Robert Musil - Die Amsel

Eine Untersuchung anhand Lacans Spiegelstadium


Hausarbeit, 2008

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Inhalt und Form der Amsel
2.1 Erzählstruktur – Rahmenhandlung - Gattungsfrage

3. Die Amsel als Tor zum ‚anderen Zustand’
3.1 Der ‚andere Zustand’
3.2 Musils Zeichen als ‚Signale’ des Möglichen

4. Lacans ‚Spiegelstadium’
4.1 Das Ich-Ideal
4.2 Ich (je) und Ich (moi)

5. Lacans Ideen und Die Amsel – ein Vergleich
5.1 Die Bedeutung des kindlichen Weltbezugs
5.2 Ich (je) und Ich (moi) bei Lacan - Aeins und Azwei bei Musil
5.2.1 Azwei, das Ich (moi)
5.2.2 Aeins, das Ich (je)
5.3 Aeins als Spiegel Azweis
5.4 Die Bedeutung des ‚Dritten’ im identifikatorischen Prozess

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Robert Musil veröffentlichte seine Novelle Die Amsel - wobei der Gattungsbegriff Novelle später noch eingehender betrachtet und diskutiert werden soll – zum ersten Mal 1928 in der ‚Neuen Rundschau’ und nahm sie 1936 im ‚Nachlaß zu Lebzeiten’ wieder auf. Dabei fand die Amsel zunächst in der internationalen Musil-Forschung nur geringe Beachtung und das, obwohl sie laut Frederick W. Krotz „mit zum Gehaltvollsten Musilscher Prosa zählt“ (1970: 7) und nach Benno von Wiese „zu dem Besten gehört, was Musil geschrieben hat“ (1962: 299).

Die vorliegende Arbeit wir zeigen, inwieweit Musils Literaturtheorie in der Amsel mithilfe psychoanalytischer Ideen Lacans interpretierbar ist. Dabei wird insbesondere auf einen von Lacan verfassten Aufsatz zum so genannten „Spiegelstadium“ Bezug genommen werden. Die Bildung des „Ich“ sowie die Beziehung zum ‚Dritten’ wird darüber hinaus eingeschlossen werden und soll schließlich zum Verständnis musilscher Existenztheorien und seinem Schreiben in der Amsel beitragen.

2. Inhalt und Form der Amsel

Die Novelle setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Nach einer Art Einleitung, in der der Ich-Erzähler des zweiten Abschnitts, Azwei, und sein Gesprächspartner Aeins vorgestellt werden, folgt ein zweiter Teil, der sich wiederum aus drei Geschichten zusammensetzt. Diese drei Episoden, von Azwei als persönliche Erlebnisse erinnernd erzählt, sind „Stufen einer Biographie, die – in ihrer zeitlichen Reihenfolge erzählt“ – Azweis „psychische Entwicklung anhand dreier Erlebnisse“ (Baur 1973, 238) charakterisiert.

In der ersten Geschichte berichtet Azwei von der Flucht aus seinem Job, von seiner Frau und aus der mechanischen Langeweile Berlins, um dem Ruf einer halb wahrgenommenen Amsel zu folgen. Die zweite Erzählung behandelt ein Nahtoderlebnis Azweis bei einem Fliegerpfeilangriff an der italienischen Front zwei Jahre später. Die dritte Geschichte schließlich vollzieht die Krankheit und den anscheinend aufopfernden Tod seiner Mutter in der Mitte der 20er Jahre nach, als Azwei nach Jahren der Abwesenheit wieder nach Hause zurückkehrt und dort Gegenstände seiner Kindheit entdeckt und eine erneute Begegnung mit der Amsel erlebt. (Vgl. West Nutting, 1983: 47)

