Mikrofinanzwesen und Mikroversicherungen

Was können Versicherer von Mikrobanken lernen?


Examination Thesis, 2007

77 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung
1.1 Armutsbekämpfung: Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
1.2 Mikromärkte: Ein Instrument zur nachhaltigen Armutsbekämpfung
1.3 Micro banking: Finanzdienstleistungen für Mittellose
1.4 Problemstellung
1.5 Forschungsstand im Bereich der Mikroversicherungen
1.6 Struktur der Arbeit

2 Begriffsbestimmungen
2.1 Armut und Messindikatoren
2.1.1 Der Ressourcenansatz
2.1.2 Der Lebenslagenansatz
2.1.3 Relative Armut
2.1.4 Armut nach dem Menschenrechtsansatz
2.1.5 Kriterien für eine Zielgruppenbestimmung aus Sicht der Mikroversicherer
2.2 Risikoverletzbarkeit und Risikobewältigungsstrategien Armer
2.2.1 Risiken
2.2.2 Risikoverletzbarkeit: Die Armutsfalle
2.2.3 Strategien des Risikomanagements in armen Haushalten
2.2.4 Versicherbare Risiken
2.3 Versicherungsprodukte am BOP-Markt
2.3.1 Produktlinien
2.3.2 Ausgewählte Problemfelder bei Mikroversicherungen
2.4 Das Interesse der Versicherer am BOP-Markt

3 Der BOP-Markt in Bangladesch
3.1 Armut in Bangladesch
3.2 Klima und Geografie
3.3 Staat und Politik
3.4 Religiöse Besonderheiten
3.4.1 Das Problem der Mitgift
3.4.2 Versicherungen im Islam
3.5 Das Versicherungswesen in Bangladesch

4 Funktionsweise des Mikrokreditsystems am Beispiel der GRAMEEN-BANK in Bangladesch
4.1 Die Entstehungsgeschichte der Bank
4.2 Funktionsweise der Geschäftsidee: „Darlehen ohne Sicherheiten an Mittellose“
4.2.1 Die sechs Leitlinien des GRAMEEN-Kredites
4.3 Unterschiede zu konventionellen Kreditsystemen
4.4 Übertragbarkeit des Systems GRAMEEN

5 Vom Mikrokredit zur Mikroversicherung
5.1 Versicherungsprodukte von Mikrofinanzinstituten
5.1.1 Ausgangslage: Bedarf zur Absicherung eines Mikrokredites
5.1.2 Möglichkeiten zur Absicherung versicherbarer Ausfallrisiken eines Mikrokredites am Beispiel der GRAMEEN-Bank
5.2 Vulnerabilität auf Seiten der Mikrofinanzinstitutionen
5.2.1 Problemfeld: Risikomanagement im operativen Geschäft
5.2.2 Problemfeld: Risikomanagement des Anbieters
5.3 Defizite reiner „credit-linked“ Versicherungen
5.4 Erfahrungen der Delta Life Versicherung

6 Schlussfolgerungen
6.1 Was können Versicherer von Mikrobanken lernen? – 11 ausgewählte Kriterien für Mikroversicherungsprodukte
6.2 Möglichkeiten der Gestaltung von „endowment“-Produkten am Beispiel des Kriteriums der „Strikten Kosteneffizienz“
6.3 Ein Vorschlag für die Organisation eines Vertriebssystems
6.4 Ausblick

7 Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Armut und Arbeit (Quelle: ILO 2006)

Abbildung 2: Human Development Index – HDI (Quelle: UNDP 2006)

Abbildung 3: Human Poverty Index – HPI-1 (Quelle: UNDP 2006)

Abbildung 4: Gini-Index (Quelle: UNDP 2006, S. 335-337)

Abbildung 5: Klassifikation von Armutsniveaus (nach: SEBSTAD/COHEN 2000, S. 5)

Abbildung 6: Wirkung von Schadensereignissen auf das Armutsniveau mit und ohne Versi- cherung (eigene Entw. nach Anreg. SEBSTAD/COHEN in: CHURCHILL 2006, S. 25)

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Millennium Development Goals – MDG

Tabelle 2: Auswirkungen von Schadensereignissen auf arme Haushalte mit und ohne Versicherung

Tabelle 3: Risikobewältigungsstrategien armer Haushalte

Tabelle 4: Signifikante Risiken in Indonesien

Tabelle 5: Formen von Mikroversicherungen im Nicht-Leben-Bereich

Tabelle 6: Bedeutsame Regeln – Islam und Versicherungen

Tabelle 7: Entwicklung der GRAMEEN-BANK

Tabelle 8: Die 16 Regeln der GRAMEEN BANK

1 Einführung

1.1 Armutsbekämpfung: Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

Im September 2000 verabschiedeten Staats- und Regierungschefs von 189 Ländern in einem Gipfeltreffen der Vollversammlung der Vereinten Nationen (United Nations, UN) in New York die sog. Millenniumserklärung. Diese Vereinbarung beschreibt die wesentlichen globa- len Herausforderungen für die internationale Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Erklärung beinhaltet acht Zielsetzungen, deren Verwirklichung bis Ende 2015 erreicht werden soll, die "Millennium Development Goals" (MDGs):

Millenniumserklärung der UN: Acht Entwicklungsziele zur Senkung der Weltarmut bis 2015

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Millennium Development Goals – MDG (Quelle: BMZ 2007a)

Zur Bekämpfung der Armut gibt es verschiedene Ansätze und Projekte. Zu nennen sind hier

u. a. Subventions-, Spenden- oder Regierungsprogramme, Entwicklungshilfe oder die Arbeit von Nicht-Regierungsorganisationen („Non Gouvernement Organizations“ (NGOs)) etc. Die meisten Ansätze zur Lösung von Armutsproblemen sind häufig regional oder lokal begrenzt. Sie helfen und haben teilweise enormen Erfolg, aber es stellt sich die Frage: Was passiert, wenn die Subventions- oder Spendenmittel erschöpft sind, Regierungsprogramme auslaufen oder die NGO das Dorf verlässt?

