Wissenschaft & Spiritualität - Eine Abgrenzung


Doktorarbeit / Dissertation, 2009

176 Seiten, Note: Befriedigend


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Abschnitt I
2.1 Die indische Kultur
2.2 Die indischen philosophischen Systeme
2.2.1 Ihre grundlegende Einheit und die heutige Relevanz
2.3 Vaiçeßika - Die Philosophie des atomistischen Pluralismus
2.4 nyãya
2.4.1 Epistemologie des nyãya
2.5 Sãmkhya
2.5.1 prak^ti
2.5.2 gunas oder Qualitäten
2.5.3 Evolution
2.5.4 puruäa
2.5.5 Das empirische Individuum
2.5.6 Mechanismen der Erkenntnis
2.5.7 Quellen des Wissens
2.5.8 Kritik
2.5.9 Yoga
2.5.10 Selbstkontrolle
2.5.11 Einheit
2.5.12 Realisation/Selbstverwirklichung
2.5.13 Arten von Yoga
2.5.14 Die sieben Chakras
2.5.15 Die zentrale Rolle der Atmung
2.5.16 Der Körper
2.5.17 Die Seele
2.5.18 Der Verstand - manas
2.5.19 Der Intellekt - buddhi
2.5.20 Das Gedächtnis - citta
2.5.21 Das Ego - ahamkara
2.5.22 Das Ziel
2.5.23 Die drei Bewusstseinszustände
2.5.24 karma
2.5.25 Externe und interne Natur
2.5.26 Psychologie des Yoga
2.5.27 pramãnas
2.6 púrva-mímãmsã
2.7 uttara mímãmsã / vedanta
2.7.1 Advaita Vedanta
2.7.2 Die zentralen Lehren des advaita
2.7.3 Analyse der Erfahrung
2.7.4 Der Mechanismus der Erkenntnis
2.7.5 Wahrnehmung
2.7.6 Kriterien der Erkenntnis und die Inadäquatheit von empirischem Wissen
2.7.7 anubhava - Integrale Erfahrung
2.7.8 Weisheit und Wissen
2.7.9 brahman oder die Wirklichkeit
2.7.10 Idealismus und Realismus im Licht des Vedanta
2.7.11 Das Konzept von maya
2.7.12 avidyá oder Unwissenheit
2.7.13 Natur und Seele
2.7.14 Realistische Epistemologie

3 Abschnitt II
3.1 Einführung in den Konstruktiven Realismus
3.1.1 Invariante und situativ wechselnde Sätze
3.1.2 Informationserkenntnis
3.1.3 Konstruktivismus
3.1.4 Wissen
3.1.5 Ausgangslage des Konstruktiven Realismus
3.1.6 Wirklichkeit und Realität
3.1.7 Konzept des Konstruktiven Realismus
3.1.8 Der „Objekt-Methode-Zirkel“
3.1.9 „Wirklichkeit“ und „Realität“ im Kontext des Konstruktiven Realismus
3.1.10 Lebenswelt und Mikrowelt
3.1.11 Epistemologie
3.1.12 Erkenntnis und die Methode der Verfremdung
3.1.13 Instrumentelle Erkenntnis und die Methode der Verfremdung
3.1.14 Regeln für die Verfremdung
3.1.15 Die Rolle der Wissenschaft im CR
3.1.16 Verfremdung und Metareflexion
3.1.17 Verfremdung und logische Analyse
3.1.18 Ramakrishna, eine pragmatische Verfremdung der Religionen
3.1.19 Die reflexive Erkenntnis der Verfremdung Ramakrishnas
3.1.20 Ziele des Konstruktiven Realismus
3.1.21 Der Konstruktive Realismus und seine Beziehung zur abendländischen Metaphysik
3.1.22 Abschließende Diskussion zum Konstruktiven Realismus

4 Abschnitt III
4.1 Vergleich des Konstruktiven Realismus mit der Philosophie des Yoga und des Advaita Vedanta
4.1.1 Grundannahmen des Konstruktiven Realismus
4.1.2 Platons Höhlengleichnis (vgl. Platon, 1994)
4.1.3 Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit im CR
4.1.4 Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit in der Philosophie des Advaita Vedanta
4.1.5 Zwei Arten von Wissen
4.1.6 Definition von Spiritualität
4.1.7 máyá
4.1.8 Abgrenzung der Metaphysik vom CR
4.1.9 Yoga oder Spiritualität als Wissenschaft
4.1.10 Evolution des Wissens
4.1.11 Die Evolution des Wissenschaftlers
4.1.12 Ergebnisse der Arbeit in Bezug auf den Konstruktiven Realismus

5 Zusammenfassung und abschließende Diskussion

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

The jnana alone is eternal; it is without beginning or end; there exists no other real substance. Diversities which we see in the world are results of sense-conditions; when the latter cease, then this jnana alone, and nothing else, remains.

The Shiva Samhita, I:1

Die Entstehungsgeschichte einer wissenschaftlichen Arbeit steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Wissenschaftlers, der sie verfasst. Die Einleitung zu diesem Projekt ist gleichsam auch der Abschluss.

Den Ausgangspunkt dieser Arbeit stellt der Wunsch dar, sich in die indisch-orthodoxen Philosophiesysteme zu vertiefen und eine Klärung des erkenntnistheoretischen Wertes im Vergleich mit dem Konstruktiven Realismus herauszuarbeiten. Eng mit diesem Vorhaben verknüpft steht die Frage nach den erkenntnistheoretischen Grenzen von Wissenschaft und Spiritualität.

Im Rahmen der wissenschaftlichen Ausbildung wird man mit den Methoden, Theorien und Modellen einer Wissenschaftsdisziplin vertraut gemacht. Man kann also sagen, dass mit dem Abschluss des Studiums ein guter Überblick über die Geschichte, die Forschungsmethoden und den „Status Quo“ über dieses Fachgebiet vermittelt wird. Was jedoch nur rudimentär, bzw. gar nicht vermittelt wird, sind die Grenzen dessen, was Wissenschaft zu leisten im Stande ist.

Bekommt man während eines naturwissenschaftlichen Studiums vor allem eine positivistische Grundhaltung vermittelt, wird man, sobald man sich in den Bereich der Wissenschaftstheorie vertieft, ob dieser Position enttäuscht sein. Denn, während die Praxis in vielen Bereichen des Lebens der Theorie vorauseilt, hinkt sie erstaunlicherweise gerade im Bereich der Wissenschaft hinterher. Damit ist nicht die instrumentelle Erkenntnis gemeint; die Wissenschaften führen zu vielen gewünschten Effekten. Der Rückstand ergibt sich vielmehr im Bereich des erkenntnistheoretischen Anspruchs der Wissenschaften, die Wirklichkeit in ihrer ontischen Beschaffenheit zu beschreiben. Setzt man sich als Wissenschaftler mit dem Wahrheitsanspruch auseinander, wird schnell klar, dass die positivistische Grundhaltung der Naturwissenschaften aufgrund vieler Argumente verlassen werden muss.

Durch die Gegenüberstellung der indisch-orthodoxen Philosophiesysteme des Yoga und des Advaita Vedanta mit dem Konstruktiven Realismus, sollen die Argumente, die gegen ein positivistisches Fundament im Forschungsbereich anzuführen sind, herausgearbeitet werden. Diese Gegenüberstellung stellt im Sinne des Konstruktiven Realismus eine Verfremdung dar, da eine Wissenschaftstheorie mit einer Philosophie auf gleiche Stufe gesetzt wird, um deren explizite und implizite Annahmen zu enttarnen. Besondere Bedeutung gewinnen in diesem Verfremdungsprozess die Erkenntnismöglichkeiten in den Bereichen der Wissenschaft und Spiritualität, die auch klar den kulturellen Hintergrund verständlich machen. Zuletzt soll auf die unterschiedlichen Erkenntnisebenen eingegangen und die Unterschiede herausgearbeitet werden. Es wird zu zeigen sein, dass sich Wissenschaft und Spiritualität in gewisser Weise ergänzen, da die Grenzen der Wissenschaft, den Ausgangspunkt der Spiritualität markieren.

Im Rahmen dieser Arbeit geht es nicht darum, das Verhältnis von Wissenschaft und Spiritualität zu verändern oder gar die beiden miteinander zu verbinden. Wissenschaft und Spiritualität verfolgen unterschiedliche Zielsetzungen. Während Spiritualität nach wissenschaftlichem Grundverständnis betrieben werden kann, ist dies umgekehrt nicht möglich. Spiritismus ist hier nicht mit Spiritualität gleichzusetzen. Eine genauere Definition von Spiritualität und Abgrenzung vom Spiritismus ist ein weiteres Anliegen dieser Arbeit.

Die vorliegende Arbeit ist in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt werden die indische Kultur, die indisch orthodoxen Philosophiesysteme und die religiösen Vorstellungen der Hindu vorgestellt. Der zweite Abschnitt befasst sich mit der Darstellung und Diskussion des Konstruktiven Realismus, wie er von Prof. Wallner und seinem Team entwickelt wurde. Im dritten und letzten Abschnitt geht es schließlich um den Vergleich, die Gegenüberstellung bzw. die Verfremdung der ersten beiden Abschnitte.

Das Ziel der Arbeit ist die Darstellung der unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten des Menschen aus Sicht des Konstruktiven Realismus und der indisch orthodoxen Philosophiesysteme des Yoga und des Advaita Vedanta. Aus Sicht des Konstruktiven Realismus ist es nicht möglich, über den Bereich der Realität erkenntnismäßig hinauszugelangen. Es soll im Rahmen dieser Arbeit gezeigt werden, dass es zwar aus Sicht der Wissenschaft nicht möglich ist, diesen Quantensprung von der Realität in die Wirklichkeit zu vollziehen, dass es aber das Anliegen der Spiritualität ist, zur Gewahrwerdung der Wirklichkeit zu gelangen.

Während Wissenschaft bisher dem Anspruch der Erkenntnis der Wirklichkeit aus unterschiedlichen Gründen nicht gerecht werden konnte, scheint Spiritualität eine Möglichkeit zu eröffnen, die Grenzen der Wissenschaft und somit der Rationalität zu überschreiten. Dies darzustellen ist das Anliegen dieser Arbeit.

