Ambivalenzen und die Auflösung von Gegensätzen in Günter Grass’ Roman "Die Blechtrommel"


Hausarbeit, 2004

14 Seiten, Note: A- (1-)


Leseprobe


Ambivalenzen und die Auflösung von Gegensätzen in Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel

Bastian Heinsohn

Der 1959 veröffentlichte Roman Die Blechtrommel von Günter Grass handelt von den Deutschen vor und während der zwölfjährigen Naziherrschaft sowie in der Nachkriegszeit. Der Roman thematisiert jedoch weder Krieg, Soldatenschicksale, Ideologien noch historische Großereignisse, sondern beschreibt eine durch Passivität geprägte deutsche Gesellschaft in ihrer Konfrontation mit dem Dritten Reich und mit ihrer anschließenden Vergangenheitsbewältigung.

Aus der Sicht des Protagonisten Oskar Matzerath beschreibt Grass das Verhalten der Deutschen in dieser Zeit, das sich neben Passivität auch insbesondere durch ein hohes Maß an Widersprüchlichkeit und Ambivalenzen auszeichnet. Trennlinien werden verwischt, Gegensätze aufgehoben und Dinge und Aussagen verlieren ihre Eindeutigkeit. Ambivalenzen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman und sind Auslöser des schizophrenen Zustands, in dem sich die Deutschen nach den Kriegserlebnissen unweigerlich wiederfinden. Die Blechtrommel bringt das Dilemma der Deutschen zur Sprache: Ihre Unfähigkeit, aktiv Stellung zu ihrer Vergangenheit zu beziehen, ihre Rolle im Krieg eindeutig zu definieren, Verantwortung zu übernehmen und individuelle Schuld zu bekennen. In der Unfähigkeit der Deutschen zu einer eigenen eindeutigen Positionierung insbesondere im Umgang mit ihrer eigenen Geschichte und in der Täter/Opfer-Frage bezüglich des Zweiten Weltkrieges sieht Grass eine Charaktereigenschaft, die er in seinem Roman durch Ambivalenzen unterschiedlichster Art darstellt. Grass sieht in der Passivität der Romanfiguren den Ursprung ihrer ambivalenten Situation: Ihre Passivität hat fatale Folgen, die sie von Opfern zunächst zu Zeugen und schließlich zu aktiven Tätern werden lassen. In der erzählten Geschichte des Romans reichen sie bis zurück in die Zeit vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

Mit der Geburt des Protagonisten wird bereits die erste Determinierung aufgehoben: Mit dem ersten Schrei zerstört Oskar eine Uhr. Dieser Akt sowie Oskars spätere Weigerung zu wachsen symbolisieren die Aufhebung zeitlicher Bezugspunkte. Anfang und Ende bleiben die Eckpunkte, jedoch besteht zwischen ihnen kein Unterschied mehr: „Einsam und unverstanden lag Oskar unter den Glühbirnen, folgerte, dass das so bleibe, bis sechzig, siebenzig Jahre später ein endgültiger Kurzschluss alle Lichtquellen Strom unterbrechen werde, verlor deshalb die Lust, bevor dieses Leben unter den Glühbirnen anfing“ (54). Der Anfang des Lebens ist zugleich Oskars Gedanke an das Ende: Der „Wunsch nach Rückkehr in meine embryonale Kopflage“ (55). Der Zeitverlauf ist nicht linear sondern zirkulär. Der zirkuläre Geschichtsverlauf der Zeit und die Wiederkehr des Gleichen zeigen sich ebenso symbolhaft an den vier Röcken der Anna Bronski, die nach einem System getragen werden, das einen bestimmten Rock in regelmäßigen Abständen wieder ans Tageslicht befördert. Sowie Oskars Geburt gleichzeitig seinen Wunsch nach dem Tod auslöst ist im Roman an mehreren Stellen Zeugung und Konstruktivität gleichbedeutend mit Tod und Destruktion. Während die Polnische Post unter deutschem Beschuss zerstört wird und die in ihr schutzsuchenden Menschen vom Tode bedroht sind, baut Jan Bronski ein Kartenhaus: „luftig stand es, empfindsam, leicht atmend in jenem Raum voller atemloser Toter und Lebendiger, die den Atem anhielten, und erlaubte uns, die Hände zusammenzulegen“ (315). Zudem denkt Oskar beim Anblick von Baugerüsten stets an Abbrucharbeiten.

