„Vi overgi'r os aldrig!“ – Gewalt und Verhandlungen in sozialen Konflikten am Beispiel der Kopenhagener Hausbesetzerproblematik von Christiania bis zum Ungdomshus


Magisterarbeit, 2009

113 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Konflikttheoretische Grundlagen
1.1 Was verstehen wir unter Konflikt?
1.2 Hausbesetzer als soziale Bewegung
1.3 Zum Verlauf von Konflikten
1.4 Eskalation
1.5 Deeskalation
1.6 Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung
1.7 Verhandlungen als Wege zur Konfliktbeilegung
1.8 Zusammenfassung

2. Zur Geschichte der Hausbesetzerkonflikte
2.1 Allgemeine Entwicklung
2.2 Begründung der Ereignisauswahl
2.3 Christiania 1975/76
2.4 Byggeren 1980
2.5 Ryesgade 1986
2.6 Ungdomshuset 2006 – 08
2.7 Zusammenfassung

3. Das Zusammenspiel von Gewalt und Verhandlungen
3.1 Christiania
3.2 Byggeren
3.3 Ryesgade
3.4 Ungdomshuset
3.5 Zusammenfassung

Schlussbetrachtungen

Quellen und Literaturverzeichnis

Einleitung

„Vi overgi’r os aldrig!“[1] lautete Ende 2006 eine der Parolen der Jugendlichen vom Ungdomshus im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro, das nach dem Scheitern jahrelanger Verhandlungen sowie der endgültigen gerichtlichen Niederlage seiner damaligen Nutzer durch die Polizei geräumt wurde. Die zum rechtmäßigen Besitzer des Hauses erklärte christliche Freikirche Faderhuset ließ das geschichtsträchtige Gebäude unverzüglich abreißen[2].

Schon 1999, als „ihr“ Haus von der Kopenhagener Kommune zum Verkauf angeboten wurde, hatten die jungen Menschen mittels eines großen, an der Frontseite des Gebäudes angebrachten Banners unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass eine solche Transaktion nicht ohne handfeste Auseinandersetzungen vonstatten gehen würde. Damals war dort in überdimensionalen Lettern zu lesen: „Til salg - inklusive 500 stenkastende autonome voldspsykopater fra helvede.“[3]

In Wirklichkeit waren es mehrere tausend Sympathisanten des Ungdomshus, die am 14. Dezember 2006 zunächst friedlich für den Erhalt des Jugendzentrums demonstrierten. Zwei Tage später lieferten sich Demonstranten in Nørrebro stundenlange Straßenschlachten mit den aus ganz Dänemark zusammengezogenen Polizeikräften, die zudem logistische Unterstützung aus dem Ausland erhielten[4]. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen führten zu umfangreichen Sachbeschädigungen, unter denen vor allem Anwohner und Geschäftswelt zu leiden hatten. Es kam zu mehreren hundert Festnahmen, viele Polizeibeamte und Demonstranten erlitten Verletzungen. Kurz zuvor hatte ein vom Ungdomshus ausgehender Aufruf für öffentliche Entrüstung in Dänemark gesorgt, durch den „troublemakers of the world“ zur Verteidigung des Hauses nach Nørrebro gerufen wurden.[5] Trotz dieser und weiterer Aktionen sowohl militanter als auch friedlicher Art fand die Nutzung des Gebäudes Jagtvej 69 als alternatives Jugendzentrum am 1. März 2007 ein jähes Ende, als es von der dänischen Polizei geräumt und vier Tage später abgerissen wurde. Ab diesem Datum führten die ehemaligen Nutzer des Ungdomshus nicht nur einige Hausbesetzungen, sondern auch genau 69 wöchentliche Demonstrationen durch, um ihre Forderung nach Bereitstellung eines neuen Hauses durchzusetzen. Während dieser Zeit, in der die gewaltsamen Zusammenstöße bei weitem nicht mehr das Ausmaß vom Dezember 2006 erreichten, fanden parallel intensive Verhandlungen zwischen der Kopenhagener Kommune und den Jugendlichen statt, die am 1. Juli 2008 mit der Übergabe des Hauses im Dortheavej 61 als neues Ungdomshus erfolgreich abgeschlossen werden konnten.

Die hier eingangs in aller Kürze geschilderten Begebenheiten stellen das bislang letzte Kapitel in dem sich über fast vier Jahrzehnte hinweg erstreckenden Konflikt zwischen Hausbesetzern und dem dänischen Staat dar. Seit dem Aufkommen der Aktions- und Protestform Hausbesetzung Mitte der 1960er Jahre erlebte Kopenhagen immer wieder teilweise langwierige Verhandlungen einerseits sowie Ausbrüche von Gewalt andererseits im Konflikt zwischen Besetzern und den staatlichen Autoritäten[6]. Waren es in den 1960 Jahren vorwiegend Studenten, die sich leer stehender Gebäude bemächtigten, um sich bezahlbaren Wohnraum zu verschaffen, so etablierte sich die Aktionsform der Hausbesetzung in den folgenden Jahrzehnten in immer mehr gesellschaftlichen Randgruppen und wurde vor allem von jungen Menschen praktiziert[7]. Auch wenn sich die konkreten Orte, Personen und konkreten Ursachen des auf diese Weise offenbar werdenden gesellschaftlichen Konflikt im Laufe der Zeit verlagerten, kann doch eine Kontinuität in der historischen Entwicklung von den Anfängen der 1960er über die Besetzung Christianias 1971, die Hochzeit der BZ-bevægelse[8] während der 1980er bis hin zu den jüngsten Besetzungen 2006/07 festgestellt werden.

Anhand der skizzierten Problematik des Konfliktes zwischen Kopenhagener Hausbesetzerbewegung und dänischem Staat befasst sich diese Arbeit mit Gewalt und Verhandlungen als zwei Aspekte sozialer Konflikte. Die immer wieder auftretende Gewalt stellt dabei den einen Pol einer angenommenen Skala möglicher Konflikthandlungen dar, die auf eine direkte und physische Beschädigung des Gegners abzielt. In zwischenstaatlichen Beziehungen kann sie in Krieg, in innergesellschaftlichen Konflikten wie dem hier untersuchten zumindest in kriegsähnlichen Verhaltensweisen gipfeln. Verhandlungen hingegen stellen als friedliche und auf den Dialog der Kontrahenten setzende Mittel zur Konfliktaustragung zunächst den unmittelbaren Gegenpol zur Gewalt dar. Darüber hinaus sind beide Aspekte jedoch eng miteinander verknüpft, indem sie teilweise parallel, teilweise auch gegenseitig beeinflusst auftreten können. An dieser Schnittstelle von Widersprüchlichkeit und Verknüpfung von Gewalt und Verhandlungen will die vorliegende Analyse ansetzen. Hierbei soll insbesondere untersucht werden, in welchem Zusammenhang Gewalt und Verhandlungen im gewählten Konfliktbeispiel stehen und inwieweit sie vor allem kausal aufeinander bezogen sind. Im Vordergrund stehen also folgende konkrete Fragen: Wie entwickelte sich der betrachtete Konflikt in seinem historischen Verlauf? Wann, warum und in welcher Form kam es zur Anwendung von Gewalt sowie zu Verhandlungen? In welcher Beziehung standen beide zueinander und welche Funktionen erfüllten sie im Konflikt? Ist die Anwendung von Gewalt letztlich eher förderlich zur Durchsetzung der eigenen Ziele oder behindert sie diese?

