Das Tal den Bewässerern – Brechts "Kreidekreis"

Stück und Aufführungspraxis


Hausarbeit, 1998

47 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Brechts Kreidekreis
1. Grundlagen zum Verständnis
1.1. Der Stoff
1.2. Formale Aspekte
1.2.1. Makrostruktur
1.2.2. Die Spiel-im-Spiel-Struktur
1.2.3. Die Personen der Handlung
1.2.4. Unterschiede in den Fassungen
1.3. Die Fabel
1.3.1. Die Vorspiel-Handlung
1.3.2. Die Grusche-Handlung
1.3.3. Die Azdak-Handlung
1.3.4. Verknüpfung Grusche-/Azdak-Handlung
1.3.5. Verhältnis Vorspiel-/Kreidekreis-Handlung
1.4. Theorie und Praxis
1.4.1. Explizite Theatertheorie im Vorspiel
1.4.2. Der Sänger
1.4.3. Theatralische Mittel der Verfremdung
1.4.4. Schwesternkünste
2. Das Vorspiel: Von der Nützlichkeit bei Brecht
2.1. Der Streit um das Vorspiel
2.2. Von Nutzen und Produktivität
3. Problematisierung

II. Drei Aufführungen - ein Vergleich
1. Theoretische Vorüberlegungen
1.1. Drama vs. Theater
1.2. Interpretationsansätze und Bedeutungserzeugung
1.2.1. Textliche Interpretation
1.2.2. Szenische Interpretation
2. Brecht (Berlin 1954)
2.1. Die Vorbereitung der Aufführung
2.2. Aufführung und Kritik
2.2.1. Die Ost-Kritik
2.2.2. Die West-Kritik
3. Buckwitz (Frankfurt/Main 1955)
3.1. Aufführung und Kritik
4. Zusammenfassung: Die Inszenierungen Brechts und Buckwitz`
5. Exkurs: Natur vs. Vernunft
6. Langhoff (Berlin 1998)
6.1. Aufführung und Kritik
6.2. Brecht am Broadway – einen Oscar für Langhoff, Spielberg ans D.T

Literaturnachweis

I. Brechts Kreidekreis

1. Grundlagen zum Verständnis

In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde die dramatische Form problematisch und führte, so Szondi in seiner Theorie des modernen Dramas, in eine Krise, die nur überwunden werden konnte, indem man die dramatische Form als historisch überholt – wie Prospero seinen Zaubermantel – abwarf und bewusst durchbrach. Der Dramatiker hatte sich neuen und immer schneller wirbelnden Realitäten künstlerischer und gesellschaftlicher Natur zu stellen, wobei Kunst und Gesellschaft zum Teil geradezu entgegengesetzte Pole bildeten. Anders bei Brecht. Während Piscator der Funktion des Menschen auf der Bühne eine vor allem gesellschaftliche Bedeutung zuschrieb (»Nicht sein Verhältnis zu sich, nicht sein Verhältnis zu Gott, sondern sein Verhältnis zur Gesellschaft steht im Mittelpunkt.«[1] ) und das Revue-Moment zum neuen Formprinzip erhob, ging es Brecht um die »Inthronisierung des wissenschaftlichen Prinzips.«[2]

1.1. Der Stoff

Auf die Frage des Sachverständigen im Vorspiel des kaukasischen Kreidekreises, ob es sich bei der bevorstehenden Aufführung um »eine der alten Sagen«[3] handele, läßt Brecht den Sänger antworten: »Eine sehr alte. Sie heißt „Der Kreidekreis“ und stammt aus dem Chinesischen. Wir tragen sie freilich in geänderter Form vor ...«[4]. Dieser kurze Dialog impliziert sowohl eine Aussage über Brechts Arbeitsweise als auch eine Anspielung auf die Herkunft des Stoffes.