Oskars Stimme ist für ihn Ausdruck von Kreativität und Destruktion zugleich. Das zeigt sich im Zersingen von Fensterscheiben sowie insbesondere in seiner späteren Tätigkeit als Unterhalter der Frontsoldaten in Frankreich, in der er französische Kulturgüter wie historische Vasen und Fruchtschalen zerstört. Oskar bezeichnet dies als künstlerische Tätigkeit: „Ein uniformierter Gelehrtentyp wußte mir Schmeichelhaftes über meine Künste zu sagen“ (432). In der Romanfigur Oskar sind Kreativität und Destruktivität eng miteinander verknüpft. Das zeigt auch sein beispielhafter Ausspruch: „Oh, herrlicher Umgang mit Kunst und Historie!“ (431). Geschichte ist in dieser Textstelle sowie im ganzen Roman bestimmt durch Destruktion. Grass stellt Geschichte stets als eine von Zerstörung, Verlust und Tod geprägte Vergangenheit dar, die es aufzuarbeiten gilt. Dazu zählen die Zerstörung Danzigs, der Verlust der Heimat, der Tod der Familienangehörigen, sowie die zu bewältigende Vergangenheit mit dem Zweiten Weltkrieg. In den Jahren nach dem Krieg erinnert der Maler Raskolnikoff Oskar an seine Vergangenheit, indem er ihm eine Trommel bringt und sagt: „Nichts ist vorbei, alles kommt wieder, Schuld, Sühne, abermals Schuld“ (621). Hier ist eine der Hauptaussagen des Romans formuliert: Man kann der Vergangenheit nicht entfliehen, denn der zirkuläre Geschichtsverlauf veranlasst die stetige Konfrontation mit ihr. Der Geschichtsbegriff ist auch hier negativ konnotiert.

Oskars Trommel ist für ihn wie seine Stimme ein Werkzeug seiner Kunst sowie seiner Zerstörungskraft. Bevor Oskar sein Trommeln auf der Bühne des Fronttheaters sowie auf den Bühnen des Nachkriegsdeutschlands sein Trommeln zur Kunst hochstilisiert, benutzt es Oskar als Mordwaffe: „So unternahm ich, als Maria im fünften Monat war, freilich viel zu spät, den ersten Abtreibungsversuch. [...] Meine Trommelstöcke als Hebel benutzend, mit der Schulter und festestem Vorsatz nachhelfend, drückte ich den Tritt hoch und dann zur Seite“. (387ff.). In der Romanfigur Oskar zeigt sich, dass die Unfähigkeit zur Unterscheidung zwischen Kreativität und Destruktivität moralische Entscheidungen unmöglich machen. Es ist ihm auch nicht möglich zwischen Ordnung und Unordnung zu unterscheiden, was sich in seinem Bestreben zeigt, vermeintlich chaotischen Dingen Ordnung und Struktur verleihen zu müssen, wie Judith Ryan anmerkt: „He disrupts the class by drumming out the beat of the children’s rhyme so chaotically sung by the unruly group of first-graders, but what the teacher regards as disorder, Oskar perceives as bringing order into things” (Ryan, 60).

Gegensätze wie Kreation-Desktruktion, Ordnung-Chaos und Anfang-Ende sind in Die Blechtrommel aufgehoben. Das zeigt sich auch in der für den Roman besonders wichtigen Karfreitagsepisode, die mehrere Hauptmotive des Romans gleichzeitig symbolhaft verbindet: Den aus dem Meerwasser gezogenen Kopf eines toten Pferdes beschreibt Oskar zugleich als „einen sprühend lebendigen Brocken“ (191). Der Kadaver dient der Ernährung von Aalen, von denen einige wiederum von Möwen verspeist werden. Die Aale kommen im anschließenden Romankapitel als Nahrung auf den Tisch der Matzeraths und lösen ebenfalls den Tod von Oskars Mutter aus. Tod und Leben sind in dieser Romanstelle eng miteinander verknüpft. Darüberhinaus ist der Aal hier ein eindeutiges Phallussymbol, das den Pferdekopf mehrmals wie eine Vagina penetriert. Das bereits deutliche Symbol des Aals als Phaluus unterstreicht Grass in einer kurzen Episode über eine Frau, die nach sexueller Befriedigung mit einem lebendigen Aal unfruchtbar geworden ist. Geburt und Tod sind hier ebenfalls eng miteinander verknüpft.