Anlass zur vorliegenden Untersuchung geben die stark unterschiedlichen Bewertungen insbesondere der Gewalt sowohl durch die Konfliktparteien als auch durch die Medien sowie ihrer verschiedenartigen Deutung in der Forschung. Erfährt man beispielsweise über die Medien von gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Hausbesetzern und der Polizei, so entsteht quasi automatisch das Bild von Besetzern als anarchistische Randalierer, die ohne unmittelbar zu erkennenden Grund möglichst viel Sach- und Personenschaden anrichten wollen. Innerhalb der „Szene“ wiederum werden Polizeibeamte oft als bereitwillige „Prügel-Roboter“ des „Systems“ betrachtet, das es zu bekämpfen gelte. Beide Sichtweisen erscheinen dem Beobachter unmittelbar als einseitig und übertrieben, wobei sich die Frage nach dem wahren Sachverhalt sowie nach Alternativen zu solcherart Konfliktführung aufdrängt.

Bei den Vorbereitungen zu dieser Arbeit fielen dem Verfasser zudem zwei Aussagen auf, deren Wahrheitsgehalt nachzugehen lohnenswert erscheint. Zum einen bemerkte der Rechtsanwalt des Ungdomshus’ und Christianias, Knud Foldschack, auf einem Vortrag in Kopenhagen im Oktober 2007[9], dass Oberbürgermeisterin Ritt Bjerregaard (Sozialdemokraten) sich erst zu Verhandlungen mit den Jugendlichen – und somit mit ihm selbst - bereiterklärt habe, nachdem diese in größerem Umfang für Krawall auf Nørrebros Straßen gesorgt hätten. Zu seinem Bedauern habe es erst zu sehr kostenintensiven Polizeieinsätzen kommen müssen, bevor die Angelegenheit bei den zuständigen politischen Vertretern Interesse habe erwecken können. Einen ähnlichen Tenor enthält die Aussage einer Hausbesetzerin aus den 1980er Jahren: „Die erste Verhandlung mit der Kopenhagener Kommune kam, als wir anfingen mit Steinen zu werfen.“[10] Diesen vorwurfsvollen Aussagebeispielen ließen sich weitere anfügen, wobei sich beim Verlassen der konkreten Sachebene die übergeordnete Frage stellt, was dies für die Qualität der Demokratie bedeutet. Sollte es zutreffend sein, dass ein demokratischer Staat, in diesem Falle Dänemark, in Streitfragen nur dann mit gewissen Randgruppen seiner eigenen Bevölkerung in einen Dialog eintritt, wenn diese zu Gewaltmitteln greifen, könnte dies unter Umständen Probleme mit der demokratischen Praxis in diesem Staat aufzeigen.

Andererseits könnte argumentiert werden, dass jemand, der sich in offensichtlich rechtswidriger Art und Weise und dazu noch unter Anwendung von physischer Gewalt gegen Staat und Gesellschaft wendet, wohl kaum Anderes erwarten kann, als dass er mittels der staatlichen Exekutive, in diesem Falle der Polizei, zur Raison gerufen wird. Warum sollten staatliche Institutionen mit offenbaren Gesetzesbrechern in wie auch immer geartete Verhandlungen eintreten? Hier werden Fragen nach der Bedeutung sozialer Konflikte innerhalb der Gesellschaft sowie nach der Möglichkeit politischer Partizipation von Randgruppen und Minderheiten berührt.

Ausgehend von diesen Grundüberlegungen wird also anhand der historischen Entwicklung der Kopenhagener Hausbesetzerkonflikte das Verhältnis von Gewalt und Verhandlungen analysiert, wobei die Arbeit zu diesem Zweck in drei große Abschnitte aufgeteilt wird. Im Anschluss an diese einleitenden Bemerkungen wird eine grundlegende Übersicht über die relevanten konflikttheoretischen Überlegungen gegeben. Hierbei geht es zum einen um die Definition von Hausbesetzern als soziale Bewegung, zum anderen um die Klärung für die Untersuchung wichtiger Begrifflichkeiten, d.h. insbesondere um die Definitionen von Konflikt, Gewalt und Verhandlungen. Darüber hinaus werden die jeweiligen Charakteristika von Eskalation und Deeskalation sozialer Konflikte beleuchtet. Im darauffolgenden Abschnitt wird überblicksartig die Geschichte der Hausbesetzungen in Kopenhagen sowie die hinter den vordergründigen Begebenheiten stehenden historischen Kontinuitäten und Zusammenhänge dargestellt. Des Weiteren werden die zur genaueren Untersuchung ausgewählten Einzelereignisse detailliert präsentiert. Diese vorwiegend ereignisgeschichtliche Betrachtung ist notwendig, um im Vorfelde der eigentlichen quellenbasierten Untersuchung des dritten Teils ein gewisses Grundverständnis der historischen Entwicklung sowie ihrer einzelnen Stadien zu ermöglichen, ohne das die Einordnung der Analyseergebnisse nur schwerlich möglich wäre.

