Zivilreligion in den Vereinigten Staaten und in Frankreich

zwei Entwicklungswege eines Phänomens im Lichte der Religionssoziologie Robert N. Bellahs


Hausarbeit, 2009

24 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einführung

I. Zwischen religion civile und Bürgerreligion – die Theorie der Zivilreligion
1. Grundlagen des religionssoziologischen Konzeptes der Zivilreligion
2. Robert N. Bellahs Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen

II. Zivilreligion beiderseits des Atlantiks - Vergleichsansätze ihrer Ausprägung in den Vereinigten Staaten und in Frankreich
1. Philosophische und historische Fundamente der Zivilreligion
2. Times of trial und Stabilisierung des Phänomens in beiden Staaten
3. Entwicklungen nach der Krise beider Zivilreligionen im 20. Jahrhundert

III. Perspektiven und Herausforderungen – die Zivilreligion zwischen Stagnation und Revitalisierung
1. Neue Vitalität eines alten Konzepts: die Zivilreligion in den Vereinigten Staaten nach dem 11. September
2. Herausforderung von Republik und Laizität: Frankreichs Zivilreligion angesichts neuer gesellschaftlicher und politischer Umstände

Abschluss

Bibliographie

Einführung

Am Beginn des 21. Jahrhunderts gewinnt die Religiosität als Faktor gesellschaftlichen Zusammenlebens neue Vitalität. Vorbei die Zeiten, in denen man vor allem in Europa die Überwindung des Religiösen zum Kennzeichen der Modernität einer Gesellschaft erhoben hat. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ist sowohl in den ehemaligen Ostblockstaaten als auch darüber hinaus – sei es in Asien, Lateinamerika, aber auch Europa – ein Wiedererstarken religiöser Bindungen zu konstatieren. Freilich bedeutet dies gerade in den westlichen Gesellschaften keine Rückkehr zum status ante der Aufklärung, viel mehr passt sich das Religiöse an neue Gegebenheiten des gesellschaftlichen Wandels an und findet so jenseits traditioneller Institutionen, Riten und Moralmuster seinen Weg zurück in das Leben der Individuen: „Religion hat die Modernisierung überlebt und es ist anzunehmen, dass sie auch die Moderne überleben wird.“[1] Während die Religion nicht im Verschwinden begriffen ist, so ist sie dennoch einem Prozess der Individualisierung und Privatisierung unterworfen, der ihrer normativen Einwirkungsmöglichkeit auf die Gesellschaft als Ganzes aus diesem Blickwinkel heraus Grenzen setzt.

Moderne und Religiosität lassen sich also allem Anschein nach im privatem, dem Individuum zur Selbstgestaltung offenen Raum, durchaus verbinden. Das empirische Fortbestehen religiöser Symbolik und Ausdrucksformen im gemeinschaftlichen Leben eines Staates – wie sie sich im Einzelfall auch darstellen mögen – macht aber auch deutlich, dass die religiöse Dimension niemals gänzlich aus der öffentlichen Sphäre gebannt werden konnte – auch wenn dies sicherlich im Falle einzelner Konfessionen geschehen sein mag. „Das Religiöse ist in der säkularen Moderne nicht abgegolten, vielmehr scheint sich wieder eine neue Balance zwischen Religion und Politik abzuzeichnen. Religion als öffentliche Privatsache lässt sich jedenfalls nicht länger unterdrücken.“[2]

So betrachtet haben wir es weniger mit einem Prozess der allgemeinen Säkularisierung zu tun, als viel mehr einem der Entkonfessionalisierung – also der Distanzierung von einer einzelnen Norm oder Moralüberzeugung, hin zur Akzeptanz einer Pluralität, die jedoch ergänzt wird durch einen religiös gearteten Konsens in der Gesellschaft, der auf ein Muster von öffentlichen Glaubenssätzen, Symbolen und Ritualen zurückgreift, was der US-amerikanische Soziologe Robert N. Bellah, in Anlehnung an die Wortschöpfung Jean-Jacques Rousseaus, Zivilreligion genannt hat.[3]

Vor dem Hintergrund der offenkundigen Relevanz dieses Phänomens in der politischen Kultur eines Staates und seiner besonderen Stellung als pluridisziplinäres Analyseobjekt der Gesellschaftswissenschaften, ist es Intention dieser Arbeit die Entwicklungswege zweier Ausprägungen von Zivilreligion näher zu betrachten und Vergleichmomente offen zu legen. Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Französische Republik, als Exponenten zweier philosophischer Strömungen der modernen westlich-aufgeklärten Gesellschaften seien dafür herangezogen.

