Loslösungsprozesse bei Menschen mit einer geistigen Behinderung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

33 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Grundsätzliche Überlegungen
2.1. „Geistige Behinderung“

3. Definition der Ablösung im Jugendalter

4. Ablöseprozesse im Vorfeld

5. Die Rolle der Familie in der Adoleszenz
5.1. Der Ablösungsprozess aus der Sicht der Psychoanalyse und der Interaktionstheorie
5.2. Der Ablösungsprozess aus der Sicht der Eltern
5.3. Der Ablösungsprozess aus der Sicht der Jugendlichen bzw. Adoleszenten

6. Bewältigungsstrategien
6.1. Tagebuchschreiben als Beispiel der Bewältigungsstrategie

7. Prozesse, die bei der Loslösung bei Eltern entstehen

8. Die Bedeutung der Identität

9. Pubertät der Menschen mit geistiger Behinderung (im Ansatz körperbezogen)
9.1. Behinderte Jugendliche in der Loslösung
9.2. Äußere und innere Bedingungen in der Ablösung
9.2.1. Innere Bedingungen in der Ablösung
9.3. Unbewältigte Ablösung
9.4. Beispiel für eine Ablösungskrise bei einem geistigbehinderten Jugendlichen
9.5. Mögliche Hilfen für die Eltern
9.6. Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern
9.6.1. Beispiel für eine allgemeine Philosophie des Selbstbestimmungslehrplans
9.7. Ein Projekt – Vorbereitung auf das „erwachsene“ Leben bei einem jungen Mann mit einer geistigen Behimderung „Ich und meine Zukunft“

10. Zusammenfassung

11. Bibliographie

12. Danksagung

1. Einleitung

In meiner Hausarbeit möchte ich mich mit den Ablösungsprozessen im jungen Erwachsenenalter bei Menschen, die als geistig behindert gelten, beschäftigen. Ablöseprozesse, die sich bei Menschen mit geistiger Behinderung vollziehen, weisen viele Parallelen zu denen auf, die Menschen ohne geistige Behinderung durchleben. Deshalb wird im ersten Teil der Hausarbeit die Vorstellung der Ablöseprozesse bei Menschen ohne geistige Behinderung vorangehen, ehe im 2. Teil auf das eigentliche Thema eingegangen wird. Als ein kleines Kapitel stelle ich auch Bewältigungsstrategien vor, die Jugendliche ohne geistige Behinderung aufweisen.

Ich stelle Ablöseprozesse aus verschiedenen Sichten vor, z.B. aus der Sicht der Psychoanalyse. Ich möchte ebenfalls Prozesse darstellen, die bei den Eltern entstehen. Im Kapitel, welches sich mit Prozessen bei geistig behinderten Menschen beschäftigt, gehe ich auf äußere und innere Bedingungen der Ablösung ein. In einem kleinen Kapitel wir auch ein Beispiel für eine Ablösekrise beschrieben.

Im 3. Teil meiner Hausarbeit möchte ich an einem praktischen Beispiel zeigen, wie ich als Lehrer meine Schüler auf den Ablösungsprozess vorbereiten kann. Vorgestellt wird ein 23jähriger junger Mann mit Down-Syndrom, der sich im Ablöseprozess befindet. Mein Vorhaben ist es mittels einer Tafel Zukunftsvorstellungen des jungen Mannes zu erarbeiten. Diese Tafel soll ihm ermöglichen, sich über seine Wünsche und Träume bewusst zu werden. Durch dieses Projekt möchte ich ihm seine Möglichkeiten zeigen und über seine jetzigen Vorstellungen sprechen, die manchmal realitätsfern sind.

Aufgrund meiner Wahl des Studienganges möchte ich auch meine Rolle als zukünftiger Sonderpädagoge beleuchten und meine Vorstellung in der Arbeit mit geistig behinderten Menschen präzisieren. Dazu stelle ich eine allgemeine Philosophie des Selbstbestimmungslehrplanes von Pam GUNTON vor, die diesen im Rahmen ihrer Arbeit für einen Kurs an der Cambridge University Institute of Education schrieb.

Arbeit zwischen geistig behinderten Menschen, der jeweiligen Einrichtung und dem Elternhaus ist von großer Bedeutung, denn nur auf diese Weise kann Unterstützung und Vorbereitung erfolgreich angestrebt werden. Gemeinsame vorbereitende Gespräche, Rollenspiele, Vorstellungen und gemeinsames Abwägen der Ziele, die Gelegenheit zur Auswahl und Entscheidungen können einen adäquaten Weg für den Menschen mit geistiger Behinderung und eine konfliktfreie Ablösung für beide Seiten (Eltern-Kind) ermöglichen.

