Novalis: "Die Christenheit oder Europa" - Die Geburt der europäischen Geschichte aus dem Geiste der Erzählung


Hausarbeit, 2007

19 Seiten, Note: A


Leseprobe


Novalis: Die Christenheit oder Europa Die Geburt der europäischen Geschichte aus dem Geiste der Erzählung

eingereicht von Anna Milena Jurca

Die Abwendung von klassischen Vorbildern der griechischen und römischen Antike, die lange Zeit das kulturelle Schaffen Europas dominierte und inspirierte, schlug sich sowohl sprachlich als auch generisch in der Kunstauffassung des 18. Jahrhunderts nieder: Die Romantik und ihre Obsession mit dem Roman speisen sich etymologisch und diskurshistorisch aus der Quelle der Aufwertung der lingua romana oder auch Volkssprache und in der Zurückweisung der „antiken Rhetorik und ihrer normaitven Stilistik“ (Schanze, S. 1) als alleinig wertgeschätzte kulturelle Ausdrucksform. Klassisches Drama und Epos, um nur die zwei wichtigsten Vertreter dieser Tradition zu nennen, wurden von den Autoren der Romantik nicht mehr als Ideal literarischen Schaffens betrachtet. Statt dessen wurde die größte Aufmerksamkeit dem noch in den Kinderschuhen steckenden Romans geschenkt – der sicherlich im 18. Jahrhundert als klare Gattung noch nicht erkennbar war, aber doch als bestimmte Form einer Erzählung thematisiert und theoretisiert wurde.

Der Roman, durchaus als solcher bezeichnet und mit bestimmten literarischen Vorstellungen versehen, wurde damit Teil einer größeren theoretisch-philosophischen Diskussion, die sich auf Bereiche der Religion, Geschichte, Literatur, Ästhetik und Philosophie erstreckte – kurz, das Unternehmen „Kultur“, an deren konzeptueller Ausformulierung im Europa des 18. Jahrhunderts eifrig gearbeitet wurde. Herder, Kant und Schlegel, um nur die drei Flagschiffe deutscher Geistesgeschichte in dem Epochenhybrid von Romantik und Aufklärung zu nennen, verwendeten einen großen Teil ihrer philosophischen Mühen darauf, herauszufinden bzw. den gängigen Paradigmen gemäß zu konstruieren, was Kultur sei, wie sie sich von der Natur unterscheide und was das Ganze mit dem Menschen und seiner Geschichte zu tun habe. Während sich die Breite der Konzepte zur Geschichte von der Vorstellung einer Kette der Wesen über die Idee von Einheit und Differenz von Geist und Materie bis hin zu Hypostasen- und Emanationstheorien des andauernden Gebären und Wiedergebärens des ursprünglichen Einen zu weiteren Stadien der Existenz erstreckte, fand zumindest die Frage der angemessenen Darstellung der wie auch immer beschaffenen Menschheitsgeschichte zu einer schnelleren Antwort:

Es ist zwar ein befremdlicher und, dem Anscheine nach, ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zu Stande kommen. (Kant, S. s48)

Da finden sich zumindest die wesentlichsten Dinge versammelt, die sich noch mit Sicherheit feststellen lassen: Es gibt einen Weltlauf (history). Der folgt einer Idee (zumindest, wenn er vernünftig gestaltet ist). Man kann eine Geschichte (story) dazu abfassen, die die Form eines Romans annehmen muss, wobei sich hier die ersten Probleme ergeben, will man noch sichere Aussagen treffen.

