel Foucault auf die Ordnung der Diskurse verweist, stehen sich das Begehren und die Institution gegenüber. Sowohl das Begehren, als auch die Institution stehen in einem Bezug zum Diskurs, einmal in Form eines Wunsches, auf der anderen Seite in Form einer Überzeugung. Beide Seiten stehen auch in einer Beziehung zur Macht, einmal unterwürfig, einmal kontrolliert. Diesem Zitat zufolge gäbe es keine Eindeutigkeit im Umgang mit dem Diskurs. Dieser Diskurs über den Diskurs offenbart genau betrachtet die unterschiedlichsten Perspektiven und Zugänge zu jeglichem Diskurs und sogar die Verweigerung desselben. Während meiner teilnehmenden Beobachtungen bei Open-Air Kinoveranstaltungen für diese Magisterarbeit begegnete mir wenig Eindeutiges, eher ein Dirkursgewimmel, das weder überzeugend kontrollierbar, noch durch unterwürfiges Wünschen beherrschbar erschien. Dieses Diskursgewimmel zu entflechten ist mein Problem und meine Aufgabe in dieser Arbeit, zugleich.

1.1. Vorgehensweise und Ziel der Arbeit

Das Thema der Arbeit, Kommunikative Aneignung von fiktionalen Filmen während Open-Air-Kino Veranstaltungen, eröffnet den Raum meiner Untersuchung. Das Open-Air-Kino ist eine Veranstaltung am Rande der kulturellen Texte und der medienwissenschaftlichen Texte. Obwohl rund 157 Open-Air Kinos in der gesamten Bundesrepublik jedes Jahr im Sommer ab Mai den Betrieb aufnehmen (www.open-airkinos.de:18.04.2008), und Event-Firmen wie Cinevent (vergl. www.cinevent.net:18.04.2008) sich seit 1992 der Vermarktung solcher Kinoereignisse widmet, gibt es in der medienwissenschaftlichen Literatur keine aktuellen Arbeiten zu diesem Thema. Im filmhistorischen Diskurs dagegen findet sich eine Formulierungen der Sendung, das Wanderkino, welche sich mit den heutigen diskursiven Praxen der Open-Air Kinos in Bezug setzten lässt und dem standardisierten Blick auf Film und Fernsehen die Scheuklappen nimmt und Seitenblicke auf Distribution und Rezeption zulässt. Der historische Abriss über das Wanderkino oder englisch travelling exhibition im zweiten Kapitel wird aufzeigen, dass seit Erfindung der bewegten Bilder 1895, im Sinne des englischen Begriffs moving pictures, Film in Europa ein mobiles internationales Medium war, das als Teil soziokultureller Aktivität angenommen wurde. Entgegen der Wahrnehmung des Kinos der Frühphase als Kino der Attraktionen, war es schon zu dieser Zeit ein Vermittlungsinstrument dominanter Ideologien. Gerade die Geschichte des Wanderkinos macht deutlich, dass filmische Unterhaltung nie ideologiefrei gewesen ist.

Innerhalb der Medien- und Kommunikationswissenschaft als Sozialwissenschaft fanden einige der ergiebigsten Rezeptionsstudien, die die Frage stellten, was Menschen mit den Medien machen, innerhalb des Projektes der Cultural Studies1 statt. Seit Stuart Halls Ausweitung der Cultural Studies auf die filmische Medienanalyse durch das Encoding/Decoding- Modell wurde der Aneignungsbegriff als transkulturelles Forschungsprojekt differenziert und variiert, was im dritten Kapitel der Arbeit ausgearbeitet wird.

Die systematische Erfassung von Alltagsdiskursen in einem öffentlichen Raum und ihre ethischen Probleme müssen diskutiert werden, da die Aneignungsstudien der CS überwiegend die Fernsehrezeptionssituation im privaten, häuslichen Kontext betrachtet haben. Der Kommunikationsprozess soll als diskursive Praxis innerhalb des Rahmens der Vorführung betrachtet werden. Dieser Kommunikationsprozess beinhaltet die Distribution auf lokaler Ebene und die Aneignung des filmischen Dikurses durch verschiedene Publika. Am Beispiel des Göttinger Sommerkinos Grone 2007 im vierten Kapitel wird untersucht, welche Diskurse für die vorführenden und aneignenden Subjekte relevant sind.

Das Ziel der Arbeit ist es, anhand der aktuellen Rekultivierung des Wanderkinos als Distributionsform Open-Air- Kino die möglichen Artikulationen und die relevanten Diskurse sichtbar zu machen.

1.2. Das Open-Air-Kino

Im Sommer ist ein Weg aus der gegenwärtigen Kinokrise der Gang zu Kino-Veranstaltungen unter freiem Himmel. Laut Statistik der Filmförderungsanstalt besuchten im Jahr 2007 8.2% weniger Besucher deutsche Kinos als im Jahr 2006. 11 Spielstätten wurden im gesamten Bundesgebiet geschlossen (vergl. www.ffa.de/: 22.04.2008). Obwohl beim Open-Air-Kino2 in der Mehrheit keine aktuellen3 Kinofilme gezeigt werden, erwartet

Cinevent für das Jahr 2008 2 Millionen Besucher (vergl. www.cinevent.net:18.04.2008). Die Dunkelziffer ist hoch, da hier nur kommerzielle Veranstaltungen berücksichtigt sind. Sind diese Veranstaltungen eventuell sogar mit ein Grund für die rückgängigen Zahlen im Kinosektor? Die Präferenzen der in Deutschland ansässigen Kinogänger liegen vielleicht dort, wo sie von den Hollywoodtreuen Betreibern der ortsfesten Kinos nicht vermutet werden. Insofern wäre dies ein kultureller Wandel, der von der Kinoindustrie nicht erkannt und in deren finanzielle Ökonomie integriert wurde.

1.2.1. Mobilität

Den Zuschauer des OAK erwartet vor allem ein anderer Kontext der Vorführung. Die Veranstaltungssorte sind Museen, Freibäder, Stadtparks, Burgen und Schlösser. Das filmische Angebot besteht aus amerikanischen Blockbustern, europäischer Filkunst und Filmen im Originalton mit deutschen Untertiteln (vergl. www.openairkinos.de :11.09.2007). Die Vermarktung beinhaltet Sponsoring und Gastronomie und der Eintritt ist im Schnitt 15% günstiger als in ortsfesten Kinos. Wo kann eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Open-Air Kino ansetzen: Ökonomie, Medienkultur, Vorführtechnik oder Vorführorte? Besonders die Vorführtechnik und die Vorführorte machen auf ein Merkmal aufmerksam, dass die Differenz zu den ortsfesten Kinos darstellt. Um wechselnde Orte periodisch bespielen zu können, ist vor allem ein mobiles Projektionsgerät notwendig. Die verbraucherfreundliche Entwicklung des Beamers, die es möglich macht, handelsübliche digitale Medien zu projizieren, stellt hier die technische Voraussetzung für die Mobilität dar.

Ein kleiner Vorgriff auf den historischen Teil der Arbeit: Die Differenz zu den ortsfesten Kinos verweist auf die Frühgeschichte des Films. In Berlin gab es ab 1905 16 ständige Kinos, ein Wachstumsbranche, die bis 1913 zu 206 Kinos mit 49 695 Plätzen führte (vergl. W. Jacobsen 1993 In: Jacobsen et.al. 1993: 20). Als kommerziell verwertbare kulturelle Innovation brauchte der Film die Masse an Zuschauern, die ihm die Reichshauptstadt Berlin bieten konnte. Daraus ergibt sich einmal die Frage nach der Zeit von der Erfindung des Films 1895 bis zur Installation der ortsfesten Kinos 1905 und die Frage nach der Bespielung der ländlichen Peripherie. In Deutschland erfand Guido Seeber den Reise-Kino-Vorführungsapparat, mit dem er zuerst in Chemnitz Schützenumzüge filmte und danach auf Reisen ging (vergl. Jacobsen 1993 In:Jacobsen et.al. 1993: 25). Der Film der Frühphase europäischer Prägung zeichnete sich durch Mobilität aus. Im

Konkurrenzgeschehen der Industrialisierung des Filmes dominierten seit 1895 die Gebrüder Lumière. Aufgrund des geringen Gewichtes des Cinématographen im Vergleich zum Kinetographen von Thomas Edison, der Möglichkeit als Aufnahmegerät, Dunkelkammer und Vorführgerät verwendet zu werden und der Unabhängigkeit von einer Stromversorgung, war dieses Gerät transportabler und vielseitiger (vergl. Pearson in: Nowell-Smith 1998:14). Die Bewegung der Bilder fand also nicht nur durch die Projektion auf die Leinwand statt. Die Mobilität des Vorführapparates gehören somit zu den Charakteristiken des Wanderkinos und des aktuellen OAK.

