Lk 19,11-27: Das Geld wirtschaften lassen oder: Verzicht auf ungerechte Zinsen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

33 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. LK 19,11 — 27 UND MT 2 5, 1 4 — 3 0: EINVERGLEICH

2. LK 19,11 — 27: EIN GLEICHNIS?

3. LK 19,11 — 2: EIN GEGENBILD ZULK 19,1 — 10?
3.1 Die Struktur von Lk 19,11 - 27
3.1.1 Der Schluss des Gleichnisses
3. 2 Dem Habenden wird gegeben werden
3.3 Die Figur des Königs als Kontrast­figur zu Zachäus

4 DIE FIGUR DES „BÖSEN" SKLAVEN
4.1 Die intratextuelle Auslegung der Figur des „bösen" Sklaven
4.2 Die intertextuelle Auslegung der Figur des „bösen" Sklaven

5 RESÜMEE

LITERATURVERZEICHNIS

1. Lk 19,11 — 27 und Mt 25, 14 — 30: ein Vergleich

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Gleichnis von den anvertrauten Geldstücken. Im Neuen Testament ist uns dieses Gleichnis in der matthäischen und der lukanischen Version überliefert. Auf den ersten Blick scheinen sich die beiden Texte sehr zu ähneln. Schnell lassen sich vor allem inhaltliche Parallelen zwischen Mt 25, 14 — 30 und Lk 19,11 — 27 ziehen: Ein Mann geht auf Reisen und vertraut seinen Sklaven Geld an. Nach einiger Zeit kehrt der Mann zurück und verlangt Rechenschaft von seinen Sklaven darüber, was sie mit dem ihnen anvertrauten Geld gemacht haben. Die ersten beiden Sklaven, die der Mann befragt, waren in der Abwesenheit ihres Herrn geschäftstüchtig. Aus dem, was sie von ihrem Herrn erhalten hatten, erwirtschafteten sie ein Vielfaches. Der Herr ist daher sehr zufrieden mit ihnen und belohnt sie dementsprechend. Nun befragt der Mann auch den dritten Sklaven, was er mit dem erhaltenen Geld gemacht habe. Dieser gesteht seinem Herrn, dass er aus Furcht vor ihm mit dem Geld nicht gewirtschaftet habe. Er könne seinem Herrn daher nur das zurückgeben, was er zuvor von ihm bekommen habe. Darüber erzürnt, legt ihm der Herr die „gerechte" Strafe auf.

Diese kurze Inhaltsangabe gibt sowohl die matthäische als auch die lukanische Version wider. Bis auf wenige Einzelheiten sind demnach Matthäus und Lukas in ihrer Wiedergabe des Gleichnisses von den anvertrauten Geldstücken sehr nahe beieinander. Dies mag der Grund dafür sein, dass auch auf interpretatorischer Ebene keine großen Unterschiede zwischen den beiden Texten gemacht werden. Zieht man die einschlägigen Bibelkommentare heran, stellt man schnell fest, dass sie sowohl die Perikope nach Matthäus als auch ihr lukanisches Pendant als Allegorie auf die Parusieverzögerung deuten.

Mag die matthäische Version eine allegorische Interpretation durchaus nahe legen, ergeben sich bei Lukas doch einige Schwierigkeiten mit einer solchen Interpretation des Textes. Während Matthäus das Leserverständnis in eine eindeutige Richtung lenkt, indem der dem Gleichnis den auf Mt 25,1 zurückweisenden Teilsatz „Wie bei einem Mann ist es", nämlich Mt 25,1: „das Himmelreich", voranstellt, machen sich bei Lukas politisierende Einflüsse bemerkbar. Diese Charakteristik des Lukas-Textes kann schon durch eine simple Wortfelduntersuchung verifiziert werden. Trägt man alle Wörter des Textes zusammen, die sich dem Wortfeld „Politik/ Macht" zuordnen lassen, erhält man folgende nach dem Vorkommen der Wörter im Text geordnete Liste: hochgeborener Mensch — Königtum — Gesandtschaft — König — herrschen — Königtum empfangen — Herr — Vollmacht über zehn (bzw. 5) Städte — richten — König — herrschen — abschlachten.

