Wie phantastisch ist Kafka?

Die Anwendbarkeit von Phantastiktheorien auf Kafkas Erzählungen


Magisterarbeit, 2007

82 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung
1.1. Über die vorliegende Arbeit
1.2. Grundsätzliches zur Forschung über phantastische Literatur

2. Der Tod der phantastischen Literatur im 20. Jahrhundert
2.1. Todorovs Konzept phantastischer Literatur
2.2. Form des Phantastischen
2.2.1. Zwischen den Genres
2.2.2. Die Bedingungen für das Phantastische
2.2.3. Strukturale Eigenschaften phantastischer Texte
2.2.4. Die Themen des Phantastischen
2.2.5. Die Ich-Themen
2.2.6. Exkurs I: Bachtins Chronotopos im 20. Jahrhundert
2.2.7. Die Du-Themen
2.3. Funktion des Phantastischen
2.3.1. Funktion des Übernatürlichen innerhalb des Werkes
2.3.2. Soziale Funktion des Übernatürlichen
2.3.3. Funktion des Phantastischen selbst
2.3.4. Exkurs II: Phantasmen der Macht
2.4. Überprüfung von Todorovs Modell
2.4.1. Zusammenfassung der Textanalyse
2.4.2. Ist die phantastische Literatur im 20. Jahrhundert tot?
2.4.3. Kritik

3. Kafka als Neophantast
3.1. Grundsätzliches zur Neophantastik
3.2. Lachmanns kultursemiotisches Modell der Phantastik
3.3. Konzeptgeschichte der Phantastik
3.3.1. Phantasmagenese
3.3.2. Phantastik als Gegenrhetorik – Das Paradox
3.3.3. Die Rolle des Zufalls
3.4. Orte des Phantastischen
3.4.1. eheimwissen
3.4.2. Exkurs III: Tier-Werden vs. Molekular-Werden
3.4.3. Zeichen
3.4.4. Blick
3.4.5. Diskurs
3.4.6. Medium
3.5. Orte des Neophantastischen
3.5.1. Die andere Morphologie
3.5.2. Das andere Wissen
3.5.3. Die andere Wirklichkeit
3.6. Überprüfung von Lachmanns Modell
3.6.1. Zusammenfassung der Textanalyse
3.6.2. Ist Kafka ein Neophantast?
3.6.3. Kritik

4. Wie phantastisch ist Kafka – ein Resümee

1. Einleitung

1.1. Über die vorliegende Arbeit

Tzvetan Todorov löste mit seiner Einführung in die fantastische Literatur1 die zeitgenössische Diskussion über Phantastiktheorien aus. Ob in Todorovs Tradition oder entgegen dieser, bis heute ist das Werk des bulgarischen Philologen Grundlage der meisten Untersuchungen, die sich mit phantastischer Literatur befassen. Am Beispiel von Kafkas Erzählung Die Verwandlung zeigt er auf, dass die traditionelle phantastische Literatur im 20. Jahrhundert nicht mehr existiert. Stattdessen konstatiert Todorov bei Kafka eine Art verallgemeinertes Phantastisches, welches nicht nur die gesamte Welt des Buches sondern auch den Leser selbst einschließt. Todorovs These stützt sich auf lediglich einen Text Kafkas. Die vorliegende Arbeit wird jene Behauptung vom Tod der phantastischen Literatur und die Sonderstellung Kafkas an seinen Erzählungen textanalytisch untersuchen. Die erste These ist somit keine eigene, sondern von Todorov übernommen. Während sie bei ihm das Fazit der Untersuchung bildete, ist sie für diese Arbeit die Ausgangsposition: Die phantastische Literatur ist im 20. Jahrhundert tot. Kafka führt eine Art verallgemeinertes Phantastisches fort.

Der zweite Theorieschwerpunkt liegt auf einem der aktuellsten Konzepte in der Phantastikforschung – Renate Lachmanns kultursemiotischer Untersuchung zur phantastischen Literatur. Ihr Ansatz zeichnet sich insbesondere durch seine Verbindung von Phantastik und Rhetorik aus. Die (Neo-)Phantasmen bekommen bei Lachmann, im wahrsten Sinne des Wortes, einen Ort zugewiesen und werden somit äußerst textnah veranschaulicht. Dies will sich die vorliegende Arbeit zum Beispiel nehmen. Renate Lachmann nennt in ihrer Untersuchung Erzählte Phantastik2 Franz Kafka in einem Atemzug mit weiteren Neophantasten. Ihre theoretischen Ausführungen und Textanalysen beziehen sich aber im Wesentlichen auf alle anderen Autoren außer Kafka. Im Folgenden wird Lachmanns Phantastikkonzept zum ersten Mal auf Kafkas Texte appliziert. Ziel ist es, herauszufinden, ob der Schriftsteller tatsächlich ein klassischer Neophantast ist. Auch die zweite zentrale These ist somit keine eigene, sondern vielmehr eine von Lachmann aufgestellte, aber unbewiesene: Kafka ist ein Neophantast.

Zur Textanalyse werden überwiegend die Erzählungen Franz Kafkas herangezogen. Hierbei gibt es keinen Fokus auf frühe Texte, späte Texte oder andere Differenzierungen. Vielmehr lassen sich die phantastischen Elemente in allen Erzählungen finden. Die Romane spielen in der vorliegenden Arbeit eine untergeordnete Rolle und werden nur in Einzelfällen zur Veranschaulichung herangezogen.

Der Ansatz dieser Untersuchung zeichnet sich durch deduktives Arbeiten aus: Die Beschreibung einer Theorie phantastischer Literatur wurde durch Todorov und Lachmann vorgenommen, deren Ergebnisse will die vorliegende Arbeit an weiteren Texten (Kafkas) prüfen beziehungsweise gegebenenfalls adäquat reformulieren.

Die Analyse von Todorovs und Lachmanns Phantastikkonzept durch die kafkasche Brille soll neue Anstöße für die Kafka-Forschung geben. Mithilfe der überwiegend strukturalen Textanalysen werden sich neue Interpretationsmöglichkeiten eröffnen, insbesondere bezüglich einer sozial- und diskurswissenschaftlichen Textarbeit mit Kafkas Erzählungen.