Die Wahl des Projektors, die Wahl der Vorführstätte und die Wahl des Programms obliegen heute mitunter sogar gänzlich der Freiheit des Zuschauers. Das Linzer Wanderkino Steininger z.B. bietet die Vorführung eines beliebigen Filmes an einem beliebigen Ort und sogar die Wahl des Formates, zwischen 35mm, 16mm oder Video und DVD an. Der Verleih von Projektor, Leinwand und Tonanlage ist zusätzlich möglich ( www.wanderkino-steininger.at/ :21.04.2008).

1.2.2. Distribution

Für die öffentliche Vorführung von Filmen außerhalb der Kinoverwertung ist heute zur Wahrung der Urherberrechte nach §15 Abs. 3UrhG kein Filmverleih mehr nötig(vergl. www.urheberrecht.org: 22.04.2008). Die Videma bietet Vorführlizenzen für ca. 6000 Filmtitel an, für deren Vorführung eine handelsübliche DVD verwendet werden kann (vergl.www.videma.de:22.04.2008). Für das OAK bedeutet dies, als weiteres Charakteristikum eine relative Unabhängigkeit von der aktuellen Filmproduktion und des Vertriebes, also auch eine Kostenreduktion bei der Zusammenstellung des Programms.

Dieses Charakteristikum ökonomischen und rechtlichen Ursprungs fällt in den Bereich Distribution und wird in der Medienwissenschaft als Bedeutungsproduktion vernachlässigt. In der Regel werden die Produktion und die Rezeption gegenübergestellt4. Stuart Hall führt in der ersten Version des Encoding-Decoding Modells die Distribution in ihrer materiellen Form an. Die Botschaft als Produkt ist demnach ein materieller Zeichenträger: „[...]even the transmission of this symbolic vehicle requires its material substratum-[...]“ (Hall 1973:1). Zwar sind die Momente des Kodierens und Dekodierens privilegierte Momente im Kommunikationskreislauf, die Distribution ist dennoch Teil des stattfindenden Übersetzungsprozesses.

„It is also in this symbolic form that the reception of the “product”, and its distribution between different segments of the audience, takes place. Once accomplished the translation of that message into social structures must be made again for the circuit to be completed.” (Hall 1973: 2).

Da die innerhalb der Cultural Studies seit diesem Modell weiterführende Aneignungsforschung sich mit der Aneignung des Fernsehens beschäftigt hat, ist die Distribution als der Rezeption vorgeschalteten Dekodierung und Selektion des Angebotes als Forschungsgegenstand in den Hintergrund getreten. Die Distribution des Fernsehprogrammes erscheint dem Zuschauer als Sendung, ohne dass er etwas über die Ankäufe und Verkäufe von Fernsehproduktionen oder die Kriterien der Mehrfachverwertung von Filmproduktionen und die Auswahlkriterien, die letztlich das eine vor dem anderen Programm bevorzugen, erfährt, wie das Beispiel des Deutschen Fernsehens und des Studenten der Betriebswirtschaft Leo Kirch zeigt. 1956 hatte er die erste Lizenz für Fellinis Film »La Strada« erworben und besaß bis 1960 die Lizenzen an über 600 Spielfilmen, mit denen er dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen gegenüber als Zwischenhändler auftrat. Daneben gründete die ARD 1959 die Degeto als Institution für die Filmbeschaffung (vergl. Hickethier 1998:122).

„Damals, von der Öffentlichkeit noch weitgehend unerkannt, begann sich auch der Zwischenhandel mit Filmen und Filmrechten als ein neuer Faktor innerhalb der Programmbeschaffung zu etablieren. [...] Wenn seit dieser Zeit von einer Fernsehindustrie die Rede ist, dann wurden durch die arbeitsteilige Aufteilung in Programmproduktion, -vertrieb und ausstrahlung die Weichen für die weitere Entwicklung gestellt.“ (Hickethier 1998:122)

Die ökonomischen und rechtlichen Umstände des OAK lassen die Frage nach Programmproduktion, -vertrieb und –ausstrahlung außerhalb von Medienkonzernen neu stellen. Die Programmproduktion, als Planung und Gestaltung des Programms mit vorproduzierten Inhalten, der Programmvertrieb und die Programmausstrahlung beim OAK sind Ausdifferenzierungen der von Stuart Hall beschriebenen Distribution als Moment des Kommunikationskreislaufes, in dem die Botschaft in ihrer symbolischen Form sichtbar und anfällig für Manipulationen wird. Diese Aktivitäten stellen alte Fragen nach der Bedeutungsproduktion in ein neues Licht.

1.2.3. Öffentlichkeit

Apropos Licht. Da Film immer noch ein Lichtspiel ist, braucht die Projektion auf die Leinwand eine abgedunkelte Umgebung. In den ortsfesten Kinos werden abschließbare Räume für die Vorführung genutzt, die unabhängig vom Tageslicht zu jeder Zeit verdunkelt werden können. Dieses Erfordernis physikalischen Ursprungs zeigt zwei weitere Aspekte des Open-Air-Kinos auf. Wie schon unter 1.2. beschrieben, sind die Veranstaltungsorte öffentliche Plätze ohne Überdachung. Daraus ergeben sich einmal Anfangszeiten, die vom Sonnenuntergang abhängig sind und eine Witterungsabhängigkeit. In den Veranstaltungsbeschreibungen der Kinos wird dies berücksichtigt. Der Filmbeginn wird teilweise mit `bei Dämmerung´ oder `bei ausreichender Dunkelheit´ angegeben, was je nach Veranstalter auch Auswirkungen auf den Jugendschutz haben kann:

Aufgrund des nächtlichen Beginns können nur Besucher über 18 Jahre eingelassen werden, oder Jugendliche/ Kinder in Begleitung Erwachsener. Die FSK- Angabe (Freiwillige Selbstkontrolle) gibt dabei Aufschluss, ab welchem Alter der jeweilige Film geeignet ist, sprich wie alt man sein muss, um in Begleitung reinzukommen.

(www.sonne-mond-sterne.de/3wichtiges/hinweise.php :22.04.2008)

Zum Schutz vor Witterungseinflüssen können Regencapes gemietet werden, wie beispielsweise im Open Air Kino im Bad Vilbeler Freibad:

Wir spielen bei fast jedem Wetter. Wegen Regen fällt keine Veranstaltung aus. [...] Zum Ausfall/Abbruch einer Vorführung führen nur „sicherheits“- bzw. „technikrelevante“Gründe.(www.openairkino.de/web/main/z_info_99731.htm 22.04.2008).

Der zweite Aspekt ist die Vorführung in einem öffentlichen Raum. Während ortsfeste Kinos über eine fest installierte Bestuhlung verfügen, ist es bei den Vorführungen auf öffentlichen Plätzen möglich, andere Sitzpositionen einzunehmen: „Bequeme Sitzplätze mit Arm&Rückenlehnen. Wer es „openairiger“ haben will, bringt sich Decke/Isomatte mit und macht es sich auf unserer natürlich gewachsenen Empore oder Wiese bequem.“ ( http://www.openairkino.de/web/main/z_info_99731.htm 22.04.2008). Dies ist ein Hinweis darauf, dass Verhalten im öffentlichen Raum, Sitzpositionen inbegriffen, weniger reguliert werden kann, als in den abgeschlossenen, definitorisch eher halböffentlichen Räumen der ortsfesten Kinos.