Ein Kennzeichen der indischen Literatur ist die Vielfältigkeit der Übersetzungen und Interpretationen der gleichen Sanskrittexte. Hinzu kommt, dass Sanskritwörter viele unterschiedliche Bedeutungen aufweisen und daher der Kontext der Interpretation von enormer Wichtigkeit ist. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit wenn möglich auf die Übersetzungen von S. Radhakrishnan zurückgegriffen und in englischer Sprache zitiert, da er eine englischsprachige Schulbildung im indischen Kutlurkreis durchlief und ihm daher von Kindheit an beide Kulturen vertraut waren. Als zweite Säule dieser Arbeit können die Schriften von Swami Vivekananda angesehen werden, der als literarischer Gründer der Ramakrishnabewegung anzusehen ist, die heute als größte monastische Bewegung in Indien vertreten ist und als Beispiel für die gelebte Spiritualität Indiens herangezogen wird.

2 Abschnitt I

2.1 Die indische Kultur

Geldsetzer (1999) sieht die indische Kultur in ihrem geschichtlichen Wesen als zeitlos an, da sie kein Zeitbewusstsein aufweise und im Gegensatz zum Abendland dem Alten mit höchster Achtung begegnet. Dies führte zur Tendenz Altes noch älter erscheinen zu lassen, Neuem mit Misstrauen zu begegnen und erst am Prüfstein der Vergangenheit zu bemessen, während die abendländische Fortschrittsideologie Neues mit dem Nimbus von Wahrheit und Nutzen ausstattet. In der indischen Kultur muss sich Neues erst durch Herleitung aus dem Alten legitimieren. Eine weitere für das abendländische Denken befremdliche Eigenschaft der indischen Literatur ist die Fokussierung auf sachliche Identität und Verschiedenheit der Gedankenmassen und das Aussparen von Erscheinungsdaten und Autorennamen. Das Ergebnis dieses Ansatzes ist die grundsätzliche Klassifikation von dominierenden Auslegungsströmen des vedischen Erbes in den klassischen Systemen und deren eigene Fortbildung zu späteren Zeiten. Diese beiden Aspekte des indischen Denkens haben Auswirkungen auf die Chronologie. Während indische Gelehrte alles ein bisschen älter machen und somit zu einer Zahl von 10.000 Jahren kommen, setzen abendländische Wissenschaftler die vedische Literatur etwa 1.500 v. Chr. an.

Will man heute indische Philosophie studieren, so empfiehlt Chatterjee (1988) vier Arten von Plätzen, denen man sich als Forscher zuwenden müsse:

1. Universitätsinstituten für Philosophie und Sanskrit
2. Traditionellen Studienzentren wie Benares unter der Berücksichtigung einzelner Gelehrter, sogenannter Pundits, die oft an keine Institution gebunden sind und in vielen Fällen nur über das Medium regionaler Sprachen zugänglich sind.
3. Jesuitenseminare wie etwa Vidya Jyoti in Delhi und
4. Außerakademischen Zentren moderner Religionen, wie der Ramakrishna Bewegung, wo die Praxisorientierung der indischen Philosophie in geistlichen Lebensstilen studiert werden kann.

Die indische Gegenwartsphilosophie ist geprägt durch den Kulturkampf zwischen Orientalisten und den Verwestlichern im Erziehungswesen, der seinen Ursprung in der Kolonialisierung findet. Dieser Kampf führte zu einer Neubesinnung auf die Traditionen und wurde weniger durch Akademiker als durch vier Sozialreformer in Gang gesetzt: Mahatma Gandhi, Rabindranath Tagore, Swami Vivekananda und Sri Aurobindo. Als Quelle der Gegenwartsphilosophie wird im weiteren Verlauf der Arbeit daher vor allem auf die Schriften von Swami Vivekananda Bezug genommen, da er als einer der federführenden Sozialreformer dieser Rückbesinnung und als Mitbegründer der Ramakrishna Bewegung anzusehen ist und daher in zweierlei Hinsicht für die weitere Diskussion von Relevanz ist.

Nach Chatterjee (1988) wird indische Philosophie in fünf unterschiedlichen Richtungen betrieben. Advaita Vedanta sei seit dem 19. Jahrhundert, das am meisten erforschte, der sechs indisch orthodoxen Philosophiesysteme. Für Chatterjee ist Radhakrishnan der bekannteste Vertreter dieses Systems außerhalb Indiens. Aus diesem Grund wird im weiteren Verlauf der Arbeit auf seine Übersetzungen und Darstellung der indischen Philosophie Bezug genommen. Als einflussreichster neuer Trend wird jene Tradition hervorgehoben, die versucht Logik und Erkenntnistheorie von Religion und Metaphysik abzukoppeln. Als dritte Richtung werden soziale Philosophen genannt, die von Habermas und Marx beeinflusst worden waren und deren Widerstand sich gegen die Relevanz der Metaphysik richtet. Der wichtige Beitrag dieser Gruppe ist aufzuzeigen, dass es sich beim zentralen Thema der indischen Philosophie nicht nur um Spiritualität handelt. Die kontinentale Tradition vertreten durch die Professoren, Sindari, Shandra und Chatterjee ist geprägt durch die Auseinandersetzung mit der Phänomenologie und dem Existenzialismus. Als fünfte Richtung wird die interkulturelle Philosophie angeführt, die auf eine gegenseitige Befruchtung von indischer und westlicher Philosophie abzielt.

Die Hindus begründen ihren Glauben in den Veden, ein Wort, das aus der Wurzel vid (wissen), gebildet wird. Die Veden sind eine Reihe von Büchern, die für die Hindus die Essenz aller Religionen enthalten. Sie gehen jedoch nicht davon aus, dass diese Wahrheiten nur in ihren Büchern festgeschrieben sind. (Vivekananda, 1990d, S.329)

2.2 Die indischen philosophischen Systeme

2.2.1 Ihre grundlegende Einheit und die heutige Relevanz

Die indischen philosophischen Systeme werden im weitesten Sinn in zwei Sektionen unterteilt, die vedische (vaidika) und die nicht vedische (vedavãhya), oder als orthodox (ãstika) und heterodox (nãstika) differenziert. Die Systeme, die die Autorität der Veden akzeptieren und zustimmen, dass unsterbliche Seelen die Früchte ihres Karma ernten (gut oder schlecht), werden als ãstika bezeichnet, unabhängig davon, ob sie einen allmächtigen Schöpfergott akzeptieren. Das vaiçeßika System von Kanãda, das nyãya von Gautama, das samkhya System von Kapila, das yoga System von Patañjali, das púrva-mímãmsã von Jaimini und das uttara mímãmsã oder vedanta System von Vyãsa werden in Indien als ãstika dar¤anas bezeichnet, während Jaina, Bauddha, pã¤upata und andere solcher Systeme als vedavãhya oder nicht vedisch bezeichnet werden, weil sie die Validität der Veden infrage stellen. In dieser Arbeit werden in weiterer Folge die ãstika dar¤anas dargestellt. (Shastri, 1990)

Orthodoxe Systeme sind nicht zwingend theistisch. Ein System kann sowohl orthodox als auch atheistisch sein. Die orthodoxe Kategorie schließt zwei Systeme mit ein, die nicht theistisch sind: samkhya und púrva-mímãmsã. Diese beiden Systeme akzeptieren keinen Schöpfer-Gott. Blickt man auf den philosophischen Standpunkt dieser Systeme und ignoriert ihre Akzeptanz oder Ablehnung, kann man eine Vielzahl von unterschiedlichen Standpunkten in der indischen Tradition feststellen: Empirismus, Phänomenalismus, Realismus, Idealismus in der Epistemologie; Monismus, Dualismus und Pluralismus in der Metaphysik. Trotz der Differenzen dieser Systeme gibt es viele Gemeinsamkeiten, die sie verbinden. (Balasubramanian, 1990)

Alle diese Systeme, sowohl orthodox als auch heterodox, haben ihren eigenen Standpunkt bezüglich der Mittel und Quellen von Erkenntnis und versichern, dass ihre Ansichten und Folgerungen diese Quellen der Erkenntnis (pramãna) als Grundlage haben. Keine dieser Schulen geht vom „Glauben“ ohne Unterstützung der pramãnas aus. Die vaiçeßika und nyãya Systeme der Logiker, die jeweils zwei und vier pramãnas akzeptieren, gehen davon aus, dass es keine anderen Erkenntnismöglichkeiten als die ihren gibt. Sie nehmen Deduktion als Grundlage für die Erklärung der Seele, des Verstandes, von Zeit und Raum, von Atomen und sogar der Göttlichkeit, obwohl diese nicht durch die Sinne wahrgenommen werden kann. Im púrva-mímãmsã und im uttara mímãmsã System herrscht die Überzeugung, dass bei übersinnlichen Wahrheiten, die nicht durch die Sinne oder durch Deduktion wahrgenommen werden können, die Veden (çruti) als einzige Quelle der Erkenntnis herangezogen werden können, deren Validität als ein pramãna axiomatisch (svataàsiddha) ist wie die Validität unserer Augen in Bezug auf die Farben.

So zeigt sich, dass alle philosophischen Systeme Indiens von ihren pramãnas abhängen und nicht sofort irgendeinen (Aber)Glauben oder Dogmen akzeptieren. Es ist erforderlich Gründe für die Ansichten anzuführen, die vertreten werden. In den Upanishaden steht geschrieben, dass brahman, die absolute Realität, durch das Herz, den Intellekt und die Willenskraft erreicht werden kann. (Shastri, 1990)

h ^dã maníßã manasãbhikl^pto

(Kathopanisad 2,3,9; Svetasrataropanisad 4,17)

Nicht nur brahman, sondern alle höheren Ideale und Errungenschaften erfordern die volle Anstrengung dieser drei Fakultäten des Verstandes. Das Streben der Wissenschaft und der Technologie kann nur einen Aspekt des Verstandes entwickeln, die anderen Seiten bedürfen der Entwicklung von Metaphysik, Ethik und Ästhetik. Die Entwicklung des Intellekts erfordert alleine schon so viele Anstrengungen. Der Wille und das Herz werden trotzdem ignoriert. Deren Entwicklung hängt nicht vom Studium ab, sondern viel mehr von der Praxis moralischer und spiritueller Übungen. Die Gesellschaft und Assoziation mit den Personen, die im „Wollen“ und „Fühlen“ fortgeschritten sind, das heißt moralisch fortgeschrittene Personen mit einem starken Willen und spirituell fortgeschrittene Personen mit emotionaler Stabilität sind die wichtigeren praktischen Mittel um den Willen und das Herz zu entwickeln.