Diese Indizien, die auf eine Politisierung des Gleichnisses hinweisen, lenken den Blick darauf, was den Rezipienten in den 17 Versen erzählt wird. Lukas berichtet von einem hochgeborenen Menschen, der in ein fernes Land zieht, um für sich ein Königtum zu empfangen. Da ihn die Bürger seines Landes hassen, schicken sie eine Gesandtschaft in eben dieses ferne Land, um die Königsherrschaft jenes hochgeborenen Menschen zu verhindern. Dem Anliegen der Gesandtschaft ist aber kein Erfolg beschieden. Der hochgeborene Mensch kehrt als König zurück und lässt all jene vor seinen Augen abschlachten, die sich gegen seine Königsherrschaft ausgesprochen hatten.

Berücksichtigt man nun, was uns der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus über den Herodessohn Archelaus zu berichten weiß, bemerkt man eine strukturelle wie auch inhaltliche Ähnlichkeit, die so augenscheinlich ist, dass man von einer bewussten lukanischen Anspielung auf die Geschehnisse, die sich während der Inthronisation des Archelaus zutrugen, sprechen kann und wohl auch muss. Bei Flavius Josephus kann man folgendes lesen:

Im Jahre 4 v.Chr. stirbt Herodes und verfügt in seinem Testament, welches in Jericho verlesen wird, dass sein Sohn Archelaus sein Nachfolger im Königsamt werden soll. Damit nun dieses Testament rechtsgültig wird, bedarf es der Bestätigung durch Kaiser Augustus. Archelaus begibt sich daraufhin nach Rom, um sich als König bestätigen zu lassen. Da die Juden aber Archelaus als König nicht akzeptieren wollen, schicken sie eine Gesandtschaft von etwa 50 Männern nach Rom mit dem Begehren, frei nach ihren Gesetzen leben zu dürfen und einem römischen Landpfleger unterstellt zu werden. Ihr Anliegen bleibt erfolglos. Herodes' Testament wird dagegen weitgehend akzeptiert. Archelaus wird zwar von Augustus nicht zum König, wohl aber zum Ethnarchen über die Hälfte des Gebietes, welches seinem Vater Herodes unterstellt war, ernannt.[1]

Der Aufweis dieser Parallele, die zwischen dem lukanischen Gleichnis und der Darstellung des Flavius Josephus besteht, ist nicht neu. Sie ist schon vielfach erkannt und beschrieben worden, doch sie spielte für die Interpretation des lukanischen Gleichnisses bisher nie eine entscheidende Rolle. Es stellt sich aber die Frage, mit welchem Recht ihr im Hinblick auf die Interpretation des lukanischen Textes keine Bedeutung beigemessen wurde. Immerhin wird sie doch vom Text so sehr nahegelegt, dass man von einer bewussten Anspielung des lukanischen Textes auf die historischen Ereignisse, die sich während der Inthronisation des Archelaus zutrugen, sprechen muss.

Andererseits aber wird man zugeben müssen, dass die aufgewiesene Parallele in einem tiefgreifenden Widerspruch zu der geläufigen und allgemein anerkannten allegorischen Interpretation des Textes steht. Dieser Widerspruch wird vor allem an der Figur des hochgeborenen Menschen spürbar. Wollte man der vom Text nahegelegten historischen Parallele folgen, dann verweist die Figur des hochgeborenen Menschen eindeutig auf Archelaus. Schenkte man dagegen der allegorischen Interpretation Glauben, dann ist die Figur des hochgeborenen Menschen mit Jesus zu identifizieren. Es stehen sich hier also zwei Auslegungsschemata gegenüber, die nicht miteinander zu vereinbaren sind. Die Verweisstruktur ein und derselben Figur kann nicht derart ambivalent sein, dass sie einerseits auf den Tyrannen Archelaus verweist, andererseits mit dem Sohn des liebenden Gottes in Verbindung gebracht wird.