Der Roman (das klingt rein grammatikalisch leider nach einer festen Vorstellung über ein abgeschlossenes Ganzes) ist mannigfache und vielgestaltige Debatten über sein Aufkommen, seine Struktur und Form, seine Geschichte, seine Theorie und seine schlichte Existenz als „Genre“ bereits seit Längerem gewohnt. Was ihn zumindest gegenüber seinen althergebrachten Gattungs-Brüdern (Drama, Epos, Lyrik) auszeichnet, ist, dass er nicht in den Kanon klassischer, damit vor allem römisch-griechischer Vorbilder, Literatur geboren wurde, sondern eher ein Chimära aus verschiednen Textsorten, Genre und Gattungsfragmenten ist (vgl. Schlegels Lucinde). Genauer gesagt fällt das Auftauchen des Romans als Konzept im 18. Jahrhundert zusammen mit der Abwendung der von der Literaturwissenschaft später als „Romantiker“ bezeichneten Autoren zusammen, die sich gegen die klassischen Stilformen und Vorbilder der Literatur aussprachen und im teilweise im wahrsten Sinne des Wortes Volkssprache und Volksdichtung (vgl. Tiecks, Brentanos und Novalis’ Kunstmärchen) ins Pantheon anerkannter Literatur erhoben. Die Ablehnung von lateinischer Sprache und die Zurückweisung der lange Zeit Alleinanspruch auf Geltung erhebenden Stil- und Genreformen und die Hinwendung zu Volksmärchen, Volkssprache (Deutsch) und Mittelalter war jedoch kein linearer und einseitiger Prozess. Vielmehr zeichnet sich die Romantik gerade dadurch aus, dass Wunderbares und Alltägliches miteinander vermischt und ineinander verwoben auftreten, ein Umfeld, in dem eine Hybridform wie der Roman hervorragend gedeihen und zu Ansehen gelangen konnte.

Die Faszination für die inzwischen zur Gattung erklärten Struktur „Roman“ speist sich zum Gutteil aus genau dieser Fähigkeit, verschiedener Formen zu verinnerlichen oder gar zu verschlucken, ohne jedoch seine konzeptuellen Charakteristika als Roman zu verlieren: Der Roman „is thus best conceived either as a supergenre, whose power consists in its ability to engulf and ingest all other genres [...]; or not a genre in any strict, traditional sense at all.” (Holquist, S. xxix)

Bei allem später hinzugefügten Theoriewerk auf dem 19. und 20. Jahrhundert finden sich jedoch bereits in der Epoche der Romantik einige grundsätzliche Vorstellungen, die für die nächsten zwei Jahrhunderte der Idee „Roman“ einen Rahmen gaben. Dazu haben literarische Werke wie Die Leiden des jungen Werther, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Hyperion und Lucinde Muster gegeben, das konzeptuelle Fundament findet sich jedoch auch in für die Romantik wichtigen theoretischen, philosophischen und literaturästhetischen Abhandlungen (vgl. Lessings Erziehung des Menschengeschlechts, Schlegels Über Wilhelm Meister), von denen eine unter den Gesichtspunkten der von ihr geforderten narrativen Struktur und der darin formulierten geschichtsphilosophischen Vorstellungen untersucht werden soll: Novalis’ Europa.

Novalis’ 1826 posthum unter dem Titel Die Christenheit oder Europa veröffentlichte Rede stellt inhaltlich knapp zusammengefasst den Entwurf einer idealen Zeit dar, in der weltliche Kräfte in einer friedlichen Zeit unter einem Oberhaupt (Papst) sinnvoll geordnet sind. Nach einer Zeit des Niedergangs und Verfalls wird eine in der Zukunft angesiedelte Verjüngung der Geschichte und eine Wiedervereinigung Europas unter dem Schutz des Christentums verkündet. In Kongruenz zum Inhalt ist die Europa ihrer Struktur nach unterteilt in drei Triaden (vgl. Malsch, S. 37), deren erste die Einheit der Wesen und Dinge unter der Religion beschreibt. Die zweite widmet sich der durch die Reformation zerstörten Einheit der Religion in Wissen und Glauben, während die dritte Triade ein vereinigtes Europa unter kirchlicher Vorherrschaft als Erneuerung des Mittelalters prognostiziert.

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Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Novalis: "Die Christenheit oder Europa" - Die Geburt der europäischen Geschichte aus dem Geiste der Erzählung
Hochschule
Georgetown University  (German Department)
Veranstaltung
Work of Kultur
Note
A
Autor
Jahr
2007
Seiten
19
Katalognummer
V127393
ISBN (eBook)
9783640347612
ISBN (Buch)
9783640347902
Dateigröße
479 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Novalis, Christenheit, Europa, Geburt, Geschichte, Geiste, Erzählung
Arbeit zitieren
Anna Milena Jurca (Autor:in), 2007, Novalis: "Die Christenheit oder Europa" - Die Geburt der europäischen Geschichte aus dem Geiste der Erzählung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/127393

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