Die Quellenbasis der eigentlichen Untersuchung setzt sich aus verschiedenartigem Material zusammen und ist außerdem von Fall zu Fall unterschiedlich. Dies ist in erster Linie der jeweiligen Verfügbarkeit des Materials geschuldet. Einen großen Teil der verwendeten Quellen machen Zeitungsartikel der beiden Tageszeitungen Politiken (sozialliberal) und Berlingske Tidene (bürgerlich-konservativ) aus, die über alle vier analysierten Ereignisse ausführlich berichtet haben. Diese beiden Zeitungen wurden vor allem deshalb ausgewählt, weil sie zwei der drei auflagenstärksten und somit repräsentativsten Blätter in Dänemark darstellen[11]. Hinzu kommt, dass von ihnen am ehesten eine seriöse Berichterstattung zu erwarten ist, obwohl es, wie sich zeigen wird, auch hier Ausnahmen gibt. Die großen Boulevardzeitungen Ekstra Bladet und BT wurden bewusst nicht herangezogen, da sie als Grundlage für diese wissenschaftliche Untersuchung nicht geeignet erscheinen. In vielen Fällen sind ihre Artikel schlichtweg unglaubwürdig oder dürfen mit Recht als sensationslüstern bezeichnet werden[12]. Kleinere Zeitungen, wie z.B. Information, scheiden wegen des geringen Umfangs der relevanten Berichterstattung aus. Als wichtige Hilfe bei der Analyse der Presseartikel dient zudem die über die Kongelige Bibliotek (Königliche Bibliothek) in Kopenhagen zugängliche Datenbank Infomedia, in welcher der überwiegende Teil der in dänischen Zeitungen erschienen Artikel der letzten Jahrzehnte verzeichnet ist[13]. Als weitere Quellen werden je nach Relevanz und Zugänglichkeit diverse Schriften direkt beteiligter Personen und Zeitschriftenartikel verwendet. Beachtet werden muss, dass nahezu allen Quellen eine mehr oder weniger starke Parteilichkeit gemein ist, was folglich eine verstärkt kritische Betrachtung notwendig macht. Dies gilt nicht nur für Berichte und Aussagen von Seiten der verschiedenen Gruppen der Hausbesetzer und der Polizei, sondern auch für die verwendeten Zeitungsberichte. Zusätzlich muss darauf hingewiesen werden, dass die Quantität der Quellen, welche die jeweiligen Ereignisse aus Sicht der Besetzer darstellen, deutlich am höchsten ist. Deshalb wurde absichtlich keine politisch linksgerichtete Zeitung zur Untersuchung herangezogen. Um dieses Missverhältnis auszugleichen, soll besonderen Wert auf die Artikel der konservativen Berlingske Tidene gelegt werden. Im Bewusstsein dieser Problematiken ist dennoch eine ausgewogene Auswertung des Quellenmaterials möglich, indem die divergierenden Sichtweisen einander gegenübergestellt und entsprechend gedeutet werden.

Methodisch wird so vorgegangen, dass das für jede Untersuchungsphase verfügbare Material im Sinne der chronologischen Abfolge der Ereignisse durchleuchtet wird. Daraus lassen sich für jeden der vier Fälle nicht nur die Umstände des Auftretens von Gewalt und Verhandlungen nachvollziehen, sondern auch etwaige Zusammenhänge ausmachen. Die erzielten Ergebnisse jeder Einzelanalyse werden am Ende des dritten Abschnitts der Arbeit zusammengeführt und zur Beantwortung der weiter oben formulierten Fragen herangezogen. Zusätzlich wird es darum gehen, sich der im ersten Teil vorgestellten theoretischen Konzepte als Erklärungshilfen zu bedienen und sie darüber hinaus auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen.

Schon kurz nach der ersten Anwendung der Aktionsform Hausbesetzung begann die (meist soziologische) Forschung, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Insbesondere zu Christiania entstand eine große Menge an Literatur, die in ihrer Gesamtheit an dieser Stelle kaum Erwähnung finden kann. Wichtige Ausgangspunkte von Untersuchungen waren und sind hierbei die markanten Eckpunkte in der Entwicklung Christianias, so z.B. die eigentliche Etablierung, das Christiania-Gesetz (Dän. „Christianialov“) von 1989 sowie in jüngster Zeit der so genannte „Normalisierungsprozess“[14]. Zuletzt erschien in diesem Zusammenhang eine Studie Christianias als Teil des dänischen Kulturerbes unter dem Titel Forankring i forandring. Christiania og bevaring som ressource i byomdannelse[15]. Ebenfalls umgehend analysiert wurden die 1980er Jahre als wichtigste Periode der „BZ’ere“[16]. Während der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts gab es bereits Versuche, das Auftreten der Besetzer historisch-soziologisch zu deuten, wie z.B. in dem Artikel Kollektive aktioner og sociale protester i Danmark ca. 1968-82 von Flemming Mikkelsen (1984)[17]. Außerdem befasste sich die Forschung insbesondere mit der Konfliktaustragung zwischen Besetzern und Polizei. Im Jahre 1986 erschien die von Jørn Vestergaard herausgegebene Aufsatzsammlung Sociale Uroligheder. Politi og Politik, bereits ein Jahr zuvor setzte sich Jørgen Jepsen in seinem Buch Statsmagten, politiet og kollektive aktioner i nyere tid – gentager historien sig? mit dem Thema auseinander. Außerdem wurden u.a. Ziele und Lebensweise der Besetzer soziologischen Untersuchungen unterzogen, wobei auch historische Schilderungen der ersten Jahre der BZ-bevægelse verwendet wurden[18]. Als Beispiele können Helle Hansens Werk Kampen for autonome rum (1986) und Leif Thomsens BZ’erne – bevægelse, livsmåde og socialt eksperiment (1986) gelten. In den 1990er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt der Analyse hin zu Deutungen der Besetzer als eine Art „Stammesvolk“, das durch die Zurschaustellung gewisser Symbole, z.B. der Vermummung bei Demonstrationen, eine Selbstinszenierung erreichen wolle. Als Vertreter dieser Richtung kann Reiner Paris mit seinem Artikel Maskering – om betydningen af tyske autonomes „Vermummung“ (1995) angesehen werden[19]. An dieser Art der Interpretation ist zu kritisieren, dass die jeweiligen Untersuchungsgegenstände von den ihnen vorausgehenden historischen Entwicklungen losgelöst betrachtet werden. Diese zu ignorieren bedeutet jedoch, wichtige Ursachen und Zusammenhänge gesellschaftlicher Phänomene nicht zur Kenntnis zu nehmen. Eine so beschaffene Analyse kann nur unvollständig sein bzw. zu fehlerhaften Ergebnissen führen.

In jüngster Zeit erschienen mehrere Werke, die einen neuerlichen Fokus auf die Zusammenhänge der einzelnen Phasen von Besetzungen in Kopenhagen legen und sie als Teile einer sich den jeweiligen gesellschaftspolitischen Gegebenheiten anpassenden Gesamtenwicklung sehen. Hierbei tun sich insbesondere Flemming Mikkelsen sowie der Historiker und Soziologe René Karpantschof hervor. Das im Jahre 2002 von Mikkelsen herausgegebene Buch Bevægelser i demokrati. Foreninger og kollektive aktioner i Danmark befasst sich u.a. mit der Klassifizierung er Hausbesetzer als soziale Bewegung, wobei erstmals die auch dieser Arbeit zu Grunde gelegte historische Kontinuität herausgearbeitet wird. Ein weiteres auch für die vorliegende Untersuchung interessantes Werk ist der im Juli 2008 erschienene Artikel Vold, politik og demokrati i Danmark, in dem sich Mikkelsen und Karpantschof mit dem Zusammenhang von Gewalt und demokratischer Entwicklung in Dänemark ab 1946 befassen[20]. Im Winter 2008 wird zudem unter dem Titel Ungdomsoprøret i 2007 ein Werk erscheinen, in dem sich beide Autoren explizit mit den Begebenheiten rund um das Kopenhagener Ungdomshus auseinandersetzen.