Spendensysteme reichen zur Verwirklichung der MDGs nicht aus. Sie bewirken sogar teil- weise das Gegenteil und führen zu wirtschaftlichen Verzerrungen oder sind Anlass für politi- sche Korruption. Es bedarf alternativer Lösungen, wenn die Weltarmut halbiert werden soll. Wie aber können arme Menschen nachhaltig aus der Armut ausbrechen und wie können betroffene Menschen, wenn sie auf sich selbst gestellt sind, aus eigener Kraft ein Leben frei von Almosen führen?

1.2 Mikromärkte: Ein Instrument zur nachhaltigen Armutsbekämpfung

C. K. PRAHALAD (2006) publizierte in seinem Buch „The fortune on the bottom of the pyra- mid“ (BOP) einen völlig neuen Denkansatz zur Lösung des Armutsproblems. Es ist ein öko- nomischer Ansatz, der bis Mitte/Ende des 20. Jahrhunderts von Fachkundigen eher gering- wertig geschätzt und wenig beachtet wurde.

PRAHALAD formulierte mit seinem Ansatz eine neue Denkweise entgegen traditioneller An- sichten der Wirtschaftsunternehmen. Er identifizierte am „Fuß der Wohlstandspyramide“ (BOP) eine große Zahl an potenziellen Unternehmern und Konsumenten sowie einen enor- men, nicht genutzten Reichtum. Nach allgemein herrschender Auffassung war der BOP für Unternehmen nicht attraktiv, da die Menschen über ein zu geringes Einkommen verfügen, um sie mit Waren oder Dienstleistungen zu versorgen (vgl. Prahalad 2006, S. 25-28). Das Poten- zial am BOP wurde durchaus anerkannt. Es fehlte an Wegen, dieses zu erschließen.

Sukzessive erkennen und nutzen innovative Unternehmen den BOP zunehmend als Chance.

„Wenn wir aufhören, die Armen als Opfer … zu sehen, und stattdessen erkennen, dass sie flexible und kreative Unternehmer und preisbewusste Konsumenten sind, eröffnet sich plötz- lich eine völlig neue Welt der Möglichkeiten.“ (ebd., S. 17-18).

Hierin liegt der Schlüssel: Unternehmertum auf einer Mikroebene, sog. Sozialunternehmer- tum („social entrepreneurship”). Arme könnten sich aus der Armut befreien, wenn sie selbst und eigenverantwortlich an Wertschöpfungsprozessen beteiligt werden undZugangzu mo- dernen Produkten und Dienstleistungen erhalten. Das Abschöpfen von Mehrwerten (Ausbeu- tung) fördert Armut und Almosen (Spenden) lindern diese lediglich. Das Neue an dieser Denkweise war die Erkenntnis, dass die Menschen, die mit weniger als zwei US$ am Tag auskommen müssen, als Teilnehmer einesMarktes, des sog. BOP-Marktes mit seinen beson- deren Bedingungen, gesehen wurden (vgl. ebd., S. 29-36).

Eine selbstverantwortliche Beteiligung Armer an der Wertschöpfungskette setzt aber voraus, dass sie Möglichkeiten finden müssen, in einkommensproduzierende Projekte zu investieren. Investieren bedeutet wiederum, dass finanzielle Mittel beschafft werden müssen, da die Be- troffenen in der Regel nicht über Reserven verfügen. Armen ist aber der Zugang zu modernen Finanzdienstleistungen i. d .R. nicht möglich. Nach traditioneller Auffassung wären sie zu arm, um einen Kredit zu bekommen und würden auch nicht mit Geld umgehen können.

1.3 Micro banking: Finanzdienstleistungen für Mittellose

Anfangs werden zum Teil verhältnismäßig geringe Summen benötigt, häufig unter 50 US$ (vgl. SPIEGEL, P. 2006, S. 26-27). Nach den Regeln über Kreditvergabeentscheidungen kon- ventioneller Banken ist dieser Bedarf so gering, dass die absoluten Zinseinnahmen kaum die Kosten der Kreditabwicklung decken würden. Im Falle einer Zahlungsunfähigkeit des Schuldners wäre damit zu rechnen, dass die Bank die Forderung gänzlich abschreiben muss, da es an Sicherheiten mangelt. Dies sind ideale Bedingungen für Geldverleiher, die Fremdka- pital zu Wucherzinsen bereit stellen.

Es mag ungewöhnlich anmuten, in der Dritten Welt von Finanzdienstleistungsmärktenzu sprechen. Es gibt auf der einen Seite zwar die Nachfrage nach Fremdkapital, auf der anderen Seite ist es nach traditionellem Verständnis aber scheinbar unmöglich, reguläre Anbieter auf diesem Markt zu finden. An dieser Stelle widerspricht PRAHALAD (2006). Er sagt, dass die Zielgruppe des BOP-Marktes weltweit etwa vier Milliarden Menschen umfasst. Um diese Märkte zu erschließen, müsse man Systeme entwickeln, die die natürlichen Bedingungen und Gegebenheiten dieser Märkte berücksichtigen. Er durchbricht die herrschende Meinung: Es sei z. B. falsch zu sagen, dass man sich am BOP die Produkte der Unternehmen nicht leisten könne, sondern vielmehr seien die Produkte für den Markt ungeeignet. Der Bedarf sei enorm hoch. Aber es sind moderne, innovative Lösungen gefragt, um den Kunden die Produktezugänglichzu machen (ebd., S. 25-28).

Dieser Grundgedanke lässt sich leicht auf Finanzdienstleitungen übertragen. Eine Form der Berücksichtigung der Marktgegebenheiten wäre z. B. die Kostenstruktur eines Produktes zu verändern, damit es für diesen Markt geeignet ist. Das darf aber nicht bedeuten, dass die Qualität des Produktes verringert wird.