2. Grundsätzliche Überlegungen

Um dieses Thema adäquat bearbeiten zu können, halte ich es für notwendig, den Begriff „geistige Behinderung“ zu erläutern. Zum einen ist dies sinnvoll, damit deutlich wird, um welchen Personenkreis es in dieser Hausarbeit geht, zum anderen habe ich den Eindruck, dass der Begriff „geistige Behinderung“ zur Stigmatisierung der betroffenen Menschen geführt hat, so dass eine differenziertere Sicht dieser Begrifflichkeit notwendig ist.

2.1. „Geistige Behinderung“

Ich gebrauche in dieser Hausarbeit den Begriff der geistigen Behinderung, weil er im allgemeinen Sprachgebrauch mittlerweile so üblich ist und meines Wissens die einzige Bezeichnung ist, die von Betroffenen gewählt wurde, nämlich von Müttern und Vätern, die sich 1958 zur „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.“ zusammenschlossen. 1 Damit distanzierten sie sich von Bezeichnungen für ihre Kinder wie bildungsunfähig, Idioten und Schwachsinnige etc.

Wenn wir geistige Behinderung definieren, können wir dies nur aus der Sicht eines Nichtbehinderten, wir reden also über die geistig Behinderten. Deren Perspektive können wir nicht wahrnehmen, da wir uns selbst nicht als „geistig behindert“ vorstellen können. Da die geistig Behinderten selbst kaum in der Lage sind, ihre Situation mit der von uns geforderten Wissenschaftlichkeit zu definieren, werden alle Definitionsversuche sehr einseitig geprägte und somit äußerst zurückhaltend zu behandelnde sein.

Der Versuch geistige Behinderung zu definieren, muss immer ein relativer bleiben, da keine allgemeingültigen Aussagen gemacht werden können und die gemachten Aussagen wesentlich vom Standpunkt des Betrachters anhängig sind. Es sollte deutlich werden, dass Grenzen sowohl zwischen leichter und schwerer geistiger Behinderung als auch zwischen dem Vorhanden sein und dem nicht Vorhandensein einer geistigen Behinderung fließend sind.

Man sollte sich dabei stets der relativen Gültigkeit und der Gefahr der Stigmatisierung der betroffenen Menschen durch diesen Begriff bewusst werden. Wenn ich in der Arbeit von geistig Behinderten oder geistig behinderten Menschen oder Menschen mit einer geistigen Behinderung spreche, so bin ich mir bewusst, dass diese Bezeichnung ungeeignet ist und die Gefahr der Stigmatisierung in sich birgt. Menschen mit einer geistigen Behinderung werden aus ihrer Behinderung verstanden und gekennzeichnet. Ähnlich der Krankenhaussituation, wo nicht von Frau / Herrn XY auf Zimmer 2 gesprochen wird, sondern vom Blinddarm auf Zimmer 2.

Als einen möglichen Definitionsversuch möchte ich den von Georg Feuser anführen, da er sehr vorsichtig und umfassend ist, obwohl auch diese Definition eine Negativbeschreibung ist.

„Stellen wir fest, dass als geistigbehindert gilt, wer aufgrund organischer, genetischer oder anderweitiger Schädigungen, insbesondere durch Beeinträchtigungen infolge sozioökonomischer Benachteiligungen und sozialer Isolation, in seiner Aufnahme und Verarbeitungskapazitäten, die sich besonders im Zusammenhang von Wahrnehmung, Denken und Handeln sowie in der Sensomotorik zeigen, derart beeinträchtigt sind, dass er angesichts der vorliegenden Lernfähigkeit zur Befriedigung seines besonderen Erziehungs- und Bildungsbedarfs voraussichtlich lebenslanger spezieller pädagogischer und sozialer Hilfen bedarf (...) 2

