Medea, Penthesilea, Elektra - Frauenfiguren der griechischen Mythologie in der deutschsprachigen Literatur


Magisterarbeit, 2007

75 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Mythos

3. Medea
3.1 Euripides Medea
3.1.1 Medeas Charakter
3.1.2 Der Kindsmord
3.1.3. Die Schuldfrage
3.2 Grillparzers Medea
3.2.1 Medeas Charakter
3.2.2 Der Kindsmord
3.2.3 Die Schuldfrage
3.3 Christa Wolfs Medea
3.3.1 Medeas Charakter
3.3.2 Der Kindsmord
3.3.3 Die Schuldfrage

4. Elektra
4.1 Sophokles Elektra
4.1.1 Elektra
4.1.2 Chrysothemis
4.1.3 Orest
4.1.4 Klytaimnestra
4.1.5 Der Chor
4.2 Hugo von Hofmannsthals Elektra
4.2.1 Unterschiede zur antiken Vorlage
4.2.2 Elektra als Zeitphänomen
4.2.2.1 Psychologische Aspekte
4.2.2.1.1 Elektras Besessenheit
4.2.2.1.2 Hysterie in der Elektra

5. Penthesilea
5.1 Kleists Penthesilea
5.1.2 Quellen
5.1.3 Das Entsetzliche in der Penthesilea
5.1.3.1 Das Amazonengesetz und die Liebe
5.1.3.2 Liebe als Jagd
5.1.3.3 Liebe als Opfer
5.1.3.4 Missverstandene Liebe
5.1.3.5 Übermaß an Liebe

6. Resümee

7. Literaturverzeichnis

1.Einleitung

„Sie hat ihn wirklich aufgegessen, den Achill, vor Liebe. Erschrecken Sie nicht, es läßt sich lesen“[1], schreibt Kleist an Goethe und spricht damit selbst aus, was das Publikum sowohl damals, wie auch heute entsetzt, jedoch zugleich fasziniert. Auch die beiden anderen Frauenfiguren Medea und Elektra sind bis heute bekannt dafür, grausame und unverständliche Taten begangen zu haben. Medea hat aus Rache an ihrem Mann Jason ihre eigenen Kinder getötet. Elektra verlangt von ihrem Bruder aus Rache ihre eigene Mutter zu töten. Als Frauen, im Speziellen als Mütter oder auch Töchter, handeln sie entgegen gewohnten Handlungsstrukturen. Ihre Handlungen sind widernatürlich und entsprechen nicht dem, was das Publikum erwarten würde. Darin besteht das eigentlich erschreckende ihrer Handlungen. Sie als Frauen greifen auf männliche Handlungsstrukturen zurück. Zugleich faszinieren sie das Publikum jedoch ungemein. Wie sonst könnten Erzählungen über diese Figuren über Jahrhunderte in der Literatur bestehen und immer noch erzählt werden, wenn auch in immer wieder veränderter Form?

Die Veränderungen, die diese Frauenfiguren innerhalb der deutschen Literatur erleben, werden in dieser Magisterarbeit eingehend untersucht. Aus diesen Untersuchungen ergeben sich vor allem die Fragen, inwiefern und vor allem warum sich die Figuren über die Jahrhunderte entwickeln und wozu diese Entwicklungen geführt haben.

Dazu wird zunächst erläutert, welche Bedeutung das Wort „Mythos“ in sich trägt und welche Funktion der Mythos an sich erfüllt. Hierbei wird vor allem die Forschung von Roland Barthes herangezogen, der im Mythos ein „sekundäres semiologisches System“ sieht.[2] Dies bedeutet für ihn, dass der Mythos immer ideologisch aufgeladen und somit für einen bestimmten Zweck funktionalisiert wird, der sich im Laufe der Zeit verändert.

Im Anschluss daran wird als erste Frauenfigur die Medea untersucht. Hierbei werden die Arbeiten von Euripides, Franz Grillparzer und Christa Wolf gegenübergestellt. Auch Euripides hat bei seiner Version auf einen bereits bestehenden Mythos zurückgegriffen. Dieser stellt Medeas Geschichte jedoch noch vollkommen anders dar. Erst Euripides macht Medea zu der unheimlichen Gestalt, die in der Lage ist ihre Kinder zu töten. Er wandelt Medea von einer menschlich agierenden Frau in eine Figur, die auf Grund ihres verletzten Stolzes auf männliche Kriegerethik zurückgreift und so in der Lage ist, eine unvorstellbar grausame Tat zu begehen. Die Frage lautet also, warum Euripides diese ursprünglich friedliche Figur in ein scheinbares Monster verwandelt und ob nur Medea selbst für ihre Tat verantwortlich gemacht werden kann. Von dieser Fragestellung ausgehend wird auch Grillparzers Version der Medea untersucht. Auch seine Medea ist die Mörderin ihrer Kinder. Jedoch versucht diese Medea sich zunächst ihrer Situation im fremden Griechenland anzupassen, was ihr allerdings unmöglich gemacht wird. Zudem psychologisiert er sein Drama tiefer. Verschiebt sich dadurch die Frage der Schuld bei Grillparzer, kann er eine Erklärung für ihr Verhalten finden?

Der 1996 erschienene Roman „Medea – Stimmen“ von Christa Wolf steht im absoluten Gegensatz zu den bisherigen Versionen. Bereits dadurch, dass sie die Form des Romans wählt, zeigt sie deutliche Unterschiede auf. Sie leugnet jedoch vor allem jegliche Anschuldigungen, die Medea bisher entgegen gebracht worden sind. Aus diesem Grund wird untersucht, wie Christa Wolf diese drastische Veränderung begründen kann und durch welche Thematik sie das bisherige zentrale Motiv des Kindsmordes ersetzen kann.

Die zweite Frauenfigur, die in dieser Magisterarbeit untersucht wird, ist Elektra. Hier werden die Werke von Sophokles und Hugo von Hofmannsthal gegenübergestellt. Auch diese beiden Versionen unterscheiden sich deutlich voneinander. Sophokles ist der Erste, der aus einer einzelnen Figur eines ganzen Mythenkomplexes das eigenständige Drama „Elektra“ verfasst. Elektra ist auf Grund ihrer Rachelust genau wie Medea eine unheimliche Frau. Die Situation, in der sie sich befindet, macht ihren Wunsch nach Rache zwar verständlich, doch ist diese Rache zum gesamten Inhalt ihres Lebens geworden und macht ein normales Leben, wie es die anderen Figuren des Dramas leben, nicht mehr möglich. Anhand der einzelnen Figuren von Sophokles Drama soll in dieser Arbeit herausgearbeitet werden, in wie weit das Maß oder Unmaß der Gefühle eine Rolle spielt und wer sich richtig oder auch falsch verhält.