In diesem Punkt stimmen alle Hauptsysteme der indischen Philosophie überein und empfehlen weiters „sãdhanã“ zusätzlich zu den metaphysischen Spekulationen. Sãdhanã involviert die Übung verschiedener moralischer Prinzipien, die einen starken Willen erfordern und fördern, sowie einige spirituelle Praktiken, die den emotionalen Aspekt einer Person entwickeln sollen. Hier zeigt sich die besondere Betonung der praktischen Umsetzung von theoretischen Inhalten in der indischen Philosophie. Zusätzlich messen alle – die sechs vedischen Systeme, die ãgama Systeme sowie die buddhistischen Systeme und die der Jain –der direkten Belehrung durch einen Weisen (sãdhusa´ga) große Bedeutung als praktisches Mittel zur Entwicklung der Persönlichkeit und der Erkenntnis bei. Dieser Punkt der grundlegenden Einheit der Systeme ist heute genauso relevant wie in alten Zeiten. (Shastri, 1990)

2.3 Vaiçeßika - Die Philosophie des atomistischen Pluralismus

Das System des Vaiçeßika wird dem sagenhaften Autor Kanada zugeschrieben, der das Vaiçeßikasutra verfasst und somit die Grundlage geschaffen haben soll. Ausgehend von älteren naturphilosophischen Annahmen versucht dieses Werk alles Existierende in Kategorien zu fassen und vertritt eine pluralistische und realistische Ontologie (Amerbauer, 2000).

Geldsetzer (1999) sieht in der Philosophie des Vaiçeßika ein Pedant zur abendländischen Naturphilosophie. Von ihrem Wesen her kann sie als Analytik bezeichnet werden. Der zentrale Begriff vishesha bedeutet Individualität, Spezifität und kann als „Grundbaustein der Wirklichkeit“ übersetzt werden. Ebenso erklären die klassischen abendländischen Naturphilosophien die Naturwirklichkeit aus solchen Grundbausteinen, Atomen oder Elementen und die Weiterentwicklung der Philosophie des Vaiçeßika kann als Grundlegung indischer Naturwissenschaft aufgefasst werden.

Das System des Vaiçeßika versucht „to exhibit in one system the characters and interrelations of all that is observed“ (Whitehead: The Concept of Nature, S 185). Whitehead unterscheidet Sinnesdaten, die Welt der Perzeption und wissenschaftliche Objekte. Sinnesdaten sind die aktuellen Farben, Geschmäcker, Töne, Temperaturen, die man unmittelbar wahrnimmt. Auf diesen Wahrnehmungen wird die Welt der Erfahrung aufgebaut. Um die Sinnesdaten und die Welt der Erfahrung zu erklären, wird eine bestimmte Anzahl an wissenschaftlichen Objekten postuliert. Diese sind jedoch keine Objekte der Erfahrung. Im vaiçeßika finden sich ebenfalls die Sinnesdaten oder Objekte der Perzeption, mit denen jegliche Erfahrung beginnt. Wenn diese Sinneswahrnehmungen mit den Kategorien der Substanz, der Qualität und den Relationen zwischen diesen in Verbindung gebracht werden, gelangt man auf die Ebene der Welt der Erfahrung. Hier soll nochmals erwähnt werden, dass, wenn man von einem Objekt und seinen Qualitäten spricht, nicht Fakten angeführt, sondern diese interpretiert werden. Wenn im vaiçeßika zwischen ewigen und vergänglichen Substanzen differenziert wird, soll dadurch der vergängliche Charakter unserer Erfahrung zum Ausdruck gebracht werden. Wissenschaftliche Objekte wie zum Beispiel Atome und Seelen, Raum und Zeit, werden postuliert. Eine Theorie wird in der Folge als bestätigt angesehen, wenn die Sinnesdaten zur Welt der Erfahrung führen und diese schließlich zu den wissenschaftlichen Objekten. Aber es ist kein logischer Zusammenhang zwischen diesen erkennbar. Radhakrishnan schreibt diesbezüglich (1999, S.229):

Reality is not a substance or an aggregate of substances which are the subjects of qualities, but an essential relatedness, where we find need for analysis and comparison, distinction and identification. The changing world of experience consists of a plurality of existent things standing in a complicated network of relations of all kinds with one another.

Die Erfahrung enthält im vaiçeßika Objekte und Relationen. Substanz, Qualität und Handlung existieren in sich selbst und ineinander Sie stehen durch eine Reihe von Relationen in Verbindung, die als s ámánya oder generische Natur, viçeßa oder spezifische Merkmale und s amaváya oder untrennbare Verbindung bezeichnet werden. Jede Substanz weist eine generische Qualität oder Eigenschaft auf, eine spezifische Differenz, und ist mit diesen über die Relation von s amaváya verbunden. Die Unterscheidung von Generellem und Spezifischem, also von s ámánya und viçeßa, ist eine von Qualität und Substanz. Aber was ist nun die Natur von viçeßa ? Aufgrund der täglichen Erfahrung differenziert man Individuen. Nur ist es nicht möglich, eine zufriedenstellende Erklärung, für diese Spezifität zu geben. Was man über ein spezifisches Ding weiß, sind seine Qualitäten und wie es sich verhält. Aber die Einzigartigkeit kann nicht definiert werden, obgleich sie offensichtlich erscheint. Wenn es sich um eine unveränderliche Substanz handelt, wissen wir nicht, was es ist. Die Farbe Blau impliziert das Blau oder ein Blau, aber welches Blau genau damit gemeint ist, lässt sich nicht feststellen. Radhakrishnan (1999, S.231) schreibt diesbezüglich:

Ultimately we cannot define what we mean by uniqueness. Though the theory of viçeßa , or particularity, is not borne out by logical evidence, an obstinate empirical prejudice inclines us to grant unique indestructible essences to individuals. The individuality of the innumerable elements and souls is destructive of the individuality of the whole, and so, if the conception of an organised whole implied by the vaiçeßika view of negation and s amaváya is to be sustained, the doctrine of individuals will have to be modified.

Das System des vaiçeßika versucht alle Aspekte der Erfahrung in einem generellen Schema zu integrieren. Die Sinneswelt hat eine wahre Grundlage unabhängig vom wahrnehmenden Subjekt. Die Relationen sind insofern real, als dass sie nicht durch den Verstand des Menschen bedingt sind. Im vaiçeßika wird nicht davon ausgegangen, dass die Wahrnehmung vielfältig ist. Sie basiert auf einer Reihe von Gesetzen. Die Kategorien von Qualität, Aktion, Generalität, Spezifität und Inhärenz sind abhängig, während Substanz die unabhängige Entität darstellt, von der alle anderen abhängen. Substanzen sind absolut unabhängig. Vergängliche Substanzen, die eine Ursache haben, sind keine Substanzen im engeren Sinn. Die Theorie der neun ewigen Substanzen wird zur zentralen These des Pluralismus des vaiçeßika. Diese werden von Whitehead (1920) als wissenschaftliche Objekte unterschiedlich von den Objekten der Wahrnehmung und der Sinneserfahrung bezeichnet. Ihr Wert liegt in der Möglichkeit, die Wahrnehmungsinformationen zu erklären und zu ordnen, sowie die wahrgenommene Natur, wie sie durch die Sinne wahrgenommen wird, besser zu strukturieren. Bezüglich dieser Wahrnehmung schreibt Radhakrishnan (1999, S.237):

A naturalistic bias led the vaiçeßika thinkers to regard experience as an ever shifting phantasmagoria demanding explanation from outside. They regard objects of experience as shadows on the screen cast by substances behind. That shadows are cast on the screen of our minds by substances lurking behind, is a metaphysical assumption for which there is no warrant. We need not go behind experience and assume mysterious things in themselves.

Weiters argumentiert er, dass das System des vaiçeßika einerseits verlangt loyal zu den Erfahrungen des empirischen Bewusstseins zu sein, andererseits jedoch selbst über das Zeugnis des Bewusstseins hinausgeht, wenn es auf die Welt der Erfahrung als eine Leinwand sieht, die zwischen dem Subjekt und den realen, nicht wahrnehmbaren Objekten steht. Das System des vaiçeßika versucht Phänomene zu vereinfachen, aber postuliert eine falsche Metaphysik:

when it assumes that the multiplicity of the world is the phenomenon of a noumenal multiplicity. When it once breaks up the unity of experience into a number of distinct elements, it is unable to reunite them into a whole. A scattered and dissociated diversity cannot engender unity unless it be through the instrumentality of a divine providence. These substances both in their eternal self-identity and non-eternal manifestations do not form a coherent whole. There is no string by which we can tie them all together.” (Radhakrishnan, 1999, S.237)

Die Idee der Verbundenheit der Substanzen ist nicht gut entwickelt. Während die Relativität ein zentraler Bestandteil der Lebenserfahrung sein soll, werden alle Relationen in Bezug auf die unabhängigen Atome und Seelen als wissenschaftliche Objekte, beschrieben. Die Welt der Wirklichkeit, die neun ewigen Substanzen, verweilen auf ewig unberührt durch Veränderung. Die Ursache für die phänomenale Veränderung kann nicht in einer Eigenheit der Realität selbst gesucht werden. Unabhängige Atome können nicht für die Erklärung der phänomenalen Welt herangezogen werden. Damit die phänomenalen Objekte entstehen, müssen sie aufeinandertreffen und zusammenprallen. Wenn die Atome aber die Qualität der Bewegung besitzen, können sie nicht unabhängig sein, denn selbst die Bewegung der Atome ist eine Negation ihrer Unabhängigkeit. Relativität ist inkonsistent mit der absoluten Unabhängigkeit der Elemente. Die so genannten unvergänglichen Substanzen können daher nicht einfache, unveränderliche und permanente Elemente sein, sondern höchstens relative Fixpunkte eines sich ständig in Veränderung befindlichen Systems. Wenn Veränderung und Relativität Eigenschaften der Realität sind, dann kann die Realität kein Aggregat von einfachen Realen darstellen. Das eigentliche wissenschaftliche Objekt ist nicht die ewige Substanz, sondern die sich beständig ändernde Identität der Welt selbst.