1.2.4. Dispositive der Wahrnehmung

Die bisher beschriebenen Ausprägungen des OAK im Bezug auf die Begriffe Mobilität, Distribution und Öffentlichkeit zeigen ein bestimmtes Verhältnis des Menschen zur Technik seiner Zeit. Diese Verhältnisse befinden sich stetig im Wandel. Technische Weiterentwicklungen, wie das Projektionsgerät Beamer, machen einen Wandel des Verhaltens gegenüber seiner Funktion, der Projektion von Filmen, möglich. Aus diesem Grund macht es Sinn, diesen Wandel historisch zu betrachten. In Bezug auf die Diskurstheorie von Michel Foucault gebraucht Knuth Hickethier für seine Fernsehgeschichte den Dispositivbegriff, um die Strukturen der Anordnung von Mensch und Apparat zu betrachten.

Mit der Erfindung von neuen Bildapparaten wurden auch Anordnungsstrukturen von Mensch und Apparat entwickelt. Diese Dispositive der Wahrnehmung umfassten die Apparate, Techniken; räumliche, architektonische, situationale und lebensweltliche Bedingungen und juristische, ethische, normative Rahmungen, in denen sich das Subjekt konstituiert und seine Wahrnehmung präformiert wird. Als Dispositiv gedacht, setzt das Kino den Zuschauer vor das Bild und stellt hinter ihm den Projektor auf, damit er nur dem Bild ausgesetzt ist, während beim Fernsehen die Erzeugung des Bildes und der Zuschauerblick frontal aufeinander treffen. Hickethier sieht durch diese Aufstellung des Fernsehers die Mobilität des Zuschauers im privaten Raum erhöht (vergl. Hickethier 1998: 11f). Beim Kino dagegen werden in Räumen Apparaturen fest installiert, „in die sich der Betrachter hineinzubegeben hat und in ihnen in eine bestimmte Position zum Dargestellten versetzt wird.“ Hickethier 1998: 12). Hickethier stellt hier die binären Oppositionen Fernsehen/Kino, mobil/immobil und privat/öffentlich her und schreibt den Begriff Mobilität dem Fernsehen zu, verortet Fernsehen im privaten, und Kino im öffentlichen Raum. Aktuelle Entwicklungen wie das OAK, Premiere Sports Bars und das Public Viewing während internationalen Fußballturnieren stellen diese Oppositionen in Frage. Um die Begriffe Mobilität, Distribution und Öffentlichkeit für die spätere Analyse des OAK als Wahrnehmungsdispositiv nutzen zu können, folgt nun eine historische Betrachtung des Wahrnehmungsdispositivs Wanderkino.

1.3. Filmgeschichte Wanderkino

Der Begriff des Open- Air wird wohl im kulturellen Gedächtnis seit dem legendären Woodstock- Festival 1969, das auf dem Land des Farmers Max Yasgur stattfand, eher mit Protestsongs gegen den Vietnamkrieg, Sex und Drugs als mit Film in Verbindung gebracht. Musik Open- Airs gehören heute zu den etablierten Sommerveranstaltungen der Musikkultur. Mobile Kinoveranstaltungen wie das heutige OAK, tauchen dagegen in der Filmkulturgeschichte in regelmäßigen Abständen aus dem Dunkel auf und verschwinden wieder. Sie scheinen an bestimmte strukturelle Bedingungen gebunden zu sein, die nicht konstant gegeben sind. Dieses Kapitel soll helfen herauszufinden, welche strukturellen Bedingungen das aktuelle Erscheinen des OAK in der Medienkultur begünstigt haben oder es ein von jeglicher historischen Entwicklung losgelöstes medienkulturelles Ereignis ist.

1.3.1. Die Frühphase des Wanderkinos in Europa

In Deutschland entwickelten Max Skladanowski und sein Bruder Emil das Bioskop und stellten es 1895 der Öffentlichkeit im Berliner Wintergarten vor. Distribuiert wurden acht Titel mit insgesamt 15 Minuten Länge. Zur Rezeptionssituation schreibt Wolfgang Jakobsen in Berufung auf einen Artikel vom 27.10.1895 in der National-Zeitung:

Irritiert soll das Publikum auf das Löschen des Saallichtes reagiert haben, aber jede einzelne Nummer des Films entpuppte sich dann als >Attraktion< einer geschickt komponierten, der Varieté- Dramaturgie verpflichteten Programmabfolge, die in der Apotheose ihrer >Macher< gipfelte, der Verbeugung der Brüder Skladanowsky. (Jakobson In Jakobsen et.al. 1993:16)

Das Varieté war demzufolge das Dispositiv der Wahrnehmung, an dessen Dramaturgie die Filmvorführung angepasst wurde, inklusive der Verbeugung der Macher des Programms am Ende der Vorführung.

In Norddeutschland tauchte wenige Zeit später schon der Kinetograph von Edison auf, wie am 29. und 30. November 1897 im Hotel Stadt Hamburg in Eckernförde. Der deutsche Vorführer L. Herwig zeigte sein Programm auch in Flensburg im Kolosseum, wie in der Eckernförder Zeitung vom 27. November 1897 zu lesen war:

Das Publikum folgte mit Spannung und sichtlichem Interesse den hochinteressanten Darstellungen und lohnte dieselben, einzelne Nummern sogar mir stürmischem Beifall. Genre-, Straßen- und Seebilder, höchst komische Theaterszenen, alles beweglich und dem Leben abgelauscht, wechseln in bunter Folge. Ergreifend wirken die Vorführungen aus dem griechisch-türkischen Kriege, wie z.B. die Erschießung eines Spions und das Verschießen der letzten Patronen u.s.w., während wiederum ein Negerinnenballett, die Serpentinentänzerin, Zaubertheater, Traumbilder und ganz besonders `Die unruhige Nacht´ erheiternd wirken und Lacherfolge erzielen, wie man solche lange nicht im `Kolosseum´ vernommen hat. Warstat (1982: 18)

Das Kollosseum, als bereits bestehende Vorführstätte der Unterhaltungsstrukturen bietet in diesem Fall den Raum für die mobile Distribution des aufkommenden populärkulturellen Mediums. Das Programm bestand sowohl aus Aufnahmen aus der Lebenswelt der Zuschauer, aus Unterhaltungsangeboten abgefilmten Theaters, als auch aus Kriegs- und Gewaltdarstellungen aus dem Ausland. Bilder des Fremden wurden zusätzlich in Form eines »Negerinnenballetts« vorgeführt. Die Wirkung auf das Publikum zog Reaktionen wie sie in Theatern üblich sind nach sich.

Die mobile Produktion machte es möglich, 1899 eine Orientreise des deutschen Kaiserpaares zum heiligen Grab nach Jerusalem zu zeigen. In diesem Jahr stieg der Vorführer Herwig auf den Cinematographen der Gebrüder Lümiere um. Dieser Wechsel machte ermöglichte es ihm, dass er die Feier zum 50. Jubiläum der Schlacht bei Eckernförde selbst filmte und vorführte5.

Gerade in jener Zeit spielte für Ereignisse von öffentlichem Interesse der Film bisweilen die Rolle der Zeitung, und- vor allem durch die Attraktivität des Bildes- kam er durch die Berichterstattung über Ereignisse aus aller Welt und dem engeren Lebenskreis dem Wunsch des Publikums entgegen, sich über tagespolitische Ereignisse unterrichten zu lassen. (Warstat 1982: 24f)

Die politische Ideologie der Zeit, sowohl in ihrer weltpolitischen als auch in ihrer lokalen Ausprägung, fand sich also bald nach der Erfindung des neuen Mediums innerhalb des Wahrnehmungsdispositives wieder. Es war zudem eine Ergänzung zu den bestehenden Medienstrukturen der Presse und schon zur Zeit des frühen Filmes keine reine Unterhaltung mehr. Die mobile Distribution der Ideologien in die ländlichen Peripeherien geschah über Altersgruppen hinweg. Der Welt-Cinematograph von Franz Schröder zeigte im Jahr 1905 ausschließlich Bilder aus dem russisch-japanischen Krieg, die er gesondert nachmittags in einer Kindervorstellung für die Hälfte des üblichen Eintritts anbot. 1908 fand in Eckernförde erstmals eine Abendvorstellung nur für Damen und Herren mit einem pikanten Pariser Programm statt. Inzwischen wurden lokal Steuern erhoben, die z.B. 1902 der Vorführer Thiele aus Magdeburg in Form von 12,- Mark an die Armenkasse zahlen musste (vergl. Warstat 1982: 29 ff).