Hugo von Hofmannsthal adaptiert Anfang des 20. Jahrhunderts nicht einfach Sophokles Drama, sondern entwickelt ein vollkommen Neues, weshalb die Analyse einer anderen Struktur bedarf. Bei dieser Analyse wird somit vor allem zu untersuchen sein, welche kulturellen und geistigen Strömungen seiner Zeit ihn in seiner Arbeit beeinflusst haben. Die Psychologie, die sich durch Freud und Breuer weiterentwickelt hat, wird hierbei einen großen Raum einnehmen. Bei den psychoanalytischen Untersuchungen zu Hofmannsthals Elektra spielt vor allem die Forschungsliteratur von Michael Worbs eine Rolle, der Hofmannsthals Elektra mit Freuds Untersuchungen seiner Patientin Anna O. in Verbindung setzt, wie es ein Großteil der bisherigen Forschung versucht.

Die dritte hier zu analysierende Frauenfigur ist Kleists Penthesilea. Im Gegensatz zu den anderen beiden Frauenfiguren greift Kleist jedoch nicht auf eine antike Vorlage zurück, sondern entwickelt aus einer Frau, die bis dahin lediglich in einer Episode des Trojanischen Krieges erwähnt wurde, ein eigenständiges Drama. Darum kann hier nicht die Frage sein, inwiefern sich sein Drama von vorherigen Versionen unterscheidet, oder wie sich die Figur der Penthesilea entwickelt hat. Jedoch handelt es sich bei Penthesilea ebenfalls um eine Frau, die sich männlicher Kriegerethik bedient und eine sowohl unverständliche, wie auch schreckliche Tat begeht. Auch für diese Tat müssen Gründe vorliegen, die es in dieser Arbeit zu erläutern gilt. Die Reihenfolge der zu analysierenden Figuren ergibt sich aus der Anzahl der zu vergleichenden Dramen. Da Kleists Penthesilea mit keinem anderen Werk direkt zu vergleichen ist, bildet sie den Abschluss.

Insgesamt betrachtet entwickelt sich aus der Analyse der einzelnen Frauenfiguren ein zentrales Motiv, das sie alle miteinander verbindet. Medea, Elektra und Penthesilea sind Frauenfiguren, deren unheimliches Erscheinungsbild sich nicht nur aus ihren Handlungen an sich ergibt, sondern vor allem aus der Tatsache heraus, dass Frauen diese grausamen Handlungen vollbringen. Das Weibliche geht einher mit einer Fremdartigkeit, die eine Gefahr für die patrilinearen Gesellschaft darzustellen scheint. Bei Medea wird diese Andersartigkeit noch durch ihre halbgöttliche Herkunft und ihren korinthischen Hintergrund verstärkt. Dies ist auch bei Penthesilea der Fall, die als Amazoninen einen ebenfalls vollkommen anderen gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund hat, wie die anderen Figuren.

Wie sich diese Andersartigkeit auf die Darstellungen der Frauen auswirkt, wird in der nun folgenden Analyse zu untersuchen sein.

2. Der Mythos

Da sich diese Magisterarbeit im Folgenden mit Frauenfiguren aus der griechischen Mythologie auseinandersetzt, dessen Charaktere und Rollen sich im Laufe der Zeit verändert oder entwickelt haben, soll zunächst erläutert werden, welche Bedeutung das Wort „Mythos“ in sich trägt und warum diese Entwicklung der verschiedenen Figuren stattgefunden haben könnte.

Laut Roland Barthes ist der Mythos zunächst eine Aussage, ein Mitteilungssystem und kein Objekt, „er ist eine Weise des Bedeutens, eine Form“. [3] Für Barthes ist der Mythos ein „sekundäres semiologisches System“,[4] das heißt der Mythos besitzt für ihn eine zweidimensionale Wirksamkeit.

Er lädt Zeichen mit einer zusätzlichen Bedeutung auf, beispielsweise mit einer linguistischen und mit einer mythischen. Die Aussage des Zeichens wird somit erweitert, und zwar, laut Barthes, in Richtung Deformation; die mythische Präsenz überflutet die Bedeutung und wird natürliches Faktum.[5]

Der Mythos ist per se immer ideologisch aufgeladen. Dabei stiftet er Sinn und interpretiert die Wirklichkeit. Er wird demnach für einen bestimmten Zweck funktionalisiert. Ursache und Wirkung werden hierbei flexibel gehandhabt und passen sich der jeweiligen Anforderung und Intention, die in an den Mythos gestellt wird, an. So wird eine mögliche Identifikation mit dem Mythos gefördert und der Mythos zeit- und ortlos gemacht. Somit kann er noch lange nach seiner Entstehung Faszination ausüben, ja sogar noch an Brisanz gewinnen.[6]

Dabei hat der Mythos selbst keinen Autor, der ihn entstehen lässt. Er ist kein Dichtertext, sondern eine Übertragung dessen. Der Mythos ist ein Stoff, „ein in großen Zügen festgelegter Handlungsablauf mit ebenso festen Personen, den der individuelle Dichter nur in Grenzen variieren kann“[7]. Es wird deutlich, dass der Mythos selbst keinen Autor hat, lediglich die jeweilige Variation dessen kann einem bestimmten Autor zugeschrieben werden. Der Mythos wird von Generation zu Generation weitergeben, ohne dass man einen Ursprung festlegen kann. Ebenso wenig wie man ihm einem bestimmten Autor zuordnen kann, kann man ihn keiner bestimmten literarischen Gattung zuordnen. Er kann sowohl in der Form des Epos oder des Romans erscheinen.[8]

Der Mythos hat den Anspruch verbindlich zu sein. Er will immer Gültiges aussagen, sei es über die Welt, die Gesellschaft, die Götter, „kurz über alles, was die menschliche Existenz bestimmt. Ändern sich die Umstände, ändert sich auch der Mythos“. [9] Der Mythos macht sich zum Ziel, Antworten auf existentielle Fragen der Menschheit zu bieten, dabei ist seine Wahrheit jedoch nie absolut. Sie ist nur erfahrbar. „Und sie ist translativ, denn sie übersetzt die Faktizität des Seins in einen jeweils notwendigen und verständlichen Code. So ist die Wahrheit des Mythos immer funktional.“[10]

Der Mythos weist einerseits komplexitätsreduzierende und integrierende Handlungsmuster auf. Durch die utopischen Möglichkeiten wirkt er als „subversiv-kreativer Katalysator “. [11] Weil er jedoch von Anfang an ideologisch aufgeladen ist, kann der Mythos instrumentalisiert werden und bestimmten Interessen dienen. So kann er auch als Legitimation von Machtansprüchen gelten. Durch kritische Vernunft kann dieser Missbrauch eingedämmt werden.

Der Mythos hat also eine welterklärende Funktion. Diese wird zwar im Laufe der Jahrhunderte von der Wissenschaft übernommen, die Wissenschaft spricht jedoch im Gegensatz zum Mythos nicht die Emotionen der Menschen an. Dadurch kann auf den Mythos nie ganz verzichtete werden. Auch wenn ein Mythos, wie bereits bemerkt, nie vollständig gedeutet werden kann, so passt er sich doch immer wieder den Bedürfnissen des jeweiligen Kontextes, indem er erzählt wird, an.[12] Im Gegensatz zur Wissenschaft lässt der Mythos verschiedene Vorstellungen von der Wirklichkeit zu.