Mit dem Aufweis der Parallele stellt sich also folgendes Problem: Die Anspielung auf die Ereignisse bei der Inthronisation des Archelaus ist einerseits nicht zu leugnen, da sie vom Text nahegelegt wird, und zwar so nahe, dass man von einer bewussten Anspielung sprechen muss, andererseits kann sie aufgrund der daraus resultierenden Ambivalenz in der Verweisstruktur des hochgeborenen Menschen nicht sinnvoll in die allegorische Interpretation integriert werden. Es wird daher im folgenden interessant sein zu sehen, wie die Exegeten diesen Konflikt auflösen und zu einer eindeutigen allegorischen Interpretation gelangen. Es wird dabei darauf ankommen, Belege am Text aufzuzeigen, die so eindeutig sind, dass sie das zweifelsohne hohe Gewicht der historischen Parallele aufzuwiegen vermögen. Schaut man sich unter dieser Fragestellung einige Bibelkommentare genauer an, dann macht man folgende überraschende Feststellung: Viele Exegeten weisen zwar auf die historische Parallele hin, thematisieren den damit verbundenen

Auslegungskonflikt aber nicht.[2] Damit haftet ihren Interpretationen der Makel der Inkohärenz an. Einer von den wenigen Exegeten, die sich doch bemühen diesen Auslegungskonflikt aufzulösen, ist Theodor Zahn.

Nachdem auch er auf die Parallele zwischen Lukas und Flavius Josephus hingewiesen hat, konstatiert er: „Die bedeutsamsten Einzelheiten der Parabel entsprechen vielmehr so genau den Ereignissen, welche nach dem Tode Herodes des Gr. in Palästina sich zugetragen hatten, dass die bewusste Anlehnung der Parabel an diese unvergessenen Tatsachen der heimischen Geschichte nicht wohl zu bezweifeln ist."[3] In direktem Anschluss an die aufgewiesene Parallele versucht er nun eben diese wie folgt zu entschuldigen: „Durch den Charakter des an Grausamkeit und Gewalttätigkeit nicht hinter seinem Vater zurückstehenden Archelaus ließ Jesus sich ebensowenig hindern, von dessen Handlungen bei seinem Regierungsantritt die Farben zu dem Bilde von der zukünftigen Erscheinung der Gottesherrschaft herzunehmen, wie er sich gescheut hat, das Tun des ungerechten Haushalters seinen Jüngern als Vorbild hinzustellen (16,1 — 9) und mit dem Verhalten des ungerechten Richters die Erhörung der Gebete des Auserwählten seitens Gottes in Vergleich zu stellen (18,1 — 8)."[4] Damit gelingt es Theodor Zahn zwar, den bestehenden Auslegungskonflikt aufzulösen, aber es sind die Argumente zu kritisieren, mit denen er die Irrelevanz der historischen Parallele für die Interpretation des lukanischen Textes plausibel zu machen versucht. Es wurde bereits erwähnt, dass nur Belege aus dem zu interpretierenden Text eine allegorische Interpretation legitimieren können. Theodor Zahn führt hier aber Belege an, die nicht aus Lk 19,11 — 27 hergenommen sind, sondern aus anderen lukanischen Texten stammen. Genau genommen sind dies auch nicht Belege aus den entsprechenden Texten, sondern es sind Belege, die den Interpretationen, die zu diesen Texten verfasst wurden, entnommen sind. Aufgrund dieser in Bezug auf Lk 19,11 — 27 recht textfernen Argumentation, ist Theodor Zahns Versuch, den Auslegungskonflikt aufzulösen, als gescheitert zu bewerten.

Anstatt sich nun anderen Exegeten und ihren Bestrebungen, diesen Konflikt aufzulösen, zuzuwenden, sollte man nun selber den Text daraufhin befragen, inwieweit er eine allegorische Interpretation zulässt.