Wie in zahlreichen seiner Stücke, verarbeitete Brecht im kaukasischen Kreidekreis einen Stoff mit langer literarischer Tradition. Die Geschichte von der Mutterschaftsprobe mit dem Kreidekreis geht auf Li Hsing-taos Singspiel aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zurück, das 1832 von S. Julien ins französische übertragen und 1876 erstmals auf deutsch erschien (Wollheim). Diese Bearbeitung diente Klabund (d. i. Alfred Henschke, 1890-1928) als Vorlage zu einer Nachdichtung, die 1925 in Berlin (von M. Reinhardt im Deutschen Theater) erfolgreich uraufgeführt wurde. Brecht war zu dieser Zeit (neben C. Zuckmayer) Dramaturg an dieser Bühne.[5] 1926 erschien die erste deutsche Originalübersetzung Li Hsing-taos Stück aus dem Chinesischen (A. Forke). Die hier erwähnten Quellen sind Brecht zweifellos bekannt gewesen. Zudem dürfte Brecht die Schwertprobe Salomons aus dem Alten Testament vorgeschwebt haben. Schon 1926 verwendet Brecht selbst Motive aus der Kreidekreisgeschichte für das Zwischenspiel zu Mann ist Mann (Das Elefantenkalb). In einer grotesken Szene versucht Galy Gay als Elefantenkalb zu beweisen, daß er der Sohn seiner Mutter ist, indem er diese an einem um ihren Hals gelegten Strick aus dem Kreidekreis herauszieht und damit ihre Strangulierung in Kauf nimmt.[6] Hinweise auf die Richterfigur des Azdak finden sich auch in der gestrichenen dritten Szene einer frühen Fassung der Mutter Courage. Hier heißt es: »Bestechlichkeit ist bei die Menschen dasselbe, wie wenn Gott im Himmel barmherzig sein soll ... Bestechlichkeit ist unsere einzige Aussicht«.[7] Brecht blieb in den Jahren seines Exils (hier entstanden ja dann auch die ersten Fassungen des kaukasischen Kreidekreises) nach 1933 weiterhin an diesem Stoff interessiert.

Anders als in den Übertragungen des Stückes aus dem Chinesischen und dessen Bearbeitungen, benutzt Brecht die Kreidekreisprobe jedoch lediglich als Spielmoment für sein Stück, das Zusammengehörigkeit/Besitz nicht nach biologischen oder tradierten juristischen Gesichtspunkten beurteilt wissen will, sondern nach dem Maßstab der Produktivität beurteilt; nämlich: »... daß da gehören soll, was da ist / Denen, die für es gut sind ...«[8].

Dieser Idee folgte er schon in der 1940 verfaßten Erzählung Der Augsburger Kreidekreis, dem ein fragmentarischer Odenser Kreidekreis voranging (1938/39). In beiden Werken sind schon nahezu alle Handlungselemente des kaukasischen Kreidekreises vorhanden, während der geschichtliche Hintergrund wechselt (Dänemark im Mittelalter – Deutschland im Dreißigjährigen Krieg – Grusinien in alter Zeit). Aber erst 1944, mit dem Arbeitsbeginn am kaukasischen Kreidekreis, wurde von Brecht der Versuch unternommen, eine realistische Grundlage für die neue Auslegung der Legende zu schaffen. Brecht verlegte die Handlung in die Sowjetunion, in deren Gesellschaftsstruktur er die Voraussetzung für eine Umfunktionierung der Fabel sah (daher muß eine Streichung des Vorspiels zweifellos zu einer Verflachung der inhaltlichen und formalen Tragweite des Stückes führen). Die Wahl des Schauplatzes hatte zeitgeschichtliche Gründe. Wegen seiner Ölquellen und der strategisch günstigen Lage am Kaspischen Meer war der Kaukasus im zweiten Weltkrieg zu einem der Hauptangriffsziele der deutschen Truppen im Osten geworden. Im Verlauf des Krieges war der Kaukasus das erste befreite Territorium in der Sowjetunion. Damit avancierte er zum Inbegriff der Hoffnung auf eine rasche Befreiung vom Hitlerfaschismus.[9] Das Vorspiel, das in einem vom Krieg heimgesuchten, jedoch nunmehr grundsätzlich befriedeten Raum stattfindet, zeigt, wie in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung Konflikte auf vernünftige Art und Weise zum allgemeinen Nutzen gelöst werden können - und zwar als Regelfall (es sei dahingestellt, inwiefern das mit der sozialistischen Realität in der SU übereinstimmte); anders als in der Klassengesellschaft der übrigen Handlung, wo sich die Idee sozialer Vernunft nur ausnahmsweise, beim Zusammentreffen glücklicher Zufälle, einstellt. Brecht zeigte mit seinem Streit um das Tal eine Form des vernünftigen Handelns auf, die in der sozialistischen Gesellschaftsordnung grundsätzlich möglich gewesen wäre und zur Regel hätte erhoben werden können (wäre diese Form des Handelns realsozialistischer Alltag gewesen, hätte Brecht das Stück wohl kaum geschrieben!), hätten nicht die diktatorischen Führungsansprüche der sogenannten Arbeiterpartei die aufkeimenden Hoffnungen auf eine »goldene Zeit beinahe der Gerechtigkeit«[10] bald wieder zunichte gemacht.