1.2. Grundsätzliches zur Forschung über phantastische Literatur

Die Forschungsliteratur bietet eine Vielzahl von Systematisierungsversuchen phantastischer Literatur. Einigkeit herrscht dabei in den wenigsten Fällen, wie Dieter Pennig in der Einleitung zu seiner theoretischen Bilanz schon bemerkte:

Von einer eigenständigen Gattung ´Phantastische Literatur´ zu reden fällt demjenigen schwer, der sich in der Literaturwissenschaft ebenfalls exakte Begriffe wünscht. Formal gesehen ergeben sich so gut wie keine Anhaltspunkte, wie z.B. bei einem Gattungsbegriff ´Tragödie´ oder ´Novelle´; inhaltlich wird das Phantastische oft im Zusammenhang gesehen mit dem Grotesken, dem Manieristischen, dem Absurden, dem Unheimlichen und dem Wunderbaren. In Frankreich spricht man im 19. Jahrhundert in Anschluß an die Rezeption E.T.A. Hoffmanns von einem ´conte fantastique´, aber sonst taucht das Phantastische als klare literaturgeschichtliche Kategorie nirgendwo auf.3

Trotz dieser Uneinheitlichkeit lässt sich ein gewisser Konsens bezüglich der Grundstruktur phantastischer Texte finden: Das Phantastische bezeichnet den Konflikt zweier Ordnungen, einer empirischen und einer spirituellen, die vom Standpunkt der Rationalität aus unvereinbar sind. Von der Spannung, welche Ordnung letztendlich die dominierende ist, lebt die phantastische Literatur.4

Allerdings gibt es nicht erst seit dem 20. Jahrhundert Meinungsverschiedenheiten in der Bestimmung phantastischer Literatur. Tzvetan Todorovs grundsätzliche Unterscheidung zweier sich ausschließender Weltordnungen5 (natürlich/übernatürlich) konnotiert auch eine Differenzierung bezüglich wahr/falsch. Die Poetologie des 18. Jahrhunderts, insbesondere bei Johann Jakob Bodmer und Jakob Breitinger, platziert das Wunderbare hingegen zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Der entscheidende Unterschied zu Todorov liegt darin, dass das, was notwendig oder unmöglich ist, nicht in Bezug auf die wirkliche Welt gesehen wird, sondern in Bezug auf die Konventionen der erzählten Welt und dem, was die innertextlichen Normen bricht.6 Bodmer und Breitinger legen ihrer Untersuchung einen völlig anderen Realitätsbegriff zugrunde. Ihre Vorstellung der beiden Welten ist heute die Grundlage für viele Konzepte phantastischer Literatur.

Die Werke von Roger Caillois und Tzvetan Todorov gelten gemeinhin als die Auslöser der zeitgenössischen theoretischen Phantastikdiskussion. Caillois definiert in Images, images7 den Begriff des Phantastischen in der Literatur wie folgt:

Im Phantastischen offenbart sich das Übernatürliche wie ein Riß in dem universellen Zusammenhang. Das Wunder wird dort zu einer verbotenen Aggression, die bedrohlich wirkt und die Sicherheit einer Welt zerbricht, in der man bis dahin die Gesetze für allgültig und unverrückbar gehalten hat. Es ist das Unmögliche, das unerwartet in der Welt auftaucht, aus der das Unmögliche per definitionem verbannt worden ist.8

Caillois Ansatz stützt sich im Wesentlichen auf eine Ordnungsstörung, die in das Reale einbricht, ohne es jedoch zu verändern. Bei ihm stehen die Verletzung der Gesetze und die Erscheinung des Unzulässigen im Mittelpunkt. Das Phantastische taucht nicht im Zauberwald oder im Spukschloss auf, sondern auf Nachbars Grundstück, welches sich eigentlich durch Sicherheit und Stabilität auszeichnen müsste. Die Definition von Tzvetan Todorov ist eine engere: Phantastik entsteht nur dann, wenn unschlüssig bleibt, ob ein dargestelltes Ereignis einer natürlichen oder einer übernatürlichen Ordnung zugehört.9

Nach Tzvetan Todorovs grundlegender Untersuchung sind in Eintracht und in Zwietracht mit dieser zahlreiche neue Theorien phantastischer Literatur entstanden. Einen Überblick über die verschiedenen methodologischen Ansätze zur Phantastikforschung gibt zum Beispiel der Sammelband Nach Todorov:10 Theorien der phantastischen Literatur werden unter Zuhilfenahme zahlreicher anderer Disziplinen konzipiert, wie der Literaturpsychologie, der Kulturanthropologie, der Religionswissenschaft, der Sozial- und Diskurswissenschaft, der Motivgeschichte, der Rhetorik und der Poetologie, der Semiotik, der Medienwissenschaft und des Poststrukturalismus. Insbesondere der sozial- und diskurswissenschaftliche Blickwinkel hat sich hierbei als fruchtbar und notwendig erwiesen, um die Konzepte phantastischer Literatur an Kafkas Erzählungen zu prüfen.

2. Der Tod der phantastischen Literatur im 20. Jahrhundert

2.1. Todorovs Konzept phantastischer Literatur

Tzvetan Todorov beschäftigt sich in seinem grundlegenden Werk Einführung in die fantastische Literatur mit der Phantastik. Todorovs strukturalistische Theorie wird seitdem kontrovers diskutiert und gilt bis heute als jenes Werk, welches den wissenschaftlichen Diskurs auf diesem Gebiet entscheidend geprägt hat. Allerdings hält der Literaturwissenschaftler die phantastische Literatur im 20. Jahrhundert für überholt. Einen Grund dafür sieht er unter anderem darin, dass Tabuthemen nicht mehr indirekt über die phantastische Literatur verarbeitet werden, sondern Gegenstand der Psychoanalyse geworden sind. Die Texte des 20. Jahrhunderts würden beim modernen Leser keine Unschlüssigkeit mehr hervorrufen, das Hauptkriterium für phantastische Literatur fehle somit. Die Wirklichkeit, von welcher sich die phantastische Literatur abgrenzt, wird in einem komplexeren Zusammenhang gesehen. Damit hätte die Psychoanalyse die phantastische Literatur ersetzt. Todorovs These vom Tod der phantastischen Literatur im 20. Jahrhundert stützt sich lediglich auf eine Textanalyse – Kafkas Die Ver ' andlung. Die vorliegende Arbeit wird weitere Texte Kafkas in die Untersuchung mit einbeziehen.