Es müssten sich doch, gerade weil die allegorische Interpretation die allgemein anerkannte ist, Belege innerhalb des Textes finden lassen, die die Figur des hochgeborenen Menschen in einem guten Licht erscheinen lassen, so dass es für die Rezipienten möglich wird, in der Figur des hochgeborenen Menschen nicht mehr Archelaus, sondern Jesus zu erkennen. Die historische Parallele würde sich dann als lediglich formale Parallele erweisen, nicht aber auch als Parallele auf semantischer Ebene. Das Ergebnis der Suche nach diesen textlichen Belege ist aber ernüchternd. In den 17 Versen des lukanischen Textes findet sich nicht ein einziger Beleg, der auf einen positiven Zug der Figur des hochgeborenen Menschen auch nur hindeuten würde. Ganz im Gegenteil, es finden sich zahlreiche Belege, die ein sehr negatives Bild von der Figur des hochgeborenen Menschen zeichnen und damit die Vermutung nahe legen, dass die aufgewiesene Parallele nicht nur formalen Charakter hat, sondern auch auf semantischer Ebene das Verständnis der Textes, vor allem auch im Bezug auf die Figur des hochgeborenen Menschen, ganz entscheidend prägt. Schaut man sich an, wie die Figur des hochgeborenen Menschen den Rezipienten dargestellt wird, kommt man zu folgendem Ergebnis: der hochgeborene Mensch wird von seinen Bürgern gehasst; der dritte Sklave fürchtet ihn, weil er ein strenger Mann ist; er nimmt, wo er nichts hingelegt hat; er erntet, wo er nicht gesät hat; seine Bürger kritisieren ihn dafür, dass er dem Sklaven, der zehn Mna erwirtschaftet hat, noch das eine Mna zukommen lässt, das er zuvor dem „bösen" Sklaven weggenommen hat. Und zum Schluss der Geschichte auf dem Höhepunkt seiner Gewalt und Strenge, lässt er seine Feinde kaltblütig abschlachten. All dies sind Belege des Textes für die Grausamkeit und Bosheit der Figur des hochgeborenen Menschen. Zwischen der Figur des hochgeborenen Menschen und der historischen Person Archelaus, von der Flavius Josephus ein, was die Grausamkeit und Bosheit betrifft, sehr düsteres Bild zeichnet, besteht demnach eine sehr enge Verbindung. Die allegorische Interpretation wird damit sehr unwahrscheinlich. Auch die folgende Analyse des lukanischen Textes unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten verneint die allegorische Interpretation.

Datiert man die Abfassung des Lukas-Evangeliums in die Zeit um 90 n.Chr.[5], sind diejenigen Rezipienten, für die Lukas schrieb, zeitlich noch nahe genug, um die Anspielung auf den Herodessohn Archelaus ohne weiteres zu erkennen. Der gesunde Menschenverstand hätte den Exegeten nun sagen müssen, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der die Adressaten des Lukas-Evangeliums die Figur des hochgeborenen Menschen trotz der historischen Parallele und der angeführten textlichen Belege nicht mit Archelaus, sondern mit Jesus identifiziert haben, äußerst gering ist. Um es deutlich zu sagen: in diesem Fall ist es nicht mehr nötig, von Wahrscheinlichkeiten zu sprechen. Es ist ganz und gar ausgeschlossen, dass die Rezipienten des Lukasevangeliums in der Figur des hochgeborenen Menschen Jesus erkannt haben.

Als Ergebnis all dieser Beobachtungen ist festzuhalten, dass eine allegorische Interpretation von Lk 19,11 — 27, auch wenn dies bislang immer der Fall war, nicht in Frage kommt.

2. Lk 19,11 - 27: ein Gleichnis?

Nun könnte man einwenden, Lukas gebe ähnlich wie Matthäus einen das Verständnis leitenden Hinweis, wenn er in Lk 19,11 die nachfolgende Perikope als Gleichnis bezeichnet. Es wurde aber in den vorhergehenden Ausführungen festgestellt, dass Lk 19,11 — 27 nicht allegorisch auszulegen ist, es sich also bei der lukanischen Perikope nicht um ein Gleichnis handelt. Warum steht dennoch im Text das Wort „Gleichnis"?