1.2. Formale Aspekte

1.2.1. Makrostruktur

Das Stück umfaßt sechs Teile/Akte (bzw. ein Vorspiel und fünf Teile/Akte) die Brecht jeweils mit einem den Inhalt benennenden Titel versehen hat (die z. T. an die christliche Mythologie erinnern - z. B. »Das hohe Kind«). Sie teilen sich, wie folgt, auf die Fabel auf: 1. Teil/ Vorspiel (Der Streit um das Tal), 2.-4. Teil Grusche-Handlung (Das hohe Kind, Flucht in die nördlichen Gebirge, In den nördlichen Gebirgen), 5. Teil Azdak- Handlung (Die Geschichte des Richters), 6. Teil Kreidekreisprobe (Der Kreidekreis), darüber hinaus gibt es ein Nachspiel ad libitum. Die an filmische Schnittechniken gemahnenden Handlungssequenzen innerhalb der einzelnen Teile, sind nicht explizit voneinander getrennt oder gar benannt; allerdings erfolgt bei dergleichen Schnitten in der Regel ein Kommentar des Sängers.

1.2.2. Die Spiel-im-Spiel-Struktur

»Genossen, es ist geplant, zu Ehren des Besuchs der Delegierten und des Sachverständigen ein Theaterstück (...) aufzuführen. […] Diesmal ist es ein Stück mit Gesängen, und fast der ganze Kolchos spielt mit.«[11]

In dieser kurzen Passage aus dem Vorspiel wird schon deutlich, wie sehr es Brecht darauf ankommt, das fiktive Geschehen um die doppelte Fiktionalität des Spiels im Spiel zu verdeutlichen. Noch deutlicher wird dies zum einen dadurch, daß Sänger und Musiker sich permanent auf der Bühne befinden und der Theaterzuschauer somit zum Zuschauer der Zuschauer (und des Spiels im inneren Kommunikationssystem) wird, zum anderen, daß die Figuren des Spiels mit denen des Spiels im Spiel identisch sind. »Durch die Einbettung einer zweiten Fiktionsebene wird im inneren Kommunikationssystem die Aufführungssituation des äußeren Kommunikationssystems wiederholt. Dem realen Publikum im Zuschauerraum entspricht ein fiktives auf der Bühne, der realen Bühne entspricht eine fiktive auf der Bühne, den realen Produktionsfunktionen (Autor, Schauspieler, Regisseur) entsprechen fiktive Autoren, Schauspieler, Regisseure. Dieser Prozeß der Einbettung einer sekundären Fiktionsebene in eine primäre kann prinzipiell ad infinitum wiederholt werden, indem in die sekundäre Fiktionsebene eine tertiäre eingelagert wird etc.«[12] Eben dies geschieht, wenn Azdak im fünften Teil (Die Geschichte des Richters) zusammen mit Schauwa ein Lied vorträgt (»Warum bluten unsere Söhne nicht mehr ...«[13] ) oder, um den Neffen des fetten Fürsten zu prüfen, den Großfürsten spielt, wobei es zu besonderer Komik kommt, wenn der fette Fürst aufgrund seiner teilweisen Unfähigkeit zur Imagination aus der Rolle fällt: ein klassischer V-Effekt, den nicht Brecht erfunden hat. Eine ähnliche Spiel-im-Spiel-im-Spiel-Situation entsteht, wenn die Kinder im vierten Teil (In den nördlichen Gebirgen) das »Kopf-ab-Spiel«[14] spielen.

Ein zusätzliches, von Brecht ebenfalls bewußt sichtbar (Die Fabel muß sichtbar sein!) eingesetztes dramaturgisches Element, ist das cut-back zu Beginn des fünften Teiles, denn die zeitliche Kontinuität der Grusche-Handlung wird hier vom Sänger explizit auf »jenen Ostersonntag des großen Aufstandes, als der Großfürst gestürzt wurde ...«[15] zurückgeschraubt (d. i. um fiktive zwei Jahre).