Dieser Wanderkinobesitzer Thiele bespielte auch das Göttinger Frühlingsfest. Am 17. Mai 1903 ist Thiele´s Prachtkinematograph in der gemeinsamen Anzeige der Aussteller des Collosseums auf dem Frühlingsfestes im Anzeigenteil des Göttinger Tageblattes aufgeführt. Im Lokalteil wird er in der Berichterstattung über das Frühlingsfest nicht erwähnt (vergl. Göttinger Tageblatt 17. 05. 1903). Zwei Jahre zuvor noch scheint der Kinematograph des Vorführers Apitius eine Attraktion gewesen zu sein. Beim XXIII. Nordwestdeutschen Bezirksschießen der Bürgerschützengesellschaft stellt er vom 16. – 19.

Juni 1901 sein Theater lebender Photographien aus. In einer alleinigen Anzeige des Sonderanzeigenteils zum Schützenfest kündigt er Bilder aus dem chinesischen und dem südafrikanischen Kriege an. Im Lokalteil des Göttinger Tageblattes heißt es in einer Berichterstattung, unter Auf dem Schützenplatze:

Von den Schaubuden verdient zuvorderst wohl Apitius Kinematograph genannt zu werden, ein Theater lebender Photographien. In dem hocheleganten, im modernen Stil gehaltenen Etablissement werden uns lebende Photographien, die letzten Weltereignisse, Schlachtenszenen vorgeführt und zwar mit einer solchen Natürlichkeit, Farbenwirkung und perspektivischen Uebersicht, als ob wir selbst unmittelbare Teilnehmer dieser Szenen wären. Das überaus reichhaltige Repertoir gestattet eine große Anzahl von Vorführungen. Insbesondere werden die neuesten Aufnahmen vom südafrikanischen Kriegsschauplatze, sowie aktuelle Aufnahmen vom Chinakrieg reichen Beifall finden. (Göttinger Tageblatt 18.06.19016 )

Zwar wird das Wanderkino hier als Attraktion unter anderen Schaubuden bezeichnet, die lebensweltlichen Bedingungen des Schützenfestes geben hier allerdings den ethischen Rahmen vor, der die Vorführungen der Kriegsdarstellungen möglich macht.

Militaristische und christliche Ideologien standen miteinander in Konkurrenz. Apitius stellte eine Konkurrenz für ein ortsfestes Elektro-Biotograph dar, dessen Anzeige direkt unter der von Apitius positioniert war: „Auf allgemeinen Wunsch jeden Abend um 6, 8 und 10 Uhr Vorführungen der Oberammergauer Passionsfestspiele. Die Leiden Jesu Christi in 16 Abteilungen.“ (Gottinger Tageblatt 18.06.1901).

In den folgenden Jahren wurde das Frühlingsfest von keinem Vorführer bespielt. Im Jahr 1905 erscheint der Lambertz Biograph auf der Bildfläche des Schützenfestes. Der Betreiber des Wanderkinos gestaltete das Programm, indem er militaristische Darstellungen neben Unterhaltungsformen platzierte. Im Anzeigenteil des Göttinger Tageblattes wirbt er mit Darstellungen des russisch-japanischen Krieges, mit Humoristika und Märchen, aber auch mit einer Spezialvorstellung für Herren. Im Lokalteil wird darüber nicht mehr berichtet. Auch hier passte sich der Vorführer Lambertz aber an aktuelle politische Entwicklungen an. Im Nachrichtenteil wird über die russichen Unruhen berichtet: „London, 14. Juli. Nach Petersburger Meldungen soll die Ausstoßung des Admirals Krieger aus der russischen Marine bevorstehen, weil er es unterlassen, den meuternden „Potemkin“ sofort anzugreifen und in die Luft zu sprengen.“ (Göttinger Tageblatt 16.07. 1905). Vom russisch-japanischen Krieg wird weiter berichtet, dass die Bewohner der Stadt Sachalin, die ihre eigenen Häuser in Angst vor den Japanern angezündet hatten zurückkehrten, da „die Japaner das Eigentum achteten und die Zurückgebliebenen freundlich behandelten“ (Göttinger Tageblatt 16.07.1905).

Bis 1911/12, in der Übergangsphase des Kinos, nahm die Zahl der Wanderkinobetriebe im Deutschen Reich noch zu, die sich Konkurrenz machten, nicht nur in Gasthäusern und Hotels, sondern auch auf Märkten und Schützenfesten (vergl. Warstat 1982: 21). In Hamburg dagegen wurde das erste feste Lichtspielhaus 1900 am südlichen Rand der Reeperbahn gegründet (vergl. Nehlsen In: Lauenburgische Heimat 1997. Heft 147: 3).

Das scheinbare Wanderkino der Attraktionen wurde wie ersichtlich ist, in bestehende Wahrnehmungsanordnungen eingepasst, sowohl innerhalb Varieté- und Theaterstrukturen, als auch in Strukturen hegemonialer Traditionen, wie Frühlingsfeste und Schützenfeste. Hierbei wurde nicht nur die ländliche Peripherie bespielt, sondern das Medium Film erweiterte die Möglichkeit, neben bestehenden Medien, wie der Presse, internationales Zeitgeschehen, als Information wiederzugeben und das Unterhaltungsprogramm an den dominanten Ideologien der Zeit orientiert, wie der des Militarismus und der christlichen Ideologie, zu gestalten. Gleichzeitig muß gesagt werden, dass gerade die Feste an öffentlichen Orten stattfanden, an denen keine bauliche Struktur vorgegeben war. Der Besuch der Wanderkinos war demnach in andere soziale Aktivitäten eingebettet, die Alternativen der Unterhaltung möglich machte.

Diese Orientierung des Wanderkinos an hegemonialen Strukturen kann auch für das weitere Europa beobachtet werden. Außerhalb des Deutschen Reiches verbreiteten die Gebrüder Lumière den Film auf dem europäischen Kontinent. Seit dem 28. Dezember 1895, nach der ersten Vorführung im Grand Café in Paris, wurde das dort vorgeführte Programm einheitlich vertrieben, wie zum Beispiel in der Doppel-Monarchie Österreich-Ungarn. Ab dem 27.03.1896 zeigte in Wien der Franzose Eugéne Dupont täglich von 10 Uhr früh bis 8 Uhr abends mit dem Cinematographen Aufnahmen, die heute dokumentarisches Material genannt werden, und deshalb einen Widererkennungswert für das ortsansässige Publikum hatten. Die ersten Aufnahmen in Wien wurden von dem Cheftechniker der Gebrüder Lumière namens Promio gemacht. Bis zum Jahr 1907 wurden die gezeigten Filme entweder von Nicht-Österreichern produziert oder importiert (vergl. Fritz 1981: 12ff).

Die Österreicher beschränkten sich bis dahin auf die Vorführung, auch in Wanderkinos. Mit dem Ochsenkarren wurden auch die Nachbarländer, wie Italien, Schweiz und das Deutsche Reich bereist, wie es z.B. Louis Geni tat. Seit 1899 zog er mit einer Dampfmaschine zur Beleuchtung der Spielstätte und dem Packwagen umher. Vorgeführt wurde in Gasthöfen. Beliefert wurde Geni alle 3-4 Wochen von der Firma Pathé Frère aus Paris. Die Wanderkinobesitzer hatten die Option, die Filme probe vorzuführen und Nichtgewünschtes zurückzusenden, erst dann wurden die Filme gekauft. Louis Gerni selbst gründete 1913 ein ortsfestes Kino. Bis 1918 gab es als Vorführstätten in Österreich noch Zeltkinos (vergl. Fritz 1981: 14ff).