Jeder Erzähler variiert den Mythos in seiner persönlichen Art und ändert dabei nicht nur die Vortragsweise, sondern auch den Inhalt. „Dem Wiederaufbereiten des mythischen Stoffes geht immer ein Rezeptionsvorgang voraus. Beide Prozesse sind subjektiv, also unbewusst oder bewusst selektiv, interpretierend und ideologisch aufgeladen.“[13]

Aus diesen Gründen ist jede Erzählung eines griechischen Mythos, sei es Herkules, Medea, Iphigenie oder ein anderer, verschieden. Er passt sich der jeweiligen Zeit, der jeweiligen Begebenheit oder den Bedürfnissen des jeweiligen Publikums an. Jeder Autor hat mit seiner Erzählung eine Variante eines Mythos geschaffen, die seinem subjektiven Leben und Erleben entspringt und die mit seiner Zeit und seiner Gesellschaft zu verknüpfen ist. Diese Entwicklung ist auch bei den drei folgenden Mythen Medea, Elektra und Penthisilea deutlich erkennbar.

3. Medea

Euripides führt seine Medea als Tragödie im Rahmen eines Tragödienwettbewerbs im Jahr 431 v.Chr. zum ersten Mal auf. Er fällt mit seiner Tragödie sowohl bei den Preisrichtern, als auch beim Publikum durch und belegt lediglich den dritten von drei Plätzen.

Der Grund für diesen Misserfolg liegt in Euripides anderer Art, seine Tragödien darzustellen. So strebt er im Gegensatz zu den älteren Tragikern, wie Sophokles oder Aischylos, nicht mehr nach der „reinen Kunst“ und nutzt auch nicht mehr den hohen Stil der Sprache. Euripides versucht die Kunst zu funktionalisieren. Er strebt danach, sich wieder auf das öffentliche Leben zu beziehen und an das Volk zu wenden.[14] Der Mythos ist für ihn nicht unantastbar, der feste Glaube an die Götter existiert für ihn nicht mehr. Seine Figuren sind keine Übermenschen mehr, denn er möchte die Menschen nicht darstellen, „wie sie nach Sophokles sein sollten, sondern Menschen wie sie sind“.[15]

Dies ist auch das Ziel seiner Medea-Darstellung. Er extrahiert dazu den Medeastoff aus der Argonautensage und dem Mythos vom goldenen Vlies und stellt die letzte Station von Jasons und Medeas Flucht aus Kolchis dar. Dabei erzählt er auch nur den letzten Teil der Sage, bei dem die Verlobung von Jason und der Königstochter von Korinth bereits beschlossen und Medeas Schicksal besiegelt ist.

Franz Grillparzer fasst seinerseits 1818 den Entschluss den Medeastoff zu bearbeiten. Er stößt durch die Bearbeitung von Benjamin Hederichs mythologischem Lexikon auf den Mythos und entschließt sich aus dem Stoff eine Trilogie zu formen, in der das goldene Vlies das zentrale Motiv darstellt.[16] In dieser Magisterarbeit wird jedoch lediglich der letzte Teil der Trilogie, Medea, bearbeitet, da nur dieser sich mit Euripides und Christa Wolfs Medea vergleichen lässt. Der wichtigste Aspekt der Unterscheidung zwischen Grillparzer und Euripides wird dabei die Psychologisierung seiner Figuren sein. Ihm geht es um die „Verfeinerung alles Seelischen ins Tragische“[17].

Christa Wolf verfasst ihre Version der Medea 1996. Ihr Roman Medea. Stimmen unterscheidet sich noch einmal grundsätzlich von den beiden Vorgängern. Sie übernimmt zwar einige Elemente ihrer Vorläufer, arbeitet jedoch vor allem die Motive des „Sündenbock- Phänomens“ und der Fremdheit heraus. Ihre Medea ist auch kein Drama in fünf Akten, sondern ein Roman, der die verschiedenen Figuren aus ihrer Sicht innerhalb innerer Monologe darstellt. Ihre Medea ist zudem eine positive Figur, die sich gegen einen negativ dargestellten Hintergrund abhebt.

Im Folgenden wird nun die Figur der Medea, sowie ihr Charakter innerhalb der drei verschieden Dramen untersucht. Dabei wird das wohl bekannteste, unheimlichste und zugleich faszinierendste Motiv der Tragödie, der Kindsmord, und die zu klärende Frage nach der Schuld intensiver bearbeitet.

3.1 Euripides Medea

„Medeia ist ursprünglich eine Nebenfigur der Argonautensage und wird erst verhältnismässig spät von der an diversen märchenhaften Episoden Beteiligten zur Hauptfigur der Handlung.“[18] Euripides ist der Erste, der die bruchstückhaften Elemente des Mythos Medea zu einer Handlung überführte. „Auch Euripides griff zurück zu schon bestehendem Sagenstoff und gestaltete ihn neu.“[19] Jason wird bereits in den Epen Homers erwähnt. Medeas Name erscheint zum ersten Mal an der Schwelle zum 7. Jahrhundert in der Theogonie Hesiods. Dort wird sie als Göttin und Enkelin des Helios in der Göttergenialogie aufgeführt und ihre sowie Jasons Geschichte zum ersten Mal kurz erzählt. Auch Aischylos und Sophokles haben den Medeastoff bearbeitet.[20] Im Gegensatz zu Sophokles und Aischylos will Euripides jedoch nicht zeigen, wie Menschen sein sollten, sondern wie sie es nun einmal sind.[21] Um dies zu erreichen extrahiert Euripides nun den Medeastoff aus dem Umfeld der Argonautensage und des Mythos vom goldenen Vlies und stellt die letzte Station der Flucht von Jason und Medea dar, ihren Aufenthalt in Korinth. Hier lässt er die Handlung beginnen, nachdem sich Jason bereits von Medea abgewandt und sich mit der korinthischen Königstochter Glauke verlobt hat. Die Tragödie ist symmetrisch aufgebaut, den Mittelpunkt bildet das dritte Epeisidion, in dem der Athenische König auftritt. Sie beginnt mit einem Monolog der Amme, die von der Vergangenheit berichtet. Medea ist mit Jason aus ihrer Heimat Kolchis geflohen, nachdem sie ihm geholfen hat das goldene Vlies zu stehlen, weil sie sich in ihn verliebt hat. Sie hat die Töchter des Pelias auf ihrer Flucht zum Mord an ihrem Vater überredet und lebt nun als Flüchtige mit Jason und ihren Kindern in Korinth. Jason hat sich mit der Tochter von Korinths König, Kreon, verlobt und Medea soll mit ihren Kindern die Stadt verlassen, weil man sie und ihre Rache fürchtet. Im ersten Epeisidion werden die Konfliktparteien deutlich. Und tatsächlich will sich Medea für das Unrecht, das ihr angetan wurde, rächen. Sie will Glauke und ihre eigenen Kinder töten, um Jason jegliche Grundlage seiner Existenz zu berauben. Nachdem ihr der König Athens Asyl angeboten hat, setzt sie ihren grausamen Plan in die Tat um. Sie tötet Glauke mittels eines vergifteten Kleides und reißt damit auch Kreon mit in den Tod. Um Jason an seinem wundesten Punkt zu treffen, nimmt sie auch ihr eigenes Leid in Kauf und tötet tatsächlich ihre gemeinsamen Söhne. Ihrer Strafe kann sie sich letztendlich entziehen, indem sie auf einem Drachenwagen mit den Leichen ihrer Kinder flieht.