Ein weiteres wirksames (zudem äußerst witziges) Mittel der Illusionsdurchbrechung ist die unvermittelte Überschreitung der Grenzen zwischen den verschiedenen fiktiven Ebenen des inneren Kommunikationssystems: In der Hochzeits- und Auferstehungsszene (In den nördlichen Gebirgen) wechseln die Musiker von der Spiel-Ebene in eine Spiel-im-Spiel-im-Spiel-Ebene hinüber, indem sie nun als (Musik-)Spieler auf der Spiel-im-Spiel-Ebene fungieren.

1.2.3. Die Personen der Handlung

Das Personenverzeichnis ist außerordentlich lang. Da nicht alle dramatis personae mit Namen angeführt werden, dürfte sich die Zahl der Darsteller auf etwa 150 belaufen. Bei den mannigfaltigen Inszenierungen des Stückes löste man das Darstellerproblem dahingehend, daß man Doppel-, bzw. Dreifachbesetzungen vornahm. So reduzierte sich die Zahl der Schauspieler in Brechts Inszenierung am Berliner Ensemble 1954 beispielsweise auf etwa fünfzig. Dies bietet sich vor allem deshalb an, weil die drei Fabelteile (Der Streit um das Tal, Grusche-Handlung, Azdak-Handlung) nicht parallel, sondern weitestgehend getrennt verlaufen. Zudem betont die Übernahme von Rollen der Kreidekreis-Fabel durch die Figuren des Vorspiels den Spiel-im-Spiel-Charakter des Stückes. Brecht bediente sich (in seiner eigenen Inszenierung) zur Sichtbarmachung dieses Umstandes für die Darstellung einiger Figuren Masken.

1.2.3.1. Grusche

Gemäß seiner im kleinen Organon für das Theater (1948) aufgestellten Theorie des epischen Theaters, hebt Brecht in der Gestaltung der Grusche-Figur die Prozesshaftigkeit ihres Handelns hervor. Handlung ist gleichbedeutend mit Veränderung, Veränderung ist zugleich Produktivität. Hier treffen sich inhaltliche und formale Aspekte des Stückes zu einer Symbiose: Produktivität ist ein großes Thema des Stückes. Der Charakter einer Figur determiniert nicht die Handlung. Im Gegenteil - er entsteht aus ihr.

Grusche entwickelt sich von der Stufe naiver instinktiver Gutmütigkeit zur Stufe einer selbstbewußten Frau, die am Schluß des Stückes vor Gericht mit Überzeugung argumentiert, sie sei die bessere Mutter für das Kind (wobei nicht zu leugnen ist, daß sie sich einiges an Naivität erhalten hat!). Zu Beginn des Stückes handelt Grusche nicht aus Einsicht oder bewußter Menschlichkeit, sondern wird von ihren mütterlichen Instinkten zur Guttat verführt. Als sie dann - wenige Szenen später - das Kind am Gebirgsbach tauft, tut sie das nicht mehr aus instinktivem Verhalten, sondern in Kenntnis ihrer Lage und mit einem neuen Gefühl sozialer Verantwortung, das sie sich in den vorhergehenden Situationen erst einmal erwerben mußte. Nur als der Verlobte aus der Schlacht heimkehrt, verliert sie einen Moment lang die Sicherheit; aber nur, um sich danach umso ausdrücklicher für das Kind (und damit gegen den Bräutigam) zu entscheiden.

1.2.3.2. Azdak

Die Zeit der Kreidekreis-Handlung wird mit den Worten »In alter Zeit, in blutiger Zeit ...«[16] eingeführt. In dieser unbequemen geschichtlichen Konkretisierung der herkömmlichen mythischen Verklärung der Vergangenheit im Märchen (»Es war einmal vor langer, langer Zeit ...«) finden wir den Richter Azdak. Und so ist es nicht eine mythologische Vorzeitharmonie in die der Rezipient taucht, sondern eine konkrete geschichtliche Situation mit all ihren Widersprüchen und Eigenheiten. Es ist die kurze Zeit der Anarchie zwischen zwei (gleichen) Ordnungen, eine Zeit der Unordnung und des Chaos. Das Chaos ist die revolutionäre Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse.