Der Grund, warum im vaiçeßika von ewigen Atomen ausgegangen wird, ist die Tatsache, dass es nicht möglich ist, etwas aus dem Nichts zu erschaffen. Mit den Atomen werden die Erfahrungen von Geruch, Geschmack, Farbe und Temperatur in Verbindung gebracht. Da diese Erfahrungen permanent sind, wird davon ausgegangen, dass auch die Atome unvergänglich sein müssen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Basis, von der vaiçeßika beginnt, die Erfahrung ist. Die Atome selbst sind jedoch nicht wahrnehmbar, obgleich sie für bestimmte Phänomene der Erfahrung verantwortlich gemacht werden. Diese Erfahrungen werden als Teil der Natur angesehen, also als Teil einer objektiven Wirklichkeit und nicht, wie im Buddhismus, als Teil des Verstandes. Das Problem, das sich daraus ergibt, ist, dass die Atome keinen Teil der Erfahrungswelt darstellen, jedoch als einzige Ursache für die Welt der Erfahrung angesehen werden. Streng gesprochen meint Radhakrishnan (1999, S 239), kennt man weder eine universale Materie oder unsichtbare Atome, sondern nur Körper. Ein Körper wird definiert als das, was sich bewegt. Es ist ein Stück Materie, dessen natürliche Anordnung seiner Teile unverändert bleibt, während sich alle anderen Relationen oder Positionen ändern. Materie ist, was den Rahmen von Raum und Zeit ausfüllt. Der einzige hilfreiche Vorschlag, der sich von der atomistischen Theorie für die Philosophie ableiten lässt, ist der, dass das Reale das ist, das in und für sich selbst existiert.

2.4 nyãya

Die Philosophie des nyãya betont das „Zurückgehen“ oder „Zurückführen“ in der Argumentation und man könnte sagen, dass sie in ihrem Titel als Deduktion-Lehre ausgewiesen ist. Vom abendländischen Standpunkt her kann die nyãya -Philosophie als formale Logik betrachtet werden.

Das älteste, bekannte Dokument wird als nyãya -Sutras des Gautama bezeichnet, besteht aus 5 Kapiteln mit je zwei Abschnitten, die jeweils zwei bis siebzig Sätze enthalten und wird dem 2. Jahrhundert nach Christus zugeschrieben. Über die Jahrhunderte knüpften unterschiedliche Kommentatoren an, mit dem 12. Jahrhundert entsteht das nava nyãya, mit noch entschiedenerer Ausrichtung auf Logik und Methodologie. (Geldsetzer, 1999)

Während nach Ansicht von Sen (1990) die anderen indischen Systeme eher spekulativ sind, so repräsentieren das System des nyãya und das System des vaiçeßika den analytischen Typus der Philosophie und beziehen sich auf den „Common Sense“ und die Wissenschaft. Radhakrishnan definiert den Unterschied dieser Systeme als:

What is distinctive of these schools is the application of a method, which their adherents regard as that of science, to material which has hitherto been treated in quite a different way”. (Radhakrishnan, 1999, S.29)

Es geht hier also um die Anwendung der Logik mit dem Ziel, sich dem buddhistischen Phänomenalismus entgegen zu stellen, der die externe Realität mit den Ideen des Verstandes vermischt. Beide versuchen die traditionellen Substanzen, die Seele im Inneren und die Natur außerhalb, wieder zu etablieren; diesmal jedoch nicht auf Basis von Dogmen, wie es in der Zeit vor dem Buddhismus erfolgte, sondern durch die angeführten Methoden. Der generelle Skeptizismus, der durch den Buddhismus gefördert wurde, erforderte andere Beweise als nur den Glauben an bestimmte Dogmen, die von häretischen Denkern durch die Evidenz der Sinne und logischen Schlussfolgerungen attackiert worden waren. Im nyãya wird folglich nur als wahr anerkannt, was auf Basis der Logik etabliert werden kann.

Die Philosophie des nyãya und des vaiçeßika nimmt die gewöhnlichen Inhalte der traditionellen Philosophie auf: Dazu zählen zum Beispiel Raum, Zeit, Ursache, Materie, Verstand, Seele und Wissen. Sie untersucht ihre Signifikanz für die Erfahrung und verschmilzt die Ergebnisse in einer Theorie über das Universum. Den logischen und den physischen Aspekten wird dabei größte Bedeutung geschenkt.

Nach Ammerbauer (2000) werden im nyãya 16 (dialektische) Kategorien unterschieden, von denen die ersten beiden, die vier Erkenntnismittel und Erkenntnisgegenstände, als die wichtigsten anzusehen sind. Die einwandfreie Erkenntnis dieser führt schließlich zur Aufhebung des Leids und zur Befreiung. Diese 16 Kategorien umfassen im Einzelnen die vier Erkenntnismittel (Wahrnehmung, Schlussfolgerung, Vergleich und zuverlässige Mitteilung), die zwölf Erkenntnisgegenstände (Seele, Körper, fünf Sinne, Gegenstände, Vernunft, Denkvermögen, psychische und physische Aktivität, Mangel, Transmigration, Früchte der Taten, Leid, Befreiung) Zweifel (Anlass einer Debatte), Zweck (einer Debatte), Beispiel (als belegt für eine These), Lehrsatz, Glieder (eines Schlusses), Argumentation, Entscheidung, Disputation, Streit, destruktive Argumentation, fünf Scheingründe, drei Arten der Verdrehung, irreführende Einwände und Gründe der Niederlage.

2.4.1 Epistemologie des nyãya

nyãya besteht darauf, dass Dinge der Ursprung der logischen Wahrheit sind, dass die externe Welt abseits vom Wissen über sie besteht und dieses Wissen determiniert, dass Ideen mit den Dingen korrespondieren. Das Reale wird in zwei Ebenen aufgespaltet, die Subjekte und die Objekte, wodurch die gewöhnlichen Annahmen bzw. die Erfahrungen aus der Lebenswelt in eine metaphysische Theorie transformiert werden. Dies erweist sich sowohl gegenüber dem Erleben als auch den Regeln der Logik als inadäquat.

Die metaphysischen Hauptannahmen, die dem nyãya schaden, sind nach Radhakrishnan (1999):

I. Das Selbst und das Nicht-Selbst sind voneinander getrennt
II. Bewusstsein ist das Ergebnis der kausalen Wirkung des Nicht-Selbst auf das Selbst
III. Das Wissen ist eine Eigenschaft des Selbst

Unabhängig von diesen impliziten Annahmen enthält nyãya fruchtbare Vorschläge, wie diese überwunden werden können. Solange im nyãya angegeben wird, was im Akt der Erkenntnis direkt erfahren wird, befindet es sich auf sicherem Boden. In dem Moment jedoch, in dem nyãya versucht mit metaphysischen Annahmen über das Wissen hinaus zu gehen, öffnet es Raum für Kritik. Der fundamentale Fehler des nyãya ist nach Radhakrishnan (1999) der gleiche Fehler, den Locke und andere empirische Denker, die die Welt getrennt vom Subjekt ansehen, begehen. Diese mechanistische Ansicht, wie legitim sie für das tägliche Leben auch sein mag, ist letztlich nicht haltbar. Es ist nicht möglich die Natur des Wissens zu ergründen, indem man es objektiv beurteilt. Wenn das Selbst und das Nicht-Selbst voneinander getrennt sind und das Bewusstsein das Ergebnis der Wirkung des Nicht-Selbst auf das Selbst darstellt, wie Locke und Descartes, Hume und Kant dachten, dann sind all die Inhalte des Bewusstseins subjektive Zustände des wissenden Individuums. Wenn das Subjekt vom Objekt getrennt wird, ist es schwierig, die Brücke zwischen den beiden zu bauen. Entweder muss man davon ausgehen, dass das Objekt die Schöpfung des Subjektes ist, oder dass es gar kein Objekt gibt. Wenn man davon ausgeht, dass das Objekt im Bewusstsein repräsentiert ist, oder in ihm gespiegelt wird, egal welchen Standpunkt man bezüglich der Relation des Wissens zum Objekt annimmt, wird es unmöglich sicher zu sein, dass die Welt in der Form existiert, in der sie wahrgenommen wird. Es ist nicht möglich die Kognitionen an der Realität zu überprüfen, da diese den Gedanken gegenüber extern ist. Wenn etwas imstande, ist die Idee auf der einen Seite mit dem Objekt auf der anderen Seite zu vergleichen, dann muss es das Bewusstsein sein. Dieses muss jedoch sowohl die Idee als auch das Objekt einschließen. Diesbezüglich schreibt Radhakrishnan (1999, S.135):

If truth means agreement of ideas with reality, and if reality is defined as that which is external to thought, what is not and cannot be in thought or made up of thought, then truth-seeking is a wild-goose chase. Thought seeks an end which could never conceivably be attained, nay, an end of which no clear notion could be formed. The Naiyayika faces the conclusion that the goal of thought, i.e. the attainment of truth, cannot be directly realised. He holds that for a finite mind the goal of thought is beyond attainment. We have to be content with the lower ideal of acquiring confidence in the working value of our ideas. Serviceability or practical efficiency generates this feeling of confidence. This workability does not, however, justify the nyãya assumption that ideas work because they are in accord with reality.

Während es möglich ist, dass Objekte real sind, ohne im Bewusstsein präsent zu sein, ist es dennoch nicht möglich davon auszugehen, dass reale Existenz unabhängig von Erfahrung ist. Im nyãya wird die Beziehung zwischen Objekt und Wissen als svar ú pa sambandha bezeichnet. Kognition ist Bewusstsein eines Objektes. Die Kognitionen werden somit einzig durch die Objekte spezifiziert. Nach dieser Ansicht erzeugt Wissen keine Objekte, bzw. korrespondiert mit ihnen, sondern erfasst diese. Was erkannt werden kann, ist entweder der Effekt oder die Kopie des Objektes im Bewusstsein des Subjektes. Ob man an ein Objekt denkt, es wahrnimmt oder sich daran erinnert, was wahrgenommen wird, ist das Objekt selbst, welches unabhängig vom Wissensprozess ist. Die Theorie des nyãya der direkten Wahrnehmung der Realität ist jedoch inkonsistent mit der Annahme, dass Subjekt und Objekt Substanzen sind, die voneinander isoliert sind. Subjekt und Objekt sind untrennbar miteinander verbunden.