Der Pferdekopf ist weiblich und männlich zugleich. Grass verwischt mehrmals die Trennlinien zwischen Kategorien. Das verweigert den Romanfiguren eine eindeutige Identität. Jan Bronskis Äußere beschreibt der Erzähler als feminin und sein Verhalten ist durch eine Ängstlichkeit und Zurückhaltung bestimmt, die untypisch für die klassische Männerrolle ist. Oskar Matzerath ist ein schwaches männliches Familienoberhaupt und kocht zudem leidenschaftlich gern, was eher einer traditionellen Frauenrolle zuzuschreiben ist. Gemüsehändler Greff ist verheiratet und homosexuell. Er ist pädophil und selbst ausgestattet mit einem „kindischen Zug zur Bastelei“ (385). In dieser Romanfigur wird die Trennlinie zwischen den Geschlechtern sowie die zwischen Kindsein und Erwachsensein verwischt. Am deutlichsten ist die Vereinigung dieser beiden Kategorien an der Hauptfigur des Romans dargestellt. Oskar Matzerath ist als Jugendlicher und selbst als junger Erwachsener noch so groß wie ein Dreijähriger. Sein mentaler Zustand ist nicht mit einem Dreijährigen vergleichbar, jedoch spielt Oskar stets die Rolle des Dreijährigen, wann immer es ihm nützlich erscheint. Die Rolle als dreijähriges Kind ist insbesondere dann nützlich, wenn es gilt, Schuld von sich zu weisen. Nach einem Einbruch in eine Kirche und einer „Schwarzen Messe“ der Steuberbande gelingt es Oskar auf diese Weise, jegliche Schuld von sich zu weisen, und er lässt sich „widerstandslos, die Rolle eines greinenden, von Halbwüchsigen verführten Dreijährigen spielend, in Obhut nehmen“ (500). Für die Gesellschaft ist Kindsein gleichbedeutend mit Unschuldigsein. Dies gilt hingegen nicht für Oskar selbst. Das Abweisen persönlicher Schuld und das Beschuldigen anderer zieht sich ebenfalls wie ein roter Faden durch den Roman. Matzerath wird die Schuld an Oskars Sturz von der Kellertreppe und am Tod von Oskars Mutter gegeben und Oskar wird die Schuld am Tod von Jan Bronski, an Matzerath und ebenfalls an seiner Mutter gegeben. Schuldzuweisungen sowie fehlendes Schuldbewusstsein sind das Ergebnis eines fehlenden Verantwortungsbewusstseins. Da niemand Verantwortung für eigenes Handeln übernimmt, bleiben klare Aussagen unmöglich. Oftmals bieten sich zwei Erklärungsmöglichkeiten an wie in der Vaterfrage von Kurt oder der von Oskar selbst: „Matzerath ist entweder mein Vater oder gar nichts gewesen.“ (319) Typisch für das Grassche Kleinbürgertum bleibt auch hier die Frage nach Verantwortung offen.

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Details

Titel
Ambivalenzen und die Auflösung von Gegensätzen in Günter Grass’ Roman "Die Blechtrommel"
Veranstaltung
Bildungsroman
Note
A- (1-)
Autor
Jahr
2004
Seiten
14
Katalognummer
V126183
ISBN (eBook)
9783640325061
ISBN (Buch)
9783640325900
Dateigröße
401 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ambivalenzen, Auflösung, Gegensätzen, Günter, Grass’, Roman, Blechtrommel
Arbeit zitieren
M.A. Bastian Heinsohn (Autor:in), 2004, Ambivalenzen und die Auflösung von Gegensätzen in Günter Grass’ Roman "Die Blechtrommel", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126183

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