Die wohl bekannteste Mikrofinanzinstitution (MFI) ist die von Professor Dr. MUHAMMAD YUNUS gegründete GRAMEEN BANK (GB) [übersetzt: „Dörfliche Bank“] in Bangladesch. Diese Bank arbeitet seit 1995 ohne staatliche Subventionen auf rein kommerzieller Basis und vergibt Kleinstkredite, nicht selten mit einer Höhe von unter 50 bis 100 US$ an Arme. Der Erfolg des Unternehmens war beispielhaft für die Bekämpfung der Armut in Ländern der Dritten Welt. 64 Prozent der GRAMEEN-Kunden haben die Armutsgrenze durchbrochen (YUNUS 2007). Mittlerweile wurden in den letzten zehn Jahren weltweit 223 GRAMEEN- Programme in 58 Entwicklungsländern ins Leben gerufen, die sich an dem System und den Erfahrungen der Bank in Bangladesch orientieren (vgl. GRAMEEN 2007).

1.4 Problemstellung

Nachhaltigkeit bedeutet, dass es gelingen muss, Armen Wege zu öffnen, die einendauerhaf- tenAusstieg aus der Armutssituation und ein Lebenunabhängigvon Spenden und Almosen ermöglichen. Das bedeutet, dass auf der einen Seite dasInvestierenin Produktionsmöglich- keiten, deren Ergebnis eineVerbesserung der EinkommenssituationArmer sein muss, unab- dingbar ist. Auf der anderen Seite ist aber einAbsichernvon erreichten Zuständen und Ver- besserungen notwendig. Dieses betrifft sowohl Sachwerte als auch die Arbeitskraft resp. die Gesundheit der Betroffenen.

Versicherungen sind eine Möglichkeit des Transfers von Risiko an Versicherungsunterneh- men bzw. Versicherer. Sie sind Teil des Risikomanagements allgemein (vgl. u. a. ZWEI- FEL/EISEN 2003, S. 3; FARNY 2000, S. 21).Mikroversicherungen sind Versicherungen, die auf die Bedürfnisse des Risikotransfers armer Menschen, die am BOP leben, zugeschnitten sind. Sie sindeinBeitrag, die Verletzbarkeit armer Haushalte zu senken bzw. erreichte Zustände der Verbesserung von Armutssituationen abzusichern.

Das Konzept der GB ist aus ökonomischer Sicht beispielhaft dafür, dass das Kreditwesen auf dem BOP-Markt offensichtlich funktioniert resp. Marktbedingungen gefunden wurden, die Armen einen Zugang zu Finanzdienstleistungen ermöglichen.1 Die Zunahme der Angebote von Mikrobanken zeigt, dass das Geschäft mit Mikrokrediten weltweit Erfolg hat und das System übertragbar ist. Einerseits wird Armen eine ernst zu nehmende Perspektive zum Aus- stieg aus dem „Kreislauf der Armut“ (vgl. NUSCHELER 2006, S. 194) geboten, andererseits sind Banken in der Lage, subventionsfrei und damit ökonomisch unabhängig zu wirtschaften.

Dies legt die in dieser Arbeit untersuchte Kernfrage nahe, ob sich aus dem System und den Erfahrungen der Mikrobanken möglicherweise wertvolle Erkenntnisse gewinnen und auf die Entwicklung des Mikroversicherungswesens übertragen lassen können.

Das Bankenwesen ist dem Versicherungswesen sehr ähnlich. Das „micro banking“ hat sich im Zeitverlauf etwa ab Mitte der 70er Jahre gegen viele Widerstände zu einem bedeutsamen und mittlerweile auch von NGOs sowie Hilfs- und Spendenorganisationen anerkannten In- strument der wirksamen Armutsbekämpfung entwickelt. Das breitere Interesse an Mikrover- sicherungen dagegen steckt noch in den Kinderschuhen und entwickelt sich seit etwa zehn Jahren stärker.

Es liegt auf der Hand, dass es ein besonderes Problem sein könnte, die Zahlung von Prämien zu organisieren. Am BOP gibt es keine kostenminimierenden Einzugsermächtigungen, weil die Kunden zu Bankensystemen keinen Zugang haben. Die Kunden haben auch kein regel- mäßiges und darüber hinaus nur ein geringes Einkommen. Wie also organisieren MFIs die Rückzahlung von Darlehen? Wie ist das Inkasso von Versicherungsprämien effizient mög- lich? Lassen sich aufgrund der Ähnlichkeit der Geschäftsfelder der Banken und der Versiche- rer Synergien identifizieren?

Die Beantwortung der Frage, was Versicherer von Mikrobanken lernen können, befasst sich damit, marktrelevante Besonderheiten herauszuarbeiten, die für Finanzdienstleistungsunter- nehmen am BOP-Markt aus einer versicherungsspezifischen Perspektive bedeutsam sind. Ableitend aus der Feststellung PRAHALADs, dass die Produkte konventioneller Ökonomien für den BOP-Markt nicht geeignet seien, stellt sich die Frage: Welche Kriterien müssen Versiche- rungsprodukte erfüllen, damit sie für die Kunden aus armen Haushalten geeignet sind? Gibt es Möglichkeiten bzw. Ansätze der Umsetzbarkeit dieser Kriterien, die sich aus den Erfahrungen der Arbeit von Mikrobanken ableiten lassen?

Aufmerksamkeit erregte die Verleihung des Friedensnobelpreises 2006 an MUHAMMAD YUNUS für die Arbeit der GRAMEEN Bank. Die Preisverleihung gab Anlass, sich mit dem System der Bank auseinander zu setzten und mit dem Land Bangladesch zu beschäftigen. Initiiert wurde das Thema der Arbeit aufgrund einer Nachrichtenmeldung. Der deutsche Versicherer ALLIANZ startete im August 2006 in Indonesien ein einjähriges Pilotprojekt einer Mikroversicherung. „Payung Keluarga“ (wörtlich: „Familien-Regenschirm“) heißt das Pro- dukt (vgl. ALLIANZ 2006). Diese Versicherung ist eine Todesfallabsicherung für Nehmer von Mikrokrediten. Mit dem Produkt werden Kredite mit einer Durchschnittshöhe von 2 Mio. Rupien (240 US$) abgesichert. Im Todesfall des Kreditnehmers während der Vertragslaufzeit werden das Darlehen und die ausstehenden Zinsen abgelöst und zusätzlich das Doppelte des ursprünglichen Darlehensbetrages an die Hinterbliebenen ausgezahlt. Die Jahresprämie be- trägt durchschnittlich 20.000 Rupien (2,40 US$). Minimumprämien liegen bei umgerechnet 0,66 US$ pro Jahr (ebd.).