2.1 Erzählstruktur – Rahmenhandlung - Gattungsfrage

Die Erzählstruktur weist verschiedene Besonderheiten auf, aus denen sich neue Fragestellungen und Problematiken ergeben. Zu Beginn findet eine Einführung durch einen, wie West Nutting es nennt, „objective and disinterested frame narrator“ (1983, 47) statt, einem objektiven und unvoreingenommenen Rahmenerzähler also. Burgstaller bezeichnet diesen sogar als „auktorialen Erzähler“ (1972, 269), wovon West Nutting sich klar abhebt. Er betont ausdrücklich, dass es sich bei dem Erzähler nicht um einen allwissenden handeln könne, da dieser voraussichtlich am Ende der Erzählung wieder aufträte, um die Botschaft von Azweis letzter Geschichte zu verdeutlichen und damit den äußeren Rahmen zu schließen (vgl. West Nutting 1983, 48). Der äußere Rahmen lässt sich dennoch durch die Einleitung des - nennen wir ihn ‚vorgelagerten’ - Erzählers und der Vorstellung der weiteren Protagonisten, oder auch ‚nachgelagerten’ Erzähler Aeins und Azwei, definieren. Die von Azwei vorgetragenen drei Erlebnisse seiner bisherigen Lebensphase bilden den inneren Rahmen. Dabei muss allerdings erwähnt werden, dass Aeins und Azwei vom vorgelagerten Erzähler so eingesetzt werden, dass sie als bloße Übermittler der vom ersten Erzähler erlebten Sachverhalte gesehen werden sollen:

Die beiden Männer, deren ich erwähnen muss – um drei kleine Geschichten zu erzählen, bei denen es darauf ankommt, wer sie berichtet -, waren Jugendfreunde; nennen wir sie Aeins und Azwei. (NzL, 1936: 185)

Aufgrund dieser Konstellation der Erzähler kommt es in der Fachliteratur zu kontroverser Diskussion der Amsel im Hinblick auf ihre Gattungszugehörigkeit. Die Argumentation derjenigen, die der Amsel nur unter Vorbehalt Novellencharakter zusprechen, gründet auf dem fehlenden, abschließenden Kommentar nach der dritten Geschichte Azweis, um so den äußeren Rahmen zu konkludieren. Legt man aber zugrunde, dass Azwei nicht zwangsläufig als ein eigener Charakter der Amsel gesehen werden muss, sondern eher als eine vom Erzähler eingesetzte Figur, um seine eigene Entwicklung zu veranschaulichen, so ist der Schluss der dritten Geschichte durchaus auch als Abschluss des äußeren Rahmens zu interpretieren. Den Beweis, dass Aeins und Azwei offenbar Bewusstseinsspaltungen „eines nicht unmittelbar auftretenden theoretischen Menschen A“ (Reniers – Servranckx, 1972: 192) sind, liefert Azwei dem Leser selbst, denn er sagt:

„ich habe mich jahrelang mit keinem Menschen aussprechen können, und wenn ich mich darüber laut mit mir selbst sprechen hörte, wäre ich mir, offen gestanden, unheimlich.“ (NzL, 1936: 197)

Zu dem Verhältnis der beiden „Jugendfreunde“ (NzL, 1936: 185) Aeins und Azwei wird im Folgenden an späterer Stelle noch einmal detaillierter Bezug genommen werden.

3. Die Amsel als Tor zum ‚anderen Zustand’

3.1 Der ‚andere Zustand’

Robert Musil differenziert in all seinen Werken – nicht nur in der Amsel – zwischen unterschiedlichen ‚Bewusstseinszuständen’, in denen das Individuum existieren kann. Seine Auffassung von der Welt und der damit einher gehenden Wirklichkeitsvorstellung sieht vor, dass es neben der real erfassbaren Welt noch wenigstens eine andere Welt gibt, einen ‚anderen Zustand’ „jenseits jener ‚Grenze zweier Welten’“ (Tb II, 1153). Diese andere Welt „wird nicht als ein Zusammenhang dinglicher Beziehungen erlebt, sondern als eine Folge ichhafter Erlebnisse“ (Tb II, 1153).