2.5 Sãmkhya

Nach wie vor unklar ist die Abstammung der Bezeichnung der philosophischen Richtung des sãmkhya. Einige weisen auf einen sagenhaften Begründer namens Sankha hin, andere gehen davon aus, dass die etymologische Verwandtschaft mit Samkhya, das als Zahl übersetzt werden kann, auf eine Zahlenphilosophie hinweist, die sogar Pythagoras beeinflusst haben soll. Geldsetzer (1999) sieht als plausibelste Deutung die in älteren Texten anknüpfende philosophische Reflexion, wodurch sãmkhya als „spekulatives System“ übersetzt werden kann.

Amerbauer (2000) geht davon aus, dass es das älteste unter den hinduistischen Systemen ist und die ontologische Basis für das System des Yoga bildet. Es ist sowohl realistisch, als auch dualistisch: Die erfahrbare Wirklichkeit ist real und durch das Zusammenwirken der beiden Prinzipien können alle Phänomene der Wirklichkeit erklärt werden.

In der dualistischen Prinzipientrennung des sãmkhya scheint die Subjekt-Objekt-Spaltung, die in der abendländischen Philosophie seit Parmenides ein Dauerthema ist, thematisiert worden zu sein. Im Unterschied zur abendländischen Reflexionsphilosophie wird im sãmkhya jedoch die grundsätzliche Nichtobjektivierbarkeit des Subjekt-Prinzips betont (Geldsetzer, 1999).

sãmkhya repräsentiert eine Abkehr von den formalistischen Denksystemen, die bisher vorgestellt wurden. Seine Zurückweisung der rigiden Kategorien des nyãya - vaiçeßika als inadäquate Instrumente zur Beschreibung des komplexen und vor allem dynamischen Universums, stellt nach Ansicht von Radhakrishnan (1999) einen realen Fortschritt in der Theorie des atomaren Pluralismus dar. sãmkhya untergräbt die Grundlagen übernatürlicher Religionen, indem es die Evolution als Gegensatz zur Schöpfung anführt. Die Welt ist demnach nicht die Schöpfung eines erschaffenden Gottes, der durch einen einzigen Willensakt eine ganze Welt, losgelöst von sich selbst, erschaffen hat, sondern ist das Produkt der Interaktion der unendlichen Anzahl von Seelen und der immer aktiven prak ^ti oder dem Potenzial der Natur.

Die Philosophie des sãmkhya geht von der Realität der puru äas und prak ^ti aus, abgeleitet von der Tatsache des Wissens mit seiner Differenzierung von Subjekt und Objekt. Keine Erklärung der Erfahrung ist möglich, wenn man nicht die Realität eines wissenden Selbst und eines erkannten Objektes annimmt. sãmkhya versucht eine umfassende Erklärung der Erfahrung zu geben, warum sie stattfindet und unter welchen Voraussetzungen sie möglich ist. Richard Garbe (1897), der sich besonders mit dieser Philosophie auseinandergesetzt hat, lobt sie in den höchsten Tönen, indem er meint:

In Kapilas doctrine, for the first time in the history of the world, the complete independence and freedom of the human mind, its full confidence in its own powers, were exhibited. It is the most significant system of philosophy that India has produced.

Der Tradition nach wird das System des sãmkhya einstimmig Kapila zugeschrieben, der im Jahrhundert vor Buddha gelebt haben soll. Das sãmkhyapravacana s útra, das Kapila zugeordnet wird, besteht aus sechs Kapiteln, von denen sich die ersten drei mit dem System des sãmkhya auseinandersetzen, während das vierte Kapitel einige illustrative Geschichten enthält, das fünfte einige konträre Ansichten zurückweist und das sechste eine Zusammenfassung darstellt. (Radhakrishnan, 1999)

Viele Gelehrte gehen davon aus, dass die theoretische Kosmogonie des sãmkhya sich in der praktischen und spirituellen Grundlage von Patanjali’s Yoga wieder findet. Dazu zählen nach Keller-Reich (2002) Monier Williams, Max Müller, Dvivedi, Radhakrishnan, Potter, Feuerstein und Miller. Die Analyse der Bestandteile der phänomenalen Existenz im klassischen sãmkhya sind sehr hilfreich um den Standpunkt, die Einstellung und die Zielorientierung des klassischen Yoga nachvollziehen zu können, auch wenn sich einige konzeptuelle Unterschiede wieder finden.

Der Dualismus des sãmkhya von puru äas und prak ^ti wird auf die Kausalität zurückgeführt. Eine der zentralen Annahmen des sãmkhya ist, dass der Effekt zuvor in der Ursache, die ihn bedingt, existiert. Nach dieser Doktrin, die satkãryavãda genannt wird, sind die Ursache und die Wirkung unentwickelte und entwickelte Zustände der gleichen Substanz. Alle Produktion ist Entwicklung (udbhãva) und alle Zerstörung ist Umhüllung (anudbhãva) oder Verschwinden der Ursache. Es gibt keine endgültige Zerstörung. Die vergangen oder die künftigen Zustände sind nicht zerstört, da die Yogis imstande sind, diese wahrzunehmen. Daher entwickelt das sãmkhya System die Theorie der Evolution (ãvirbhãva) und der Involution (tirobhãva).

2.5.1 prak^ti

sãmkhya versucht die Erklärung der Natur durch eine immense Komplexität an Elementen, die der beständigen Änderung unterworfen sind. Die Hierarchie der Formen physischer Materie, die selbst ein Produkt submaterieller Elemente darstellt, wird als Entfaltung der Ressourcen der Natur angesehen. Weiters wird festgestellt, dass, wenn alle Effekte latent in ihren Ursachen enthalten sind, und ein unendlicher Regress vermieden werden soll, es eine unbedingte Ursache geben muss. Vom Prinzip der Kausalität wird abgeleitet, dass die endgültige Basis des empirischen Universums das unmanifestierte prak ^ti darstellt (Radhakrishnan 1999).

prak ^ti wird als die materielle Grundlage für alles Mentale und Phänomenologische angesehen, die nur in ihren Effekten wahrgenommen werden kann. Der Ursprung der Materie wird somit aus der Welt der Erfahrung und des Mentalen durch die Philosophie des Yoga und des sãmkhya abgeleitet. Die Erfahrung der relativen Welt beinhaltet in der Folge den Intellekt und das Ego, die als materielle Ursache der Sinne und der Sinnesobjekte angesehen werden und die Erfahrungen des täglichen Lebens ermöglichen. In den Yoga Sutren werden die Komponenten des Verstandes im Wort citta zusammengefasst. Diese drei Aspekte unseres Verstandes bestimmen die gesamte subjektive und objektive Wahrnehmung (Keller-Reich, 2002).

sãmkhya geht von der Kontinuität der Welt vom Geringsten bis hin zum Höchsten aus. Die Produkte entwickeln sich und verschwinden wieder in unendlicher Folge. Die Welt wird als parinãma oder Transformation von prak ^ti angesehen, das deren Ursache darstellt. Bis zum letzten Schluss gedacht, muss die äußerste Ursache eminent alle Realität enthalten, die Bedeutung und den Wert des Effektes. Nichts kann sich entwickeln, das sich nicht zurückentwickelt hat. Während jeder Effekt eine Ursache besitzt, hat prak ^ti keine, ist aber die Ursache von allen Effekten, von denen darauf geschlossen wird. Es wird als brahmã, das, was wächst, oder mãyã, das, was begrenzt, bezeichnet.

Während die Produkte von prak ^ti verursacht, abhängig, vielfältig und durch Raum und Zeit begrenzt sind, so ist prak ^ti unbedingt, unabhängig, einzigartig, allgegenwärtig und unvergänglich. Da prak ^ti unvergänglich ist, kann es auch nie erschaffen worden sein. Ein intelligentes Prinzip kann nicht das Material darstellen, aus dem die leblose Welt geformt wird, da Geist nicht in Materie transformiert werden kann. Hinzu kommt, dass das Agens nicht der puru äa oder die Seele ist, sondern ahamkãra oder das Ichbewusstsein, das wiederum selbst ein Produkt darstellt.

Vyãsa beschreibt prak ^ti in seinem yoga bhasya (Kommentar zu den Yoga Sutren, zitiert nach Radhakrishnan, 1999, S260):

nihasattãm nihsadasan nirasad avyaktam alingam pradhãnam

(yoga bhasya, II:19)

that which never is nor is not, that which exists and does not exist, that in which there is no non-existence, the unmanifested, without any specific mark, the central background of all.

Nichts, das existiert, kann zerstört werden, alle Produkte existieren in prak ^ti, wenn auch in unmanifestierter Form.

Radhakrishnan beschreibt prak ^ti (1999, S 262):

The prak ^ti of the sãmkhya is not a material substance, nor is it a conscious entity, since puru äa is carefully distinguished from it. It gives rise not only to the five elements of the material universe, but also to the psychical. It is the basis of all objective existence. The sãmkhya arrives at the conception, not from the side of science, but from that of metaphysics. The real in its fullness is distinguished into the unchanging subject, and the changing object and prak ^ti is the basis of the latter, the world of becoming. It is the symbol of the never-resting, active world stress. It goes on acting unconsciously, without regard to any thought-out plan, working for ends which it does not understand.

In der Sprache des Konstruktiven Realismus stellt prak ^ti den Grundstein für die Realität dar und erweitert den Objekt-Methode-Zirkel, auf den später noch näher eingegangen werden soll, um die Problematik der determinierten Wahrnehmung.