Ein bereits hinsichtlich der Quellen angesprochenes und auch für die Forschungsliteratur geltendes Problem ist die relative Einseitigkeit der angelegten Sichtweise. Zwar bemühen sich die genannten Forscher allesamt um Objektivität. Die meisten Werke bezüglich der Hausbesetzer sind allerdings von Autoren geschrieben, die mit der „Szene“ zumindest sympathisieren und somit teilweise schon einen gewissen vorgefertigten Standpunkt mitbringen. In diesem Zusammenhang mangelt es somit ähnlich der Quellenlage an einer gewissen Ausgewogenheit.

Diese Arbeit versteht sich als Teil der von Karpantschof und Mikkelsen begründeten Forschungsrichtung, wobei vor allem deren Thesen zur historischen Kontinuität in der Entwicklung der Hausbesetzerbewegung unterstützt werden. Im Unterschied zu den genannten Autoren, die sich bislang eher mit der allgemeinen Entwicklung der Hausbesetzerkonflikte befasst haben, wird hier das spezielle Problem der Phänomene Gewalt und Verhandlungen angegangen. Es bleibt abzuwarten, inwiefern eine solche Analyse im während des diesjährigen Winters erscheinenden Buch zum Jugendaufruhr von 2007 (s.o.) vorgenommen wird. Ein Vergleich der Untersuchungsergebnisse könnte von Interesse werden.

1. Konflikttheoretische Grundlagen

1.1 Was verstehen wir unter Konflikt?

Sowohl im alltäglichen Sprachgebrauch als auch in der Wissenschaft wird eine sehr breite Palette unterschiedlicher Beziehungen als Konflikt bezeichnet. Wir sprechen vom Ehekonflikt, vom Tarifkonflikt oder vom Grenzkonflikt, um nur einige Beispiele zu nennen, und wir zählen einen Krieg zwischen verfeindeten Staaten ebenso zu den Konflikten wie einen Gewissenskonflikt, den eine Person mit sich selbst austrägt. Für den hier untersuchten Fall, bei dem es sich nunmehr um einen mit der zunächst relativ vagen Bezeichnung „sozial“ versehenen Konflikt handelt, bedarf es somit zuallererst einer sehr genauen Definition und Eingrenzung des verwendeten Konfliktbegriffes. Über die schlichte Definition hinaus ist bei der Analyse zudem zu berücksichtigen, ob und wenn ja in welcher Art allgemeingültige Aussagen über die Entwicklung eines solchen sozialen Konfliktes gemacht werden können sowie insbesondere, welche Rolle die Phänomene Gewalt und Verhandlungen bei dieser Entwicklung spielen. Nicht zuletzt ist es wichtig, sich über den Charakter der Konfliktparteien klar zu werden, der vor allem für den Verlauf der Auseinandersetzung, für die zu ihrer Austragung verwendeten Mittel sowie für das vorhandene Eskalationspotential relevant ist.

Grundsätzlich sprechen wir von einem Konflikt, wenn sich zwischen Individuen und/oder Gruppen einander widerstrebende Bedürfnisse oder Interessen ergeben und aufeinandertreffen. Streitpunkte können hier sowohl materielle als auch immaterielle Güter sein, ebenso wie individuelle oder kollektive Werte und Normen. Intensität und Dauer von Konflikten können sich sehr unterschiedlich gestalten. Manchmal schwelen Konflikte auch nur vor sich hin, ohne jemals das Stadium offener Austragung zu erreichen[21].

Für die hier angestellte Untersuchung können wir in diesem Sinne von einem manifesten Konflikt ausgehen, der im Unterschied zum latenten Konflikt dadurch gekennzeichnet ist, dass er auf Grund seiner offenen Artikulation beziehungsweise seiner sichtbaren Austragung sowohl für die Konfliktparteien selbst als auch für die Öffentlichkeit als solcher erkennbar ist[22]. Außerdem handelt es sich um einen sogenannten echten Konflikt, d.h. um eine zielgerichtete Auseinandersetzung, die nicht nur zum Selbstzweck konstruiert ist[23].

Hinsichtlich des Gegenstands des hier analysierten Konfliktes sind im historischen Verlauf zwar gewisse Veränderungen und Unterschiede auszumachen, weshalb man auch mit einiger Berechtigung von Konflikt en im Plural sprechen könnte. Allgemein betrachtet ist jedoch davon auszugehen, dass es hierbei – in welcher Form auch immer – stets um die strittige Nutzung und Verwendung von Gebäuden und/oder Flächen geht[24]. Als Konfliktparteien treten Hausbesetzer einerseits sowie der Staat mit seinen Institutionen andererseits in Erscheinung, wobei von Fall zu Fall weitere Personen oder Organisationen beteiligt sein können[25].

Wenn wir vom Staat als Konfliktpartei sprechen, so meinen wir damit seine die staatlichen Gewalten repräsentierenden Institutionen, also je nach spezifischer Zuständigkeit Regierungen, Parlamente und Gerichte sowie vor allem weitere Exekutivorgane, in diesem Falle insbesondere die Polizei. Schwieriger gestaltet sich hingegen die Charakterisierung der gegnerischen Konfliktpartei, also der Hausbesetzer. Auf den ersten Blick scheinen wir es hier nicht nur mit einer schwer fassbaren Begrifflichkeit zu tun zu haben, sondern in Betrachtung der historischen Entwicklung auch mit Ereignissen, bei denen zunächst kaum Zusammenhänge ausgemacht werden können. Konkret darf man durchaus fragen, was die Besetzung eines ehemals militärisch genutzen Geländes mit der Errichtung eines Spielplatzes oder dem Verkauf eines als Jugendzentrum genutzen Hauses zu tun haben soll. Um in diesem wichtigen Punkt für Klarheit zu sorgen, wird in Kapitel 2.1 die diesbezügliche historische Kontinuität aufgezeigt, deren Annahme der vorliegenden Untersuchung zu Grunde liegt.

Der Einschätzung Karpantschofs und Mikkelsens (2002) folgend gehen wir davon aus, dass es sich bei den am Konflikt beteiligten Gruppen von Hausbesetzern der betrachteten zirka vier Jahrzehnte um in jeweils unterschiedliche gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen eingebettete Teile derselben sozialen Bewegung handelt[26]. Somit haben wir es – die Konfliktsituation bewusst vereinfachend auf die Hauptgegner reduziert – mit einer mehrere Jahrzehnte andauernden Auseinandersetzung zwischen dem dänischen Staat und der sozialen Bewegung der Hausbesetzer zu tun. Um diese Konfliktsituation richtig bewerten zu können, ist es notwendig, sich ein Bild vom Begriff „soziale Bewegung“ zu verschaffen sowie nachzuvollziehen, warum Hausbesetzer als eine solche verstanden werden können.