1.5 Forschungsstand im Bereich der Mikroversicherungen

Etwa seit der Erklärung der MDGs im Jahre 2000 wird die Diskussion um die Mikroversiche- rungen intensiviert. Experten aus verschiedenen Bereichen tauschen Erfahrungen und Er- kenntnisse aus. Die Diskussionen werden nicht nur von Fachleuten aus dem Versicherungs- wesen und der Wissenschaft geführt. Es werden auch Erkenntnisse von NGOs und Hilfsorga- nisationen in den Entwicklungsprozess einbezogen. Die Literaturlage spiegelt den jungen Entwicklungsstand der Forschung wider. Im englischsprachigen Raum gibt es erste wenige Printpublikationen. Es werden zahlreiche Aufsätze zur Verfügung gestellt, wobei die meisten Informationen über das Internet zugänglich sind.

Hervorzuheben sind hierbei aus meiner Sicht die Arbeit des Micro Insurance Centers (MIC) und die des Micro Finance Gateway (MFG) mit einer speziellen Plattform zum Thema Mik- roversicherungen. Beide Organisationen sind etwa seit dem Jahr 2000 aktiv. Die Consultative Group to Assist the Poor (GCAP) ist 1995 aus einer Initiative der Weltbank entstanden, arbei- tet unabhängig und wurde ursprünglich gegründet, um das „micro-banking“ zu fördern. In Deutschland sind die MUNICRE Foundation, die ALLIANZ Versicherung und die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) im Bereich der Mikroversicherungen stark engagiert.

Das Interesse an der Thematik wächst sehr stark. Mittlerweile erscheinen nahezu monatlich neue Publikationen. Vieles sind Fallstudien und Erfahrungsberichte. Vor allem sind die teil- nehmenden Institutionen daran interessiert, aus Fehlern zu lernen. Diese Veröffentlichungen sind eine wesentliche Basis der hier vorliegenden Arbeit.

1.6 Struktur der Arbeit

Zunächst werden im 2. Kapitel Begriffsbestimmungen vorgenommen. Der sozial- und poli- tikwissenschaftlich geprägte Begriff Armut wird aus Sicht des Mikroversicherungswesens operationalisiert. Die spezifische Risikosituation der Armen wird am Anschluss untersucht. Es werden Möglichkeiten der Versicherbarkeit Armer analysiert und aktuelle Produktentwicklungen vorgestellt.

Im 3. Kapitel wird das Land Bangladesch hinsichtlich seiner Marktbedingungen für Mikro- versicherungsprodukte analysiert. Hierzu werden Rahmeninformationen zusammen getragen und landesspezifische Besonderheiten untersucht. Im Anschluss wird im 4. Kapitel das Sys- tem der GRAMEEN BANK vorgestellt. Im Focus stehen dabei Informationen, die für Versiche- rer bedeutsam sein können.

Im 5. Kapitel werden Schnittstellen von Mikrobank- und Mikroversichereraktivitäten analy- siert. Es wird untersucht, welche Versicherungsprodukte in Mikrokrediten enthalten sind und welche Grenzen das Versicherungsangebot der GRAMEEN BANK hat. Es werden Nachteile von kreditgebundenen Versicherungen erarbeitet. Sodann wird ein Lebensversicherungsprodukt eines Versicherers aus Bangladesch diskutiert und dessen Erfahrungen aus der erfolgreichen Abwehr des Scheiterns eines Mikroversicherungsproduktes ausgewertet.

Im Schlusskapitel 6 werden ausgewählte wesentliche Kriterien für Mikroversicherungspro- dukte aus dem Studium des Systems der GRAMEEN BANK abgeleitet. Anhand eines der entwi- ckelten Kriterien wird dessen BOP-Marktrelevanz am Beispiel von Abschlussprovisionen getestet und ein Vorschlag für die Organisation eines Vertriebssystems unterbreitet.

2 Begriffsbestimmungen

2.1 Armut und Messindikatoren

2.1.1 Der Ressourcenansatz

Weltweit leben mehr als eine Milliarde Menschen unter extremsten Armutsbedingungen. Armut selbst ist jedoch nur schwer quantifizierbar. Hunger, Leid, Krankheit, Angst etc. sind typische Ausprägungen von Armut, lassen sich aber nur bedingt monetär bewerten. Eine Möglichkeit Armut zu beziffern ist der Vergleich des Einkommens im Weltmaßstab, über welches arme Haushalte verfügen. Dieser „Ressourcenansatz“ geht auf Überlegungen der Weltbank zurück. Hiernach gilt als „absolut“ bzw. „extrem“ arm, wer weniger als einen US$ Einkommen2 am Tag zur Verfügung hat (BMZ 2007).

Das International Labour Office (ILO) veröffentlicht hierzu regelmäßig Zahlen. Zum Ver- gleich werden auch Daten mit einer zwei-US$-Grenze bereitgestellt. Im Jahr 2005 verfügten weltweit etwa 520 Mio. Menschen über weniger als einen US$ bzw. 1,4 Mrd. über weniger als zwei US$ Tageseinkommen (ILO 2006).3

Auffällig ist, dass der Anteil der Menschen, die mit weniger als einem US$ täglich leben müssen, im subsaharischen Afrika (56,3 Prozent) und in Süd-Asien (35,8 Prozent) besonders hoch ist. Der Anteil derer, die mit weniger als zwei US$ am Tag auskommen müssen, liegt weltweit bei knapp 50 Prozent, wobei auch hier Länder in Afrika und Asien besonders betrof- fen sind. In Südasien liegt der Anteil bei 87,3 und im subsaharischen Afrika bei 87,0 Prozent (ebd.).