2.5.2 gunas oder Qualitäten

„The Manifest, the evolved is composed of the three Gunas the constituents, is indiscriminative, objective, common, nonintelligent and productive. The Pradhana is also like this. The spirit, though similar is the reverse of these.“ (Samkhyakarika 11, Übersetzung Mainkar, 1988, S.74)

Die Entwicklung von prak ^ti erfolgt mithilfe der drei Kräfte, aus denen sie zusammengesetzt ist. Diese werden gunas genannt. Sie werden nicht wahrgenommen, sondern es wird von den Effekten auf sie geschlossen. Diese Qualitäten, die in sich selbst beständig dynamisch sind und miteinander verbunden sind der Ursprung aller physischen und psychologischen Transformationen in Substanz, Form und Inhalt. Dies scheint eine sehr moderne Darstellung von Materie und Substanz als Energiefeld zu sein. Von diesem Standpunkt aus ist Evolution die beständige Transformation der Energie von einem Zustand in den nächsten. Die Manifestation von Materie wird als eine Serie von Erscheinungen und in gewissem Sinn als mathematische Fiktion angesehen. (vgl. Keller-Reich, 2002)

Die erste dieser Kräfte wird als sattva oder potenzielles Bewusstsein bezeichnet und führt zur bewussten Manifestation und verursacht Wohlgefallen beim Individuum. Etymologisch betrachtet stammt das Wort sattva von der Wurzel „sat“, das was existiert oder real ist, ab. In einem weiteren Sinn bedeutet es auch Perfektion. Das sattva Element führt zu Freude und Tugendhaftigkeit. Die zweite Kraft wird als rajas bezeichnet, ist Ursprung aller Aktivität und führt zu Leid. rajas führt zu einem Leben voll fieberhaftem Genuss und rastloser Anstrengung. Die dritte Kraft wird als tamas oder das, was Aktivität entgegensteht, bezeichnet und führt zu einem Zustand der Apathie und Gleichgültigkeit. tamas führt zu Ignoranz und Trägheit.

Die Funktionen von sattva, rajas und tamas sind Manifestation (prakã ¤a), Aktivität (prav^tti), und Hemmung (niyamana). Sie verursachen Freude, Leid und Trägheit. Die drei gunas treten niemals unabhängig voneinander auf. Sie unterstützen sich gegenseitig und vermischen sich miteinander. Alle zusammengesetzten Objekte bestehen aus den drei gunas. Die gesamten Unterschiede in der wahrgenommenen Welt werden ebenfalls den drei gunas zugeschrieben. prak ^ti die einzige Substanz und diese Qualitäten sind ihre Elemente. Man kann auch sagen, dass sie die unterschiedlichen Stufen der Evolution eines bestimmten Objektes darstellen. Sattva repräsentiert die Essenz oder die Form, die dargestellt werden soll, tamas die Widerstände zur Erlangung des Zieles und rajas steht für die Anstrengung und die Aktivität, die erforderlich ist, um das Ziel bzw. die endgültige Form zu erreichen. Ein Ding wird niemals erschaffen, sondern stellt immer nur ein Produkt dar. Produktion ist Manifestation und Zerstörung ist Auflösung. Diese beiden hängen von der Präsenz und Absenz der gegeneinander wirkenden Kräfte ab. Alles hat seine ideale Essenz, nach der es strebt, und einen aktuellen Zustand, den es versucht abzustreifen.

Es wird davon ausgegangen, dass die gunas von sehr feinstofflicher Konsistenz sind. Sie sind einem beständigen Wandel unterworfen. Selbst im Zustand des Equilibriums wandeln sie sich beständig ineinander, verursachen jedoch keine objektiven Ergebnisse, solange das Gleichgewicht nicht gestört wird. Wenn das Equilibrium gestört wird (gunaksobha), dann wirken die gunas aufeinander und die Folge ist Evolution. In materiellen Dingen im Ruhezustand dominiert tamas, obgleich die anderen nicht absent sind. In bewegten Dingen dominiert rajas, während die anderen latent sind. Die Begriffe sattva, rajas und tamas werden also verwendet, um die dominierende Kraft anzugeben, obgleich diese immer zusammenarbeiten, um die Welt zu produzieren. Sie verändern sich durch gegenseitige Beeinflussung oder ihre Nähe. Sie entwickeln, verbinden und teilen sich. Radhakrishnan schreibt weiters (1999, S 265): „Prak ^ti and its products possess the gunas and so are unconscious. They are devoid of the power of discriminating between themselves and puru äa . They are always objective, while puru äa alone is the subject.

Das gesamte Universum besteht aus diesen drei gunas. Alle mentalen und physischen Veränderungen und Qualitäten können durch sie erklärt werden. Während prak ^ti eine multidimensionale, verflochtene und nachweisbare Struktur darstellt, die die menschliche Wahrnehmung und den Handlungsbereich, den Verstand und den Körper umfassen, kann die gleiche Struktur als großes Energiefeld aufgefasst werden. Interessanterweise ähneln die gunas den Quanten der modernen Physik, sind potenziell und manifest (vgl. Reich-Keller, 2002).

2.5.3 Evolution

Kommt es unter den gunas zu einem Ungleichgewicht, folgt die Manifestation der prak ^ti, welche nun in einer Evolutionsreihe zusammenhängt. Dass dieser Zusammenhang Evolution genannt wird, dürfte nach Geldsetzer (1999) eine abendländische Deutung darstellen, da sich dafür keine Sanskritbezeichnung findet. Dabei handelt es sich um Übergänge vom Feinstofflichen zum Grobstofflichen, vom Unsichtbaren zum Sichtbaren, immer so, dass das Spätere bereits im Früheren angelegt ist. Hier zeigt sich die Parallelität zum Präformationsgedanken, wie er ebenfalls von Leibnitz entwickelt wurde.

mahat, oder das Große, die Ursache für das ganze Universum, ist das erste Produkt der Evolution. Es ist dies die Basis für die Intelligenz des Individuellen. Während der Begriff mahat für den kosmischen, universellen Aspekt steht, so stellt buddhi, oder der Intellekt, den psychologischen Gegenpart dar, der jedem Individuum innewohnt, buddhi ist die subtile Substanz aller mentalen Prozesse, es ist die Fakultät, durch welche wir imstande sind, Objekte voneinander zu differenzieren und als solche wahrzunehmen. Die Funktionen von buddhi sind Feststellung, Ermittlung und Entscheidung. Als Nächstes erscheint, bzw. entwickelt sich ahamkãra oder anders gesagt, das Prinzip der Individuation. Durch seine Aktivität erhalten die unterschiedlichen „Verstande“ einen separaten mentalen Background.

Die Entwicklung der objektiven Welt erfolgt in der Theorie der Evolution des sãmkhya nach der Entwicklung des „Ich“, ahamkãra. ahamkãra wird als materiell aufgefasst, während buddhi in seiner Funktion mehr kognitiv erscheint, so ist ahamkãra eher praktisch. Der puru äa oder die Seele identifiziert sich mit den Handlungen von prak ^ti durch ahamkãra. ahamkãra ist nicht für die Individualisierung des universellen Bewusstseins verantwortlich, da Individualität bereits besteht. Es ist vielmehr dafür verantwortlich, dass die Impressionen, die von der äußeren Welt einlangen, individualisiert werden.

Die gunas entwickeln sich von ahamkãra je nach Qualität in drei unterschiedliche Richtungen. Aus ahamkãra im Aspekt des sattva (vaikãrika) entwickeln sich manas (der Verstand) und die fünf Organe der Perzeption sowie die fünf Organe der Handlung. ahamkãra im Zustand des tamas (bh ú tãdi) entwickelt sich zu den fünf feinstofflichen Elementen. Der Aspekt des rajas (taijasa) spielt in beiden Entwicklungen eine Rolle und ist in den Ergebnissen gegenwärtig. Aus den fünf feinstofflichen Elementen (tanmãtras) entwickeln sich schließlich die fünf grobstofflichen Elemente. In allen diesen Entwicklungen, obgleich immer eines der gunas dominiert, sind auch alle anderen präsent und tragen zu dieser Entwicklung bei (vgl. Radhakrishnan, 1999).

Durch den Übergang vom Unmanifesten zum Manifesten wird auch der Kausalitätsgedanke neu definiert. Zwischen Ursache und Wirkung besteht Identität (vgl. Geldsetzer, 1999). Interessant ist der Gedanke, dass sich der Unterschied zwischen Ursache und Wirkung im Zeitablauf manifestiert und durch den Betrachter wahrgenommen wird, der ebenfalls dieser zeitlichen Veränderung unterworfen ist. Dem weisen Yogi wird nachgesagt, dass er imstande ist, diese zeitlichen Veränderungen zu überspringen, um alles auf einmal in der prak ^ti zu erkennen.

2.5.4 puruäa

Spirit as distinct from matter exists, since an assemblage of sensible objects is for another’s use; since this other must be the reverse of everything composed of the three constituents; since there must be some one to enjoy and since there is the activity for the purpose of liberation … And from this contrast it follows that the puru äa , the soul, is a witness, free from misery, neutral, spectator and passive.” (S.K. 17, trans. Mainkar, 1988, S.93; S.K. 19, trans. Mainkar, 1988, S.97)

Einfach gesagt ist der puru äa das Gegenprinzip zu prak ^ti. Da sich alle Erkenntnisgegenstände ausschließlich auf die prak ^ti und ihre Manifestationen beziehen, kann dieses Gegenprinzip nur in Negationen aller positiven Bestimmungen der prak ^ti erfasst werden. (vgl. Geldsetzer, 1999)

sãmkhya definiert das Subjekt oder den Wahrnehmenden als puru äa und das Objekt oder das Wahrgenommene als prak ^ti. Radhakrishnan (S.280, 1999) führt mehrere Argumente des sãmkhya an, die die Existenz von puru äas erhärten sollen:

(I) „The aggregate of things must exist for the sake of another.” Zur Erklärung führt er ein Bett an, das zum Schlafen für einen Menschen erschaffen wurde.
(II) „All knowable objects have the three gunas , and they presuppose a self who is their seer devoid the gunas .
(III) “There must be a presiding power, a pure consciousness which co-ordinates all experience.
(IV) “Since prak ^ti is non intelligent, there must be someone to experience the products of prak ^ti .
(V) “There is the striving for liberation ( kaivalya ), which implies the existence of a puru äa with qualities opposed to those of prak ^ti . The longing for escape from the conditions of existence means the reality of one that can effect the escape.

Für besonders wichtig erachtet Geldsetzer, (1999) dass alles, was im Abendland als „psychisches Vermögen“ oder „physiologisches Substrat“ dem Bewusstsein oder der Subjektivität zugeschrieben wird, im sãmkhya grundsätzlich der prak ^ti zugeteilt wird. Dadurch wird das Geistige in die denkbar fernste Transzendenz von der erscheinenden Wirklichkeit gerückt und zugleich mit dem identifiziert, was als das Eigentümlichste und Unhinterfragbare des menschlichen Bewusstseins angesehen werden kann.