Todorovs Behauptung vom Tod der phantastischen Literatur im 20. Jahrhundert ist im Übrigen keine isolierte Ansicht im Kreise der Phantastiktheoretiker. So wurden ähnliche Meinungen auch von Theodor W. Adorno und Thomas Wörtche vertreten. Letzterer konstatiert, dass die Moderne dem mimetischen Ansatz der phantastischen Literatur widerspricht und das Phantastikgenre somit auf überkommenen Voraussetzungen beruht.11

Allerdings sieht Todorov in Kafkas Die Ver ' andlung auch eine gewisse Fortsetzung der phantastischen Literatur. Der Leser wird mit einem verallgemeinerten Phantastischen konfrontiert. Der Text ist nicht mehr auf den Kontrast zwischen den beiden noch zu beschreibenden Themenwelten (wunderbar und unheimlich) angelegt, sondern die Grenzen verschwimmen. Kafka bräuchte in seinen Erzählungen schon deshalb nicht mehr auf übernatürliche Wesen zurückzugreifen, da der Mensch an sich phantastisch genug sei. Was in der todorovschen Welt der Phantastik eine Ausnahme war, wird bei Kafka zur Regel.

Ist die phantastische Literatur im 20. Jahrhundert tatsächlich tot? Und inwieweit ist eine Sonderstellung der kafkaschen Texte, auch über die Erzählung Die Verwandlung hinaus, gerechtfertigt? Das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit wird Tzvetan Todorovs Phantastiktheorie vorstellen und an entsprechenden Textstellen aus Kafkas Erzählungen untersuchen. Ziel ist es demnach, die These vom Tod der phantastischen Literatur im 20. Jahrhundert für Kafkas Texte zu bestätigen oder zu revidieren. Ziel ist es ebenso, zu prüfen, ob jene „Sonderstellung Kafkas“, die Todorov mit Die Verwandlung aufzeigte, sich durch weitere Texte Kafkas festigt.

2.2. Form des Phantastischen

2.2.1. Zwischen den Genres

In einer Welt, die die unsere sein könnte, geschieht ein Ereignis, welches sich aus den vertrauten Gesetzen nicht erklären lässt. Zwei Möglichkeiten der Auflösung bieten sich an: Entweder sieht man sich mit einer Sinnestäuschung konfrontiert, was bedeutet, dass die Gesetze der Welt intakt bleiben, oder das übernatürliche Ereignis ist wirklich Bestandteil der Realität. Dann aber muss es neue Gesetze geben, die bisher unbekannt sind. Tzvetan Todorov definiert das Phantastische als diesen Moment der Ungewissheit: „Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.“12

Das Phantastische währt so lange wie die hésitation, die Unschlüssigkeit. Am Ende kommt, wenn auch nicht immer die Figur, so doch der implizite Leser zu einer Entscheidung und tritt aus der Unschlüssigkeit aus. Entscheidet sich der Leser, dass die Gesetze der Realität bestehen bleiben und eine Erklärung der unnatürlichen Phänomene zugelassen werden, akzeptiert er das Unheimliche als Gattung. Das Wunderbare hingegen zeichnet sich durch die Anerkennung neuer Naturgesetze aus, die eine Erklärung des unnatürlichen Ereignisses möglich machen. In der Tat gibt es nur wenige Werke, wie zum Beispiel Henry James´ The Turn of the Screw13, die jene Unschlüssigkeit bis zum Schluss beziehungsweise über den Schluss hinaus aufrechterhalten können. Todorov bezeichnet das Phantastische demnach auch als „verschwimmende“ Gattung.14

An dieser Stelle spielt auch die Einheit des Werkes eine wichtige Rolle. Eine weitaus größere Anzahl von Texten wäre dem phantastischen Genre zuzuordnen, wenn man nur Teile des Werkes betrachtete. Dies bestätigt die kafkasche Textanalyse, denn einzelne Teilstücke aus Beschreibung eines Kampfes wären viel leichter mit Todorovs Phantastikkriterien zu fassen als die gesamte Erzählung. Dies wird sich im Verlauf der Untersuchung noch zeigen.

Tzvetan Todorov zeigt eine Reihe von Untergattungen auf, in denen zwar zeitweilig die Unschlüssigkeit des Phantastischen besteht, diese aber schließlich zugunsten des Wunderbaren oder des Unheimlichen aufgelöst wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten15,16,17,18

Quelle: Eigene Darstellung

Das unvermischt Phantastische liegt dabei genau in der Mitte der Darstellung, zwischen „phantastisch-unheimlich“ und „phantastisch-wunderbar“. Sowohl das „unvermischt Wunderbare“ als auch das „unvermischt Unheimliche“ lassen sich jeweils nur nach einer Seite, nämlich in Richtung der Phantastik, abgrenzen. Auf der anderen Seite verlieren sich beide Genres ins allgemeine Feld der Literatur.19

Todorovs Definition ist keine gänzlich neue und nimmt auf verschiedene ähnliche Ansätze des 19. Jahrhunderts Bezug. Vor allem die Konstituierung des Phantastischen aus der Unschlüssigkeit zwischen zwei Grenzgenres taucht bereits bei Wladimir Solowjew und bei Montagu Rhodes James auf. Bei beiden liegt die Unschlüssigkeit beim Leser, erst spätere Untersuchungen beziehen auch den unschlüssigen Helden in das Phantastikkonzept mit ein. Dem Grenzcharakter des Phantastischen kommt jedoch bei Todorov eine herausragende Stellung zu, da es die Trennungslinie zwischen Wunderbar und Unheimlich definiert. Das Phantastische bestimmt sich somit aus dem Verhältnis zu seinen benachbarten Genres20 – allerdings nicht nur aus der Nachbarschaft zu den Genres des Wunderbaren und des Unheimlichen, sondern auch durch seine Beziehung zu Poesie und Allegorie. Diese stehen sich aber nicht oppositionell gegenüber, sondern die Gegenpole sind einerseits Poesie und Fiktion und andererseits allegorische und wörtliche Bedeutung. Laut Todorov impliziert die phantastische Literatur die Fiktion:

[...] wenn man beim Lesen eines Textes jede Repräsentation verweigert und jeden Satz als reine semantische Kombination ansieht, ist kein Raum für das Fantastische: es erfordert [...] eine Reaktion auf die Ereignisse, so wie sie in der evozierten Welt geschehen. Aus diesem Grunde kann das Fantastische nur in der Fiktion leben; die Poesie kann nicht fantastisch sein.21

In Bezug auf die allegorische Lesart insistiert Todorov, dass phantastische Erzählungen und Romane nur dann allegorisch gelesen werden dürfen, wenn es darauf explizite Hinweise im Text gibt. Er untersucht mehrere Stufen von Allegorien, in denen das Phantastische mehr oder weniger offensichtlich in Frage gestellt wird. Letztendlich macht Todorov aber die nichtallegorische und nichtwörtliche Lesart zur Bedingung für das Phantastische.22