3. Definition der Ablösung im Jugendalter

„Konflikte zwischen den Generationen spitzen sich teilweise dann zu, wenn sich heranwachsende Kinder verselbständigen und sich von den Eltern ablösen. Hier sprechen wir von der Ablösung im Jugendalter. Im Grunde geht es aber nicht um eine Ablösung im Wortsinne, vielmehr um das Aushandeln neuer Positionen, neuer Rechte und Pflichten, neuer Beziehungsgleichgewichte (...). Dieser Prozess der wechselseitigen Trennung und des Aushandelns neuer Positionen – ein oft dramatisch verlaufender Prozess der Trennung und der Versöhnung – zeigt sich geprägt durch das Zusammenspiel und die Vorherrschaft einzelner Beziehungsmodi wie Bindung, Ausstoßung und Delegation. Überwiegt der Bindungsmodus, so bleibt der Jugendliche gleichsam im Familienghetto gefangen. Er steht unter dem Einfluss von Regeln und Delegationen, die Familienloyalität und Familienzusammenhalt auf Kosten der Verselbständigung und Individuation betonen. (Man spricht) hier von „Bindungsfamilien.“ Dazu lassen sich aufgrund familientherapeutischer Erfahrungen vor allem Familien mit psychosomatisch und psychotisch erkrankten Jugendlichen rechnen. Auch viele Jugendliche mit Schulschwierigkeiten, Schulphobien und Suchtproblemen erweisen sich als stark familiengebunden bzw. als gebundene Delegierte ihrer Eltern (...). Mit der wachsenden Selbständigkeit der Kinder sehen sich die Eltern gezwungen, ihr Leben neu zu organisieren und in ihrer Beziehung neue Gleichgewichte herzustellen. Erfahrungsgemäß erweist sich die als um so schwieriger, je mehr die Eltern bisher in der Sorge für die Kinder ihren Lebensinhalt gefunden haben. Es erweist sich dann auch als schwierig, wenn ihnen die Kinder schmerzhaft zum Bewusstsein bringen, dass sie selbst keine oder wenig Chancen hatten, eine sturm- und drangerfüllte, experimentierfreudige Adoleszenz zu erleben .“ 3

4. Ablöseprozesse im Vorfeld

Spricht man von sogenannten Ablöseprozessen, so werden diese sofort mit denen in der Pubertät assoziiert, wenn ein heranwachsender Jugendlicher oder Adoleszenter aus dem Elternhaus auszieht und sein neues Zuhause eine Wohngemeinschaft oder eine eigene Wohnung mit dem Freund oder der Freundin darstellen. Diese Ablöseprozesse stellen ganz klar die wichtigsten und entscheidenden Prozesse der Ablösung im Leben des Heranwachsenden aber auch die der Eltern dar.

In Anbetracht der Tatsache muss ein Aber erwähnt werden, denn Ablöseprozesse beginnen schon viel eher und begleiten den Menschen in der ganzen Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind. Diese Ablöseprozesse sollten folgendermaßen charakterisiert werden: Das ganze Leben ist geprägt von Beziehungsprozessen, denn die Menschen lassen sich auf eine Beziehung ein, sie müssen aus dem einen oder anderen Grund wieder loslassen und sich wiederum auf eine neue Beziehung einlassen. Diese Beziehungsprozesse gehören zum Menschsein und sollten auch so verstanden werden. Sie stellen in jeder Lebensphase unseres Lebens eine Herausforderung dar.

Diese Ablöseprozesse beginnen schon bei der Geburt des Kindes. Vor der Geburt leben die Eltern in Zweisamkeit, welche bei der Geburt gebrochen wird. Die Eltern müssen sich auf das kleine Wesen einstellen, auf die sogenannte Dreisamkeit. Sie fühlen vielleicht Angst vor dem gemeinsamen Leben zu dritt.

Ablösung wird auch gespürt, wenn das kleine Kind die ersten Schritte macht und die Welt erkundet. Dabei entfernt es sich von der Mutter. Die Reaktion der Mutter kann durch Erleichterung geprägt sein oder sich auch durch Sätze äußern wie: „Mami ist aber traurig, wenn du weit weggehst.“

In dieser Situation gibt es auch wiederum verschiedene Reaktionen der Kinder:

- Entweder ignoriert das Kind diese Sichtweise der Eltern und wendet sich der Welt ohne Konsequenzen zu
- oder es verinnerlicht den Gedanken und entwickelt sich nicht altersgemäß. Die Konsequenz dieser Reaktionen der Eltern sind, dass die Kinder gehemmt und lange abhängig sind.4 Diese Kinder werden sehr schnell verunsichert und ängstlich. Die Eltern vermitteln ihnen ein Gefühl, dass sie sich nicht ablösen dürfen, was den Kindern einige Schwierigkeiten einhandelt.