2.5.5 Das empirische Individuum

Vom höchsten Selbst ist das individuelle Selbst zu differenzieren. Dieses wird durch die Sinne und die Begrenzung des Körpers definiert. Während das reine Selbst jenseits des Intellekts zu finden ist, erscheint die Reflexion dieses Selbst im Intellekt als Ego, der Erkennende aller Zustände, Genüsse und Leiden. Jeder Intellekt stellt einen isolierten Organismus dar, der durch seine vergangenen Handlungen determiniert ist und seine persönliche, individuelle Form der Unwissenheit aufweist. Das Ego ist die psychologische Einheit des Stromes der psychischen intraindividuellen Erfahrung. Während das höchste Selbst oder puru äa ewig in sich selbst eins ist, stellt der j í va oder das individuelle Selbst einen Gegenstand der Natur dar. Die Egos sind Existenzen in einer Welt der Existenzen und sind nicht realer oder beständiger als diese. Jedes Ego besitzt innerhalb des grobstofflichen Körpers einen feinstofflichen Körper (vgl. Radhakrishnan, 1999), der die Ursache für die Wiedergeburt darstellt und zum Zeitpunkt des Todes weiter besteht. Der feinstoffliche oder subtile Körper, der alle Erfahrungen in sich trägt, wird als linga oder differenzierende Note des puru äa bezeichnet. Erst durch die lingas können die unterschiedlichen puru äa voneinander differenziert werden. Als Ergebnis von prak ^ti weisen sie die drei gunas auf, die je nach Zusammensetzung den Entwicklungsstand des Organismus widerspiegeln. Wenn tamas dominiert, befindet sich der Organismus im Entwicklungsstand der niederen Lebewesen und Tiere. Beginnt rajas zu dominieren, betritt der Organismus die menschliche Lebensform, bis er schließlich mithilfe von sattva die Erlösung oder Selbstverwirklichung erlangt. Die Veränderungen und die Verhaftung gehören dem subtilen Körper an. Die These der Evolution verbindet jedes menschliche Wesen mit allen anderen Formen des Lebens, den Tieren wie auch den Pflanzen. Durch die Verbindung von puru äa und prak ^ti entsteht im subtilen Körper Bewusstsein, obgleich er von seiner Natur her unbewusst ist. Er ist Freud und Leid, Handlung und deren Früchten unterworfen und treibt im Kreislauf der Wiedergeburt. Das Bewusstsein spiegelt sich in den inneren Organen wider, die den tatsächlich Handelnden darstellen, während die Seele losgelöst verweilt und dem Organismus das Leben einhaucht; vergleichbar mit einer Glühbirne, die erst durch den Strom zum Leuchten gebracht wird. Diese Verbindung der Seele mit der Natur ist keine beständige. Die Seele verbindet sich mit der Natur, um sich in ihr zu reflektieren. prak ^ti unterliegt sowohl physischen als auch psychischen Phänomenen. Diese zwei repräsentieren nur unterschiedliche Formen der Entwicklung. prak ^ti handelt, während puru äa die Früchte der Handlungen genießt.

2.5.6 Mechanismen der Erkenntnis

Für Avia-Keller (2002) ist eine der bemerkenswertesten Aspekte des sãmkhya die Trennung des Verstandes von Bewusst- und Gewahrsein. Der Verstand ist die Brücke zwischen puru äa oder dem absoluten Bewusstsein (korrespondierend mit der Wirklichkeit des CR) und der phänomenalen Welt. Der Verstand repräsentiert alle Funktionen des Denkens, die inneren Instrumente stellen Aspekte oder Teile des Verstandes dar.

In jeder Erkenntnis sind drei Faktoren enthalten: das Objekt des Wissens, das erkennende Subjekt und der Prozess der Erkenntnis. In der Philosophie des sãmkhya stellt das reine Bewusstsein den Wissenden oder pramãt ^ dar; die Modifikation (v ^ tti) ist das pram ãna, pram ã ist die Reflexion der Modifikationen im Bewusstsein in der Form von Objekten.

Nach der Psychologie des sãmkhya (Vivekananda, 1999) erfolgt Perzeption auf folgendem Wege. Die Wahrnehmung beginnt mit dem Instrument des Sehens (indrya), dem Auge. Dahinter liegen der optische Nerv und in weiterer Folge die korrespondierenden Gehirnzentren. Für die Vollendung der Wahrnehmung fehlt jedoch noch der Verstand oder manas, der die Wahrnehmung zum Intellekt oder buddhi weiterleitet, dem determinativen Aspekt des Verstandes. Wenn die Reaktion vom Intellekt kommt, wird sie vom Ich-Gefühl oder ahamkara und dem Eindruck der externen Welt begleitet. Etwas fehlt jedoch noch. So wie jedes Bild auf einer Leinwand abgebildet wird, so müssen alle Ideen und Gedanken des Verstandes auf etwas projiziert werden, das relativ zu Körper und Verstand ist. Dies wird als Seele, puru äa oder atman bezeichnet.

2.5.7 Quellen des Wissens

Kognitives Bewusstsein weist fünf unterschiedliche Formen auf:

(I) pram ãna oder valides Wissens (Kognition = Objekt)
(II) viparyaya oder invalides Wissen (Kognition ≠ Objekt)
(III) vikalpa oder kognitives Bewusstsein, das durch konventionelle Ausdrücke jedoch ohne ein Objekt induziert
(IV) nidra oder Schlaf / Kognition, die durch tamas induziert wurde
(V) sm ^ti oder Erinnerung

sãmkhya geht von drei pram ãnas oder Erkenntnismöglichkeiten aus: Wahrnehmung, Inferenz und Zeugnis der Schriften.

Wissen, das durch Perzeption der Sinne erfolgt, fällt unter Wahrnehmung. Befindet sich ein Objekt, zum Beispiel ein Becher, im Sichtbereich, verändert sich der Intellekt derartig, dass er die Form des Bechers annimmt. Dadurch nimmt die Seele die Gegenwart des Bechers wahr. Die Wahrnehmung wird weiters in undeterminiert (nirvikalpa) und determiniert (savikalpa) unterteilt. Undeterminierte Wahrnehmung ist noch unscharf, es ist bereits ein Bewusstsein bezüglich des Objektes vorhanden, jedoch erst durch die mentale Analyse kommen die Eigenschaften und die Kategorie des Objektes ins Bewusstsein. Erinnerung wird ebenfalls unter Perzeption subsumiert. (vgl. Radhakrishnan, 1999)

Inferenz weist zwei Kategorien auf: affirmativ (v í ta) und negativ (av í ta). Die Erste bezieht sich auf affirmatives gleichzeitiges Vorhandensein, die letztere auf negatives Vorhandensein. Generalisation ist das Ergebnis der Observation des Vorhandenseins der Begleiterscheinung (der Hypothese) und der Observation des Fehlens der gegenteiligen Erscheinungen. Implikation und Subsumierung werden ebenfalls unter Inferenz angeführt.

ãptavacana oder glaubwürdige Bestätigung ist ebenfalls eine Quelle von validem Wissen. Ein Wort steht als Zeichen des Objektes in Relation zu diesem. Die Veden werden nicht bestimmten Personen zugeschrieben, da es keine gibt, die als Autoren angeführt werden können. Die Veden werden im sãmkhya auch nicht als unvergänglich betrachtet, da sie die Eigenschaft ihrer Effekte enthalten. Buchstaben vergehen, sobald sie ausgesprochen werden. Die Veden werden aufgrund ihrer nicht persönlichen Autorenschaft als frei von Zweifeln und Diskrepanzen anerkannt und als selbst evidente Validität angesehen. Wenn jene, die die Schriften lehren nicht selbst inspirierte Seher sind, also verwirklichte Seelen, dann tritt der Fall der Blinden, die von Blinden geführt werden, ein. sãmkhya erkennt auch andere Schriften an, argumentiert jedoch, dass die Logik herangezogen werden sollte, um festzustellen, welche Offenbarungen zutreffen und welche nicht.

na hy ãptavacanãn nabhaso nipatanti mahãsurãh

yuktimad vacanam grãhyam mayãnyai çca bhavadvidhaih

(Aniruddha V ^ tti I.26)

Huge giants do not drop from heaven simply because an ãpta , or competent person says so. Only sayings which are supported by reason should be accepted by me and others like yourselves.” (übersetzt von Radhakrishnan, 1999)

Auch wenn sich die glaubwürdige Bestätigung durch eine kompetente Person zuerst etwas sonderbar anhören mag, wird in dieser Aussage auf die direkte Erfahrung eingegangen. Diese soll jedoch keinesfalls blind übernommen werden, sondern muss den Regeln der Logik entsprechen und durch die Vernunft geprüft werden.

Weiters wird im sãmkhya die yogische Perzeption anerkannt. Diese beinhaltet die Erkenntnis, dass alle Objekte zu allen Zeiten im Zustand der Involution oder Evolution existieren. Der Verstand des Yogi kann sich durch die Kraft seiner Meditation mit den latenten Zuständen der Objekte verbinden. In dieser Form der Erkenntnis bedarf es der Sinneswahrnehmung nicht, die inneren Organe nehmen sozusagen direkt die Eigenschaften des Objektes wahr, es kommt zu unmittelbarer Erkenntnis. (vgl. Radhakrishnan, 1999)

2.5.8 Kritik

Obgleich von unabhängigen Objekten und Subjekten ausgegangen wird, zeigte sich bereits in der Diskussion des nyãya, dass reine Subjekte und Objekte falsche Abstraktionen darstellen, die keine Bedeutung ohne ihren entsprechenden Bezugsrahmen haben. In dem Moment, in dem die konkrete Einheit der Erfahrung in Subjekt und Objekt aufgespaltet wird und diese beiden Entitäten als absolut definiert werden, bleibt keine Erklärung mehr für die Erfahrung. Wenn die Seele als reines Bewusstsein und die Natur als etwas Gegenteiliges angesehen wird, kann letztere niemals zu einem Objekt des ersteren werden. sãmkhya ist nicht imstande, den Graben zwischen Objekt und Subjekt zu überqueren. Ein weiteres Problem ist die Reflexion der Modifikationen des Intellekts in der Seele. Wenn man von der Validität der Theorie der Reflexion ausgeht, führt dies letztlich zu psychologischem Subjektivismus. Eine Reflexion ist nicht äquivalent mit der Wahrnehmung einer Realität, die nicht rein mentaler Natur ist. Auch die Relation zwischen externem Objekt und interner Idee bleibt ungeklärt. Wenn die zwei in kausaler Verbindung stehen, stellt sich die Frage, was aus der radikalen Opposition der beiden wird. Wenn puru äa und opak ^ti vollkommen unabhängig sind, ist es nicht möglich, auf eine bewusste Wahrnehmung oder einen materiellen Prozess zu schließen. Dies entspricht letztlich einer reductio ad absurdum. Dieses Grundproblem wird jedoch durch vage Begriffe und eine Reihe von Metaphern zu verbergen versucht.