In einem ersten Kapitel wird zunächst die Theorie der Zivilreligion unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Robert N. Bellahs bei dessen Entstehung analysiert werden. Im zweiten Abschnitt der Arbeit werden die zivilreligiösen Ausprägungen in den Vereinigten Staaten und in Frankreich anhand dreier Vergleichansätze betrachtet werden, wobei zu Beginn die historisch-philosophischen Grundlagen beider Entwicklungswege im Zentrum stehen werden, gefolgt vom Blick auf die Stabilisierungsprozesse des Phänomens und Entwicklungen nach den Krisen beider Zivilreligionen im 20. Jahrhundert. Der letzte Punkt der Ausführungen wird sich mit den Perspektiven und den Herausforderungen in beiden Staaten zwischen Revitalisierung auf der einen Seite und Stagnation auf der anderen auseinander setzen, bevor als Abschluss der Vergleich beider Entwicklungswege zu einem Fazit angesichts des analytischen Vorgehens Bellahs in seinem Ursprungsaufsatz des Jahres 1967 gebracht werden wird.

I. Zwischen religion civile und Bürgerreligion – die Theorie der Zivilreligion

Wie in der Einführung beschrieben, findet sich der religiöse Faktor menschlicher Existenz sowohl auf der rein persönlich-individuellen Ebene, wie auch im öffentlichen Raum. Betrachtet man außerdem die klassische Trennung zwischen Privatsphäre und politischer Sphäre, wie sie seit Aristoteles gebräuchlich ist, erreicht man den Ausgangspunkt Jean-Jacques Rousseaus, der als erster ein Konzept von Zivilreligion am Ende seines Hauptwerkes „Du Contrat Social“ des Jahres 1762 vorgelegt und damit die Debatte über diesen Begriff nachhaltig geprägt hat – wie der Rückgriff Bellahs auf Rousseaus Werk zeigt.[4]

1. Grundlagen des religionssoziologischen Konzeptes der Zivilreligion

„Für Rousseau, der den Begriff der Zivilreligion in die philosophische Fachsprache einführte, war sie geradezu das ‚missing link’ zwischen der neuzeitlich-subjektiven Existenz des Menschen (homme) und seiner bürgerlich-politischen Existenz (citoyen).“[5] Er denkt damit bereits eine der entscheidenden Aufgaben von Zivilreligion vor, die Integration in ein Gemeinwesen, welches ansonsten angesichts der zahllosen individuellen Überzeugungen, gerade in Krisenzeiten zu wenig innere Kohäsion aufwiese um überleben zu können. Diese Art der Religion ist rein auf den Staat bezogen und nicht dogmatisch auf eine bestimmte Konfession; die Erhebung einer bestimmten Konfession zur Staatsreligion widerspräche grundsätzlich den Annahmen Rousseaus über die persönliche Glaubensfreiheit der Bürger. Den Kern seiner Zivilreligion fasst er in der Folge so: „Es gibt daher ein rein bürgerliches Glaubenbekenntnis, dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht regelrecht als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung des Miteinander, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und treuer Untertan zu sein. Ohne jemand dazu verpflichten zu können, daran zu glauben, kann er jeden aus dem Staat verbannen, der sie nicht glaubt; er kann ihn nicht als Gottlosen verbannen, sondern als einen, der sich dem Miteinander widersetzt und unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit ernstlich zu lieben und sein Leben im Notfall der Pflicht zu opfern.“[6] Der Glaube an einen Gott, der die Menschen für ihre Taten zur Rechenschaft zieht und die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags sowie des Gesetzes bilden den Kern der Rousseauschen Zivilreligion, zu deren Zugehörigkeit es keine Alternative geben kann.