Die Französische Dominanz der entstehenden Filmindustrie setzte sich im europäischen Umland fort. Nur vier Monate nach Paris fand die erste Vorstellung in London statt, zwei Monate später in Dublin. Sowohl in Great Britain als auch in Irland breitete sich das neue Medium über die bestehenden Netzwerke der Rummelplätze und der Music Halls aus und passte sich so in die bestehende Populärkultur ein (vergl. Chanan 1980: 140f). 1904 gründete Louis de Clerq die erste irische Filmfirma Irish Animated Picture Company, die Dokumentarfilme produzierte und vertrieb. Das erste ortsfeste Kino wurde 1909 von James Joyce in Dublin gegründet( vergl. Rocket et. al. 1987: 5f).

In Italien engagierten die Gebrüder Lumière einheimische Fotografen, die das filmten, was sie sonst fotografierten, damit ihre Filme nicht zu einem Ärgernis für die katholische Kirche wurden. Das Kino machte reisenden Theater- und Opernensembles Konkurrenz, deren Publika nicht nur aus Aristokraten, Landbesitzern und Industriellen bestanden, sondern auch bei der Stadt- und Landbevölkerung populär waren (vergl. Sorlin 1996: 16f).

The cinema succeeded because exhibitors cleverly exploited its potential, because in moving picture shows spectators found something which appealed to them, and because the medium, while it offered escape into a world of fantasy where distances no longer existed and where illusions could become reality, also opened a window on current issues and helped to understand the contemporary world. (Sorlin 1996: 17)

Im Gegensatz zu Great Britain oder Frankreich besaß Italien keine nationale Zeitung. Das Kino schloss so eine Informationslücke und machte eine zeitgleiche Information über dieselben Themen im ganzen Land möglich. Zur Rezeption als soziale Aktivität beschreibt Pierre Solin, dass der Film als neue Kunst in Italien verschiedene Publika schaffte, die trotz ihrer Unterschiede nicht in Isolation voneinander existierten, sondern die gemeinsam das neue Medium durch ihre Neugier förderten. Die lokale Filmproduktion unabhängig von den Gebrüdern Lumière begann allerdings auch in Italien erst 1905 (vergl. Sorlin 1996: 17ff). In Bezug auf Hickethier erscheint gerade im Vergleich der Entwicklung des frühen Kinos in Italien zu der Entwicklung im Deutschen Reich auffällig, wie sehr die lebensweltlichen, kulturspezifischen Bedingungen und die ethischen Rahmungen die Dispositive der Wahrnehmung prägten. Italien, als Sitz des Papstes und Zentrum des christlichen Glaubens, erscheint im Vergleich zum Deutschen Reich als Peripherie der Information. Das Medium Film, das in diesem Fall eine Informationslücke schloss, ließ nach dieser Beschreibung von Sorlin verschiedene Publika nebeneinander existieren, also eine pluralistische Gemeinschaft entstehen. Das Kino, als Dispositiv der Wahrnehmung, bot so die Möglichkeit, eine dominante Ideologie kritisch zu betrachten.

Außerhalb von Europa reisten die Kameraleute der Lumières auf den bestehenden Handelswegen der Kolonisatoren. Fast zur selben Zeit wie im Europa, bespielten sie Shanghai im August 1996 im Xu- Vergnügungspark und weiteten ihren Einflussgebiet auf die geöffneten Handelshäfen aus. Die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung bekam das neue Medium jedoch erst in den dreißiger und vierziger Jahren zu sehen. Zudem widersprach die Ästhetik des abendländischen Schattenspiels, als das die Aufführungen angekündigt wurden, den ästhetischen Idealen der chinesischen Bühnenkunst. Bis in die zwanziger Jahre unterstützten die französische Firma Pathé und die amerikanische Firma Mutoscope Hand Biograph die Kolonialpolitik ihrer Regierungen und unterdrückten jede eigenständige chinesische Entwicklung auch im Bereich Film. In entgegen gesetzter Richtung wurde in Europa und Amerika mit Filmen wie Shanghai Street Scene (1897), Returning to China (1897) oder Canton River Scene (1897) ein Chinabild der zivilisatorischen Unterlegenheit und der Exotik vermittelt. Verstärkt wurde die ideologische Wirkung durch die Gegenüberstellung dieser Aufnahmen mit Bildern aus dem europäischen Alltagsleben (vergl. Kramer 1997:1ff). Das Beispiel China zeigt das andere Extrem der Propaganda über das Medium Film.

Dieser Blick auf das frühe Wanderkino des europäischen Kontinents bis in den asiatischen Raum offenbart, dass das Medium Film in die nationalen, kulturspezifischen Wahrnehmungsdispositive eingefügt wurde. Dies war kein abrupter Übergang zu einer komplett anderen Sichtweise der Wirklichkeit, sondern ein sensibler Prozess, der sich in erster Linie an den, durch die dominanten Ideologien geschaffenen, lebensweltlichen und ethischen Bedingungen orientierte. Das Spektrum der Instrumentalisierung des Mediums reichte von der Unterhaltungsalternative über das Schließen von Informationslücken bis zur Propaganda und Unterdrückung ganzer Kulturen.

Zwei Tendenzen der Programmgestaltung werden sichtbar. Erstens bestand eine relative Unabhängigkeit der Wanderkinobetreiber von der Filmproduktion. Die ökonomische Strategie der Distribution, die durch die Produktionsfirmen angebotenen Filme zu kaufen, machte es partiell möglich, vom Programmangebot abzuweichen und bei Nutzung des Cinematographen selbst zu produzieren und damit die Standardisierung des Programms durch die Produktionsfirmen zu unterbrechen. Die zweite Tendenz ist die deterministische Notwendigkeit der Produktion und Vorführung, die ideologischen Sensibilitäten des

Zeitgeschehens zu erfassen, wodurch das Medium Film früh zu einem politischen Instrument wurde.

1.3.2. Das deutsche Wanderkino nach 1913

Das deutsche Wanderkino stand bis zu seinem Verschwinden ab 1948 stets im Dienste der dominaten Ideologien, was auch zunehmend durch die Staatsapparate medienpolitisch reguliert wurde. Mit der Zunahme der ortsfesten Kinos verschwand das Wanderkino zwar aus den einschlägigen Werken der Mediengeschichtsschreibung7 aber nicht aus den Texten der Medienkultur. Die Bedingungen standen zunehmend mit der Verbreitung von Ideologien in Verbindung, wie das Beispiel der Gemeinde Aumühle bei Hamburg zeigt. Gegen Ende des 1. Weltkrieges 1918 wurden im Kreis St. Georgsberg zwischen Mai und Juni durch die norddeutschen Wanderlichtspiele mehrere Ortschaften bespielt. Wie im Gemeindearchiv Aumühle vermerkt ist, wurde dies durch ein Rundschreiben des Königlichen Landrates an die Ortspolizeibehörden mitgeteilt. Gezeigt wurden militäramtliche Filme, die der bürgerlichen Aufklärung dienten. 1922, während der Zeit der Weimarer Republik erging eine Verfügung des Landrates zur Sicherheit von Kinovorstellungen in Gaststätten. 1927 gestattete der Landrat Vorführungen, die von Missionsgesellschaften durchgeführt wurden, nur in Versammlungsräumen, die den feuerpolizeilichen und räumlichen Vorschriften für Lichtspielvorführungen entsprachen. In dieser Verfügung wurde bemerkt, dass im Amtsbezirk keine Lichtspieltheater vorhanden waren. Während der Zeit des Deutschen Faschismus 1934 erhielt ein Kapitänleutnant a.D., der Lehr-, Kultur- und vaterländische Filme vorführte und im Gasthaus zur Waldgrotte den Film Seeschlacht am Skagarak (1926) zeigen wollte, keine Genehmigung des Landrates, da keine Einwilligung der N.S.D.A.P in Mölln vorlag. 1941 wurde vermerkt, dass die Gaufilmstelle im Ortspolizeibezirk 14-tägig spielt, weniger Kulturfilme einsetzt und als Wochenschau immer die vorletzte zeigt (vergl. Nehlsen In: Lauenburgische Heimat 1997: 4f). Die Leitstellen der Gaufilmstellen saßen in den Gauhauptstätten und betrieben eigene Wanderkinos. Das Propagandaministerium ließ von den Firmen Bauer und Zeiss Ikon transportable Projektoren bauen. Von dem Kofferprojektor Phonobox der Firma Zeiss Ikon wurden zwischen 1933 und 1945 8000 Exemplare hergestellt. Die Projektoren wurden in eigenen Filmwagen, dem Opel P4 transportiert. Das Programm bestand aus der Wochenschau, einem Kulturfilm und dem Hauptfilm, wie in städtischen Kinos auch (vergl. Brunhöver 2004:2ff) .