Weiters berücksichtigt die Theorie des sãmkhya nicht die Tatsache des Wissens, welches eine Objekt-Subjekt-Relation widerspiegelt. Es geht davon aus, dass das Objekt vom Subjekt hinsichtlich der Erkenntnis abhängig ist und das Subjekt ein Objekt benötigt, das erkannt werden kann. In anderen Worten ist keine Erkenntnis ohne die Synthese der beiden möglich.

Das Prinzip des Bewusstseins ist keine eigenständige Erfahrung, sondern wird vom Wissen abgeleitet. Das Bewusstsein wird als reines Subjekt definiert, während der Inhalt des Bewusstseins, der ständiger Veränderung unterworfen ist, der objektiven Welt zugeschoben wird. Alle Objekte und auch die Sinneswahrnehmungen und mentalen Zustände werden als materiell definiert. Was Erkenntnis betrifft, wird diese durch die Modifikationen des Intellekts möglich. Jeder Akt des Wissens ist bewusstseinsrelevant. Einerseits ermöglicht das Bewusstsein die Funktion des Intellekts, andererseits führen die Modifikationen des Intellekts zur Erkenntnis. Da die Erfahrung somit zwei Elemente aufweist, eine beständige und eine unbeständige, ist es nicht möglich, diese voneinander zu trennen. Das heißt, das Subjekt vom Objekt. Zuerst werden ein reines Subjekt und ein reines Objekt angenommen, bis schließlich der zwanghafte Versuch unternommen wird, die beiden in der Erfahrung zu vereinen. Später wird sich herausstellen, dass beide im Bewusstsein oder Wissen differenziert werden und nicht außerhalb davon. Subjekt und Objekt sind untrennbar voneinander. (Radhakrishnan, 1999)

Der gleiche Fehler findet sich im materialistisch ontologischen Denken der westlichen Naturwissenschaften wieder, in dem eines der Grundprinzipien wissenschaftlicher Forschung die Objektivität darstellt. Diese Illusion wird sowohl in der indischen Philosophie als auch im konstruktiven Realismus enttarnt, obgleich der Ausgangspunkt unterschiedlich ist, wie sich später zeigen wird.

Nach Geldsetzer (1999) dürfte die sãmkhya Theorie im indischen Denken an die gleichen Grenzen gestoßen sein, die auch im abendländischen Denken bisher nicht überschritten werden konnten. Diese unüberwindbaren Grenzen ergeben sich aus der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt und der damit verbundenen Aufgabe, ihre Eigenschaft und ihr Verhältnis zu klären. Offensichtlich erklären die Ideen des sãmkhya diese Problemstellung jedoch besser als abendländische Subjekt-Objekt-Theorien, die das Subjekt in einer Weise und Sprache thematisieren, die es selbst wieder zum Objekt macht. Subjekt-Theorien, die im Abendland diesen Fehler vermieden haben, sind nach dem Erkenntnisstand von Geldsetzer bisher in der Tradition der Mystik entstanden und zielen auf die letztliche Einheit – unio mystica – von Subjekt und Objekt ab. Die Philosophie des Yoga, die als nächstes zu diskutieren sein wird, stellt einen Versuch dar, diese Einheit durch eine systematische Methode erfahrbar zu machen, oder, in anderen Worten, zur Gewahrwerdung der Wirklichkeit zu gelangen.

2.5.9 Yoga

Nach Geldsetzer (1999) ist das System des Yoga unter den sechs indischen Darshanas diejenige Philosophie, der es im Wesentlichen um die praktische Erfahrung der Gewahrwerdung der Wirklichkeit geht. Sie ist eine Theorie und Praxis der Meditation, der Beschäftigung des Geistes mit sich selbst und die dadurch erhoffte Lösung des Geistes von allem Materiellen und Phänomenalen der sinnlich erfahrbaren „Realität“ im Sinne des Konstruktiven Realismus.

Das Wort Yoga hat in der Sanskrit Literatur 31 verschiedene Bedeutungen. In Indien wird es in vielfältiger Weise benutzt. Wenn etwas Unangenehmes geschieht, sagt man: „Heute ist mein Yoga nicht gut.“ Unglück wird als Yoga bezeichnet. In der Astronomie wird das Aufeinandertreffen zweier Planeten als Yoga bezeichnet. Die etymologische Bedeutung eines Wortes wird ebenfalls Yoga genannt. Auch in der westlichen Kultur hat sich Yoga im letzten Jahrhundert weit verbreitet und inzwischen hat jeder eine gewisse Vorstellung, was mit Yoga gemeint ist. Im westlichen Kulturkreis wird unter dem Begriff Yoga häufig die auf die Stärkung, Reinigung und Kontrolle des Körpers ausgerichtete Form des Hatha Yoga verstanden. Auch in spiritueller Hinsicht wird dieses Wort sehr häufig verwendet. Yoga repräsentiert in dieser Hinsicht drei Denkansätze: Selbstkontrolle, Einheit und Realisation/Selbstverwirklichung (Prajnanananda, 1999).

Patanjali definiert Yoga als:

yoga cittavrtti nirodhah

(Patanjali Sadhana Pada Verse 2)

Das Ende der Gedanken ist Yoga.

Alles, was geheim und mysteriös ist, hat im System des Yoga nichts verloren. Der beste Anhaltspunkt im Leben ist Stärke. Alles Mysteriöse schwächt das menschliche Gehirn. Yoga wurde dadurch fast zerstört. Von der Zeit, als es entdeckt wurde – vor mehr als 4000 Jahren wurde es in einem gut strukturierten Lehrer-Schüler-System weitergegeben. Viele moderne Autoren sprechen von allen Arten von Geheimnissen. Yoga fiel in die Hände einiger weniger, die ein Geheimnis daraus machten, um die Vorteile für sich alleine beanspruchen zu können. (Vivekananda, 1999c)

2.5.10 Selbstkontrolle

Yoga beginnt mit Selbstkontrolle und endet mit Selbstkontrolle. Selbstkontrolle ist der Weg und zugleich auch das Ziel. In den Yoga-Sutren von Patanjali wird von einem achtstufigen Weg gesprochen. Die erste Stufe wird yama oder Selbstkontrolle genannt. Das Ziel ist die Erlangung perfekter Kontrolle über Körper und Verstand um die Gewahrwerdung der Wirklichkeit zu ermöglichen. (Prajnanananda, 1999)

2.5.11 Einheit

Einerseits bezieht sich diese Einheit auf Körper und Seele, andererseits auf die Einheit der Seele (atma) mit dem höchsten Selbst (brahman). In der yogischen Literatur ist der Körper weiblich. Jeder Körper ist weiblich und das ihm innewohnende Selbst ist männlich. Jeder Körper repräsentiert die Einheit von männlich und weiblich. Diese Einheit ist Yoga und kommt aufgrund des Atems zustande. Der Atem spielt eine zentrale Rolle im Yoga. Wie ist nun die Beziehung der Seele zu Brahman? Um diese zu beschreiben, wird häufig die Metapher des Meeres und der Welle herangezogen. Die Welle kann nicht vom Ozean getrennt werden. Sie entsteht, besteht und vergeht aus/in ihm. Nach der Philosophie des Yoga ist jedes Individuum aus brahman hervorgegangen, alle Leben in ihm und vereinigen sich wieder mit ihm. Yoga ist das Verständnis der Beziehung zwischen einem Selbst und der Wirklichkeit. (Prajnanananda, 1999)

2.5.12 Realisation/Selbstverwirklichung

samãdhãna ist die dritte Bedeutung von Yoga und bedeutet: ein Zustand der Balance.

Dieser Zustand wird in der Bhagavad Gita (II:54-58) beschrieben.

Anmerkung zur Gita: Die Bhagavad Gita, allgemein als Gita bekannt, bedeutet übersetzt das göttliche Lied. Diese kleine aber bewundernswerte Schrift findet man im Mahabharata. Das Mahabharata besteht aus 18 Büchern oder parvas. Man findet die Gita im 6. Buch, genannt Bhishma Parva. Gitas repräsentieren eine spirituelle Tradition in Indien. Es soll ca. 36 verschiedene Gitas geben, die unterschiedlich bewertet werden (z. B. Avadhuta Gita etc.). Obwohl die Bhagavad Gita nur einen kleinen Teil des großen Epos darstellt, enthält sie die Essenz der Upanishaden. Sie beinhaltet Wissen um das Absolute, brahma vidya, und ist eine Schrift über Yoga. Sie besteht aus einer Unterhaltung zwischen Krishna und Arjuna. (Hariharananda, 2000)

[...]

Ende der Leseprobe aus 176 Seiten

Details

Titel
Wissenschaft & Spiritualität - Eine Abgrenzung
Hochschule
Universität Wien
Note
Befriedigend
Autor
Jahr
2009
Seiten
176
Katalognummer
V126740
ISBN (eBook)
9783640328277
ISBN (Buch)
9783640328826
Dateigröße
1088 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage nach den erkenntnistheoretischen Grenzen der Wissenschaft und den Erkenntnismöglichkeiten von Spiritualität durch die Gegenüberstellung von Konstruktivem Realismus und der Philosophie des Advaita Vedanta. Damit eng verbunden ist die Frage nach dem Wahrheitsanspruch und der Erkenntnis einer absoluten Wirklichkeit. Schüsselworte: Wissenschaft, Spiritualität, Wirklichkeit, Konstruktiver Realismus, Advaita Vedanta
Schlagworte
Wissenschaft, Spiritualität, Eine, Abgrenzung, Befriedigend
Arbeit zitieren
Mag. Dr. Martin Gostentschnig (Autor:in), 2009, Wissenschaft & Spiritualität - Eine Abgrenzung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126740

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