Dieses philosophische Fundament muss je nach Gesellschaftsordnung um spezifische Charakteristika ergänzt werden, sowie historische Entwicklungen mit einbezogen werden. Aus dieser Erweiterung ergeben sich diverse analytische Deutungsmöglichkeiten, wie sie bei Heinz Kleger und Alois Müller unterschieden werden: (1) Zivilreligion als religiöses Recht, womit religiöse Inhalte in der öffentlichen Kultur außerhalb institutionalisierter kirchlicher Verfasstheit gemeint ist; (2) Zivilreligion als höchste Werte, die nicht mehr überboten werden können und so als Grundlage der Begründung universeller Werte dienen; (3) Zivilreligion als transkonfessioneller Brückenschlag, der ihr unabhängig vom konkreten historischen Kontext Legitimität verschafft; (4) Zivilreligion als Bürgerreligion, sieht die Zivilreligion vor dem Hintergrund der Bürgergesellschaft, worin sie das Glaubensbekenntnis der Bürgerschaft bildet – dem man sich, anders als bei Rousseau, in der liberalen Gesellschaft auch entziehen kann. Vor diesem komplexen Hintergrund erscheint eine genaue Definition von Zivilreligion heutzutage schwieriger denn je. Ende der 1980er Jahre hat sich der Lutherische Weltbund im Rahmen eines groß angelegten Projektes mit dem Thema Zivilreligion befasst und geht dabei von folgender Arbeitsdefinition aus, die in ihrer Ausführlichkeit dem Phänomen über zeitliche und geographische Grenzen hinweg wohl am gerechtesten wird: „Civil Religion ist ein Geflecht von Symbolen, Gedanken und Handlungsweisen, die die Autorität von gesellschaftlichen Institutionen legitimieren. Sie stellt eine grundlegende Wertorientierung dar, die ein Volk in gemeinsamem öffentlichem Handeln verbindet. Sie ist dabei insofern religiös, als sie Verpflichtung hervorruft und innerhalb einer gesamten Weltsicht in gewissen Fällen den eigentlichen Sinn eines Volkes für Wert, Identität und Bestimmung zum Ausdruck bringen kann. Sie ist ‚civil’ ‚gesellschaftlich’, insofern als es dabei um die grundlegenden öffentlichen Institutionen geht, die in einer Gesellschaft, einer Nation oder sonstigen politischen Größe, die Macht ausüben. ‚Civil religion’ kann sich in Form von Riten, Feiertagen, heiligen Stätten, Dokumenten, Geschichten, Helden oder anderen Ausprägungen ebenso äußern, wie in anerkannten historischen Religionen. ‚Civil religion’ enthält unter Umständen auch eine Theorie, die dann als Ideologie zum Vorschein kommt. Die einzelnen Gesellschaftsmitglieder sind sich ihrer ‚civil religion’ in unterschiedlichem Maße bewusst. Sie wird von der Bevölkerung weitgehend oder begrenzt angenommen, so sie ihre zentrale Funktion der Legitimierung der gesellschaftlichen Institutionen erfüllt.“[7]

2. Robert N. Bellahs Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen

Während der Begriff der Zivilreligion schon seit langem besteht, ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung damit bis weit ins 20. Jahrhundert hinein rudimentär geblieben. Es ist der Verdienst des US-amerikanischen Soziologen Robert N. Bellah ihn in den 1960er Jahren einem größeren Kreis bekannt gemacht und zur Diskussion gestellt zu haben, wobei er die Grundnahme teilt, dass die Hauptaufgabe von Zivilreligion eine integrative sei, da es einer Gesellschaft eines Grundmaßes an geteilten normativen Überzeugungen bedürfe, womit er in Tradition Emile Durkheims und Talcott Parsons wurzelt.

Der 1967 im JOURNAL OF THE AMERICAN ACADEMY OF ARTS AND SCIENCES erschiene Artikel „Civil Religion in America“ setzt sich mit einem Phänomen in den Vereinigten Staaten auseinander, das Bellah eben als Zivilreligion tituliert. „While some have argued that Christianity is the national faith (…), few have realized that there actually exists alongside of and rather clearly differentiated from the churches an elaborate and well-institutionalized civil religion in America.”[8] Bellahs Artikel hat eine unerwartet breite Debatte ausgelöst, die bis heute andauert und unverändert kontrovers und zwischen Ablehnung des Konzeptes an sich, bis hin zu alternativen Namensgebungen und Konstrukten geführt wird.[9]