3.1.1 Medeas Charakter

Bei Euripides Medea treffen wir auf eine Frauenfigur, in der sowohl widersprüchliche Gefühle, als auch verschiedene soziale Rollen zusammenfließen. In ihrer Person wird das Irdische, also Menschliche, gezeigt und zugleich das Göttliche. Sie ist eine Frau und Mutter zweier Söhne. Gleichzeitig ist sie die Enkelin des Sonnengottes Helios und mit Hekate verwandt. Sie ist also ein „göttliches oder dämonisches Wesen übermenschlicher Macht und Dignität“[22]. Sie bewegt sich zwischen dem Bild einer Heroine, die um die Verwirklichung ihres eigenen Lebensentwurfes kämpft und dem eines Dämons und Monsters, das fähig ist die eigenen Kinder zu ermorden.

Einerseits ist sie eine leidenschaftliche und verliebte Frau und Mutter. Auf der anderen Seite steht eine aggressive und destruktive Frau, die in ihrem Zorn keine Grenzen zu kennen scheint. Diese Frau kann es nicht ertragen gedemütigt zu werden. Ihr Stolz scheint zu groß. Dieser Stolz rührt zum einen von ihrer Position her. Sie wurde erzogen als eine Prinzessin Kolchis, als eine Priesterin, die für ihre Fähigkeiten und Position bewundert und geachtet wird. In der Fremde muss Medea nun lernen, dass die Korinther sie auf Grund ihrer Andersartigkeit ausstoßen. Ihr Stolz lässt sie dies bis zu einem gewissen Punkt ertragen.

Medea ist nicht nur eine stolze, sondern auch eine kluge Frau mit einem scharfen Verstand. In den Gesprächen, die sie mit den männlichen Figuren der Tragödie führt, wird deutlich, dass sie ihnen intellektuell überlegen ist. Sie schafft es alle ihre männlichen Partner, sei es Freund oder Feind, mit der Kraft ihres Verstandes zu überwinden.[23] In einer Zeit, in der eine Frau einem Mann in allen Belangen unterlegen und untergeben sein soll, stellt sie einen vollkommen anderen Typ Frau dar: Eine Frau mit Selbstbestimmungs- und Durchsetzungsfähigkeit, die um ihren eigenen Lebensentwurf kämpft und dabei mit der ihr zugewiesenen kulturellen Position bricht.[24]

3.1.2 Der Kindsmord

Der Kindsmord ist das unheimlichste, zugleich faszinierendste und bekannteste Motiv aus der Medea des Euripides. Dabei gilt es als gesichert, „dass der Kindermord Medea von Euripides angedichtet wurde und als gelungener dramaturgischer Kunstgriff in den Mythenstoff dauerhaft einging“.[25] Vom Tod der Kinder gibt es noch weitere Versionen, die bereits vor Euripides verfasst wurden, in denen die Kinder versehentlich von Medea getötet werden, als sie diese durch ihre Zauberkunst unsterblich machen will oder von den Korinthern aus Abscheu getötet werden.[26] Die Wende, die Euripides diesem Stück gibt, indem er Medea zur Kindsmörderin macht, hat eine ungeheure Wirkung, was man an den um diese Version rankenden Geschichten sehen kann. So soll Euripides zum Beispiel von den Korinthern bestochen worden sein, die Geschichte so zu erzählen, damit sie nicht als Mörder gelten. Eine andere Möglichkeit soll sein, dass er von einem Dichter namens Neophron abgeschrieben habe.[27] Warum also hat Euripides Medea zu einer scheinbar grausamen und bösen Mutter und Frau gemacht, die aus Rache an Jason und verletztem Stolz ihre eigenen Kinder tötet? Warum erscheint gerade dieses Motiv so grausam und gleichzeitig faszinierend?

Der Kindermord ist aus zwei Gründen grausam. Zum einen, weil [i]n unserem Denken oder vielmehr in unseren Herzen [ ] die Mutterliebe etwas von Naturnotwendigkeit [behält]. Und trotz liberaler Intention wird eine Mutter, die ihr Kind nicht liebt, noch immer als eine Verirrung oder als Skandal empfunden. Wir sind eher bereit alles zu erklären und alles zu entschuldigen, statt die Tatsache, so brutal sie ist, anzuerkennen. Der Gedanke, daß die Mutterliebe nicht etwas Unumstößliches sei, widerstrebt uns zutiefst.

Vielleicht weil wir uns weigern, die absolute Liebe unserer eigenen Mutter in Frage zu stellen….[28]

Für das zeitgenössische Publikum ist dazu noch ein ganz anderer Faktor entscheidend.

„Medeia zieht [bei ihrer Rache] die Kriegerethik der Menschlichkeit vor, was man von einer Frau nicht erwartet.“[29] Sie misst ihr ganzes Tun am Ehrenkodex eines Mannes und Kriegers, was für das athenische Publikum dieser Zeit überraschend, wenn nicht sogar anstößig ist.

Die Tragik, die sich hier nun ergibt, gründet sich aus Medeas Verstand, ihrem männlichen Planen und dem weiblichen Fühlen als Frau und Mutter. In der zweiten Hälfte der Tragödie sieht man diesen Kampf deutlich dargestellt. Den Höhepunkt erreicht dieser Kampf am Ende ihres großen Monologs[30], der nicht nur ein retardierendes Moment ist und an dessen Ende ihr Zorn über ihr Erbarmen siegt. Ihr Racheplan ist für sie unwiderstehlich geworden. Sie wird „zur Gefangenen ihrer eigenen Vorkehrungen“[31]. Sie kann nicht mehr zurück, da sie ihren Mordplan zu diesem Zeitpunkt bereits zur Hälfte ausgeführt hat. Ihre Kinder sind auf dem Weg zu Glauke, um ihr das vergiftete Kleid zu übergeben. Die Wut der Kolcher wird sich gegen sie richten und Medea will sie lieber selbst umbringen, als sie von feindlicher Hand sterben zu lassen und sich zudem zum Gespött ihrer Feinde machen zu lassen. „Alles ist jetzt schiere Notwendigkeit […], unabhängig vom Wünschen und Trachten Medeas.“[32] Mit dem Mord an ihren Kindern hat Medea auch Jason für seinen Verrat bestraft. Sie hat ihn jeglicher Grundlage seiner Existenz beraubt. Durch den Mord an Glauke verliert er lediglich die Möglichkeiten, die sich aus der neuen Verbindung ergeben hätten; er kann sich nun nicht mehr auf höchstem Niveau integrieren und keine weiteren Erben zeugen. Der Verlust Glaukes als Mensch hat für Jason keine große Bedeutung. Dass Medea jedoch auch seine Kinder tötet, hat für ihn eine weitaus tragischere Bedeutung, denn dadurch verliert er die Nachkommenschaft, die er bereits hat.