Die Idee wurde von der Landbevölkerung angenommen. Es gab kaum individuelle Mobilität, gearbeitet wurde in der Landwirtschaft, wie auch heute teilweise noch üblich, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. [...] Als Veranstaltungsraum wurden Säle der Gastwirtschaften oder, wenn es keinen Saal gab, die Tenne oder andere Versammlungsräume verwendet.

(Brunhöver 2004: 2)

In seinen Memoiren beschreibt der Filmvorführer W. Brunhöver, der vor dem Krieg als Vorführer in Lüneburg gearbeitet hatte, dass er als Soldat der Wehrmacht, ausgerüstet mit einem Filmwagen, auch an verschiedenen Fronten Kinoabende durchführen musste (vergl. Brunhöver 2004: 6).

Nach Kriegsende benötigten Wanderkinobesitzer als privatwirtschaftliche Unternehmer in der britischen Besatzungszone eine Lizenz der Militärregierung, einen Projektor und rechtsgültige Verträge mit Gasthäusern, die noch nicht von anderen Unternehmern bespielt wurden. Die Militärregierung in Hamburg verlieh die konfiszierten Kofferprojektoren aus der Kriegszeit. Als Transportmittel dienten die Filmwagen der ehemaligen Gaufilmstelle (vergl. Brunhöver 2004:6ff). In Aumühle erteilte die Militärregierung, vertreten durch Major Clarke vom 614. Detachement, bereits im September 1945 einem Wanderkinobesitzer Willy Buss die Erlaubnis, Filme vorzuführen. 1946 bespielten die von der Militärregierung zugelassene, in Hamburg ansässige Norddeutsche Landfilm-Gesellschaft und die Hammonia- Reiselichtspiele den Kreis. Das Programm bestand in letzterem Fall aus dem Vorfilm Der Schneemann (1944) und dem Lustspiel Der scheinheilige Florian (1941). Die Britische Militärregierung für Schleswig-Holstein baute in dieser Zeit eine Dienststelle namens Information Central Unit Kiel- Theatre and Music Sub Section Lübeck auf, die den Aufbau von Unterhaltungsmöglichkeiten für die Zivilbevölkerung unterstützte. (vergl. Nehlsen In. Lauenburgische Heimat 1997: 5 ff). In der sowjetischen Besatzungszone wurde die Deutsche Film Aktiengesellschaft DEFA lizensiert, die auf Teilen des vorherig reichseigenen Filmmonopolkonzerns UFI aufbaute. Die westlichen Besatzungsmächte beschlagnahmten die staatsnahen Filmunternehmen und untersagten bis zur deren Entflechtung und Reprivatisierung die Produktion und den Verleih von Filmen (vergl. Hauser 1985: Xf).

Ab 1948 drängte die amerikanische Filmindustrie verstärkt auf die ausländischen Filmmärkte, aufgrund der Verluste durch die Konkurrenz des Fernsehens und der Auswirkungen der Antitrust-Gesetze. Durch den Supreme Court wurde im Mai 1948 verfügt, dass die Monopolpraktiken im Bereich Distribution und Exhibition der fünf Major und drei Minor Hollywood Companies zu unterlassen seien und die vertikal gegliederten Firmen sich von ihren Filmtheatern zu trennen hätten (vergl. Hauser 1985:105). Die amerikanische Filmindustrie exportierte eine große Zahl von Filmen, die wegen des Krieges in Europa noch nicht ausgewertet werden konnten. In Deutschland organisierte die Motion Picture Export Association in Zusammenarbeit mit der amerikanische Militärregierung diesen Ausbau. Tochtergesellschaften der Majorkonzerne wurden aufgebaut, diese beteiligten sich finanziell an ausländischen Gesellschaften und Filmtheater wurden gekauft (vergl. Hauser 1985:119 ff). Im Rahmen der `Re-Orientation´ und `Re-education` Programme der Militärregierung wurden neben Dokumentarfilmen, Unterhaltungsfilme der Major- Companies eingesetzt, um Werte, Denkmuster, Verhaltens-und Funktionsweisen eines demokratischen Staates vorzuführen (vergl. Hauser 1985: 181f).

Bis 1959 entstanden in der Bundesrepublik Deutschland 7.058 ortsfeste Filmtheater. Nach dem großen Kinosterben sank die Zahl bis 1971 auf 3.314 (Pflaum/Prinzler 1992:225). Mit dem Nachkriegs Kinoboom war vorerst die Zeit der Wanderkinos beendet. Nach dem Kinosterben 1975 tauchte in Nürnberg ein Kinomobil auf, dass von den Gebrüdern Weber, die ein unabhängiges Kino besaßen, betrieben wurde. In Einheit mit den Kinobesitzern sprach die Filmförderungsanstalt diesem Projekt Wirtschaftlichkeit und Perspektive ab und hielt es deshalb nicht für förderungswürdig (Die Zeit Nr. 32. 1975: www.images.zeit.de 28.02.2008).

Je nachdem wohin das Pendel der hegemonialen Ordnung und der Ideologie in der Geschichte des Mediums ausschlug, war der Film ein williges Instrument, um diese Ideologien zu distribuieren. Unabhängig davon, ob Rezipienten Film als reine Unterhaltung wahrgenommen haben, lässt sich gerade am Moment der mobilen Distribution ablesen, welche politischen Diskurse zu welcher Zeit Einfluß auf das Kino genommen haben. Anders gesprochen, hatte das Wanderkino immer dann Konjunktur, wenn es für eine Ideologie instrumentalisiert werden konnte. Für das heutige Open-Air-Kino stellt sich nach dieser geschichtlichen Betrachtung die Frage, für welche Ideologien es instrumentalisiert wird, wenn es eine Rekultivierung des Wanderkinos ist. Ein kritischer Punkt hierbei ist die Frage der Reichweite. Kann heute noch von einer Kinoperipherie, also einer Unterversorgung mit dem Unterhaltungsangebot Kino gesprochen werden? Oder ist seit Bestehen des Mediums Film und seiner politischen Instrumentalisierung eine Peripeherie immer schon ein Bereich gewesen, der in erster Linie ideologisch unterversorgt war? Insofern wird auch der Begriff Öffentlichkeit differenziert, zugunsten eines Begriffs der Medienöffentlichkeit, innerhalb derer die medialen Diskurse als Träger der Ideologien kursieren. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage, ob unterschiedliche öffentliche Räume verschiedene Medienöffentlichkeiten hervorbringen können, da mit Hickethier gesprochen die Wahrnehmungsanordnung verändert wird? Konkreter gefragt: Bietet das Open-Air-Kino einen alternativen Raum an, in dem Rezipienten alternativ mit den medialen Diskursen als Träger der Ideologien umgehen können?