Die Ablösephasen laufen während der ganzen Kindheit ab. An denen wird uns deutlich, dass die Qualität zu der Beziehung des Kindes immer wieder neu definiert werden muss. Andere Beispiele sind, wenn das Kind in den Kindergarten geht und sich in die Erzieherin „verliebt“ und der Schuleintritt. Diese Situationen machen den Eltern klar, dass ihre Kinder ihre Welt immer mehr selbst gestalten und unabhängiger werden wollen.

Dieses Verhalten seitens der Eltern kann bewirken, dass ihre Kinder später in der Ablösephase der Adoleszenz Schwierigkeiten in der Ablösung haben.

Ablösephasen verlaufen in einer gewissen Regelhaftigkeit. Kinder erkunden die Welt, werden selbständiger, können sich aber auch übernehmen und nähern sich wieder den Eltern. Diese Phase nennt man die Wiederannäherungsphase. 5 In dieser Phase der Annäherung werden die Kinder weinerlich und hängen am Rockzipfel der Mutter. Werden sie liebevoll aufgenommen, ohne negative Bemerkungen, so ereignet sich bald wieder die Wiederannäherungskrise. In der Situation entsteht eine zu nahe Bindung, die wenig Spielraum für eine mögliche Autonomie lässt. Das Kind wir aggressiv und wieder selbständig. Bei anderen Kindern konnte beobachtet werden, dass nach dieser Wiederannäherungsphase die Selbständigkeit etwas korrigiert wird und sich ein verträglicheres Maß an Selbständigkeit einpendelt.

Um die Ablösephase in der Adoleszenz gut durchzustehen, ist es sehr hilfreich, wenn diese Ablösephasen schon früher bemerkt und bestanden werden.

Beispiel:

Ein Vater sagt zu seinem 15jährigen Sohn: „Es war eine wunderbare Zeit, als du mit zehn und elf Jahren an meinen Lippen gehangen hast. Damals war ich noch wichtig für dich. Warum musstest du in so ein Alter kommen ?“ Für den Vater wäre es wesentlich einfacher, wenn er von seinem Sohn als er noch 10 und 11 Jahre alt war, Abschied genommen und eine neue Beziehung aufgebaut hätte, also zu seinem 15jährigen Sohn. Er hat es scheinbar nicht getan und erlebt große Verlusterlebnisse.

Im Leben der Menschen geht es ständig darum eine Beziehung einzugehen und sich wieder von ihr zu lösen.

Verena Kast, eine Psychotherapeutin aus St. Gallen, beschäftigt sich in ihrem Buch „Loslassen und sich selber finden“ mit dem Trauerprozess, der uns ständig begleitet. Der Mensch baut eine intensive Beziehung zu einem anderen Menschen auf und aus einem unbestimmten Grund muss er sich wieder von der Beziehung lösen, z.B. Eltern von ihrem Kind, wenn es erwachsen wird, ein Partner von seiner Partnerin, die vielleicht tödlich verunglückt ist. Der Trauerprozess ist ein sehr wichtiger in unserem Leben. In dieser Hausarbeit soll auf die Beschreibung der Trauerprozesse verzichtet werden, aber der Leser wird auf Verena Kasts Buch verwiesen. Es geht darum, eine Beziehung aufzubauen, zu diesem Zeitpunkt wächst man in der Beziehung zusammen und definiert sich in einer Identität, nach dem Verlust der Beziehung vermag der Mensch nach einer neuen Identität zu suchen, was sehr viel Energie und Kraft kostet.

Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern kann an einem anschaulichen Beispiel verdeutlich werden:

Die Beziehung von Eltern und Kindern ist eine Beziehung, in der man sich immer wieder neu ablöst. Diesen Prozess kann man mit dem Bild einer Zwiebel veranschaulichen: Immer wieder wird die äußere Haut abgelöst – und man denkt, man sei jetzt abgelöst – und dann merkt man, dass neue Phasen der Ablösung immer wieder bevorstehen und wahrgenommen werden müssen. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass unsere Eltern ihrerseits auch wieder in ihrem eigenen Ablöseprozess von ihren Eltern stehen.