Auch am Chor sieht man die Abscheulichkeit des Kindsmordes. Im Verlauf der Tragödie unterstützt er Medea fast immer und ist solidarisch mit ihr.

Dieser Chor zeigt eine recht grosse Anteilnahme am Schicksal der Protagonistin. Er äussert sich deutlich zugunsten Medeias, ist solidarisch mit ihr gegen das eigene Königshaus, sowie gegen gewisse Grundwerte der Gesellschaft, die für Frauen gelten;[33]

Und so bejaht er zunächst auch Medeas Racheplan, versucht sie jedoch später davon abzuhalten. „Mit dem nun folgenden Kindermord möchten die Frauen am liebsten nichts zu tun haben, sie können sich aber nicht zur Hilfe für die Kinder entschließen und versuchen das Erlebte sogleich mit göttlicher Verantwortung und mythischen Parallelen zu neutralisieren.“[34] Sie erwähnen einen weiteren Kindsmord der Mythologie: Ino. Ino und ihr Mann werden von Hera mit Wahnsinn bestraft, weil sie Dionysos, den illegitimen Sohn von Zeus, aufgezogen haben. Auf einem Fest, an dem Ino mit ihrer Schwester Agaue teilnimmt, töten sie im Trancezustand deren Sohn. Als sie aus diesem Trancezustand erwachen sind beide entsetzt. In einem späteren Wahn entscheidet Ino sich und ihre Söhne zu töten, indem sie sich mitsamt den Kindern ins Meer wirft. Diese Frau tötet ihre Kinder im Wahn. „Dagegen weiß Medea um die Folgen ihrer Taten, sie vollzieht den Mord an ihren Kindern bewußt, aus eigener Entscheidung, und ohne daß daran irgendeine Gottheit teilhätte.“[35]

Euripides versucht nun durch verschiedene Neutralisierungsmechanismen diese bewusste Entscheidung zum Mord an den eigenen Kindern für sein Publikum erträglich zu machen. Zum einen muss ein Mann im Hintergrund Hilfe leisten. Ohne Aigeus Hilfe hätte Medea ihren Racheplan nicht in die Tat umsetzten können. Als Barbarin kann man Medea außerdem bis zu einem gewissen Punkt isolieren. Und zum Schluss betont Euripides ihre göttliche Abstammung, die ihr übermenschliche Möglichkeiten geben, welche durch ihre Zauberkenntnisse noch akzentuiert werden. Sie kann am Schluss mit ihrem Drachenwagen fliehen. Dem Publikum wird damit die Möglichkeit gegeben, die Verantwortung auf die göttliche Ebene zu schieben und die Ereignisse schicksalsergeben und autoritätsgläubig hinzunehmen.[36]

Ihre schreckliche Tat wird nicht bestraft, weder von den Göttern, noch von den Menschen.

3.1.3 Die Schuldfrage

Es soll erläutert werden, welcher Verbrechen sich Medea oder auch andere Figuren der Tragödie schuldig gemacht haben.

Medea hat sich verschiedener Verbrechen schuldig gemacht. Zum einen ist sie schuld am Tod ihres Bruders Absyrtos und auch verantwortlich für den Tod von Pelias, Kreon und seiner Tochter. Vor allem jedoch schuldig am Tod ihrer eigenen Söhne. Aus Sicht der Korinther hat sie noch weitere Vergehen begangen. Sie ist eine Frau, die sich der patriarchalen Welt widersetzt. Sie ist eine Zauberin und stammt von den Göttern ab. Und sie ist eine Mischehe eingegangen.

Die Schuld am Tod ihres Bruders Absyrtos gibt Medea zu. Gegenüber der Göttin Artemis hat sie den Mord an ihrem Bruder gestanden: „ O Vater und Vaterland, / Die ich verriet! Bruder , den ich so schmählich erschlug!“[37] Der Brudermord ist damit bei Euripides abgeschlossen.

Auch gibt sie eindeutig zu, dass sie Pelias Töchter dazu gebracht hat ihren Vater zu töten.[38]

Euripides lässt an ihren Taten keine Zweifel aufkommen. Medea ist somit zwar schuldig am Tod ihres Bruders, der Königstochter und Kreons, doch dies lässt sich durch ihre Situation rechtfertigen. Nicht zu rechtfertigen ist die Befriedigung, die Medea beim Bericht über den qualvollen Tod Kreons und seiner Tochter empfindet. Jasons Braut muss in Medeas Augen sterben, denn durch ihre Verlobung mit Jason ist sie zu ihrer Feindin geworden, die an ihrem Elend mit Schuld ist. Außerdem kann sie durch die Ermordung Kreons Tochter verhindern, dass die Ehe zwischen Jason und ihr vollzogen wird und sie ihm weitere Kinder gebären kann, die Jasons Ansehen in der Gesellschaft und sein Anrecht auf den Thron von Korinth festigen würden. Vom Tod Jasons Braut und Kreons, der stirbt, weil er seine Tochter umarmt und ebenfalls in Flammen gerät, erfährt Medea durch einen Boten, von dem sie einen ausführlichen Bericht fordert, um sich am schmerzlichen Ende ihrer Feinde zu erfreuen.[39] Nachdem sie vom Tod der Königstochter und Kreons gehört hat, beschließt sie ihre Kinder schnell zu töten. Sie gibt dabei auch Gründe für ihren Mord an. Zum einen möchte sie Jason vollkommen zerstören. Sie möchte ihm jegliche Bindung nehmen und sich so an ihm persönlich rächen. Zum anderen möchte sie nicht, dass ihre Kinder nach dem Mord an der Tochter des Königs und des Königs selbst Opfer des Hasses der Korinther werden. Bevor ihre Feinde sie töten, will sie als Mutter lieber selbst diese grausame Tat begehen.[40]

Auch wenn es Euripides darum geht Menschen darzustellen, wie sie sind ohne dabei Helden oder Bösewichte zu nutzen und seine Figuren Fehler und Schwächen haben, lässt er keinen Zweifel daran aufkommen, dass Medea diese Gräueltaten begangen hat. Er erklärt Medea jedoch nicht einfach nur für schuldig, sondern differenziert. Bereits im Prolog macht er deutlich, worum es in seiner Medea geht:

Hier hegt sie die Knaben und steht zum Gemahl Mit der Treue, die immer des Hauses Licht.