Bellah greift in seinem Aufsatz und der folgenden Ausarbeitung des Themas ausdrücklich auf die Rousseauschen Grundlagen zurück, wenn er von diesen ausgehend die Entwicklung und Situation der Zivilreligion in den Vereinigten Staaten beschreibt, wobei er vor allem auf Grundlage einer Analyse der Inauguraladressen der Präsidenten argumentiert. Natürlich ist er nicht der erste, der dieses Phänomen erfasst; dessen frühen Zustand beschreibt bereits Alexis de Tocqueville in seinem Hauptwerk „De la démocratie en Amerique“ in den 1830er Jahren. Die in den Vereinigten Staaten nicht vorhandene Spaltung des Individuums in seine religiöse und seine politische Komponente, greift Bellah wieder auf, wenn er zu verstehen sucht, warum das Religiöse in den Vereinigten Staaten trotz der verfassungsmäßigen Trennung von Kirche und Staat eine so große Rolle spielt. Die Analyse – vor allem in späteren Jahren – beleuchtet die verschiedenen Komponenten der US-Zivilreligion zwischen Individualismus, Freiheitsstreben, Patriotismus, Religiosität und protestantischer Moral. Ziel seiner Betrachtungen ist nicht nur das Verstehen des American Creed (Gunnar Myrdal)[10], als dem „sinnstiftenden Komplex von Ideen, Glaubenshaltungen, Einstellungsmustern und Verhaltensweisen“[11] in der US-Bevölkerung, sondern vor allem später die erneute Stärkung dieser Zivilreligion und damit der Integrationskräfte einer liberalen Gesellschaft, was Bellah in den 1980er Jahren deutlich den Vordenkern des Kommunitarismus in Nordamerika um Michael Walzer, Michael Sandel und Charles Taylor annähert.

Bellahs analytisch-deskriptive Methode bei der Erfassung dieses Phänomens der US-amerikanischen Zivilreligion kann zugleich auch Grundlage der Analyse anderer Ausprägungen dieses Phänomens, beispielsweise in Europa sein, wie in folgenden Kapiteln gezeigt werden wird. Dennoch bleibt seine Theorie stets unvollständig und hinter der praktisch gelebten Realität zurück, was den Tenor der Kritiker seines Konzeptes von Zivilreligion bis heute umtreibt, wenn sie konzedieren: „Ja, da scheint tatsächlich etwas zu sein, aber was ist es genau?“[12]

[...]


[1] T. HASE: Zivilreligion – Religionswissenschaftliche Überlegungen zu einem theoretischen Konzept am Beispiel der USA; Würzburg 2001; S. 22.

[2] H. KLEGER & A. MÜLLER (Hrsg.): Religion des Bürgers – Zivilreligion in Amerika und Europa; Münster 22004; S. II.

[3] Vgl. R. N. BELLAH: Civil religion in America; in: JOURNAL OF THE AMERICAN ACADEMY OF ARTS AND SCIENCES, Winter 1967, Vol. 96, Nr. 1; S. 1-21.

[4] Vgl. ebd.

[5] KLEGER & MÜLLER (22004); S. II.

[6] J.-J. ROUSSEAU: Vom Gesellschaftsvertrag; Stuttgart 1986; S. 151.

[7] Zitiert in: HASE (2001); S. 60f.

[8] R. N. BELLAH: Civil religion in America; in: JOURNAL OF THE AMERICAN ACADEMY OF ARTS AND SCIENCES, Winter 1967, Vol. 96, Nr. 1; S. 1-21.

[9] Vgl. HASE (2001); S. 55ff.

[10] Nähere Definition dieses Begriffes bei: S. HUNTINGTON: Who Are We? – The Challenges to America’s National Identity; New York 2004, S. 103.

[11] M. BROCKER: Zivilreligion – missionarisches Sendungsbewusstsein – christlicher Fundamentalismus? Religiöse Motivlagen in der (Außen-)Politik George W. Bushs; in: ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK, 2/2003; S. 121f.

[12] R. N. BELLAH: Die Religion und die Legitimation der amerikanischen Republik; in: H. KLEGER & A. MÜLLER (Hrsg.): Religion des Bürgers – Zivilreligion in Amerika und Europa; Münster 22004; S. 42-63.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Zivilreligion in den Vereinigten Staaten und in Frankreich
Untertitel
zwei Entwicklungswege eines Phänomens im Lichte der Religionssoziologie Robert N. Bellahs
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt  (Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät)
Veranstaltung
Herrschaft und sozialer Wandel
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
24
Katalognummer
V126438
ISBN (eBook)
9783640323593
ISBN (Buch)
9783640321575
Dateigröße
503 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zivilreligion, Vereinigten, Staaten, Frankreich, Entwicklungswege, Phänomens, Lichte, Religionssoziologie, Robert, Bellahs
Arbeit zitieren
Andreas Ludwig (Autor:in), 2009, Zivilreligion in den Vereinigten Staaten und in Frankreich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126438

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