1.4. Die Kinosituation in Göttingen

In der Universitätsstadt Göttingen, in der die Untersuchung stattfindet, leben 129.667 Einwohner, davon 14.537 gemeldete Studenten (vergl. Stadt Göttingen Fachdienst für Statistik und Wahlen. Daten, Fakten, Zahlen 2008). Die Stadt verfügt über 4 ortsfeste Kinos, das Cinema, das Lumière, das Stern- Kino und ein Cinemax. Das von 3 Kinos im Zentrum der Stadt übriggebliebene Cinema ist ein Programmkino mit einer Leinwand und 195 Sitzplätzen (www.kino-news.de:19.05.2008). Die beiden anderen Kinos Savoy und Capitol konnten der Konkurrenz des Cinemax nicht standhalten und wurden geschlossen. Das Programmkino Lumière, das außerhalb der Altstadt liegt, besitzt eine Leinwand und 145 Sitzplätze (www.kino-news.de: 19.05.2008). Der Träger des Kinos ist die Film- und Kino-Initiative Göttingen e.V. und es wird zusätzlich gefördert durch die Stadt Göttingen (www.lumiere.de: 19.05.2008). In 500 Metern Luftlinie entfernt liegt das Stern-Kino mit 2 Leinwänden und 475 Sitzplätzen, das zusammen mit dem Sternchenkino vom Cinemax Konzern übernommen wurde. Das Cinemax- Kino besitzt 9 Leinwände und 1796 Sitzplätze (www.kino-news.de: 19.05.2008).

A: Cinemax
B: Lumière
C: Stern

Die Berlinerstrasse umgibt die Altstadt, in der sich das

Cinema befindet.

Abb.1:KinokarteGöttingen Quelle: http://www.maps.google.de:19.05.2008

Das Lumière veranstaltet von Juni bis August im städtischen Freibad am Brauweg Open-Air-Kinoabende an 3 Tagen in der Woche (http://www.lumiere.de : 20.06.2007).

In dem Ortsteil Grone findet seit 2003 ein Sommerkino unter freiem Himmel statt, das von den Filmfreunden Grone betrieben wird. Grone ist ein in das Stadtgebiet eingemeindeter Ort, der aus Alt-Grone besteht, das nördlich der B3 liegt und aus Grone-Süd, das südlich der B3 liegt. Das Sommerkino wird auf dem Jonaplatz in Grone-Süd veranstaltet, der in seiner aktuellen Form das Ergebnis eines Stadterneuerungsprogramms für benachteiligte Stadtteile ist.

Grone Nord Cinemax

Grone Süd

Abb.2: Der Stadtteil Grone (Quelle: http://www.maps.google. de :19.05.2008)

Das Sommerkino in Grone erfüllt die Bedingungen des Open-Air Kinos, wie sie bisher herausgearbeitet wurden. Es ist eine mobile Form der Filmsendung in einem öffentlichen Raum in der Peripherie einer mittelgroßen Stadt, wobei noch zu klären bleibt, ob eine wirkliche Medienkluft gegenüber dem Zentrum der Stadt besteht. Gegenüber den Veranstaltungen des Lumière- Kinos im Freibad Brauweg ist es in sofern <öffentlicher>, als dass es auf einem wiederum zentralen, begehbaren Platz in diesem Stadtteil stattfindet und nicht in einem abgegrenzten öffentlichen Raum. Die Betreiber stellen, als zusätzliches Angebot, die Technik für Veranstaltungen zur Verfügung und sind insofern mobiler als das Lumière- Kino.

Aus meinen eigenen Seherfahrungen heraus, selbstreflexiv betachtet, bedient das Lumière mit seinem Programm ein bestimmtes Publikumssegment, das zwar dem Mainstreamkino kritisch gegenübersteht aber in seiner ideologischen Orientierung eher homogen erscheint und eine Gemeinschaftserfahrung sucht, die eine kommunikative Aneignung während der Veranstaltungen wenig möglich macht. Da das Sommerkino Grone in dem Lebensraum der Zuschauer stattfindet, war zu erwarten, dass verschiedene Publika, verschiedene Aneignungsweisen zeigten. Aus diesem Grund wurde die Untersuchung im Sommer 2007 und Frühjahr 2008 dort durchgeführt.

20

1.5. Arbeitsdefinition Open-Air-Kino

Um zu einer Arbeitsdefinition des Open-Air-Kinos zu kommen, kann zusammenfassend gesagt werden, dass das Open-Air-Kino eine mobile Form der Filmdistribution ist, auf öffentlichen Plätzen stattfindet und licht- und witterungsabhängig ist. Durch die relative Unabhängigkeit von der Produktion ist es eine ökonomisch günstige Möglichkeit, Filme öffentlich vorzuführen. Die Distribution umfasst beim OAK die Programmproduktion als Zusammenstellung des Programms aus bereits produzierten Filmen, den Programmvertrieb und die Programmausstrahlung. Während das Programm des Wanderkinos bis 1948 nicht-fiktionaler Filme beinhaltete, besteht das Programm des heutigen OAK fast ausschließlich aus fiktionalen Filmen. Als Dispositiv der Wahrnehmung betrachtet, werden Distribution und Rezeption im Vergleich zum ortsfesten Kino und zum Fernsehen eher durch die lebensweltlichen Bedingungen geprägt. Geschichtlich betrachtet, als populärkulturelle Ausformung des Wanderkinos begriffen, hat das OAK Konjunktur, wenn es ideologisch instrumentalisiert werden kann, um Ideologien in peripheren Gebieten zu distribuieren. Es schafft somit eine mediale Öffentlichkeit neben bestehenden Medienbereichen und die Möglichkeit für verschiedene Publika, sich Filme in öffentlichen Räumen als soziale Aktivität anzueignen. Um das OAK ideologiekritisch betrachten zu können, sowohl unter dem Aspekt, welche Ideologien distribuiert werden, als auch unter dem Aspekt, was Menschen mit den Medien und den Ideologien machen, werden im folgenden Kapitel die Cultural Studies, als ideologiekritische Schule, für die Ausarbeitung einer Analyseperspektive herangezogen.

2. Die Aneignung der Cultural Studies

Der Ausgangspunkt für die Aufarbeitung der Aneignung als diskursive Praxis soll hier das schon unter 1.2.2. zitierte Encoding-Decoding Modell von Stuart Hall sein. Innerhalb des Projektes der Cultural Studies war die Formulierung dieses Modells der Versuch zwei Paradigmen miteinander zu verbinden, dem von Stuart Hall als Kulturalismus bezeichneten humanistischen Marxismus der britischen Neuen Linken, die Kultur nicht nur als einen Schauplatz von Kämpfen sah, sondern auch als deren Quelle und Maßstab, und dem antihumanistischen, strukturalistischen Marxismus von Althusser (vergl. Grossberg 2000:111f). Mitte der 1970er- Jahre brachte Stuart Hall sein Modell medialer Kommunikation innerhalb einer semiotischen Theorie in die Diskussion ein, das eine Trennung zwischen Kodierung und Dekodierung fokussierte. Die Mitarbeiter des Centres For Contemporary Cultural Studies in Birmingham, dessen Leiter Stuart Hall war, positionierten sich so, dass sie eine partikulare Sicht auf Möglichkeiten und Formen des

Widerstandes einnahmen und die relative Autonomie von Kultur in historisch spezifischen sozialen Formationen studieren wollten. Sie nahmen an, dass Ideologie Subjekte konstituiert und in der diskursiven Bedeutungsproduktion ein Kampf um Bedeutungen stattfindet, der auch ein Kampf um die soziale Identität darstellt (Grossberg 2000:126ff). Die Erkenntnis, dass Identität durch Widersprüche strukturiert ist, ließ das Centre von der subjektiven Interpretation von Texten und der erfahrungsgemäßen Dimension von Ideologie abrücken.

Ab diesem Zeitpunkt legte es eine stärkere Betonung auf die populären Sprachen und auf Alltagsverstand, auf die Konstruktion eines Felds von Bedeutungen und Differenzen, das einerseits an hegemoniale Projekte gebunden ist und andererseits an bestimmte Möglichkeitsbedingungen. (Grossberg 2000:133)

Das Ziel des Theorieteils ist es, das OAK innerhalb eines konstruierten Feldes von Bedeutungen und Differenzen verorten zu können, um analysieren zu können, an welche hegemonialen Punkte es gebunden ist und welche Möglichkeitsbedingungen auf der Distributionsebene und der Rezeptionsebene bestehen.