5. Die Rolle der Familie in der Adoleszenz

Unsere Jugendlichen haben in der heutigen Gesellschaft schon eine ziemlich schwere Aufgabe zu schaffen. Zu ihren Entwicklungsaufgaben gehört es, sich emotional und materiell von den Eltern abzulösen. Der Schritt in die materielle Unabhängigkeit verzögert sich aufgrund der verlängerten Schulzeiten und einem späteren Berufsbeginn, ganz zu schweigen von der Arbeitslosigkeit vor und nach der Berufsausbildung und von Überbrückungsmaßnahmen, um ein Studium anzufangen. Aus diesen Gründen verlängert sich die Verweildauer der jungen Erwachsenen bei den Eltern und die Tatsache, finanziell unabhängig zu werden. Ablösungsprozesse können sich dadurch verzögern oder sogar unmöglich gemacht werden, denn viele Eltern gewähren Selbständigkeit erst in dem Maße, in dem die Jugendlichen ökonomisch unabhängig werden.

Nicht für alle Jugendlichen gestaltet sich der Ablösungsprozess in gleicher Weise:

- Er setzt bei Mädchen früher ein als bei Jungen. Die Ablösung der Mädchen von ihren Müttern scheint ein spezifisches Problem darzustellen, das aber kaum erforscht ist (BURGER und SEIDENSPINNER 1988, SCHÜTZE 1988).6
- Bei Adoleszenten der unteren sozialen Schichten erfolgt er früher und rascher als bei solchen der höheren Schichten (KREUTZ 1964)7. Bei Arbeiterjugendlichen hängen die psychosoziale und die ökonomische Verselbständigung eng zusammen, in den oberen Sozialschichten erfolgt die materielle Verselbständigung zumeist erst sehr viel später, während die psychosoziale Entwicklung davon weitgehend abgekoppelt ist.

Die Beziehung zur Familie kann sich in der Adoleszenz folgendermaßen wandeln:

1. Die Reifung der kognitiven und emotionalen Funktionen kann dazu führen, dass der heranwachsende Erwachsene seine „neuen Fähigkeiten“ in Form von Kritik äußert. Es kann ein Gegensatz zu den Eltern entstehen, insbesondere, wenn ein restriktiver und intoleranter Erziehungsstil in der Familie praktiziert wird.
2. Peers übernehmen weitgehend die Stelle der Eltern ein. Diese „Entwertung“ muss erst von beiden Seiten verarbeitet werden. Konsequenzen sind, dass die emotionale Bindung zu den Eltern reduziert wird.
3. Die Ablösung vom Elternhaus bezieht sich nicht auf alle Haltungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. RUTTER und Mitarbeiter (1976)8 halten die These der universellen Protesthaltung nicht aufrecht, denn nicht einmal bei der Hälfte der Jugendlichen treten die Eltern ganz in den Hintergrund, sondern nur in bestimmten Bereichen.
4. Trotz der Reduzierung der emotionalen Bindung stellt die Familie die wesentlichste Bezugsgruppe für die Adoleszenten dar.

5. 1. Der Ablösungsprozess aus der Sicht der Psychoanalyse und der Interaktionstheorie

Die Psychoanalyse beschreibt die Tatsache, dass die Eltern oder ihre Verhaltensweisen von Jugendlichen sehr stark verinnerlicht wurden. Man spricht auch von Introjektion. In dieser Theorie wird die Rolle des Kindes betont.

Der Ablösungsprozess wird eine schmerzhafte Herausforderung für das Kind sein, denn die Person muss sich neu orientieren und ein Stück der verinnerlichten Identität und Identifikation aufgeben. Das kann ein langwieriger und schwieriger Prozess sein.

Beispiel:

Manche Jugendliche oder sogar junge Erwachsene haben das Leben in der Familie, mit den Eltern so sehr verinnerlicht, dass sie von z.B. dem Ritual des gemeinsamen Speisens nicht mehr loslassen können. Wenn diese jungen Erwachsenen sich in eine neuen Beziehung befinden, möchten sie dieses Ritual weiterführen. An dieser Stelle können Konflikte entstehen, denn der neue Partner möchte vielleicht nicht unbedingt dieses Ritual annehmen. An dieser Stelle sei gesagt, dass man der neuen Beziehung oder Partnerschaft eine Chance geben sollte, sich selbst zu entwickeln, so dass eigene Rituale entstehen können, unabhängig vom Elternhaus.

Die Interaktionstheorie betont die Rolle der Eltern, die durch ihre Vorstellungen und die Einschätzung des Kindes den Ablösungsprozess tiefgreifend beeinflussen.