Musil stellt an Dichtung einen „erkenntnistheoretischen, experimentellen Anspruch“ (Kulenkampff, 1999, 302). Der Autor geht davon aus, dass die rationale Welt nur ein Teil aller möglichen Welten sei. Dabei bildet der ‚andere Zustand’ nicht nur einen Alternativentwurf zum üblichen Lebensprogramm, sondern müsse als ursprünglichere Existenzebene verstanden werden, deren ‚Totalität’ heutigentags nurmehr ‚bruchstückhaft’ erfahrbar und nahezu unkommunizierbar sei (vgl. Scharold, 2000: 84). Und so lassen sich auch die drei scheinbar konfusen Darstellungen Azweis in der Amsel erklären. Denn

das Absolute – in welcher Ausprägung auch immer – existiert für Musil nicht mehr, und das Bestehende erweist sich als ein Provisorium, als eine mögliche Welt. Folglich muß die wirkliche Welt ‚erfunden’ werden, denn die Menschen leben noch nicht in ihrer Wirklichkeit, sie müssen sie erst erfinden. (Deutsch, 1993, 23)

Die ‚wirkliche Welt’, wie Deutsch sie nennt, muss aber nicht erst erfunden werden, sie ist in ihrer unendlichen Vielzahl von möglichen Welten allgegenwärtig.

Im Weiteren Verlauf dieser Arbeit soll unter Einbeziehen insbesondere der Theorien des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacans eine Interpretation der Zeichen Musils in der Amsel sowie eine Einordnung seiner Protagonisten Aeins und Azwei erfolgen.

3.2 Musils Zeichen als ‚Signale’ des Möglichen

Die Bedeutung und die Funktion der Amsel, die nicht einmal in jeder der drei Episoden als eben dieses Tierbild auftritt (vgl. die zweite Geschichte, in der ein Fliegerpfeil die Rolle der Amsel einnimmt), in der gleichnamigen Novelle Robert Musils ist vielfach diskutiert worden.

In einer der ersten Interpretationen der Amsel bemerkt schon Benno v. Wiese, dass die Amsel, oder respektive der Fliegerpfeil, als ‚Zeichen’ zu verstehen sei, das wiederum aber „nichts für sich allein oder durch sich allein“ (v. Wiese, 1962: 304) bedeute. Es ist also folglich evident, sich einer eingehenderen Untersuchung der Zeichen Musils zu widmen.

Dem Leser der Amsel stellt sich zunächst einmal die Herausforderung, sich über das ihm Vertraute, das Rationale oder in Musils Worten ‚Ratioide’, hinwegzusetzen. Um das Anliegen des Autors erfassen zu können, muss der Leser bereit sein, die für ihn real existierende und greifbar erscheinende Welt in Frage zu stellen und muss für die Vorstellung einer ‚größeren’ Welt, im Sinne einer Welt hinter dem eigentlich Sichtbaren, Fassbaren, Greifbaren, offen sein.

Musil setzt hierzu in seiner Novelle Die Amsel Zeichen ein, die, wie v. Wiese es formuliert, „keinerlei ablösbaren, im dinglich Bildhaften erscheinenden Wert“ (1962: 304) haben. Vielmehr entzögen sie sich der

direkten deutenden Auslegung radikal […], obwohl sie ein frei erlebtes Handeln des Menschen in Bewegung setzen, ohne daß jedoch zwischen dem jeweiligen Zeichen und dem ihm folgenden Tun ein kausaler Bezug (v. Wiese, 1962: 304)

bestünde. Später weist v. Wiese noch einmal darauf hin, dass das ‚Zeichen’ nur darauf aufmerksam mache, „daß durch ein äußeres Ereignis [die Amsel in der ersten und der dritten Geschichte und der Fliegerpfeil in der zweiten] ein analoger innerer Vorgang gleichsam herausgefordert wird.“ (1962: 305). Karthaus sieht hierin seine These bestätigt, dass das Tierbild auf absolute Möglichkeit verweise, die alles enthielte (vgl. 1965: 103). Er nennt die Amsel einen „Zaubervogel“, der „Bote und Zeichen einer anderen Welt“ (1965: 107) sei. Musil will den Leser also auf eine Welt aufmerksam machen, die außerhalb unserer „endgültig fixierte[n] Wirklichkeit“ (v. Wiese, 1962: 305) liegt.