1.2 Hausbesetzer als soziale Bewegung

Seit Ende der 1960er Jahre, vorwiegend während der 1970er und 1980er, wurden hinsichtlich der Erforschung sozialer Konflikte einige neue Theorien entwickelt, die den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen nach dem Zweiten Weltkrieg sowie den Erfahrungen von 1968 Rechnung zu tragen versuchten. Den italienischen Soziologen Della Porta und Diani (1999) folgend soll hier eine Synthese der beiden Hauptrichtungen dieser neueren Theorien als Ausgangspunkt für die Interpretation der Bewegung der Hausbesetzer dienen: die „europäische“ Theorie neuer sozialer Bewegungen und die „amerikanische“ Theorie der Ressourcenmobilisierung.

Basierend auf der Annahme, dass den marxistischen Vorstellungen vom Klassenkampf in Folge der gesellschaftlichen Entwicklungen nach 1945 in wesentlichen Punkten eine Absage zu erteilen sei, entwickelte man in Europa (Offe, Hegedus, Touraine u.a.) die Theorie der neuen sozialen Bewegungen. Als Gründe für diese Neuorientierung wurden fundamentale Änderungen in der Gesellschaft angeführt, so z.B. das Entstehen einer neuen Mittelschicht durch den einsetzenden Ausbildungsboom und das Wachstum des öffentlichen Sektors sowie die Veränderungen in der Arbeitswelt, vor allem die sinkende Zahl der Industriearbeiter. Die Theorie neuer sozialer Bewegungen ist also prinzipiell eine strukturalistische Auffassung, die die Entstehung neuer sozialer Bewegungen ab Ende der 1960er Jahre als Effekt von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen und Veränderungen sowie als Anpassung an diese sieht. Während man zuvor davon ausgegangen war, dass soziale Bewegungen wesentlich auf Grund materieller Bedürfnisse und Forderungen benachteiligter Bevölkerungsgruppen entstehen, so meinte man nun, dass die neuen Bewegungen eher auf die Schaffung einer eigenen (Gegen-) Kultur abzielten. Die Forschung im Sinne der Theorie der neuen sozialen Bewegungen beschäftigt sich folglich vermehrt mit subkulturellen Gruppierungen statt mit etablierten politischen Institutionen und versucht letztlich zu erklären, warum soziale Bewegungen entstehen.

Auf der anderen Seite des Atlantiks entwickelte die soziologische Forschung das theoretische Konzept der Ressourcenmobilisierung als Antwort auf die Frage nach dem Wie kollektiver Protestaktion. Hatte man in älteren Konzepten noch dazu tendiert, soziale Proteste und Unruhen entweder durch die Auflösung alter sozialer Systeme in Folge hastiger gesellschaftlicher Veränderung (z.B. Kornhauser, Smelser) oder durch Frustration und Aggression auf Grund langer Entbehrungen und enttäuschter Erwartungen (Davies, Gurr u.a.) zu erklären, ging man nun zunehmend von einer beinahe gegenteiligen Vorstellung aus. Laut der Ressourcenmobilisierungs-Theorie entsteht gesellschaftlicher Protest eben nicht, wenn Menschen benachteiligt, unzufrieden oder frustriert sind, sondern nur dann, wenn die äußeren gesellschaftspolitischen Bedingungen solchen Protest ermöglichen und quasi dazu ermuntern. Somit stellt dieser theoretische Ansatz soziale Bewegungen als rational dar, denn sie kalkulieren demnach Kosten und Nutzen von Protesthandlungen, d.h. deren Erfolgsaussichten. Als Ressourcen werden in diesem Sinne beispielsweise Organisationsformen und Anführer bezeichnet, die im Zusammenspiel mit günstigen äußeren Umständen in gewissen Situationen soziale Bewegungen und Proteste entstehen lassen. Dazu gehört nach Tilly (1978) auch die Frage, inwieweit ein herrschendes Regime gesellschaftliche Proteste zulässt oder gar befördert, d.h. wie eine Regierung auf Proteste reagiert, sowie die sich aus der Interaktion zwischen sozialen Bewegungen und politischen Herrschern ergebenden Entwicklungen.

Mit Della Porta und Diani (1999) kommen wir zu der Einsicht, dass sich die hier vorgestellten theoretischen Ansätze keineswegs gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr einander ergänzen. Wie dargestellt wurde, konzentrieren sie sich unabhängig voneinander auf zwei verschiedene Fragen der Genese sozialer Bewegungen, nämlich einerseits auf deren Wie und andererseits auf deren Warum. Somit lassen sich soziale Bewegungen nach Della Porta und Diani in der Zusammenführung dieser beiden Ansätze durch folgende vier Charakteristika definieren: Erstens sind soziale Bewegungen nicht als feste oder abgegrenzte, starre Größen anzusehen, sondern als relativ lose Netzwerke zwischen unter Umständen sehr verschiedenen Individuen, Gruppen und/oder Organisationen. Zweitens entwickeln sie auf der Basis gemeinsamer Auffassungen und Solidarität eine gewisse kollektive Identität, ein Wir. Drittens haben soziale Bewegungen ihren Ausgangspunkt stets in gesellschaftlichen Konfliktfragen, ihr „Wir“ steht in diesem Konflikt in Opposition zu mindestens einem Gegenspieler. Viertens schließlich bedienen sie sich über einen gewissen Zeitraum hinweg kollektiver Aktionen zur Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen und/oder dem Staat. Im Zuge dessen kommt es notwendigerweise zu politischer Interaktion mit dem Konfliktgegner.

In den nachfolgenden Kapiteln wird auf mögliche allgemeine Gesetzmäßigkeiten im Verlauf sozialer Konflikte, grundsätzlich anzunehmende Handlungsmuster sowie die Phänomene Gewalt und Verhandlungen eingegangen. Zuvor jedoch soll zum Abschluss des hier verfolgten Gedankengangs noch gezeigt werden, inwiefern die Kopenhagener Hausbesetzer als soziale Bewegung verstanden werden können. Dabei nehmen wir einige Ergebnisse vorweg, die in Kapitel 2.1 im Detail erläutert werden, als Bindeglied zwischen diesem und dem folgenden Kapitel jedoch von Wichtigkeit sind.

Erstens finden wir bei den Hausbesetzern entsprechend dem ersten von Della Porta und Diani genannten Kriterium lose Netzwerkstrukturen vor, an denen sich zwar im Laufe der historischen Entwicklung immer wieder neue und andere Personen und Gruppen beteiligen, die sich aber in ihrem Grundcharakter stets deutlich von etablierten und strukturell klar definierten Organisationen unterscheiden. Zweitens entsteht eine kollektive Identität in allen Phasen des Konfliktes auf der Basis gemeinsamer Ziele und Aktionen dieser teilweise sehr verschiedenen Individuen und Gruppen, welche drittens im Konflikt einem Gegner, hier hauptsächlich dem Staat und seiner Institutionen, gegenübersteht. Schließlich wird die Durchsetzung der eigenen Ziele mittels kollektiver Aktionen zu bewerkstelligen versucht, wozu u.a. Besetzungen, Blockaden und Demonstrationen gehören.