Beispiel:

Da die Eltern ihr Kind schon ihr ganzes Leben kennen, können sie es von außen einschätzen, sie wissen um seine Stärken und Schwächen. Der junge Erwachsene möchte z.B. ein Praktikum machen und hat die Chance es nicht in der wohnortnahen Umgebung zu machen. Er hat die Wahl zwischen der Heimatstadt oder der Ferne. Die Eltern verdeutlichen dem Kind, dass die Ferne schon eine Herausforderung darstellt. Sogesehen vertraut der junge Erwachsene den Eltern, dass sie schon nichts Falsches empfehlen werden. Solche Situationen beeinflussen den Ablösungsprozess. Der junge Erwachsene sollte selbst entscheiden, was er wirklich möchte. Die Entscheidung sollte ihm keiner nehmen, auch wenn er sich für die weniger herausfordernde Situation entscheidet.

Eine Verknüpfung beider Ansätze deckt komplementäre Haltungen auf zwischen den Eltern und den sich lösenden Kindern. Diese Betrachtungsweise erlaubt sowohl seitens der Eltern als auch seitens der Kinder charakteristische Mechanismen im Zusammenhang mit der Ablösung zu unterscheiden.

Um die Prozesse im vollen Unfang verstehen zu können, muss die Familie als System verstanden werden. Der heranwachsende Jugendliche ist als Systemteil zu verstehen. Die Veränderung eines Systemteils führt zur Veränderung des ganzen Systems. Diese könnte erfolgen durch die Veränderung des Jugendlichen, der starkes Streben nach Selbständigkeit und Autonomie aufweist.

Diese Veränderung ruft auch Veränderungen bei den Eltern aus, z.B. Verlustängste, Kontrolle, Trauen über den Rückzug des Jugendlichen oder aber auch Gelassenheit. Dies beeinflusst wiederum das Verhalten der Jugendlichen. Der Prozess der Auseinandersetzung konsolidiert sich gegen Ende der Adoleszenzphase, wobei verschiedene Lösungen möglich sind, z.B. Wiederaufbau der Beziehung zu den Eltern und eine stabile Beziehung als Produkt oder aber auch eine längere oder dauerhafte Trennung der beiden Systeme oder eine ambivalente Bindung.

[...]


1 Speck, Otto; Thalhammer, M.: 1974, S. 12

2 Zeitschrift für Heilpädagogik: Heft 11/1967, S.643 ff

3 Simon, Clement, Stierlin. Die Sprache der Familientherapie. Stuttgart.1999. S. 23-24

4 Blanck, Rubin und Gertrude: Angewandte Ich-Psychologie. Stuttgart. 1978. S. 56ff

5 Mahler, Margaret S: Symbiose und Individuation. Stuttgart. 1972

6 Burger, A., Seidenspinner, G.: Töchter und Mütter. Ablösung als Konflikt und Chance. Leske & Budrich, Leverkusen 1988. Vgl. Remschmidt, H.: Adoleszenz. Entwicklung und Entwicklungskrisen im Jugendalter. Stuttgart, New York 1992. S. 127-130

7 Kreutz, H.: Jugend: Gruppenbildung und Objektwahl, 2 Bde. Phil. Diss., Wien 1964. Vgl. Remschmidt, H.: Adoleszenz. Entwicklung und Entwicklungskrisen im Jugendalter. Stuttgart, New York 1992. S. 127-130

8 Rutter, M., P., Graham, O. F. D. Chadwick, W. Yule: Adolescent turmoil: fact or fiction ? Journal of Child Psychology and Psychiatry 17 (1976) 35-56. Vgl. Remschmidt, H.: Adoleszenz. Entwicklung und Entwicklungskrisen im Jugendalter. Stuttgart, New York 1992. S. 127-130

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Loslösungsprozesse bei Menschen mit einer geistigen Behinderung
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Rehabilitationswissenschaften)
Veranstaltung
Probleme von Bindung und Ablösung bei Menschen mit geistiger Behinderung
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
33
Katalognummer
V12647
ISBN (eBook)
9783638184779
Dateigröße
2701 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dichter Text - einzeiliger Zeilenabstand (entspricht etwa 50 Seiten bei Normalformatierung). 1 MB
Schlagworte
Loslösungsprozesse, Menschen, Behinderung, Probleme, Bindung, Ablösung, Menschen, Behinderung
Arbeit zitieren
Kamila Urbaniak (Autor:in), 2003, Loslösungsprozesse bei Menschen mit einer geistigen Behinderung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12647

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