Im folgenden Kapitel wird sich zeigen, dass sich Kafkas Texte aus verschiedenen Gründen nicht der traditionell phantastischen Gattung gemäß Todorov zuordnen lassen. Aber auch eine Einordnung in die eben vorgestellten benachbarten Genres ist nicht ohne weiteres möglich. Todorov bezeichnet in diesem Sinne Kafkas Erzählungen als Koinzidenz der beiden Gattungen des Wunderbaren und des Unheimlichen: Zwar ist das Übernatürliche nicht zu leugnen, jedoch hört es nicht auf, dem Leser unannehmbar zu sein.23

2.2.2. Die Bedingungen für das Phantastische

Einer Definition des Phantastischen legt Tzvetan Todorov verbale, syntaktische und semantische Eigenschaften des Werkes zugrunde. Insbesondere aber sind drei Bedingungen für das Phantastische ausschlaggebend: Da das Phantastische die Integration des Lesers in die Welt der Erzählung voraussetzt, ist die Unschlüssigkeit desselben eine gattungskonstituierende Bedingung.24 Der Leser darf sich demnach nicht klar darüber sein, ob die erzählten Ereignisse einer natürlichen oder einer übernatürlichen Erklärung bedürfen. Die Frage nach der Notwendigkeit einer textinternen Unschlüssigkeit verneint Todorov. Zwar könne die Unschlüssigkeit der handelnden Person durchaus thematisiert sein (und ist es auch oft in den von Todorov als klassisch phantastisch bezeichneten Texten), sie ist aber als zweite Bedingung für das Phantastische nicht zwingend. Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, dass insbesondere die Helden Kafkas keinerlei Unschlüssigkeit mehr über die absurden und unnatürlichen Begebenheiten empfinden. Eine dritte Bedingung betrifft die Lesart des Phantastischen: Diese darf weder allegorisch noch poetisch sein.25

Die Ambiguität des Phantastischen wird durch die Unschlüssigkeit in der Wahrnehmung oder in der Sprache veranschaulicht. Während sich die Helden der traditionellen phantastischen Texte oft nicht auf ihre Sinne verlassen können und somit eine ambige Wahrnehmung entsteht, ist es bei Kafka insbesondere die Sprache, welche Ambiguität hervorruft. Zwei Schreibweisen, durch die sich phantastische Texte auszeichnen, sind Modalisation und Imperfekt.26 Bestimmte phantastische Texte, Todorov zieht zur Veranschaulichung Gérard Nervals Aurélia27 heran, sind durchzogen von uneindeutigen beziehungsweise sich aufhebenden Phrasen. Auch bei Kafka zeichnet sich ein Großteil der Texte durch ambige Schreibweisen aus. Auf ein Beispiel aus der Erzählung Der Bau28 sei hier verwiesen:

Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen. Von außen ist eigentlich nur ein großes Loch sichtbar, dieses führt aber in Wirklichkeit nirgends hin, schon nach ein paar Schritten stößt man auf natürliches festes Gestein. [...] er ist so gesichert, wie eben überhaupt auf der Welt etwas gesichert sein kann, gewiß, es kann jemand auf das Moos treten oder hineinstoßen, dann liegt mein Bau frei da [...] Das schönste am meinem Bau ist aber seine Stille. Freilich, sie ist trügerisch.29

Diese charakteristische Erzählweise Kafkas wird im Verlaufe der Textanalyse noch ausführlich dargelegt, insbesondere das lachmannsche Konzept einer phantastischen Schreibweise steht dabei im Mittelpunkt. Neben der Unschlüssigkeit in der Sprache gibt es auch bei Kafka einige Erzählungen, die sich durch eine ambivalente Wahrnehmung auszeichnen. So sind sich beispielsweise die Ich-Erzähler in Josefine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse30 oder in Der Bau unsicher darüber, ob Josefine tatsächlich singt beziehungsweise wie real die Gefahr eines Angriffes ist. Unschlüssigkeit herrscht allerdings nicht in Bezug auf das tatsächliche Phantasma, nämlich ein sprechendes und reflektierendes Tier, sondern bezüglich etwas Anderem: Phantastisch beziehungsweise übernatürlich – und somit Verwunderung hervorrufend – ist das Alltägliche. Ich werde diesen Punkt im späteren Verlauf der Arbeit wieder aufgreifen.31

Todorovs These vom Tod der phantastischen Literatur stützt sich ja unter anderem auch darauf, dass die Unschlüssigkeit des Helden in Kafkas Texten verloren gegangen sei. Dies bestätigt auch die Analyse weiterer Kafka-Texte: Die Protagonisten sind nicht unschlüssig darüber, wie sie die unnatürlichen Ereignisse einordnen sollen. Weder der Sohn in Das Urteil noch Gregor Samsa in Die Verwandlung und auch nicht der Ich-Erzähler in Beschreibung eines Kampfes wundern sich über das Todesurteil des Vaters, das plötzliche Käfer-Sein oder die Fähigkeit, durch die Luft zu schwimmen.

2.2.3. Strukturale Eigenschaften phantastischer Texte

Wie bereits erläutert wurde, spielen bei Todorov sowohl die syntaktischen als auch die verbalen und semantischen Merkmale eine große Rolle. Darüber hinaus nennt Todorov drei Eigenschaften, an denen sich eine strukturale Einheit realisieren lässt. Anhand dieser strukturellen Merkmale kann man die Gattung des Phantastischen beschreiben:

1. Der bestimmte Gebrauch des bildlichen Diskurses, denn das Übernatürliche entsteht insbesondere dort, wo die übertragene Bedeutung wörtlich genommen wird. Rhetorische Figuren können auf unterschiedliche Art mit dem Phantastischen verbunden sein. So kann das Übernatürliche die letzte Stufe einer bildlichen Wendung beschreiben oder aber die rhetorische Figur realisiert die wörtliche Bedeutung eines bildlichen Ausdrucks, wie im Beispiel des Sich-zu-Tode-Hungerns des Hungerkünstlers oder des Zum-Tier-Werdens in Die Verwandlung. Die Beziehungen zwischen Phantastischem und bildlichem Diskurs sind keine individuellen stilistischen Eigenschaften, sondern Strukturmerkmale einer Gattung:32 „Wenn das Phantastische sich ohne Unterlaß rhetorischer Figuren bedient, so deshalb, weil es aus ihnen entspringt. Das Übernatürliche entspringt aus der Sprache, es ist zugleich ihre Folge und beweist sich an ihr [...]“33

Somit stellt bereits Tzvetan Todorov, 30 Jahre vor Lachmanns Untersuchung zur Erzählten Phantastik, den Zusammenhang zwischen Phantasmen und Rhetorik her. Wie der weitere Verlauf der vorliegenden Arbeit zeigen wird, bezeichnet und analysiert Lachmann die Phantastik als eine Art Gegenrhetorik und stellt jene rhetorischen Figuren in den Mittelpunkt der Untersuchung, die hier bei Todorov nur am Rande erwähnt werden.