Doch auch die eingangs genannten Charakteristika sind hier zutreffend, indem wir das Entstehen der Hausbesetzerbewegung als Folge gesellschaftlicher Veränderungen während der Nachkriegszeit deuten und das Entstehen einer Gegenkultur erkennen können. Außerdem treten günstige äußere Bedingungen auf, wie z.B. das Vorhandensein leerstehender Gebäude oder die zumindest anfänglich zurückhaltende Reaktion des Staates.

Nachdem wir uns nun also mit dem Konflikt an sich und den daran beteiligten Parteien auseinandergesetzt haben, gilt es nun, die für das Vorkommen von Gewalt und Verhandlungen verantwortlichen Prozesse zu beleuchten.

1.3 Zum Verlauf von Konflikten

Die soziologische Forschung versucht, durch die Analyse vergangener und gegenwärtiger Konflikte gewisse allgemeingültige Muster herauszuarbeiten, die nicht nur den Verlauf historischer sozialer Konflikte erklären und deuten, sondern auch die Entwicklung zukünftiger Konflikte voraussehen helfen sollen[27]. Solche Muster oder Verlaufstheorien sind für die Erarbeitung praktischer Konzepte zur Konfliktlösung sicherlich von einigem Nutzen, können uns an dieser Stelle, da wir hauptsächlich an historischem Erkenntnisgewinn interessiert sind und uns zudem mit speziellen Fragen beschäftigen, jedoch nur bedingt voranbringen. Hinzu kommt, dass es kaum möglich erscheint, einen so langwierigen und komplexen Konflikt wie den hier untersuchten, der in seiner Entwicklung von ständig wechselnden Personen sowie veränderten äußeren Bedingungen und konkreten Gegenständen geprägt ist, in seiner Gänze in ein modellhaftes Deutungsmuster zu pressen. Ein solches Muster müsste entweder fehlerhaft sein, indem es den Gegebenheiten nur in ungenügendem Maße Rechnung trüge, oder so allgemein gehalten werden, dass wissenschaftliche Erkenntnis geradezu ausgeschlossen wäre.

Durchaus hilfreich für unsere Untersuchung ist es jedoch, sich mit den Entwicklungen zu befassen, die gemeinhin zur Eskalation sowie zur Deeskalation von Konflikten führen. Eskalatorische Konfliktentwicklung mündet in der Anwendung von Gewalt, Deeskalation findet ihren Ausdruck in Kompromissen und Übereinkünften, die meist durch Verhandlungen zustande kommen. Im Folgenden sollen entsprechende theoretische Konzepte vorgestellt und später sowohl zur Beantwortung der gestellten Fragen benutzt, als auch anhand des hier analysierten Konfliktes einer Überprüfung unterzogen werden.

1.4 Eskalation

Befassen wir uns also zunächst mit zwei Konzepten, die sich mit dem Prozess der Eskalation und dem Auftreten von Gewalt befassen.

Otomar J. Bartos und Paul Wehr unterscheiden in ihren Überlegungen zwei grundsätzliche Arten von Eskalation: einseitige und wechselseitige. Einseitig kann eine Konfliktpartei eine Auseinandersetzung aus sehr verschiedenen Gründen zum Eskalieren bringen, beispielsweise aus Frustration über für sie negative Ereignisse oder auf Grund einer prinzipiellen kriegerischen Grundhaltung[28]. Besonders interessant erscheint hier jedoch die aus rationalem Kalkül heraus erwachsende Eskalation.

Bartos und Wehr gehen davon aus, dass eine Konfliktpartei immer dann zu einseitig eskalatorischem Verhalten neigt, wenn ihre Stärke gegenüber der des Gegners überwältigend groß wird und so die Konflikteskalation zum schnellen Sieg führen kann[29]. Der Konflikt wird somit durch einen Entscheidungsschlag des mächtigeren Kontrahenten beendet. Einem auf diese Weise kurzfristig errungenen Erfolg steht allerdings die Gefahr gegenüber, dass sich eine zwar zunächst geschlagene, aber nicht gänzlich vernichtete gegnerische Partei langfristig wieder erholen und der Konflikt somit wieder aufflammen kann, wobei sich seine Intensität durch die über einen langen Zeitraum hinweg aufgestaute Feindschaft der zunächst unterlegenen Partei oftmals noch steigert. Dieser Aspekt wird insbesondere im dritten Teil dieser Arbeit von einiger Relevanz sein, wenn es um die Analyse der einzelnen Etappen der Auseinandersetzung gehen soll.

Wechselseitige Handlungsweise – egal ob auf Eskalation oder Deeskalation abzielend – wird von Bartos und Wehr als „normales“ Verhalten bezeichnet, dass man in konflikthaften Beziehungen stets vorfinde[30]. Hat Reziprozität eskalatorischen Charakter, so sprechen wir auch von Vergeltungsverhalten.

Vergeltung führt meist zu einer schrittweisen Verschärfung des Konfliktes, da sich die daran beteiligten Parteien gezwungen sehen, die Aggression des Gegners jeweils mit noch härteren Gegenmaßnahmen zu beantworten. So werden die Kontrahenten quasi zu Gefangenen des eskalierenden Konfliktes, bis einer von ihnen den scheinbaren Zwang zur Vergeltung überwindet und den ersten Schritt zur Deeskalation macht. Dies ist jedoch mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Die Umstände, unter denen die Vergeltungslogik überhaupt durchbrochen werden kann, werden wir in Kapitel 1.7 erörtern.

Für den Aspekt der Gewalt ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass nach Bartos und Wehr relativ schwache Gewaltanwendung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Vergeltung, überwältigende hingegen zur Unterordnung des Gegners führt. Letzteres ist mit den gleichen langfristigen Gefahren verbunden, welche wir bereits weiter oben angedeutet haben.

Doch unter welchen Gegebenheiten kommt es überhaupt zu wechselseitiger Eskalation? Bartos und Wehr nennen als wichtigste Triebfeder das Auftreten veränderter Bedingungen.

Ein stabiler Konflikt, dass heißt eine Konfliktsituation, die sich über einen gewissen Zeitraum hinweg relativ ausgeglichen und ohne große Schwankungen in ihrem Verlauf darstellt, gerät in eine Eskalationsphase im Zuge veränderter Bedingungen, die entweder externen oder internen Ursprungs sein können. Extern bedeutet in diesem Sinne das Auftreten neuer Elemente, die von außen in das Konfliktsystem eindringen. Eine solche äußere Ursache für veränderte Konfliktbedingungen könnte beispielsweise die Beteiligung eines neuen Bündnispartners eines der Kontrahenten sein, die für eine Verschiebung der Stärkeverhältnisse sorgt. Interne Ursachen ergeben sich folglich aus Entwicklungen im Konfliktsystem selbst, die Bartos und Wehr auch als Feedbacks bezeichnen, also als Rückmeldungen bzw. Reaktionen auf das jeweilige Verhalten einer oder mehrerer Konfliktparteien[31].