Doch sank alles in Nacht und die Liebe erstarb, Als Jason das Weib und die Kinder verriet Um das Bett der Königstochter des Lands. Medeia, entehrt, ruft die Schwüre herauf [41]

Er beschreibt das Schicksal einer betrogenen Frau und ihres untreuen Ehemanns. Auch Jason ist nicht einfach der Held, der von der Argonautenfahrt zurückkehrt und das goldene Vlies erobert hat. Auch er ist nicht unschuldig. Doch dazu später mehr.

Für das griechische Publikum und die Korinther hat sich Medea jedoch nicht nur dieser Verbrechen schuldig gemacht. Direkt zu Beginn der Tragödie sagt die Amme in ihrem Monolog, dass Medea eine Kolcherin und somit eine Fremde in Korinth ist. Als Fremde verhält sie sich aus Sicht der Athener in mehrfacher Hinsicht falsch: Bei der Zeugung von Nachkommen war es in Athen das Wichtigste

die athenische Abkunft mütterlicher- wie väterlicherseits sicherzustellen, um eine Vermischung mit Fremden so weit als möglich zu vermeiden. Im Falle von Verbindungen zwischen athenischen Männern und Frauen von außerhalb waren Eheschließungen anfänglich erlaubt, bis auch dies (20 Jahre vor dem Inerscheinungtreten Medeas) schließlich gesetzlich verboten wurde:[…][42]

Gemischte Ehen, unter die auch Jasons und Medeas Ehe fällt, werden zur Zeit Euripides als illegal betrachtet. Zudem ist ihre Ehe „durch Taten besiegelt, die im Guten wie im Schlimmen einer Bewertung nach üblichen Kategorien menschlichen Handelns spotten“[43]. Sie hat auf Grund ihrer Liebe zu Jason ihren Vater betrogen und ihren Bruder getötet. Auch personifiziert sie „[i]n einer Zeit, in der die Frau eine politisch beschränkte soziale Stellung innehatte, […] eine Frauenfigur mit Selbstbestimmungs- und Durchsetzungsfähigkeit“[44]. Im Athen dieser Zeit lebt eine Frau unter der ständigen Vormundschaft eines Mannes. Entweder ist dies ihr Vater oder ihr Ehemann. Für die Frauen gibt es kein Recht zu entscheiden, was sie tun will.

Dies bleibt ihrem Vormund vorbehalten. Mit der Geburt der Söhne hat Medea ihre Aufgabe als Frau nun erfüllt. Sie widersetzt sich jedoch „der Ausnutzung ihrer Mutterschaft, der Reduzierung ihrer Weiblichkeit darauf, ausschließlich eine Art Fortpflanzungswerkzeug für die Gesellschaft zu sein“.[45] Nicht nur was ihre Rolle als Frau und Mutter betrifft widerspricht Medea den gesellschaftlichen Vorstellungen, sondern auch was ihre Rolle bezüglich der „in der Zurückgezogenheit des oikos lebenden Frau“[46] betrifft.

Auf prominente Weise opponiert sie als weibliche Figur den athenischen Weiblichkeitsidealen, denen zufolge die Frauen unbekannt, still und isoliert zu leben haben. Da sie eine kluge, gelehrte und sogar verheiratete Frauenfigur mit eigenen Kindern darstellt, wird sie den Athenern zu einer sehr unbequemen weibliche Gestalt, die bei den Männern – wie es heißt- sowohl Faszination oder Anziehung als auch Schrecken und Verachtung auslöste.[47]

Medeas Verhalten ist für die Athener eine Art Grenzüberschreitung des Geschlechterunterschieds. Sie misst „ihr Tun ganz unverhüllt am Ehrenkodex des Mannes und Kriegers archaisch-klassischer Zeit“[48]. Sie kann und will sich nicht einfach dem kulturellen Gebot oder der minderwertigen Position einer Ausländerin unterwerfen. Sie ist eine individuell handelnde Figur. Vor allem ist sie eine Frau mit einem scharfen Verstand.

„Es ist einzig ihr überragender Intellekt, der sie allen Kontrahenten überlegen macht.“[49] Sie ist so auch den männlichen Figuren der Tragödie überlegen, egal ob Freund oder Feind.

„Darüber hinaus verkörpert Medea eine Übergangsfigur zwischen der alten religiösen Welt und dem neuen Bereich des Politischen.“[50] Als Frau ergreift sie politisch- rechtlich die Partei der Frauen, will Werte der Demokratie vertreten und setzt dabei auf viele Argumente, die sie auch formulieren kann. Auf der anderen Seite ist Medea eine Vertreterin der Götter. Sie ist die Tochter des Heliossohnes Aietes und der Okeanine Idyia oder Eidyia und hat damit zauberische Fähigkeiten.[51] Mit dieser Übergangsfigur spiegelt Medea ein Problem der Zeit wider, in der ein Umbruch zwischen den mythischen Vorstellungen der alten Religionen und deren Praktiken und den neuen Rechts-, Politik, und Philosophieprinzipien der Demokratie stattfindet. „Die individuelle Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit, die der neue Bürger der polis erlangte, stieß mit dem Angwiesensein auf die in der religiösen Traditionen und den alten Göttern verkörperten Mächten zusammen.“[52] Dieser Widerspruch wird von Euripides nun in die Figur der Medea verlagert. Sie ist eine tragische Figur, die sich in einem Bereich zwischen der Welt des Göttlichen und des Irdischen befindet. Auf der einen Seite steht die Figur der verliebten Frau und Mutter ihrer Kinder, auf der anderen Seite finden wir die mörderische und mit ihren Feinden unerbittlich umgehende Frau. Aus dieser die Medea des Euripides charakterisierenden ambiguen Stellung resultiert ein weibliches Subjekt, das eine um die Verwirklichung des eigenen Lebensentwurfes kämpfende Frau verkörpert, und dabei sie mit der durch die Heiratsregeln zugewiesenen kulturellen Stellung der Frau als Tauschobjekt bricht.[53]

So zeigt Medea auch das Problem alter Werte auf, die sie vertritt. Werte, „die durch den neuen politischen Logos der Demokratie disqualifiziert sind. Die Demokratie unterwirft die Transzendenz ethischer Werte dem rationalen Denken“[54]. Vor allem Werte, die mit bestimmten Riten und religiöser Tradition verbunden sind, welche Frauen durchführen und vor denen die Menschen jetzt Angst haben, wie zum Beispiel Respekt gegenüber den Toten. Denn diese „himmlischen Riten von Tod und Wiedergeburt erschienen den griechischen Augen als grausame, blutrünstige und reale Begebenheiten“[55].