Die nachfolgende Abbildung 1 fasst den Umfang der Armut (Zahl der Menschen je Region unterhalb der Ein- bzw. Zwei-US$-Grenze) sowie deren Anteil an der Bevölkerung je Region (prozentuale Angaben) in Entwicklungsregionen zusammen. Erkennbar ist ein leichter Ab- wärtstrend der von Armut betroffenen Bevölkerungsanteile.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Armut und Arbeit (Quelle: ILO 2006)

2.1.2 Der Lebenslagenansatz

Weiter gefasst werden kann der Begriff Armut nach dem „Lebenslagenansatz“. Nach diesem werden umfassendere Kriterien berücksichtigt, wie etwa „... Bildungschancen, Lebensstan- dard, Selbstbestimmung, Rechtssicherheit, Einfluss auf politische Entscheidungen und vieles mehr.“ (BMZ 2007)

Die Weltbank informiert jährlich im Weltentwicklungsbericht (Human Development Report (HDR)) über den Stand des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme (UNDP)). In diesen Berichten werden umfangreiche Daten und Berichte zum weltweiten Stand der Armut zur Verfügung gestellt.

Eine Maßzahl zur Beurteilung der Lebenslage in der Welt ist der Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index (HDI)). Dieser wird auf einer Skala von

{0 ≤ HDI ≤ 1} abgebildet. Der Index berücksichtigt neben dem jährlichen Pro-Kopf- Einkommen in US$ (KKP) auch die Lebenserwartung und den Bildungsstand der Gesell- schaft.

Im Jahr 2004 wurde für 177 Länder ein HDI ermittelt. Bei einem HDI ³ 0,800 liegt ein hohes Entwicklungsniveau vor. Im Intervall {0,800 > HDI ³ 0,500} wird von einem mittleren „hu- man development“ einer Gesellschaft und bei einem HDI < 0,500 von einem geringen Ent- wicklungsstand gesprochen. Deutschland erreichte einen Wert von HDI = 0,932 (Platz 21) und bspw. die USA einen Wert von HDI = 0,948 (Platz 8). Auffällig ist, dass die Länder des subsaharischen Afrika im Mittel einen Wert von nur HDI = 0,472 und die am wenigsten entwickelten Länder einen HDI = 0,464 erreichen. Das Schlusslicht Niger (Platz 177) erreicht einen Wert von nur noch HDI = 0,311 (UNDP 2006, S. 283-284).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Human Development Index – HDI (Quelle: UNDP 2006)

Die Abbildung 2 zeigt die 25 Länder mit dem höchsten HDI (linke Seite). Im Vergleich dazu (rechte Seite) sind Mittelwerte verschiedener Regionen (Entwicklungsländer, Mittel- und Osteuropa einschl. CIS-Länder [Ukraine, Weißrussland]) und des OECD-Raumes abgebildet.

Zusätzlich sind Mittelwerte innerhalb der Niveaus („levels“) des Entwicklungsstandes („high, medium, low human development“) bzw. innerhalb verschiedener Einkommensniveaus ange- geben.

Nachteilig an diesem Index ist, dass hier Durchschnittswerte innerhalb einer Region abgebil- det werden. Der Index ist stark abhängig von den aus den UN-Ländern zur Verfügung gestell- ten Daten. In Entwicklungsländern werden Erhebungen nicht regelmäßig vorgenommen und teilweise geschätzt. Daher werden für die Veröffentlichung der Indizes die jeweils zuletzt bekannten Daten verwendet. Zudem sind Daten dieser Länder aufgrund praktischer Probleme während der Datenerhebungen (Zuverlässigkeit, Erhebungsmethoden) vorsichtig zu interpre- tieren. Die HDI-Variable „Einkommen“ ist nicht für alle Länder tatsächlich das Einkommen. Teilweise wird sie aus Gründen des zur Verfügung stehenden Datenmaterials mit Daten zum Verbrauch der Haushalte gleich gesetzt (Weltbank 2001, S. 373).

Ein weiterer Index zur Beurteilung der Lebenslage in armen Ländern ist der „Human Poverty Index“ (HPI-1). Dieser berücksichtigt Daten, wie die Wahrscheinlichkeit, nicht älter als 40 Lebensjahre zu werden, die Analphabetenrate, die Trinkwasserverfügbarkeit oder die Unterernährung von Kindern (UNDP 2006, S. 292). Die Abbildung 3 zeigt einen Ausschnitt dieser Datentabelle für die Beispielländer Indonesien, Bangladesch und Indien.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Human Poverty Index – HPI-1 (Quelle: UNDP 2006)

Zum Vergleich sind in den rechten Spalten die ein- und zwei-US$-Grenzen sowie die nationa- len Armutsgrenzen abgebildet. Die „national poverty line“ (NPL) gibt den prozentualen An- teil der Bevölkerung an, die unterhalb einer – durch den betreffenden Staat festgelegten – Armutsgrenze lebt. Sie soll landesspezifische Besonderheiten berücksichtigen, ist jedoch eine subjektive Grenze (UNDP 2006, S. 407). Bemerkenswert ist, dass die NPL in Indonesien und Bangladesch zwischen der Ein- und Zwei-US$-Grenze, in Indien sogar unterhalb beider Grenzen liegt. Individuen, die also aus Sicht der Weltbank als extrem arm gelten, sind dies nach nationalen Auffassungen nicht.

2.1.3 Relative Armut

Es ist jedoch nicht sinnvoll, Armut anhand einer strikten Grenze von z. B. ein oder zwei US$ Tagesbudget festzuschreiben. Dass Menschen, die mit einem solch geringen Einkommen leben, zu den Ärmsten der Armen gehören, erschließt sich intuitiv. Denkbar wäre aber auch eine vier-US$-Grenze.