2. Die Erzählerfigur. Der Erzähler tritt in phantastischen Texten gewöhnlich als Ich- Erzähler auf. Die Ereignisse sind übernatürlich, der Erzähler ist natürlich. Dadurch erleichtert er die Identifizierung des Lesers mit den handelnden Personen beziehungsweise mit dem Erzähler selbst. Der Diskurs desselben hat laut Todorov einen ambivalenten Charakter: Gehört er zum Erzähler, unterliegt er keinem Wahrheitsbeweis, gehört er jedoch zur handelnden Person, bleibt der Leser kritisch gegenüber dem Geschehen.34

Wieder ist es die Wahrheitsfrage, die die Kritiker Todorovs vereint, denn diese sei im Rahmen des literarischen Diskurses grundsätzlich unangemessen. Darauf weist zum Beispiel auch Uwe Durst in seiner Untersuchung zum destabilisierten Erzähler in der phantastischen Literatur hin.35 Durst hält eine allwissende Erzählinstanz mit dem Phantastischen für unvereinbar und sieht die Destabilisierung des Ich- und auch des Er-Erzählers als notwendige Voraussetzung für das Phantastische. Jene Destabilisierung kann laut Durst sowohl auf mikrostruktureller Ebene (zum Beispiel durch Modalisation, Imperfekt) als auch in der Makrostruktur einer Erzählung (zum Beispiel durch sich widersprechende Erzählinstanzen) realisiert werden.36 Laut Friedrich Beißner ist der Erzähler bei Kafka deshalb so unverwechselbar, da er die absolut subjektive Bewusstseinssituation einer Person darstellt, ohne jegliche objektive Korrektur. Gérard Genette bezeichnet diesen Modus des Erzählens als Interne Fokalisierung.37 Jene kann sowohl in der Ich-als auch in der Er-Form stattfinden und ist geradezu charakteristisch für Kafkas Texte. Leser und Erzähler sind auf demselben Wissensstand, der Erzähler sagt nicht mehr, als die Figur weiß:38

Der Erzähler [...] ist nirgends dem Erzählten voraus, auch wenn er im Praeteritum erzählt. Das Geschehen erzählt sich selber im Augenblick, in paradox praeteritaler Form; es erzählt sich aus einseitiger, aber durchaus einheitlicher Sicht und korrigiert nicht [...] den in solcher Sicht möglichen und fast unvermeidbaren Irrtum.39

Es finden sich in den Texten Kafkas zahlreiche Beispiele eines Erzählers, der durch seine subjektive Sichtweise nicht dieses Maß an Zuverlässigkeit beziehungsweise Glaubwürdigkeit bieten kann, wie dies Todorov für die phantastischen Texte voraussetzt. Dass nach der Verwandlung Gregor Samsas in einen Käfer die Familie nach und nach zusammenbricht und ihren gemeinsamen Hass gegen Gregor richtet, erlebt der Leser nicht im Rück- oder Ausblick eines allwissenden Erzählers, sondern in demselben Moment wie der Er-Erzähler. Egal ob Josef K.s Suche nach dem Gericht, der Versuch des undefinierten Tiers nach absoluter Sicherheit in seinem Bau40 oder Blumfelds Kampf mit den Bällen – der Leser macht denselben Erkenntnisprozess wie der erzählende Protagonist durch. Trotzdem stimmen die Untersuchungsergebnisse der vorliegenden Arbeit nicht mit Beißners Behauptung einer absolut einseitigen Erzählperspektive bei Kafka überein. Neben einem meist deutlich bestimmbaren Wechsel der Erzählperspektive vom Ich/Er-Erzähler zum auktorialen Erzähler am Ende vieler Texte Kafkas (Die Verwandlung, Ein Hungerkünstler), gibt es auch einzelne Stellen im Text, die die einseitige Erzählperspektive durchbrechen und reflektierende oder kommentierende Funktionen erfüllen.41

3. Die syntaktische Natur beziehungsweise die Komposition eines Werkes spielt als Strukturmerkmal für die phantastische Literatur eine wesentliche Rolle. Peter Penzoldt spricht von einer bestimmten Komposition phantastischer Werke, inklusive aufsteigender Linie und Höhepunkt.42 Todorov fasst dies jedoch allgemeiner und fokussiert den syntaktischen Aspekt eines Textes an der Figur des Lesers. Die Zeitlichkeit der Perzeption und die Zeit der Lektüre spielen demnach eine große Rolle. Liest man einen Text nicht in der vorgegebenen Reihenfolge, so ist der Verlust bei einer phantastischen Erzählung wesentlich größer als bei einer nichtphantastischen. Die erste Lektüre eines phantastischen Textes ruft im Gegensatz zu weiteren einen anderen Eindruck hervor, eine Identifizierung mit der Lektüre ist, laut Todorov, beim zweiten Lesen nicht mehr möglich.43

Da in Kafkas Erzählungen die Unschlüssigkeit des Helden an sich fehlt, kann es auch keine Auflösung des unnatürlichen Ereignisses in Richtung des Wunderbaren oder des Unmöglichen geben. Somit könnte man durch eine „falsche“ zeitliche Perzeption auch nicht die „Auflösung“ vorwegnehmen. Selbstverständlich spielt Zeitlichkeit im Hinblick auf einen klassischen Spannungsaufbau eine Rolle. So will der Leser natürlich wissen, wie sich das Schicksal des Hungerkünstlers entwickelt, was mit Gregor Samsa passiert und ob Blumfeld die springenden Bälle überlisten kann. Allerdings ist die von Todorov vorgenommene Differenzierung zwischen erster und zweiter Lektüre unwichtig geworden. Was Petra Perry über eine Lektüre von Kleists Erzählungen feststellt, lässt sich auch für Kafkas Texte bestätigen:

Wohl erfahren wir die Lösung der Geschichte, aber das Ende der Erzählung bedeutet nicht die Auflösung des in ihr aufgeworfenen Lebensproblems. Es bleibt über die Narration hinaus bestehen. Im wiederholten Nachvollzug verliert somit die fantastische Situation nicht ihren Nachdruck. Die Spannung des Lesers wird aufrechterhalten, bis er einen Weg findet, sich mit der Unvorhersehbarkeit der Welt abzufinden, oder diese auszuschalten. Man mag in der zweiten Lektüre die narratologischen Mittel des Fantastischen enthüllen oder nicht, das formale Verstehen kann das weltanschauliche Problem nicht vollends erklären und dem Leser-Unbehagen abhelfen.44

Während Todorov die syntaktische Struktur phantastischer Texte als entscheidend für eine zeitliche Perzeption derselben bezeichnet, gibt es bei Kafka-Lesern keinen Unterschied zwischen erster und zweiter Lektüre. Wie genau sich die syntaktische Struktur in seinen Erzählungen gewandelt hat, wird in Kapitel 2.3.3. erläutert.