Im Verlauf eines Konfliktes, d.h. im Zuge der Interaktion der beteiligten Parteien, treten häufig gewisse Prozesse auf, die in ihrer Folge die Neigungen der Kontrahenten verändern können, einseitig zu eskalieren, Vergeltungsmaßnahmen durchzuführen oder sich feindlicher zu verhalten. Diese Veränderung der Bereitschaft zu bestimmten Verhaltensweisen, also z.B. zur Anwendung von Gewalt, steht in Zusammenhang mit der Konfliktsolidarität einer Partei, d.h. mit ihrem eigenen inneren Zusammenhalt.

Die Konfliktsolidarität einer Gruppe kann u.a. gesteigert werden, wenn einzelne ihrer Mitglieder beginnen, die eigenen eskalatorischen Maßnahmen betreffend eine selektive Wahrnehmung zu entwickeln. Eigene Gewalttaten werden dann verstärkt als gerechtfertigt und zur Verteidigung notwendig angesehen, während die des Gegners als unverhältnismäßige Aggressionen empfunden werden. So entwickelt sich in Reaktion auf das gegnerische Verhalten eine radikalere Ideologie sowie eine größere (innere) Solidarität, die eine weitere qualitative Intensivierung des Konfliktverhaltens nach sich zieht, indem die betreffende Partei die vermeintlichen Angriffe ihres Gegners mit wiederum verschärften Maßnahmen beantwortet. Einen ähnlichen Effekt rufen zudem plötzlich auftretende und als stark überzogen wahrgenommene Handlungsweisen des Gegners hervor. Bartos und Wehr nennen in diesem Zusammenhang den für Protestierende selten nachvollziehbaren polizeilichen Schlagstockeinsatz bei Demonstrationen, dem wir für unsere hier angestellte Untersuchung das umgekehrte Beispiel der auf Polizisten fliegenden Steine zur Seite stellen wollen.

[...]


[1] Dt.: „Wir ergeben uns niemals!“

[2] Das Gebäude mit der Adresse Jagtvej 69 war ab 1897 zunächst unter dem Namen Folkets Hus von der Arbeiterbewegung als Versammlungshaus genutzt worden. Während der II. Internationale sprachen hier Lenin und Rosa Luxemburg. Auf Initiative Clara Zetkins wurde in Folkets Hus der Internationale Frauentag ins Leben gerufen (1910).

Im November 2000 erwarb die erst kurz vorher gegründete Firma Human A/S das Gebäude, nachdem die Stadt Kopenhagen ein Jahr zuvor ein Kaufangebot des Faderhus abgelehnt hatte. Bereits im September 2001 gingen jedoch sämtliche Aktien der Human A/S auf einen Schlag in den Besitz des Faderhus über. Die Entwicklung des Verkaufsprozesses wird quellenbelegt dargestellt auf http://www.humanisme.dk/artikler/art06007.php (30.08.2008).

[3] Mit diesem markigen Satz, zu Deutsch: „Zu verkaufen – inklusive 500 steinewerfenden autonomen Gewaltpsychopathen aus der Hölle“, spielten die Nutzer und Bewohner des Ungdomshus’ auf das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild vom radikalen und gewaltfixierten Autonomen an, welches durch entsprechende Ereignisse sieben Jahre später neue Nahrung erhalten sollte. Angesichts der übertriebenen Formulierung sind eine gewisse Ironie und Kritik an diesem gesellschaftlich verankerten Bild nicht zu übersehen. Im August 2007 erschien in Anlehnung daran ein Dokumentarfilm über die letzten Monate des Ungdomshus’ mit dem Titel 500 stenkastende autonome voldspsykopater fra helvede, der freilich eine ganz anders geartete Sicht auf die Realität darbot. (Beo Film, Kopenhagen, 2007)

[4] Es waren u.a. Mannschaftswagen aus Schweden im Einsatz.

[5] Politiken, 13.11.06; Berlingske Tidene, 14.01.06.

[6] Gemeint sind hier je nach Zuständigkeit vor allem Københavns Kommune, also die Stadt Kopenhagen, der Folketing, Dänemarks Parlament, diverse Gerichte und die Polizei. Weitere Erläuterungen zu den einzelnen Institutionen erfolgen später.

[7] In mindestens einem Fall beteiligten sich auch Rentner aus Nørrebros Pensionistgruppe an einer Besetzung; BZ-bevægelsen (1982), S. 19.

[8] Dt. „Besetzerbewegung“ – „BZ“ steht als Abkürzung für „besat“ (Dt. „besetzt“) von „besætte“ (Dt. „besetzen“). Die in dieser Arbeit verwendeten dänischen Begriffe und Eigennamen werden bei ihrer jeweils ersten Benutzung erläutert und danach ohne weitere Kommentare verwendet. Zitate werden vorwiegend in ihrer deutschen Übersetzung gebraucht, wobei der Nachprüfbarkeit halber die dänischen Originalfassungen in den Anmerkungen hinzugefügt werden.

[9] Der Vortrag wurde im Rahmen der Vorführung des Filmes Die fetten Jahre sind vorbei (Deutschland, 2004) im Empire Kino in Nørrebro gehalten und befasste sich allgemein mit jugendlicher Rebellion sowie speziell mit dem Beispiel Ungdomshus.

[10] „Den første forhandling med Københavns Kommune kom, da vi begyndte at kaste med sten”; Lotte Svendsen, Hausbesetzerin, ohne Datum. Zitiert nach Kongstad (2003), S. 178.

[11] Die Zeitung mit der höchsten Auflage, Jyllands Posten, wird in der Untersuchung bewusst vernachlässigt. Insbesondere in den vergangenen Jahrzehnten wurde sie hauptsächlich in Jütland gelesen, für Kopenhagen sind Politiken und Berlingske Tidene weitaus bedeutender. Darüber hinaus wird mit letzterer bereits ein konservatives Blatt berücksichtigt.

[12] Überschriften wie ”BZ’ere smadrer børnehave“ (Dt. „Besetzter zerstören Kindergarten“; Ekstra Bladet, 14.5.88) oder der Bericht über einen angeblichen Angriff auf die Geburtenabteilung des Risghospitals, den Ekstra Bladet später widerrufen musste, legen davon ein hinreichendes Zeugnis ab; Siehe auch S. 87.

[13] Die Verwendung dieser Datenbank hat den weiteren Vorteil, das auch Artikel der Internetausgaben von Politiken und Berlingske Tidene problemlos als Quellen herangezogen werden können. Selbst für den Fall, dass diese Online-Artikel auf den Internetseiten der Zeitungen verschoben oder gar gelöscht werden, sind sie immer noch in der Datenbank verfügbar. Diese hat somit den Charakter eines Archivs, so dass auf die normalerweise notwenige Angabe von Datum und Uhrzeit des Zugriffs verzichtet werden. Die Artikel sind allein durch Angabe ihres Erscheinungsdatums jederzeit auffindbar.