Azdak ist kein Held. »Er ist der verrottete Bestandteil einer verrotteten Zeit«.[17] Und somit entlarven seine Rechtsbrüche nicht etwa ihn, sondern das (weiter-)bestehende Recht - als Ungerechtigkeit. Gerade weil er kein Rechtsgelehrter ist, sondern seinem Instinkt folgt (also auch er!), tut er Gutes.

1.2.4. Unterschiede in den Fassungen

Ich möchte hier nur ausschnitthaft die bedeutendsten Veränderungen an den Stückfassungen benennen, die zu unterschiedlichen Bedeutungserzeugungen geführt haben.

Die gravierendsten Umarbeitungen in den verschiedenen Fassungen mit Auswirkungen auf den Inhalt des Stückes erfolgen schon in der Überarbeitungen 1944. Während in der ersten Fassung 1944 die Kreidekreis-Handlung noch die Entscheidung im Streit um das Tal herbeiführen soll, ist die Übereinkunft der Delegierten der beiden Kolchose in allen späteren Fassungen schon vor der Aufführung des Spieles im Spiel getroffen. In der ersten Niederschrift findet sich die Handlung des Vorspiels auf den 7. Juni 1934 fixiert (also vor dem Krieg!). Was in der ersten Fassung 1944 noch als eine Entscheidungsinstanz - wenn nicht gar Beeinflussung - angelegt ist, gewinnt in den späteren Fassungen einen grundsätzlich anderen Charakter. Zum einen geht die Entscheidung zur Nützlichkeit allein aus einem vernünftigen (Streit-)Gespräch hervor, zum anderen gewinnt das Spiel vom Kreidekreis an Eigenständigkeit und somit auch an programmatischem Unterhaltungswert (vgl. §1 des Kleinen Organon) schon im inneren Kommunikationssystems.

Brecht benennt das Vorspiel in der letzten Fassung (1954) in Der Streit um das Tal um, um ihm damit endgültig den (mißverstandenen) Ad-libitum-Charakter zu nehmen. Damit wird die lange Auseinandersetzung über Bedeutung und Stellenwert des bisherigen Vorspiels aber durchaus nicht abgeschlossen.

Ende August 1944 entwirft Brecht neben der neuen Fassung des Vorspiels auch ein Nachspiel ad libitum, das zusammen mit dem Vorspiel eine Art Rahmenhandlung bildet.

Eine weitere wesentliche Veränderung Brechts gegenüber der ersten Fassung zeigt die Grusche-Figur auf, die, wie Feuchtwanger nach der ersten Niederschrift einwendete, »zu heilig«[18] gewesen sei. Denn »sie sollte störrisch sein statt aufsässig, willig statt gut, ausdauernd statt unbestechlich ...«, sie sollte »einfältig sein«, »den Stempel der Zurückgebliebenheit ihrer Klasse« tragen.[19] Sie kommt zu dem Kind nicht aus Güte, sondern aus Dummheit. Als Urbild zur Konzeption der Grusche-Figur schwebte ihm dabei die Tolle Grete Breughels vor.

In der ersten Fassung 1944 findet sich die Karawanserei-Szene, die Brecht in der Abschrift eliminiert, dann jedoch 1954 wieder in das Stück mit aufnimmt. Hier macht Brecht eine Parallele zur der Szene auf, in der Azdak versehentlich den Großfürst versteckt (Handzeigung).

Des Weiteren vertauscht Brecht die Namen der beiden Kolchose, da H. Eisler der Meinung war, daß ein Ziegenzuchtkolchos Rosa Luxemburg eine Blasphemie an der Sozialistin darstellen und unter den Berliner Arbeitern eine Lachnummer werden würde. Um so merkwürdiger erscheint es, daß Brecht diesen offensichtlich nicht intendierten V-Effekt dem Stück nicht als solchen beließ.

1.3. Die Fabel

Wie bereits erwähnt, ist die Fabel des kaukasischen Kreidekreises dreigeteilt. Dem modellhaften Kolchosenstreit der unmittelbaren Nachkriegszeit im Kaukasus stehen die beiden Handlungsstränge einer Sage aus der alten Zeit gegenüber, die von dem Sänger Arkadi Tscheidse und seinen Musikern vorgetragen und unter Mitwirkung der Delegierten gespielt werden.