2.1. Das Encoding-Decoding Modell

In der Originalausgabe der theoretischen Arbeit Encoding and Decoding in the Television Discourse von 1973 nimmt Stuart Hall eine kulturpolitische Haltung ein, da das Modell einen medienpädagogischen Hintergrund hat und die Aneignung von in Western dargestellter Gewalt diskutiert. In der deutschen Ausgabe des Textes fehlt dieser Bezug zur Mediengewaltforschung (vergl. Hall in Bromley et. al. 1999). Ob diese Auslassung ein Ergebnis der deutschen Aneignung des Originaltextes ist oder andere Gründe hat, kann hier nicht geklärt werden. Bemerkenswert jedoch ist, das die deutsche Version von Bromley et.al. eine entkontextualisierte Version und des Modells darstellt und somit eher untypisch für die Cultural Studies ist.

Halls semiotische Perspektive auf den Fernsehdiskurs beinhaltet den Blick auf die sozialen Beziehungen des Kommunikationsprozesses und besonders auf die verschiedenen Kompetenzen des Gebrauchs von Sprache und die nötigen visuellen Kompetenzen. Die Momente des Kodierens und des Dekodierens sind demnach im Verhältnis zum gesamten Kommunikationsprozess determinierte Momente, in denen ein Ereignis in die Form einer Botschaft gebracht wird und aus dieser Form heraustritt. Diese komplexe, dominante Struktur entsteht durch die Artikulation von unverwechselbaren Praktiken, einer diskursiven Produktion in den verbundenen aber eigenständigen Momenten der Produktion, Zirkulation, Distribution, Konsum und Reproduktion (vergl. Hall In: Bromley et al. 1999: 92f).

Um den möglichen Zusammenhängen zwischen dem OAK als Distributionspraxis und der Aneignung während der Vorführungen näher zu kommen, muss hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass im Sinne von Stuart Hall die Distribution ein Moment der diskursiven Produktion ist, der mit dem Konsum und der Reproduktion als diskursiver Produktion verbunden ist. Die Distribution an verschiedene Öffentlichkeiten lässt sich so lesen, dass obwohl Hall hier den Kommunikationsprozess des britischen Fernsehens von 1973 theoretisiert, der Gedanke aktuell auf die Mehrfachverwertung der symbolischen Träger in Kino, Fernsehen, Internet und auf Video oder DVD übertragbar ist.

Der in den deutschen CS verwendete Aneignungsbegriff hat in diesem Modell der Reproduktion seine Wurzeln, denn der Diskurs wird laut Hall in der Folge in gesellschaftliche Praktiken umgewandelt und findet über die so erlangte Bedeutung Aufnahme (vergl. Hall In: Bromley et al. 1999: 93).

Nach Hall wird ein historisches Ereignis im Nachrichtenprozess innerhalb der bestehenden technischen Infrastrukturen, der Produktionsverhältnissen und des Wissensrahmens unter die komplexen formalen Regeln der Erzeugung von Sprache unterworfen und im Rahmen der audio-visuellen Konventionen bezeichnet oder kodiert. Innerhalb der Kommunikationssysteme als nicht geschlossenen Systemen stehen am `Rezeptionsende´ Verständnisstrukturen, die die im Diskurs produzierten Bedeutungen in eine Form bringen und realisieren. Die während der Rezeption produzierte Bedeutung hält vermittels Dekodierung Einzug in die Struktur gesellschaftlicher Praktiken (vergl. Hall In: Bromley 1999: 96).

2.1.1. Das Filmprogramm als Diskurs

Wenn Hall weiter von der Passgenauigkeit der Kodes spricht und dass die strukturellen Unterschiede zwischen Rundfunkbetreibern und Publikum zu einer Asymetrie der Kodes auf der Sender-, sowie der Empfängerseite führen (vergl Hall In: Bromley 1999:97), muss in Betracht gezogen werden, dass die Möglichkeit des Verstehens und Missverstehens zusätzlich durch den Moment der Distribution hervorgerufen werden kann. Im Falle des OAK wird das Filmprogramm als sinntragender Diskurs im Bereich der Teilöffentlichkeit Kino, also innerhalb von bestehenden Strukturen der Sendung sichtbar. Dies ist eine Form der Bedeutungsproduktion und kann unter dem Aspekt der möglichen Asymetrie der Kodes betrachtet werden.

2.1.2. Die Aneignung des visuellen Zeichens

Im Sinne seines Konzeptes der bevorzugten Lesart von medialen Texten bevorzugt Hall weiter das visuelle Zeichen vor dem auditiven und geht in Anlehnung an Pierce (1931) davon aus, dass das televisuelle ikonische Zeichen repräsentativ ist, für das was es bezeichnet. Hall nimmt an, visuelle Zeichen würden dem Zuschauer in einer Art durch Konventionen geschaffenen denotativen Universalität begegnen. (vergl. Hall In Bromley 1999:98f). Auf den fiktionalen Film bezogen, lässt die Vielfalt der Produktions- und Gestaltungsstile und Produktionskontexte der Länder auch eine Vielzahl von denotativen Bedeutungen ikonischer Zeichen zu. Wenn nun die Anfälligkeit des Zeichens für die Vermittlung von Ideologien in der Konnotation des Zeichens liegt und in einem internationalen Filmgeschehen schon denotative Differenzen der ikonischen Zeichen möglich sind, erweitert die Konnotation für das Kino des internationalen Films die Möglichkeit einer pluralistische Auseinandersetzung um Bedeutungen.

Whereas, in societies like ours, linguistic competence is very unequally distributed as between different classes and segments of the population (predominantly, by the family and the educational system), what we might call “visual competence“, at the denotative level, is more universally diffused. (Hall 1973:11)

Gemäß dieser Aussage im Originaltext stellen die visuellen Kompetenzen nun, die als Merkmal weniger ungleiche gesellschaftliche Voraussetzungen gegenüber den linguistischen Kompetenzen besitzen, eine Basis dar, filmische Bedeutungen weitaus differenzierter auszuhandeln, als Hall es 1973 für das britische Fernsehen annimmt.

Bezüglich des Kinos als Vorführort ergibt sich aus Halls Logik eine weitere Bedeutungssphäre. Wenn, wie Hall ausführt, diskursives Wissen nicht das Produkt der unmittelbaren Erscheinung des Realen in der Sprache, „sondern das der Artikulation von Sprache zu realen Verhältnissen ist“ (Hall In Bromley et. al. 1999:99), dann würde die Kontextualisierung der Sendung, eine Kontextualisierung der denotativen Bedeutungen ergeben, die die Möglichkeit der ideologischen Konnotationen erweitert. Die Landkarten der Bedeutungen auf die die Konnotationen führen, würden demnach Bedeutungen von Orten mit einbeziehen. Der Kampf um die Bedeutungen beinhaltet also einen ortsbezogenen Kampf um die dominante kulturelle Ordnung.

[...]


1 Das Projekt der Cultural Studies wird im Folgenden mit CS abgekürzt.

2 Das Open-Air-Kino wird im weiteren Text mit OAK abgekürzt

3 Aktuelle Kinofilme sind Filme, die im Anschluss an die Produktion in Kino und Videothek vermarktet werden

4 Siehe: Morley, David (1980): The Nationwide Audience; Hobson Dorothy (1982): Crossroads und andere

5 Der Cinematograph konnte Aufnehmen, Entwickeln und Projizieren (vergl. Pearson In: Nowell-Smith 1998:14)

6 Die Ausgaben lagen auf Mikrofilm vor. Es waren keine Seitenzahlen angegeben

7 Für das Kapitel 1.3.2. wurden aus diesem Grund auch heimatkundliche Schriften herangezogen

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Kommunikative Aneignung von fiktionalen Filmen während Open-Air-Kino Vorführungen
Untertitel
Eine Diskursanalyse
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Zentrum für interdisziplinäre Medienwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
106
Katalognummer
V127911
ISBN (eBook)
9783640349944
ISBN (Buch)
9783640350032
Dateigröße
3367 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Historischer Teil: Wanderkino Distribution Rezeptionsforschung
Schlagworte
Kommunikative, Aneignung, Filmen, Open-Air-Kino, Vorführungen, Eine, Diskursanalyse
Arbeit zitieren
Gregor Scobel (Autor:in), 2008, Kommunikative Aneignung von fiktionalen Filmen während Open-Air-Kino Vorführungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/127911

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