Es ist jedoch nicht nur Medea, die man schuldig sprechen kann. Wie bereits erwähnt trägt auch Jason eine Schuld mit sich. Aus Liebe zu ihm verrät Medea ihren Vater und ermordet ihren Bruder. In der Fremde ist sie nun zur Außenseiterin geworden und lebt isoliert. Jasons Situation ist eine andere. Er kann als Mann sein Dasein als Flüchtling verändern und verbessern. Auch wenn ihm gewisse Rechte vorenthalten werden, so kann er sich trotzdem um eine bessere Integration im öffentlichen und politischen Bereich bemühen. Zudem hat er als Grieche eine gemeinsame Basis mit Korinth. Er wird nicht als Barbar angesehen. Zudem ist seine Stellung als Typus des Königssohnes, der aus dem Exil zurückkehrt, nicht außerordentlich.[56] Nun verlässt er Medea, um seine soziale Situation noch weiter zu verbessern und in höchste politische Kreise aufzusteigen. Er versucht dadurch seinen alten Status wiederzuerlangen. Aus heutiger Sicht mag dieses Verhalten eventuell auf Verständnis treffen, da Jason sich dem Druck der Verhältnisse beugt. Schließlich denkt er, mit seinem Verhalten positiv auf das Schicksal seiner Familie einwirken zu können und ist „auf einmal einer von denen, die ihn zur Anpassung gezwungen haben“.[57] Doch für Medea ist sein Verhalten ein Verrat. Dieser Verrat an ihrer Beziehung und Liebe lässt Medea verzweifeln. Sie selbst sagt: „Ein jäher Streich hat mein Leben zerstört, / Seinen Glanz vernichtet – ich suche den Tod. / Ihr wißt es wie ich: Der mir alles war, / Mein Gemahl erwies sich als elender Mensch!“[58]

Auch vom Charakter her hat Euripides Jason so gestaltet, dass er nicht wie ein Held wirkt. Als die Eheleute zum ersten Mal in der Tragödie aufeinander treffen, ist Jason lediglich in der Lage Medeas Verhalten zu kritisieren, ihr alle Schuld zuzuweisen und seine Qualitäten hervorzuheben. Medea reagiert, indem sie seine Gemeinheit aufgedeckt und sein falsches Verhalten analysiert.

Halunke!- ich finde kein andres Wort

Für erbärmlichen Mann, schlimmsten Feind, der es wagt Uns vor Augen zu treten nach dem, was geschah.

Ist das mutig und kühn? Es ist mehr als verrucht: Es ist schamlos! […]

Mir verdankst du dein Leben, und jeder bezeugts, der die Argo bestieg! […]

[…]Und väterliches Haus

Verließ ich und schiffte nach Jolkos mit dir, Mehr eifrig als klug, habe Pelias‘ Haß

Von dir abgewendet durch bitteren Tod, […]

All das tat ich für dich, doch du Schurke verrietst Mich an neueres Bett, trotz der Söhne; denn wärst Du noch kinderlos, bliebe die Tat dir verziehn.

Gelten Eide noch? Glaubst du die Götter von einst Sind vom Thron gestoßen durch neues Gesetz, Das den Meineid erlaubt, den du offen begingst?[59]

Auch am Schluss der Tragödie ist Jasons Verhalten zweifelhaft. So ist für ihn der Verlust seiner Braut als Mensch nicht sehr bedeutend. Durch ihren Tod verliert er lediglich die Möglichkeit der vollen Integration auf höchster politischer Ebene. Die Tochter Kreons ist für ihn Mittel zum Zweck und so will er ihren Tod auch nicht rächen, jedoch seine toten Kinder. Doch auch hier entlarvt Medea seinen Charakter:

Jason Weh, wie verlangt mich, Lieblichsten Mund Der Knaben zu küssen! Medea Jetzt willst du sie grüßen Jetzt willst du sie küssen, Stießest sie damals hinweg![60]

Jason ist ein Mann, der nach seinen Vorteilen handelt und dabei keine Rücksicht auf Andere nehmen kann und will. Seine Gedankenlosigkeit gegenüber Gefühlen Anderer, hier im Speziellen gegenüber seiner Frau Medea, ist ein Faktor, der Medeas Zorn und Handeln auslöst. Dass er seine Kinder nicht mit eigenen Händen tötet, spricht ihn nicht von einer Mitschuld frei.

Medea

Und ein rasender Vater gab euch den Tod. Jason

Führten diese Hände den tödlichen Streich? Medea

Nicht die Hand, doch dein schändlicher Ehebruch.[61]

Auch der Chor ist nicht gänzlich von jeder Schuld freizusprechen. Er ist, wie bereits erwähnt, von Beginn an solidarisch mit Medea. So schildert Medea zu Beginn ausführlich die ausweglose und beklagenswerte Situation, in der sie sich durch die Untreue ihres Mannes befindet. Der Chor reagiert zunächst auch mit Verständnis: „Gerecht ist die Rache, gerecht dein Gram, / So handle, wir schweigen!“[62] Ebenso reagiert er im Folgenden solidarisch auf Medea, auch wenn er ihr nicht immer völlig zustimmt. Auf Jason reagiert er hingegen eher negativ.[63] Als Medea jedoch ihren Plan offenbart, auch ihre Kinder zu töten, warnt der Chor sie davor. Er unternimmt jedoch nicht wirklich etwas, um die Kinder vor Medea zu retten.

[...]


[1] Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembdner, 2. Bd., Darmstadt 1962,S. 796

[2] Barthes, Roland: Der Mythos heute. In: Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964, S. 92

[3] Barthes, Roland: Der Mythos heute. In: Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964, S. 85

[4] ebd., S.92

[5] Göbel-Uotila, Marketta: Medea- Ikone des Fremden und des Anderen in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hildesheim 2005, S.29

[6] vgl. ebd., S.30

[7] Graf, Fritz: Griechische Mythologie- Eine Einführung. Düsseldorf 2004, S. 8

[8] vgl. ebd., S.8

[9] Graf, Fritz: Griechische Mythologie – Eine Einführung. Düsseldorf 2004, S. 9

[10] Göbel-Uotila, Marketta: Medea- Ikone des Fremden und des Anderen in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hildesheim 2005, S.33

[11] ebd., S.34

[12] ebd., S.35

[13] ebd., S.36

[14] Vgl. Petersen, Uwe: Goethe und Euripides – Untersuchungen zur Euripides-Rezeption in der Goethezeit. Heidelberg 1974, S. 52

[15] Nikolaidou-Balta, Dimitra: Euripides‘ „Iphigenie bei den Tauriern“, Goethes „Iphigenie auf Tauris“ – Die Umarbeitung eines antiken Stoffes. In: Mit Goethe Schule machen? Akten zum Internationalen Goethe- Symposium Griechenland-Neumexiko-Deutschland 1999. Hrsg. von Peter Pabisch. Jahrbuch für Internationale Germanistik Bd.68. Bern 2002, S.18