Aus diesen Gründen ist ein Armutsbegriff zu diskutieren, der Armut relativ am Durch- schnittseinkommen innerhalb einer Region misst. Für einen Ländervergleich ist es ratsam, Einkommen auf Basis von KKP zu betrachten. Die „relative Armut“ bezieht sich auf die Verteilung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens innerhalb einer Volkswirtschaft. Arm sind hiernach diejenigen, denen weniger als 10 oder 20 bis hin zu 50 Prozent des durch- schnittlichen Pro-Kopf-Einkommens innerhalb eines Landes zur Verfügung stehen. Diese Grenzen sind wiederum willkürlich gesetzt, da sie von der Struktur der Verteilung des Pro- Kopf-Einkommens innerhalb eines Landes abhängen. Ein Maß für die relative Armut ist bspw. die landesspezifische NPL.

Ein Index zur Beurteilung von relativer Armut ist der Gini-Index. Dieser gibt Aufschluss über die Konzentration bzw. die Verteilung des Pro-Kopf-Einkommens (oder in Ermangelung der Daten des Pro-Kopf-Verbrauchs) auf die reichsten bzw. ärmsten Bevölkerungsteile. Er gibt an, wie stark die Einkommensverteilung von einer statistisch perfekten (also gleichmäßigen) Verteilung (bei einem Gini-Indexmin = 0) abweicht. Bei einem Wert von Gini-Indexmax = 100 ist die Einkommensungleichverteilung am extremsten (vgl. UNDP 2006, S. 406). Die nach- folgende Abbildung veranschaulicht die Ergebnisse für die Beispielländer Indonesien, Bang- ladesch und Indien sowie zum Vergleich für Deutschland und die USA.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Gini-Index (Quelle: UNDP 2006, S. 335-337)

Die Einkommensverteilungen in den äußeren Dezilen der Beispielländer zeigen einen etwa ähnlichen Verlauf. In den USA, dem Land mit dem höchsten kaufkraftparitätischen Bruttona- tionaleinkommen (BNE bei KKP), ist die Einkommensschere am größten. Die der Bundesre- publik erreicht einen Gini-Index noch unterhalb der drei Entwicklungsländer, erzielt aber nach den USA, China, Japan und Indien das fünfthöchste BNE bei KKP. Relativ nach dem Kriterium der Armut nach BNE bei KKP gesehen, wäre z. B. Indien reicher als die Bundesre- publik. Das Entwicklungsland Indien erwirtschaftet ein höheres BNE bei KKP.4

Relativ nach dem Kriterium BNE bei KKP pro Kopf5, erzielt Deutschland mit 29.210 Mrd. US$ gegenüber Indien mit 3.460 US$ einen 8,4-fachen Wert (Indonesien: 7,8-fach; Bangla- desch: 14-fach). Aus dieser Sicht sind die Entwicklungsländer tatsächlich ärmer, weil pro Kopf weniger Einkommen zur Verfügung steht.

2.1.4 Armut nach dem Menschenrechtsansatz

Es gibt neben den beschriebenen Möglichkeiten, Armut zu definieren auch Ansätze, die auf die UN-Menschenrechtscharta zurückzuführen sind. Nach Auffassung des Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights in Genf kann Armut definiert werden als: "...a human condition characterized by sustained or chronic deprivation of the resources, capabilities, choices, security and power necessary for the enjoyment of an adequate standard of livingandother civil, cultural, economic, political and social rights." (OHCHR 2007).

Nach diesem Ansatz wird Armut sehr viel politischer und über ökonomische Aspekte hinaus definiert und somit darin gesehen, dass die Verletzung von Menschenrechten ebenfalls Armut bedeutet. Hiernach können jedoch bspw. einkommensstarke oder vermögende Menschen, die in Ländern mit nicht verwirklichten Menschenrechten leben, ebenfalls unter dem Begriff subsumiert werden.

Es ist zwar festzuhalten, dass Armut über eine einkommensabhängige Definition hinaus geht, aber die Einkommenssituation eines Haushaltes ist (wie im späteren Verlauf noch gezeigt wird) die stärkste Determinante. Eine Familie, die gezwungen ist, Einkommen durch Arbeit ihrer Kinder zu generieren, um zu überleben, verwehrt den Kindern das Recht auf Bildung. Analphabetismus ist eine Variable des HDI und des HPI-1. Bei genauerer Betrachtung ist erkennbar, dass der Mangel an Bildungspartizipation durch Einkommensarmut erzeugt bzw. begünstigt wird. Für die politische Zielsetzung der Bekämpfung der Weltarmut und für die Entwicklung von Handlungsprogrammen ist diese Definition sicher geeignet. Der Begriff ist jedoch wenig operationalisierbar. Aus Sicht der Mikrofinanz- bzw. Mikroversicherungsmärk- te ist es sinnvoll Armut am Einkommenskriterium zu identifizieren.

2.1.5 Kriterien für eine Zielgruppenbestimmung aus Sicht der Mikroversicherer

Grundsätzlich sind Mikroversicherungen für Menschen bestimmt, die von kommerziellen und sozialen (Ver-)Sicherungssystemen nicht erfasst werden bzw. die keinen Zugang zu geeigne- ten Produkten erhalten. Im Allgemeinen erfüllt die Zielgruppe folgende Kriterien (nach: CHURCHILL 2006, S. 13). Es sind Menschen, die

- zumeist in der informellen Ökonomie arbeiten,
- i. d. R. von staatlichen Sicherungssystemen nicht erfasst werden bzw.
- weniger als einen oder zwei US$ Einkommen am Tag zur Verfügung haben.

Für ein mögliches Versicherungsprodukt, das in einem bestimmten Land installiert werden soll, muss man landesspezifische Gegebenheiten erforschen. Allgemein muss eine Grenze zwischen Armen und Nicht-Armen identifiziert werden. SEBSTAD und COHEN (2000) identifi- zieren fünf Gruppen und setzen eine Armutsgrenze.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Klassifikation von Armutsniveaus (nach: SEBSTAD/COHEN 2000, S. 5)

Die „Nicht-Armen“ (other non-poor) sind für Mikroversicherungsprodukte nicht relevant. Die

„verletzbar Nicht-Armen“ (vulnerable non-poor) leben auf einem Niveau knapp oberhalb der Armutsgrenze. Sie sind stark gefährdet, unter die Grenze zu fallen. Sie wären potenziell inte- ressant für Mikroprodukte, jedoch ist davon auszugehen, dass sich diese zusammen mit den other non-poor auf regulären Märkten eindecken können.