2.2.4. Die Themen des Phantastischen

Neben syntaktischen und verbalen Aspekten sind es insbesondere die semantischen Merkmale, die das Phantastische konstituieren. Laut Todorov ist eine Typologie der Themen des Phantastischen sehr eng mit einer Typologie literarischer Themen verbunden.45 Auf der Suche nach einer geeigneten Methode der Themenanalyse verwirft Todorov verschiedene Themenklassifizierungen, wie beispielsweise die von Roger Caillois46 und Louis Vax47, da jene die Themen nicht in abstrakten Kategorien, sondern in konkreten Bildern einordnen. Dies läuft Todorovs Forschungsansatz zuwider. Die Themen werden bei ihm rein formal gruppiert. Eine Gruppe setzt sich aus jenen Themen zusammen, die gemeinsam auftreten und in einem Werk anzutreffen sind. Nach der Beschreibung der Gruppen soll die Zuordnung der Themen in diese begründet werden.48

Hingewiesen sei an dieser Stelle noch darauf, dass Todorovs Untersuchungsansatz ein strikt struktureller und kein interpretatorischer ist: Es wird lediglich das Vorkommen der Themen konstatiert, diese werden weder kritisiert noch interpretiert. Vielmehr geht es darum, eine Gattung zu untersuchen und demzufolge eine Regel zu finden, der sich viele Werke dieser Gattung unterwerfen. Todorovs Analyse der Themennetze ist somit zwar eine recht allgemeine, dafür aber weniger bestreitbar. Auch sieht er seine Einteilung keinesfalls als nur auf die phantastische Literatur eingeschränkt:

[...] unsere thematische Einteilung schneidet die Literatur in zwei Teile, manifestiert sich jedoch besonders klar in der fantastischen Literatur, in der sie ihre Superlativstufe erreicht. Die fantastische Literatur ist eine Art schmales, aber privilegiertes Territorium, von dem sich Hypothesen ableiten lassen, die die Literatur allgemein betreffen. Was zu beweisen wäre, versteht sich.49

Entstanden sind dadurch zwei Themennetze, das Netz der Ich-Themen und das der Du-Themen. Auf beide wird im Folgenden näher eingegangen.

2.2.5. Die Ich-Themen

Laut Tzvetan Todorov zeichnet sich innerhalb der phantastischen Literatur ein Prinzip ab, welches die Grenze zwischen Materie und Geist verwischt. Dieses Prinzip wird in den Ich-Themen veranschaulicht, die im Wesentlichen die Beziehung zwischen Mensch und Welt, mit Freud ausgedrückt das System Wahrnehmung – Bewusstsein, beschreiben.50 Jene Beziehung ist ein zentrales Element in Kafkas Erzählungen. In der Rahmenerzählung von Beschreibung eines Kampfes wird das Verhältnis zwischen Ich-Erzähler und dessen Bekanntem fokussiert. Der Ich-Erzähler ist hierbei jener, der dem Leben entfremdet ist, in einer eigenen Welt lebt, isoliert und unglücklich scheint. Der Bekannte hingegen ist realitätsbezogen, lebenslustig und ein Frauenschwarm. In der Binnenerzählung tauchen außerdem der Dicke und der Beter auf. Die Dialoge drehen sich fast ausschließlich um das Verhältnis des Ich-Erzählers zu anderen Personen. Diese Beziehungen sind geprägt durch Liebe, Hass, Neid und der Sehnsucht nach Akzeptanz, außerdem durch eine Vielzahl innerer Ambivalenzen. Insbesondere der Ich-Erzähler bewegt sich in einem ständigen Zwiespalt zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen, zwischen verschiedenen Einstellungen des Alter Ego und der Auflösung einer stabilen Grenze von Ich und Welt.51

Auch andere Erzählungen zeichnen sich insbesondere durch diese prägnante Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Außenwelt aus. In dieser Hinsicht ähneln sich Ein Hungerkünstler und Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse stark. In beiden steht das Verhältnis der Künstlerfigur zu seiner Umgebung im Mittelpunkt. Diese Beziehung ist durch Abhängigkeiten bedingt. Der Hungerkünstler bezeichnet einerseits das Hungern als Natur, andererseits als Kunst. Das Zur-Schau-Stellen des Hungerns soll ihm den Beifall des Publikums sichern. Letztendlich bestimmt das Verhältnis zur Außenwelt den Zweck des Hungerns, denn erst als er nicht mehr beachtet wird, sozusagen der Welt abhanden kommt, nähert er sich der Verwirklichung seines ursprünglichen Ziels – dem unbegrenzten Hungern.52 Eine ähnliche Thematik findet sich in Kafkas Erzählung Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse: Im Zentrum steht auch hier die wechselseitige Abhängigkeit der Sängerin vom Mäusevolk, des Ichs von der Welt und umgekehrt, wobei sich das Oppositionspaar Ich und Welt nicht klar zuordnen lässt. Sowohl Ich-Erzähler und Mäusevolk, Ich-Erzähler und Josefine als auch Mäusevolk und Josefine stehen in einer ambivalenten Beziehung zueinander.