[16] vgl. Franz Grillparzer – Dramen 1817 – 1828. Hrsg. Von Helmut Bachmaier, Frankfurt am Main 1986, S.766f

[17] Politzer, Heinz: Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier. Wien-München-Zürich 1972, S.125

[18] Harder, Ruth E.: Die Frauenrollen bei Euripides-Untersuchungen zu „Alkestis“, „Medeia“, „Hekabe“, „Erechtheus“, „Elektra“, „Troades“ und „Iphigeneia in Aulis“. Stuttgart 1993, S. 356

[19] Göbel-Uotila, Marketta: Medea- Ikone des Fremden und des Anderen in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hildesheim 2005, S.16

[20] vgl. ebd., S.16f

[21] vgl. Nikolaidou-Balta, Dimitra: Euripides‘ „Iphigenie bei den Tauriern“, Goethes „Iphigenie auf Tauris“ – Die Umarbeitung eines antiken Stoffes. In: Mit Goethe Schule machen? Akten zum Internationalen Goethe- Symposium Griechenland-Neumexiko-Deutschland 1999. Hrsg. von Peter Pabisch. Jahrbuch für Internationale Germanistik Bd.68. Bern 2002, S.18

[22] Dihle, Albrecht: Euripides‘ Medea. Heidelberg 1977, S. 7

[23] vgl. ebd., S. 17

[24] vgl. Hidalgo, Roxana: Die Medea des Euripides – Zur Psychoanalyse weiblicher Aggression und Autonomie. Gießen 2002, S. 17

[25] Göbel-Uotila, Marketta: Medea – Ikone des Fremden und des Anderen in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts am Beispiel von Hans Henny Jahnn, Jean Anouilh und Christa Wolf. Hildesheim 2005, S. 18

[26] vgl. Dihle, Albrecht: Euripides’ Medea. Heidelberg 1977, S. 7

[27] vgl. Harder, Ruth E.: Die Frauenrollen bei Euripides-Untersuchungen zu „Alkestis“, „Medeia“, „Hekabe“, „Erechtheus“, „Elektra“, „Troades“ und „Iphigeneia in Aulis“. Stuttgart 1993, S.359

[28] Badinter, Elisabeth: Die Mutterliebe – Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. München 1984, S.12

[29] Harder, Ruth E.: Die Frauenrollen bei Euripides-Untersuchungen zu „Alkestis“, „Medeia“, „Hekabe“, „Erechtheus“, „Elektra“, „Troades“ und „Iphigeneia in Aulis“. Stuttgart 1993, S.377

[30] Medeia. In: Euripides – Ausgewählte Tragödien Bd. 1. Hrsg. Zimmermann, Bernhard. Zürich 1996, V. 994- 1053. Im folgenden zitiert als EM

[31] Dihle, Albrecht: Euripides’ Medea. Heidelberg 1977, S. 17

[32] ebd., S. 15

[33] Harder, Ruth E.: Die Frauenrollen bei Euripides-Untersuchungen zu „Alkestis“, „Medeia“, „Hekabe“, „Erechtheus“, „Elektra“, „Troades“ und „Iphigeneia in Aulis“. Stuttgart 1993, S. 396

[34] ebd., S. 413

[35] Hidalgo, Roxana: Die Medea des Euripides – Zur Psychoanalyse weiblicher Aggression und Autonomie. Gießen 2002, S. 163

[36] Harder, Ruth E.: Die Frauenrollen bei Euripides-Untersuchungen zu „Alkestis“, „Medeia“, „Hekabe“, „Erechtheus“, „Elektra“, „Troades“ und „Iphigeneia in Aulis“. Stuttgart 1993, S. 414

[37] EM, V. 167f

[38] vgl. ebd., V.502f

[39] vgl. ebd., V. 1132f

[40] ebd., V. 1237-1249

[41] ebd., V. 11ff

[42] Hidalgo, Roxana: Die Medea des Euripides – Zur Psychoanalyse weiblicher Aggression und Autonomie. Gießen 2002, S. 66

[43] Dihle, Albrecht: Euripides’ Medea. Heidelberg 1977, S. 7

[44] Hidalgo, Roxana: Die Medea des Euripides – Zur Psychoanalyse weiblicher Aggression und Autonomie. Gießen 2002, S. 17

[45] ebd., S.73

[46] ebd., S.74

[47] Ebd., S.74

[48] Dihle, Albrecht: Euripides’ Medea. Heidelberg 1977, S. 16

[49] ebd., S. 17

[50] Hidalgo, Roxana: Die Medea des Euripides – Zur Psychoanalyse weiblicher Aggression und Autonomie. Gießen 2002, S. 75

[51] vgl. Harder, Ruth E.: Die Frauenrollen bei Euripides-Untersuchungen zu „Alkestis“, „Medeia“, „Hekabe“, „Erechtheus“, „Elektra“, „Troades“ und „Iphigeneia in Aulis“. Stuttgart 1993, S.356

[52] Hidalgo, Roxana: Die Medea des Euripides – Zur Psychoanalyse weiblicher Aggression und Autonomie. Gießen 2002, S. 15

[53] ebd., S. 17

[54] ebd., S. 167

[55] Calabrese, Rita: Von der Stimmlosigkeit zum Wort. In: Hochgeschurz, Marianne (Hg): Christa Wolfs Medea – Voraussetzungen zu einem Text. München 1998, S, 116

[56] vgl. Harder, Ruth E.: Die Frauenrollen bei Euripides-Untersuchungen zu „Alkestis“, „Medeia“, „Hekabe“, „Erechtheus“, „Elektra“, „Troades“ und „Iphigeneia in Aulis“. Stuttgart 1993, S.412

[57] Kamman, Petra: Warum Medea? Christa Wolf im Gespräch mit Petra Kamman am 25.1.1996. In: Hochgeschurz, Marianne (Hg): Christa Wolfs Medea – Voraussetzungen zu einem Text. München 1998, S. 83

[58] EM, V. 227

[59] EM, V. 465-493

[60] ebd., V. 1400f

[61] EM, V. 11364ff

[62] ebd., V.266f

[63] vgl. Harder, Ruth E.: Die Frauenrollen bei Euripides-Untersuchungen zu „Alkestis“, „Medeia“, „Hekabe“, „Erechtheus“, „Elektra“, „Troades“ und „Iphigeneia in Aulis“. Stuttgart 1993, S.389

Ende der Leseprobe aus 75 Seiten

Details

Titel
Medea, Penthesilea, Elektra - Frauenfiguren der griechischen Mythologie in der deutschsprachigen Literatur
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
75
Katalognummer
V126975
ISBN (eBook)
9783640826131
ISBN (Buch)
9783640826018
Dateigröße
1151 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Medea, Penthesilea, Elektra, Frauenfiguren
Arbeit zitieren
Laura Cuenca Fernandez (Autor:in), 2007, Medea, Penthesilea, Elektra - Frauenfiguren der griechischen Mythologie in der deutschsprachigen Literatur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126975

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