Die „mäßig Armen“ (moderate poor) befinden sich im Intervall unterhalb der poverty line bis oberhalb des 0,5-Perzentiles der Armen. Die „extrem Armen“ (extreme poor) befinden sich

innerhalb des 0,1- bis 0,5-Perzentiles unterhalb der Armutsgrenze und die „Mittellosen“ (destitute) unterhalb des 0,1-Perzentiles. Die größte Zahl der Armen lebt auf dem Niveau

„moderate poor“ und ist damit die Hauptzielgruppe für Mikroversicherungen (SEBSTAD/COHEN 2000, S. 4).

Allerdings muss auch hier angemerkt werden, dass in der Literatur verschiedene poverty lines angenommen werden und der Anteil der „moderate poor“ unterschiedlich ausgewiesen wird. Teilweise wird die international allgemein anerkannte Ein-US$-Grenze angenommen (z. B. in Indien) oder eine NPL (z. B. in Indonesien mit NPL = 39 US$) (vgl. SEBSTAD/COHEN 2000, Anh. A). In Bangladesch bspw. wird darauf hingewiesen, dass über 80 Prozent der Bevölke- rung unterhalb der zwei-US$-Grenze lebt (vgl. Abb. 3). Je nachdem welche Institution Daten veröffentlicht, werden unterschiedliche Grenzen festgelegt.

Für den Mikroversicherer ist das Armutsniveau eine bedeutsame Information, um das Preisni- veau auf dem Markt einschätzen zu können. Er muss Prämien unter der Bedingung der Be- zahlbarkeit anbieten. Zudem werden Versicherungen zumeist regional begrenzt bzw. inner- halb eines Landes angeboten. Daher ist eine relative Armutsgrenze innerhalb eines Landes ein geeignetes Maß.

Für eine Zielgruppenbestimmung sind daher m. E. zwei Armutsgrenzen zu präferieren: Die absolute Zwei-US$-Armutsgrenze sowie die NPL. Mindestens eine der Grenzen sollte für Personen der Zielgruppe zutreffen.

2.2 Risikoverletzbarkeit und Risikobewältigungsstrategien Armer

2.2.1 Risiken

Ökonomisch kann der BegriffRisikoals die „Wahrscheinlichkeitsverteilung der möglichen Konsequenzen [einer Handlung]“ (ZWEIFEL/EISEN 2003, S. 34) bezeichnet werden. Die Ver- sicherungswissenschaft befasst sich primär mit den Eintrittwahrscheinlichkeiten und HöhennegativerKonsequenzen von zufälligen Ereignissen oder Handlungen (vgl. ebd.), sog. Scha- densereignissen. Somit ist der Risikobegriff im Bereich der Versicherungswissenschaft enger gefasst. Risiko kann hier als „Wahrscheinlichkeitsverteilung von Schäden, kurz als Schaden- verteilung bezeichnet“ (Farny 2000, S. 30) werden. Im Bereich der Armutsforschung wird Risiko auch definiert als „a chance of a lossora loss itself“ (SEBSTAD/COHEN 2000, S. 33; CHURCHILL 2006, S. 26; DUNN/KALAITZANDONAKES/VALDIVIA 1996).

Jedes Individuum besitzt drei Aktiva (assets): das Gesundheits-, das Fähigkeits- und das Finanzkapital (FARNY 2000, S. 33). Es gibt andere Ausdifferenzierungen. Nach diesen werden neben den (i) finanziellen auch (ii) physische (Wohnstätte, Land, liquidierbarer Besitz etc.),

(iii) menschliche (Fertigkeiten, Wissen, Arbeitsfähigkeit, Gesundheit etc.) und (iv) soziale Aktiva (Netzwerke, Gruppenzughörigkeit etc.) unterschieden (SEBSTAD/COHEN 2000, S. 12, WELTBANK 2001, S. 34). Aktiva sind bestimmten Risiken ausgesetzt. Schadensereignisse bewirken – im Falle nicht vorhandener alternativer Ausgleichsmöglichkeiten – den Verlust oder die Verringerung eines oder mehrerer Aktiva.

Die Armen tragen ein besonders hohes Risiko bei Verlusten. Sie haben nur geringe Möglich- keiten Schäden durch einen Tausch von Aktiva auszugleichen, weil Kapitalressourcen in geringem Umfang vorhanden sind. Einen Einkommensverlust (durch Arbeitsunfähigkeit) und Vermögensverlust (durch Medizinkauf oder Bezahlung einer ärztlichen Leistung) als Folge einer Krankheit durch den Verbrauch von Barreserven oder den Verkauf von Sachgütern auszugleichen, ist eine häufige und teils die einzig mögliche Strategie einen Schaden zu be- wältigen. Im Falle nicht vorhandener Reserven bleibt oft nur noch die Möglichkeit der Ver- schuldung. Im günstigsten Fall besteht die Möglichkeit der kurzfristigen Geldleihe im Famili- en- oder Bekanntenkreis, im ungünstigsten Fall müssen finanzielle Mittel bei einem Geldver- leiher („moneylender“) zu extrem hohen Zinsen beschafft werden.6

2.2.2 Risikoverletzbarkeit: Die Armutsfalle

Im Zeitverlauf kann sich die Lebenssituation für einen armen Haushalt dramatisch entwi- ckeln. Er verfügt nach Eintritt eines Schadens über ein geringeres Vermögen. Ein zweites Schadensereignis ist nun möglicherweise nicht mehr oder schwerer zu bewältigen, weil weni- ger Reserven zum Ausgleich vorhanden sind oder der Haushalt bereits verschuldet ist. Das bedeutet, der geschädigte Haushalt gerät unter Umständen in eine lebensbedrohliche Situati- on. Somit birgt der erste eingetretene primäre Schaden ein zusätzliches, sekundäres bzw. Folgerisiko. Der Haushalt ist noch verletzbarer als er es vor dem ersten Schaden bereits war.