1.3.1. Die Vorspiel-Handlung

Im Vorspiel streiten sich die Delegierten des Ziegenzuchtkolchoses Galinsk, der im Krieg vor den faschistischen Truppen weiter nach Osten geflohen ist, und des Obstbaukolchoses Rosa Luxemburg, der das Land im Guerillakampf gegen die Angreifer verteidigt hat, um ein Tal, das zuvor dem Ziegenzuchtkolchos gehört hat, nun jedoch vom Obstbaukolchos als zusätzliches Anbaugebiet beansprucht wird. Die Parteien einigen sich in einer musterhaften Diskussion gütlich darauf, daß »das Tal den Bewässern« zugesprochen wird, »damit es Frucht bringt«.[20] Zur allgemeinen Erbauung wird nach dem kräftezehrenden Streitgespräch ein Theaterstück unter Mitwirkung des Sängers Arkadi Tscheidse aufgeführt, daß mit der Frage zu tun hat.[21]

1.3.2. Die Grusche-Handlung

An einem Ostersonntag in alter, blutiger Zeit werden nach dem Sturz des Großfürsten alle Gouverneure Grusiniens hingerichtet, darunter Georgi Abaschwili. Seine verwöhnte Frau Natella kann mit ihren Kleidern und dem Geliebten (der Adjudant des Gouverneurs, Shalva) entfliehen, läßt aber in der Hast der Flucht ihr Kind zurück, das bald darauf von den Häschern der neuen Machthaber gesucht wird (vgl. NT: Herodes, der befielt alle Kinder im Alter zwischen 2-4 Jahren, der angeblichen Gefährdung des Thrones wegen zu töten). Während alle anderen Bediensteten der Gefahr gewahr werden, nimmt sich Grusche, die eine gute Seele, aber nicht gerade die Hellste ist, des Kindes an. Durch viele Gefahren und unter zahlreichen (z. T. lebensgefährlichen = beinahe selbstmörderischen) Opfern bringt Grusche das Kind in Sicherheit, wobei sie es liebgewinnt wie ihr eigenes, und nimmt es schließlich »an Kindes Statt«[22] an. Obwohl sie dem Soldaten Simon verlobt ist, heiratet sie, um ein Papier des Kindes wegen zu haben, einen todkranken Bauern, der sich jedoch mit Ende des Krieges als durchaus verwendungsfähig erweist. Simon, der hinzukommt, als Grusche vor den wieder neuen Verfolgern das Kind als das Ihrige ausgibt, verläßt sie enttäuscht. Wieder haben sich die Machtverhältnisse geändert. Die zurückgekehrte Gouverneursfrau läßt das Kind des ungeheuren Erbes wegen suchen. Zwei Jahre sind seit jenem denkwürdigen Ostersonntag vergangen. Hier unterbricht Brecht die Handlung und setzt von neuem an jenem Ostersonntag des blutigen Putsches ein ...

[...]


[1] Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), Frankfurt/M. 1965, S. 111

[2] ebd. S. 115

[3] Bertolt Brecht: Der kaukasische Kreidekreis. In: Werke, Bd. VIII, Berlin und Frankfurt/M. 1988, S. 100

[4] ebd. S. 100

[5] ebd. S. 450

[6] ebd. S. 451

[7] ebd. S. 451 f.

[8] ebd. S. 185

[9] ebd. S. 452

[10] ebd. S. 185

[11] ebd. S. 99 f.

[12] Manfred Pfister: Das Drama, München 1977, S. 299

[13] Bertolt Brecht: Der kaukasische Kreidekreis, a.a.O., S. 155

[14] ebd. S. 146

[15] ebd. S. 150

[16] ebd. S. 101

[17] Peter Badura: Die Gerechtigkeit des Azdak. In: Text und Kritik (Sonderband). München 1972, S. 103

[18] Werner Hecht (Hrsg.): Materialien zu Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“, Frankfurt/M. 1966, S.33

[19] ebd. S. 32

[20] Bertolt Brecht: Der kaukasische Kreidekreis, a.a.O., S. 185

[21] ebd. S. 99

[22] ebd. S. 129

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Das Tal den Bewässerern – Brechts "Kreidekreis"
Untertitel
Stück und Aufführungspraxis
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
1998
Seiten
47
Katalognummer
V126800
ISBN (eBook)
9783640335268
ISBN (Buch)
9783640859160
Dateigröße
523 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bewässerern, Brechts, Kreidekreis, Stück, Aufführungspraxis
Arbeit zitieren
Dr. Levin Röder (Autor:in), 1998, Das Tal den Bewässerern – Brechts "Kreidekreis", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126800

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