Schirmer löst dieses Problem, indem er die Frage, was denn ein Gleichnis sei, neu beantwortet. Er weist die bisherige Definition des Gleichnisses als eine Parabel, die mit ihrem konkreten Bildteil auf etwas Dahinterliegendes, Transzendentes hinweist, als zu kurzgreifend zurück.[6] Er öffnet den Begriff des Gleichnisses für sehr verschiedene literarische Formen. U.a. könne ein Gleichnis auch jene literarischen Formen umfassen, die auf tatsächliche historische Begebenheiten Bezug nehmen oder auf bekannte Ereignisse verweisen. Lk 19,11 — 27 lege es nahe, dass ein Gleichnis nicht nur ein Erzähltyp mit einer konkreten Bildhälfte und einer Spirituelles meinenden sogenannten Sachhälfte sein könne.[7] Dieser inflationär wirkenden Ausweitung des Gleichnisbegriffes kann vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer Begründung nicht vorbehaltlos zugestimmt werden. Die Motivation, eine Ausweitung des Gleichnisbegriffes vorzunehmen, resultierte einzig und allein aus dem Konflikt, der sich daraus ergab, dass sich die lukanische Perikope, obwohl sie als Gleichnis bezeichnet wird, als solches nicht interpretiert werden kann und darf. Die einfachste und nächstliegende Möglichkeit diesen Konflikt aufzulösen, sah Schirmer darin, den Begriff des Gleichnisses neu zu definieren. Es kann zwar nicht bestritten werden, dass die lukanische Perikope eine Ausweitung des Gleichnisbegriffes nahe legt, aber da Schirmer in seinem Aufsatz keine weiteren Texte, die für eine Neudefinition des Begriffes sprechen könnten, anführt, stellt die Perikope Lk 19,11 — 27 eine zu schmale Basis dar, um von dort aus eine Begriffserweiterung vornehmen zu können.

Einen anderen Ansatz zur Lösung dieses Konfliktes stellen Überlegungen zu Übersetzungsverfahren dar. Denn, wie Gadamer[8] treffend formuliert hat, ist jede Übersetzung schon Auslegung. Davon sind die Bibelübersetzungen nicht auszunehmen. Es ist unbestritten, dass in Lk 19,11 aller deutschen Bibelübersetzungen das nachfolgend Erzählte als Gleichnis qualifiziert wird. Was aber steht im griechischen Text? Könnte es nicht durchaus sein, ja wäre es nicht sogar wahrscheinlich, dass der Begriff „Gleichnis" aufgrund eines falschen Vorverständnisses des griechischen Textes unberechtigten Eingang in die deutschen Übersetzungen gefunden hat? Wie oben ausführlich dargelegt, führte das in der Auseinandersetzung mit Mt 25,14 — 30 entstandene falsche Vorverständnis in der Auslegung von Lk 19,11 — 27 zu falschen Ergebnissen. Warum also sollte dieses falsche Vorverständnis nicht auch in der Übersetzungstätigkeit wirksam gewesen sein? In diesem Zusammenhang ist es also zwingend notwendig, einen Blick in den griechischen Text zu werfen. Als griechisches Äquivalent zum deutschen Begriff „Gleichnis" findet sich dort das Wort „napaßoAn". Ein zu Rate gezogenes griechisch-deutsches Wörterbuch zum Neuen Testament klärt über das Bedeutungsspektrum des Wortes „napaßoAn" auf. „napaßoAn" meint neben Gleichnis und Bildrede auch Gegenbild.[9] Letztere Übersetzungsmöglichkeit scheint im Hinblick auf die Strukturen, die es im folgenden nachzuzeichnen gilt, die geeigneteste zu sein.[10] Wenn für die Übersetzung des griechischen Begriffes „napaßoAn" der deutsche Begriff „Gegenbild" vorgeschlagen wird, dann wird vorausgesetzt, dass es ein entsprechendes Bild gibt, zu dem ein Gegenbild entworfen werden könnte. Es ist zunächst also einmal wichtig, den analytischen Blick, der sich bislang ausschließlich auf Lk 19,11 — 27 richtete, auszuweiten, um diese Perikope im Zusammenhang mit den sie umgebenden Texten zu sehen. Für die Rekonstruktion dieses größeren Textzusammenhanges spielt der die Perikope einleitende Vers Lk 19,11 eine entscheidende Rolle. Er ist die Gelenkstelle zwischen der Erzählung von der Einkehr Jesu bei Zachäus und der sich anschließenden Perikope, die Gegenstand dieser Arbeit ist. Indem dieser Vers auf semantischer Ebene dem Rezipienten den Grund darlegt, warum Jesus seinen Jüngern das Gleichnis erzählt, legt er auf syntaktischer Ebene zugleich die Strukturen fest, die Lk 19,11 — 27 in den Zusammenhang der umgebenden Texte einbettet. Diese Strukturen sind, wie noch zu zeigen sein wird, für das Verständnis des in den Versen 11 — 27 Erzählten sehr bedeutsam. Schirmers These, dass das Verständnis des Textes sich vor allem aus dem Kontext, in den er bei Lukas eingebettet sei, ergebe, wird sich im folgenden als richtig erweisen. Wie sehen nun diese Strukturen aus?