Das Verhältnis von Ich und Welt beziehungsweise die Auflösung der Grenze zwischen diesen Oppositionen spezifiziert Todorov durch verschiedene Themen, wie den Pan-Determinismus, Metamorphosen, die Durchbrechung der Subjekt-Objekt-Grenze und einer Transformation von Zeit und Raum. Auf alle sei an dieser Stelle genauer eingegangen:

Der Pan-Determinismus bezeichnet eine verallgemeinerte Kausalität, die auf allen Ebenen und zwischen allen Elementen eine Beziehung beschreibt. Die Grenze zwischen Physischem und Geistigem löst sich auf.53 In der Erzählung Beschreibung eines Kampfes werden psychische Prozesse in physische Bewegungen transformiert, innere Vorgänge zu äußeren gemacht. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass die eigene Schwäche des Ich-Erzählers ihn allmählich seine Haltung verändern lässt:

[...] und es wurde mir schmerzlich, daß ihm vielleicht meine lange Gestalt unangenehm sein könnte, neben der er vielleicht zu klein erschien. Und dieser Umstand quälte mich [...] doch so sehr, daß ich meinen Rücken so gebückt machte, daß meine Hände im Gehen meine Knie berührten. Damit aber mein Bekannter meine Absicht nicht merke, veränderte ich meine Haltung nur allmählich [...]54

Auf Gesten und Worte der Annäherung folgt hier eine allmähliche körperliche Anpassung an die Gestalt des Begleiters. Ein deutliches Beispiel für den Pan-Determinismus findet sich außerdem in der Erzählung Der Kübelreiter: Darin evoziert die Leere des Kohlenkübels für den Ich-Erzähler die Möglichkeit, auf demselben reiten zu können.55 Erst die Leere macht ihn zum Reittier. Zwischen allen Begebenheiten (Leere des Kübels) und Desideraten (Kohlen holen) besteht zwangsläufig eine Beziehung.56 Kein Ereignis ist zufällig.57

Ähnlich dem Pan-Determinismus helfen auch die Metamorphosen laut Todorov einer mangelnden Kausalität ab. Er bezeichnet sie als eine Art Formübergang von den Wörtern zu den Dingen, die diese Wörter bezeichnen sollen. Auch die Metamorphosen kennzeichnen eine Überschreitung der Trennungslinie zwischen Geist und Materie.58 So bewegt sich der Ich-Erzähler in Beschreibung eines Kampfes mithilfe von Schwimmbewegungen fort. Er verfügt urplötzlich über eine neue Fähigkeit, die die Naturgesetze aufhebt: „[...] und es wurde mir leicht, als ich Schwimmbewegungen mit den lässigen Armen machend ohne Schmerz und Mühe vorwärtskam.“; „[ich] umkreiste schwimmend jede Heiligenstatue [...]“59. Beachtenswert ist, dass sich der Ich-Erzähler in keiner Weise über seine neu gewonnene Fähigkeit wundert. Es entsteht beim Helden keine Unschlüssigkeit und die phantastische Fähigkeit des Menschen, in der Luft zu schwimmen, kann weder in Richtung des Unheimlichen noch des Wunderbaren aufgelöst werden. Dies wurde bereits in Kapitel 2.2.2. erläutert. Metamorphosen spielen auch in anderen Erzählungen Kafkas eine Rolle, wie beispielsweise in Die Verwandlung (Vom Menschen zum Käfer) oder in Ein Bericht für eine Akademie (Vom Affen zum Menschen). Allerdings ist fraglich, ob die Metamorphosen, wie Todorov dies für die traditionellen phantastischen Texte konstatiert, einer mangelnden Kausalität abhelfen.

Der Mensch als Subjekt steht normalerweise in einer konkreten Beziehung zu den Objekten, die ihn umgeben. Die Durchbrechung der Grenze zwischen Subjekt und Objekt ist ein weiteres Merkmal in Todorovs Ich-Themenfeld. In Kafkas Erzählung Beschreibung eines Kampfes verliert die äußere Realität sogar ihre Form und lässt sich nach dem Willen des Ich-Erzählers in Konstanz und Stabilität variieren: „Weil ich aber als Fußgänger die Anstrengung der bergigen Straße fürchtete, ließ ich den Weg immer flacher werden und sich in der Entfernung endlich zu einem Tale senken. Die Steine verschwanden nach meinem Willen [...]“60

Außerdem werden Objekte personifiziert, indem sie mit nichtsächlichen, oft sogar menschlichen Adjektiven belegt werden. Zeitgleich werden aber auch Personen als Objekte beschrieben:

[...] in den hohen, verwirrten Fichtenwald [...]61; [...] der Mond versank schwächlich [...]62;

Er [Der Ich-Erzähler] sieht aus [...] wie eine Stange in baumelnder Bewegung, auf die ein gelbhäutiger und schwarzbehaarter Schädel ein wenig ungeschickt aufgespießt ist.63

In der Erzählung Die Brücke wird eine Brücke doppelcharakteristisch verwendet. Der menschliche Körper scheint vom Subjekt zum Objekt geworden zu sein: „Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich, diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm hatte ich mich festgebissen.“64 Auch löst sich diese Doppelcharakteristik im Laufe der Erzählung nicht auf. Vielmehr werden sowohl dem Objekt Brücke menschliche Eigenschaften zugeschrieben (Fußspitzen, Hände, Schmerz) als auch dem menschlichen Wesen objektähnliche Charakteristika (Passivität, Nicht-sehen-können). Die Beschreibung eines Objekts, was zugleich Subjekt ist, zeichnet übrigens auch Gregor Samsa beziehungsweise den Käfer in Die Verwandlung und die Bälle in der Erzählung Blumfeld, ein älterer Junggeselle aus . Obwohl diese Gummibälle dem Protagonisten überallhin folgen, kann er ihnen kein Leid antun:

Blumfeld könnte auch diesen Ball fangen und beide irgendwo einsperren, aber es scheint ihm im Augenblick zu entwürdigend, solche Maßnahmen gegen zwei kleine Bälle zu ergreifen. [...] schiebt er ihnen entsprechend der gewonnenen Erfahrung zwei Teppiche unter. Es ist, als hätte er einen kleinen Hund, den er weich betten will.65

Die Bälle werden von Blumfeld zwar als störend empfunden, trotzdem behandelt er sie mehr als Subjekte, nämlich Haustiere, denn als Objekte.

[...]


1 Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. München 1972

2 Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Frankfurt am Main 2002

3 Pennig, Die Ordnung der Unordnung, 34

4 Ebd., 36

5 Siehe Kapitel 2.2.1.

6 Auch andere Autoren wie beispielsweise Roger Caillois oder Pierre-Georges Castex, haben nicht zwischen fiktionsexterner Wirklichkeit und fiktionsinterner Realität unterschieden. Vgl: Werber, Phantasmen der Macht, 57

7 Caillois, Roger: Images, images. Essais sur le rôle et les pouvoirs de l'imagination. Paris 1966

8 Zondergeld, Rein, A.: Was ist phantastische Literatur? Einleitende Bemerkungen zu einem Definitionsproblem. In: ders. (Hg.), Lexikon der phantastischen Literatur. Frankfurt am Main 1983. S.11-13