Vermögende bzw. einkommensstärkere Haushalte haben die Möglichkeit, sich gegen Risiken abzusichern. Sie können dabei verschiedene Strategien des Risikomanagements verfolgen, z. B. Bildung von Rücklagen, Bau von erdbebensicheren Wohnstätten, Gewährleistung der Trinkwasserversorgung, Erwerb von Versicherungsschutz etc. Arme partizipieren an solchen Sicherungssystemen nur teilweise bis gar nicht. Bei ihnen bedeuten Schadensereignisse i. d. R. eine Einschränkung von Konsum. Sie leben in einem ausweglosen Dilemma, weil sie alle Anstrengungen zur Lebenserhaltung einsetzen müssen und Einkommen nicht akkumuliert werden kann, sondern zum Zwecke der Überlebenssicherung verbraucht wird.

Sinkt nach einem Schadensereignis das Konsumniveau ab, geht dies meist zu Lasten des Humankapitals. Durch Ernährungsmangel wird die Gesundheit resp. die Arbeitskraft gefähr- det. Werden Kinder zum Arbeiten aus der Schule genommen, wird auf Bildung verzichtet. Die oft einzige Perspektive für diese Menschen ist extreme Armut oder völlige Mittellosig- keit. Dieses Phänomen wird teilweise als „Teufelkreislauf der Armut“ oder „Armutsfalle“ bezeichnet (vgl. NUSCHELER 2006, S. 194). Im Bereich von BOP-Märkten wird der Begriff Risikoverletzbarkeit („risk vulnerability“) verwendet (vgl. SEBSTAD/COHEN 2000, S. 21).

Die Abbildung 6 veranschaulicht die Wirkung der Risikoverletzbarkeit im Falle von zwei bzw. drei Schadensereignissen. Die Graphenverläufe deuten das Armutsniveau einer fiktiven Population (Individuum oder Haushalt) im Zeitverlauf an. Das Niveau wird anhand des Indi- kators Einkommen Y dargestellt. Die durchgezogenen (blauen) Linen bilden eine Entwick- lung ohne Versicherung ab, die gestrichelten (schwarzen) eine mögliche Entwicklung mit Versicherung. Das Einkommen Y’ ist das Einkommen mit Versicherung. Bei Zahlung einer Prämie P gilt die Beziehung Y’ = Y - P.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Wirkung von Schadensereignissen auf das Armutsniveau mit und ohne Versicherung (eige- ne Entw. nach Anreg. S EBSTAD /C OHEN in: C HURCHILL 2006, S. 25)

[...]


1 Daneben gibt es aber auch weitere Mikrobanken, z.B. baut die christliche NGO „Opportunity International“ ebenfalls eigenständig seit Anfang der 70er Jahre sog. Trustbanks (Vertrauensbanken) nach dem Prinzip der GB auf (OI 2007). Die GB ist vor allem aus dem Grund als Beispiel gewählt worden, weil diese finanziell unabhän- gig von Spenden arbeitet und klar das Ziel der ökonomischen Unabhängigkeit hat.

2 Die Armutsgrenze ist ein willkürlich gesetzter, aber allgemein anerkannter Konsenswert. Ein US$ wird zu den „... 1985 geltenden internationalen Preisen und der jeweiligen Landeswährung unter Verwendung von Kauf- kraftparitäten (KKP) ..“ (Weltbank 2007, S. 362) angegeben. Seit 1993 werden zur Berechnung des Human Development Index die von der Weltbank ermittelten, am Konsum orientierten KKP-Schätzungen verwendet. Durch den Wechsel (bis dahin wurden die sog. „Penn World Tables“ verwendet) hat ein US$ zu KKP-Preisen von 1985 einen Wert von 1,08 US$ (ebd.).

3 Die Zahlen der ILO weichen deutlich von den Daten PRAHALADs ab. PRAHALAD zieht für seine ökonomische Pyramide jedoch eigene frühere Untersuchungen heran (PRAHALAD 2006, S. 22). Zu vermuten ist, dass er auch Menschen berücksichtigt, die von offiziellen Statistiken nicht erfasst werden.

4 BNE bei KKP im Jahr 2005 in Mrd. US$: USA: 12.438; China: 8.610; Japan: 4.019; Indien: 3.787; Deutsch- land: 2.409; Indonesien: 820; Bangladesch: 296 (Datenquelle: Weltbank 2007, S. 348f)

5 BNE bei KKP pro Kopf in US$: USA: 41.950; Japan: 31.410; Deutschland: 29.210; China: 6.600; Indonesien: 3.720; Indien: 3.460; Bangladesh: 2.090 (ebd.)

6 PRAHALAD (2006, S. 31) identifiziert Zinssätze von 600 bis 1.000 Prozent p.a. Ähnliches zeigt eine Feldstudie aus Indonesien. Geldverleiher verlangen zwischen 15 und 20 Prozent Zins monatlich (ALLIANZ AG, GTZ, UNDP 2006, S. 35).

Excerpt out of 77 pages

Details

Title
Mikrofinanzwesen und Mikroversicherungen
Subtitle
Was können Versicherer von Mikrobanken lernen?
College
Humboldt-University of Berlin  (Versicherungs- und Risikomanagement)
Grade
1,7
Author
Year
2007
Pages
77
Catalog Number
V125765
ISBN (eBook)
9783640311705
ISBN (Book)
9783640310494
File size
1901 KB
Language
German
Keywords
Mikrofinanzwesen, Mikroversicherungen, Mikrobanken, Mikrobanking, Microbanking, Mikroinsurance, Bangladesch, Grameen Bank, Kleinstversicherung, Kleinstkredit, Armutsbekämpfung, Dritte Welt, Entwicklungsländer, islamic banking, islamic insurance, Takaful
Quote paper
Marco Winter (Author), 2007, Mikrofinanzwesen und Mikroversicherungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125765

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Title: Mikrofinanzwesen und Mikroversicherungen



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