[14] Im Jahre 1989 wurde das Verhältnis zwischen den staatlichen Behörden und Christiania erstmals gesetzlich geregelt. Während die einzelnen staatlichen Befugnisse, speziell die des Verteidigungsministeriums und der Polizei, festgeschrieben wurden, erhielt Christiania offiziell die Anerkennung seines Ausnahmestatus in der Gesellschaft. Dieser bestand hauptsächlich in der politischen Selbstverwaltung der Bewohner nach den Prinzipien direkter Demokratie; Jæger (1993), S. 74-76. – Der Prozess der „Normalisierung“ Christianias, d.h. der Anpassung in politischer, gesellschaftlicher und rechtlicher Hinsicht an Rest-Kopenhagen, wurde 2001 von der neuen dänischen Venstre-Regierung gestartet und stieß unmittelbar auf Widerstand seitens der Bewohner der „Fristad“ (Dt. „Freie Stadt“ – Frei im Sinne der Unabhängigkeit vom dänischen Staat). – Die liberale Partei Venstre, die im politischen Spektrum rechts von der Mitte einzuordnen ist, bildet seit November 2001 zusammen mit der Konservativen Volkspartei die dänische Regierung unter Anders Fogh Rasmussen.

[15] Tietjen, Anne; Riesto, Svava; Skov, Pernille: Forankring i forandring. Christiania og bevaring som ressource i byomdannelse; Kopenhagen 2007.

[16] Vgl. Anm. 8.

[17] Mikkelsen, Flemming: Kollektive aktioner og sociale protester i Danmark ca. 1968-82; In: Politica, 2, 1984, S. 163-183.

[18] Strenggenommen gilt nur die Periode von Anfang der 1980er bis Mitte der 1990er als BZ-bevægelse. Zur Begründung siehe Kapitel 2.1.

[19] Social Kritik, 38, S. 28-38.

[20] Dieser Artikel, der sich auch mit der Gewaltanwendung bei Arbeitskämpfen, (anti-) rassistischen Aktionen, Einwandererprotesten sowie Terrorakten beschäftigt, ist einzusehen auf http://modkraft.dk/spip.php?article8065&var_recherche=karpantschof (03.07.2008). Außerdem wurde er abgedruckt in der Zeitschrift Arbejderhistorie – tidsskrift for historie, kultur og politik, Nr.1, 2008.

[21] Wir lehnen uns hier an Dahrendorf an, bei dem Konflikt definiert wird als „jede Beziehung von Elementen, [...] die sich durch objektive (>latente<) oder subjektive (>manifeste<) Gegensätzlichkeit kennzeichnen lässt“; Dahrendorf (1972), S. 23. Weitere Versionen der Klassifizierung von Konflikten, also z.B. intrapersonale oder psychologische Konfliktdefinitionen, sind hier nicht von Relevanz und können somit vernachlässigt werden.

[22] Dahrendorf (1972) unterscheidet mit diesen beiden Bezeichnungen Konflikte, in denen sich die Gegner ihrer Rolle als Konfliktparteien bewusst sind und diese offenkundig ausfüllen, von solchen, deren Gegenstand, also der Streitpunkt, zwar vorhanden ist, jedoch keine offene Auseinandersetzung darum stattfindet. Ein Zwischenstadium ist der unvollständige Konflikt, bei dem nur eine Konfliktpartei eine entsprechende Identität ausgebildet hat; Vgl. Thiel (2003), S. 16f.

[23] Eine Streitigkeit, die um ihrer selbst Willen geführt wird, nennt man folglich einen unechten Konflikt. Des Weiteren werden Konflikte u.a. als auflösend, dysfunktional oder umgeleitet bezeichnet (vgl. Reinhold, Gerd (Hrsg.), Soziologie-Lexikon, 2. Aufl., München 1992, S. 348f.). Solcherart Konflikte liegen hier jedoch nicht vor und können somit vernachlässigt werden.

[24] Die notwendig zu betrachtenden Details dieser Aspekte werden eingehend im zweiten Teil der Arbeit behandelt.

[25] Hier wäre für den Streit um das Ungdomshus die christliche Sekte Faderhuset zu nennen, für die Häuser in der Ryesgade die teilstaatliche Organisation Ungbo sowie für andere einzelne Häuser deren jeweilige private Eigentümer. Bei Christiania spielt als ehemaliger Nutzer des Areals das dänische Verteidigungsministerium eine gewisse Rolle.

[26] Zur Begründung dieser Annahme siehe Kapitel 2.1 und 2.2.

[27] Siehe z.B. Pfetsch (2006), S. 30, und Bercovitch (1984), S. 10.

[28] Eine ausführliche Auflistung von Gründen findet sich bei Bartos/Wehr (2002), S. 99.

[29] Eine ähnliche Annahme finden wir auch bei Gamson (1976), auf den wir in Kapitel 1.6 näher eingehen wollen.

[30] Vgl. Bartos/Wehr (2002), S. 100f. – Leider bleiben uns die Autoren an dieser Stelle eine auf mehr als Behauptungen gegründete Argumentation schuldig. Dennoch wollen wir ihrem Gedankengang im Großen und Ganzen folgen, da es zumindest einigermaßen plausibel erscheint, dass eine Partei das aggressive Verhalten ihres Gegners ebenso mit Aggression beantwortet und dass Deeskalationsmaßnahmen in ähnlicher Form behandelt werden können. Trotzdem bleibt hier die Frage, ob solches Einlenken vom Gegner unter Umständen nicht doch eher als Schwäche ausgelegt werden kann und somit eine weitere Eskalation durch den sich nun überlegen fühlenden Kontrahenten gegebenenfalls noch fördert.

[31] Bartos/Wehr (2002), S. 111f.

Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
„Vi overgi'r os aldrig!“ – Gewalt und Verhandlungen in sozialen Konflikten am Beispiel der Kopenhagener Hausbesetzerproblematik von Christiania bis zum Ungdomshus
Hochschule
Universität Hamburg
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
113
Katalognummer
V126733
ISBN (eBook)
9783640327690
ISBN (Buch)
9783640327898
Dateigröße
816 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ungdomshuset, Ungdomshus, Christiania, Kopenhagen, Hausbesetzer, Konflikt, Byggeren, Ryesgade, sozialer Konflikt, Verhandlungen, Gewalt, Straßenschlacht, Faderhus, Ungeren, Jagtvej, 69, troublemakers, København, Bauspielplatz, Firekant, Sorte
Arbeit zitieren
Thorsten Schülke (Autor:in), 2009, „Vi overgi'r os aldrig!“ – Gewalt und Verhandlungen in sozialen Konflikten am Beispiel der Kopenhagener Hausbesetzerproblematik von Christiania bis zum Ungdomshus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126733

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