9 Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 26

10 Ruthner, Clemens; Reber, Ursula; May, Markus (Hg.), Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Tübingen 2006

11 „Meine These ist nun, daß die phantastische Literatur dies [Intendierte Verhinderung einer Auflösung der beiden Pole Unheimlich und Wunderbar] mit Mitteln tut, die spezifisch sind und sich durch eben diese Spezifikation von der Moderne absetzt, die ja möglicherweise insgesamt unter dem Signum der Uneindeutigkeit, der Mehrdeutigkeit steht. Die Phantastik, hier wäre Todorov auf Umwegen zuzustimmen, ist dann allerdings sehr wohl zum Fall für die Literaturgeschichte geworden.“ Aus: Wörtche , Thomas: Phantastik und Unschlüssigkeit. Zum strukturellen Kriterium eines Genres. Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink. Meitingen 1987. S. 56

12 Todorov, Einführung in die phantastische Literatur, 26

13 James, Henry, The Turn of the Screw. London 1923

14 Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 41

15 Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 44

16 Ebd., 43

17 Ebd., 49

18 Ebd., 51-54

19 Ebd., 44, 51

20 Ebd., 27

21 Ebd., 57

22 Ebd., 58-68

23 Ebd., 153

24 Die Unschlüssigkeit als zentrales Kriterium phantastischer Literatur ist allerdings bei Todorov kein Unikum. Auch in Thomas Wörtches Phantastik und Unschlüssigkeit steht hésitation im Mittelpunkt der Untersuchung, allerdings in vielmehr textstruktureller als rezeptionsästhetischer Hinsicht. Siehe: Wörtche, Phantastik und Unschlüssigkeit

25 Marianne Wünsch spezifiziert Todorovs dritte Bedingung dahingehend, als dass das Phantastische nicht nur an die Wörtlichkeit der Aussagen gebunden sei, sondern es darf auch keine Indikatoren für die Nicht-Realität oder die Übersetzbarkeit geben. Aus: Wünsch, Marianne: Die fantastische Literatur der frühen Moderne. München 1991. S. 42

26 Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 38

27 Nerval, Gérard: Aurélia. Pisa 1987

28 Kafka, Franz: Der Bau. In ders., Sämtliche Erzählungen. Hg. Paul Raabe. Frankfurt am Main 1995. S.359-388

29 Ebd., 359-361

30 Kafka, Franz: Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. In: ders., Sämtliche Erzählungen. Hg. Paul Raabe. Frankfurt am Main 1995. S. 172-185

31 Siehe Kapitel 2.3.3.

32 Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 70-75

33 Ebd., 75

34 Ebd., 75-79

35 Durst, Theorie der phantastischen Literatur, 158-173

36 Ebd., 168f.

37 Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 6. Aufl. München 2005. S.64

38 Beißner, Friedrich: Der Erzähler Franz Kafka. Frankfurt am Main 1983, S. 12f.

39 Ebd., 40

40 Kafka, Der Bau. In ders., Sämtliche Erzählungen. Hg. Paul Raabe. Frankfurt am Main 1995. S.359-388

41 Beispiel für die Durchbrechung der internen Fokalisierung: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben.“ (Kafka, Der Proceß, 7)

42 Penzoldt, Peter: The supernatural in fiction. New York 1965. S. 15ff

43 Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 79-81

44 Perry, Petra: Das Fantastische bei Kleist und Todorov. In: Germanic Review 63:2 (1988). S. 91. Weitere, insbesondere strukturelle, Parallelen zwischen Kafkas und Kleists Werk unter anderem bei Allemann, Beda: Kleist und Kafka. Ein Strukturvergleich. In: Claude David (Hg.), Franz Kafka. Themen und Probleme. Paris 1978. S. 152-172

45 Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 85

46 Caillois, Images, images. Essais sur le rôle et les pouvoirs de l'imagination. Paris 1966

47 Vax, Louis : L´Art et le littérature fantastiques. Paris 1963

48 Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 83-96

49 Ebd., 138

50 Ebd., 97-111

51 Neymeyr, Barbara: Konstruktion des Phantastischen. Die Krise der Identität in Kafkas Beschreibung eines Kampfes. Heidelberg 2004. S.11

52 Heller, Paul: Ein Hungerkünstler. In: Kindlers Literaturlexikon Bd. 9. München 1990. S. 36f.

53 Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 101f.

54 Kafka, Franz: Beschreibung eines Kampfes. In: ders., Beschreibung eines Kampfes und andere Schriften aus dem Nachlass. Hg. Hans-Gerd Koch. Frankfurt am Main 2004. S. 202

55 Kafka, Franz: Der Kübelreiter. In ders., Sämtliche Erzählungen. Hg. Paul Raabe. Frankfurt am Main 1995. S.195-196

56 Diese Beziehung ist kausal formuliert („Mein Kübel ist schon so leer, daß ich auf ihm reiten kann.“), beschreibt aber eigentlich eine Finalität („Verbraucht alle Kohle; leer der Kübel [...] ich darf doch nicht erfrieren“). Aus: Kafka, Der Kübelreiter, 195

57 Was Todorov als eine „verallgemeinerte Kausalität“ bezeichnet, will ich bei Kafka lieber unter dem Begriff einer „anderen“ Kausalität fassen. Renate Lachmann spricht später in der Neophantastik sehr radikal vom „nackten Kontingenten“, was kein Widerspruch zu Todorov ist, sondern lediglich in den neophantastischen Welten eine andere Art der Ordnung feststellt. Mehr dazu in Kapitel 3.3.3..

58 Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 102

59 Kafka, Beschreibung eines Kampfes, 205

60 Kafka, Beschreibung eines Kampfes, 207

61 Kafka, Beschreibung eines Kampfes, 208

62 Kafka, Beschreibung eines Kampfes, 208

63 Kafkas, Beschreibung eines Kampfes, 201

64 Kafka, Franz: Die Brücke. In: ders., Sämtliche Erzählungen. Hg. Paul Raabe. Frankfurt am Main 1995. S. 284

65 Kafka, Franz: Blumfeld, ein älterer Junggeselle. In: ders., Sämtliche Erzählungen. Hg. Paul Raabe. Frankfurt am Main. S. 267, 270

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Wie phantastisch ist Kafka?
Untertitel
Die Anwendbarkeit von Phantastiktheorien auf Kafkas Erzählungen
Hochschule
Universität Konstanz
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
82
Katalognummer
V127835
ISBN (eBook)
9783640341047
ISBN (Buch)
9783640336784
Dateigröße
1142 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kafka, Anwendbarkeit, Phantastiktheorien, Kafkas, Erzählungen, Thema Franz Kafka, Thema Kafka Interpretationen
Arbeit zitieren
M.A. Claudia Engelmann (Autor:in), 2007, Wie phantastisch ist Kafka?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/127835

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