4. Lacans ‚Spiegelstadium’

Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan hat erstmals auf dem ‚14. Internationalen Kongress für Psychoanalyse’ 1936, also in dem Jahr als Die Amsel im Nachlaß zu Lebzeiten erschien, in Marienbad seine zu den einflussreichsten und bekanntesten Theorien zählende Grundidee zur Persönlichkeitsbildung vorgestellt. In seinem allerdings erst 1949 veröffentlichten Aufsatz zum Thema des ‚Spiegelstadiums’ beschreibt Lacan eine psychologische Entwicklungsphase des Kleinkindes um den 6. bis 18. Lebensmonat, in der es sich zum ersten Mal als sich selbst im Spiegel erkennt und somit die Bildung des Ichs und des eigenen Bewusstseins - des Selbstbewusstseins - einhergeht. (Vgl. Widmer, 1990: 29)

4.1 Das Ich-Ideal

Lacans Auffassung nach nimmt das Kleinkind den Anblick des Ichs im Spiegel zunächst als den eines Anderen wahr, das heißt, es ist vielmehr die Sicht auf das eigene Ich aus dem Blickwinkel eines Dritten. Erst im Zuge der „sekundären Identifikation“ (Schriften I, 1949, 64) erkennt sich das Kind in narzisstischer Weise als sein ‚Größen-Selbst’, dem perfekten Abbild seiner Selbst. Diesem Ich-Ideal, dem perfekten Selbstbildnis, strebt es im Laufe seines Lebens stetig entgegen, ohne es jedoch jemals erreichen zu können.

4.2 Ich (je) und Ich (moi)

Da das Kleinkind zunächst nicht ‚sich’ sondern nur sein ideales ‚Bild’ in einem außerhalb seiner selbst situierten Medium - dem Spiegel - sieht, kommt es im Zuge des Spiegelstadiums aber auch zu einer Art Spaltung. Um diese Spaltung zu verdeutlichen, wird im französischen Originaltext des dazu von Lacan verfassten Aufsatzes zwischen Ich (je) und Ich (moi) unterschieden (vgl. Schriften I, 1949, 64), eine sprachliche Unterscheidung, die im Deutschen gar nicht mehr möglich ist. Das Ich (je) übernimmt dabei eine symbolische Funktion. Es kann als das „wahre“ Ich bezeichnet werden, dass keiner getäuschten Wahrnehmung im Spiegel unterliegt, sondern eine Form der Persönlichkeitsperzeption beschreibt, die zeitlich gesehen noch vor der „Identifikation mit dem andern“ (Schriften I, 1949: 64) liegt. Der „Andere“, wie Lacan ihn nennt, ist das Ich (moi). Dieses „imaginäre“ Ich fungiert als idealisiertes Bild, dem sich das Subjekt „asymptotisch“ anzunähern sucht, letztendlich aber nie erreicht wird, da es „auf einer fiktiven Linie situiert“ ist. (Vgl. Schriften I, 1949: 64).

5. Lacans Ideen und Die Amsel – ein Vergleich

Betrachtet man Lacans Theorie genauer so lassen sich tatsächlich Parallelen erkennen zwischen den Beschreibungen Lacans, und seinen Thesen zur Bildung der Ich-Funktion, und dem Verhalten, oder viel eher dem Verhältnis, der Protagonisten in der Amsel, Aeins und Azwei, zueinander.

Der Mensch, der sich seit dem Spiegelstadium als sich selbst identifiziert, beginnt aufgrund dieser ein- oder möglicherweise sogar be schränkenden ‚Identitätsbildung’ seine Fähigkeit zu verlieren das ‚Andere’ wahrzunehmen. Die unendlichen Möglichkeiten des Lebens und der Welt liegen verborgen hinter diesem rationalen Erleben oder, wie in Lacans Spiegelstadium – Theorie, im Spiegel.

[...]

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Robert Musil - Die Amsel
Untertitel
Eine Untersuchung anhand Lacans Spiegelstadium
Hochschule
Universität zu Köln
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
15
Katalognummer
V126092
ISBN (eBook)
9783640314843
ISBN (Buch)
9783640318315
Dateigröße
423 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Robert, Musil, Amsel, Eine, Untersuchung, Lacans, Spiegelstadium
Arbeit zitieren
Dana Knochenwefel (Autor:in), 2008, Robert Musil - Die Amsel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126092

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