[...]


[1] Clementz, H: Flavius Josephus. Jüdische Altertümer. Wiesbaden 1990, Seite 471 - 496.

[2] Ein sprechendes Beispiel hierfür ist: Ernst, Josef: Das Evangelium nach Lukas. Regensburg 1993, Seite 392. Obwohl Josef Ernst auf die historische Parallele hinweist und konstatieren muss, „dass eine bewusste Anspielung auf die Herodes- bzw. Archelaos-Affäre außer Frage steht", meint er dennoch, dass der „verständige Hörer" hinter der profanen Erzählung die religiöse Belehrung erkennt: „Jesus, als Anwärter auf die Herrschaft muss fortgehen. Das Königtum wird ihm verliehen, er nimmt es also nicht bei seinem Einzug in Jerusalem in Besitz; erst nach der Rückkehr aus dem fernen Land [ . . . ] wird er seine Parusie haben.

[3] Zahn, Th.: Das Evangelium des Lucas. Wuppertal 1988, Seite 624.

[4] Ebd., Seite 624 f.

[5] Schnelle, U.: Einleitung in das Neue Testament. Göttingen 1996, Seite 285.

[6] Schirmer, D.: „Du nimmst, wo du nichts hingelegt hast" (Lk 19,21). Kritik ausbeuterischer Finanzpraxis. In: Füssel, K./ Segbers, F. (Hrsg.): „ . . . so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit". Luzern, Salzburg 1995, Seite 180.

[7] Schirmer, D.: „Du nimmst, wo du nichts hingelegt hast" (Lk 19,21). Kritik ausbeuterischer Finanzpraxis. In: Füssel, K./ Segbers, F. (Hrsg.): „ . . . so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit". Luzern, Salzburg 1995, Seite 181.

[8] Gadamer, H.G.: Wahrheit und Methode. Tübingen 1960, Seite 362.

[9] Preuschen, E.: Griechisch-deutsches Taschenwörterbuch zum Neuen Testament. Berlin, New York 1996, Seite 151.

[10] Eine Untersuchung, die der Frage nachginge, ob es der Stilistik des Lukas entspreche, den griechischen Begriff „napaßo^n" mit dem deutschen Wort „Gegenbild" wiederzugeben, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Darüber hinaus ist sie für den Erkenntnisgewinn, den sie im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit beitragen könnte, entbehrlich. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass aus Gründen der Stilistik eine Übersetzung des griechischen Begriffs „napaßo^n" mit dem deutschen Wort „Gegenbild" nicht möglich sei, können die Strukturen, die im folgenden nachgezeichnet werden sollen, nicht bestritten werden.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Lk 19,11-27: Das Geld wirtschaften lassen oder: Verzicht auf ungerechte Zinsen
Hochschule
Universität Münster
Note
1,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
33
Katalognummer
V125687
ISBN (eBook)
9783640309528
ISBN (Buch)
9783640307432
Dateigröße
674 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geld, Verzicht, Zinsen
Arbeit zitieren
Maik Herting (Autor:in), 2001, Lk 19,11-27: Das Geld wirtschaften lassen oder: Verzicht auf ungerechte Zinsen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125687

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