Erziehung als Bewußtmachungsprozeß - Menschenbild und Volksbildung bei Paulo Freire


Vordiplomarbeit, 1996

40 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Fragestellung und Vorgehensweise

[ SEHEN: ]

3. Analyse der lateinamerikanischen Lebenswirklichkeit: die „Kultur des Schweigens“
3.1. Die Entdeckung der „Kultur des Schweigens“
3.2. Die Rolle der Kolonialsprache und die „kulturelle Invasion“
Exkurs: Die „Zentrum-Peripherie-Theorie“
3.3. „Themen einer Epoche“
3.4. Die psychologischen Grundlagen des Unterdrückungsmechanismus: „Mythen und Manipulation“
3.5. Das koloniale Bildungssystem: depositäre „Bankiers-Erziehung“
3.5.1. Depositäre „Bankiers-Erziehung“
3.5.2. Der Lehrer-Schüler-Widerspruch
[ URTEILEN: ]

4. Das Menschenbild und das Bildungsverständnis von P. Freire
4.1. Der Mensch ist Subjekt
4.1.1. … als Wesen der Grenzüberschreitung
4.1.2. … als kulturelles und geschichtliches Wesen
4.1.3. … als verwandelndes und schöpferisches Wesen
4.1.4. … als Wesen des Dialogs
Exkurs: „Das Wort“
4.1.5. … als Wesen der Praxis
4.2. Die problemformulierende Bildungsmethode
4.2.1. „Enthüllung der Wirklichkeit“
4.2.2. Der „Lehrer-Schüler“ und der „Schüler-Lehrer“ - die Aufhebung des Widerspruchs
[ HANDELN: ]

5. Die Realisierung der „problemformulierenden Bildung“ im Alphabetisierungsprozeß
5.1. Untersuchung des Sprach- und Themenuniversums (generative Wörter / Themen)
5.2. Kodierung
5.3. Dekodierung
5.3.1. Der „Kulturzirkel“
5.3.2. Dekodierung während der Alphabetisierung
5.3.3. Dekodierung in der postalphabethischen Phase
5.4. Wiederkodierung
Exkurs: Das „anthropologische Konzept der Kultur“
[ AUSWERTEN: ]

6. Zur Bedeutung Paulo Freires für die Pädagogik in der ‘Ersten Welt’
Darf die Methode Freires auf die ‘Erste Welt’ (Europa) übertragen werden?
Was können wir methodologisch von Paulo Freire lernen?
Welche gesellschaftsanalytischen Kriterien fordern uns heraus?
Welche Impulse liefert uns seine Anthropologie?
Welche ‘pädagogischen’ Grundhaltungen regen uns an?

7. Schluß

8. Literaturverzeichnis
8.1. Werke von Paulo Freire
8.2. Sekundärliteratur

1. Einleitung

„Erziehung zur Mündigkeit“, „emanzipatorische Erziehung“, „Erziehung zur Selbstbe­stimmung“ - das alles sind Begriffe oder Schlagworte, die in der deutschsprachigen „Kritischen Erziehungswissenschaft“ von zentralem Stellenwert sind. Genauer besehen sind sie, da für die „Kritische Erziehungswissenschaft“ offenbar „eine theoretische Identität im Sinne eines besonderen, in sich konsistenten Begründungsmusters“ nicht herausgearbeitet werden kann[1], die konstitutive Grundlage dieser erziehungswissen­schaftlichen Richtung; „Emanzipation“ ist somit deren „Leitbegriff“[2] oder „leitendes Erkenntnisinteresse“[3].

Neben einer Reihe von deutschsprachigen Vertretern dieses Ansatzes, wie etwa Klaus Mollenhauer, Wolfgang Klafki, Herwig Blankertz u.a., hat sich auch der Brasilianer Paulo Freire diesen Gedankenansatz zu eigen gemacht und auf seine ganz eigene Weise ausgearbei­tet. Zwar ist bei Paulo Freire kaum von „Mündigkeit“ oder „Emanzipation“ die Rede, je­doch will sein Konzept der „educaça problematizadora“ und der „conscientização“ die Unterdrückten durch Bewußtseinsbil­dung zur Befreiung aus ihrer Unterdrückung befähigen. Mündigkeit ist insofern für Paulo Freire ein Zwischenziel, auf dem erst der emanzipatorische Prozeß der Befreiung aufgebaut werden kann.

Beachtenswert ist bei Paulo Freire die Radikalität, mit der er seine Methodologie vertritt und mit der er sich bis ins Detail seiner Überzeugung hingibt. Dies wird besonders an seiner Einstellung zur „Revolution“ sichtbar, deren Notwendigkeit er nicht aus ideolo­gischen Motiven ableitet, sondern allein aus der pädagogischen Praxis, die als „conscientização“ gegenüber den herrschenden Interessen zwangsläufig revolutionär ist.

Dimas Figueroa sieht die Pädagogik Freires „primär auf aufklärerisch ausgerichtete, aber auch auf marxistisch orientierte Theorien“ bezogen[4] und charakterisiert sie insge­samt als „im Kern nichts anderes als die konsequente Anwendung der Gedanken der liberalen Aufklärung“[5]. Daß dem so ist belegt auf eindrückliche Weise ein Zitat von Immanuel Kant, der 1783 - und damit am Ende der Epoche der Aufklärung - eine klassi­sch gewordene Definition liefert:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündig­keit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache der­selben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (…) Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (…) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhi­gen Geschöpfe ja keinen Schritt aus dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften: so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versu­chen, allein zu gehen. (…) Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen, und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. (…) Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur seine Frei­heit läßt, beinahe unausbleiblich.“[6]

Im Grunde kann in diesem Zitat - wie noch zu zeigen sein wird - eine Zusammenfassung weiter Teile der Arbeit von Paulo Freire - besonders seiner Gesellschaftsanalyse - gesehen werden, womit wie­derum auf die oben genannte Charakterisierung von Figueroa zurückgekommen werden kann.

Die theoretische Fundierung des Ansatzes von Paulo Freire läßt sich von einer Vielzahl überwiegend europäischer Denker herleiten (Figueroa zählt in seiner Einleitung allein 22 Namen auf![7] ). Dies angemessen bearbeiten zu wollen würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und soll daher nicht eigens behandelt werden. Trotz der europäischen Grundlagen kann Freires Ansatz wohl dennoch als ein eigenständiger angesehen werden, wenn auch die Systematik seines Beitrags zu wünschen übrig läßt. Letzteres beweist aber im Grunde, was wohl das Grundpostulat der Freireschen Pädagogik ausmacht, nämlich daß seine Erziehungstheorie aus der konkreten Bildungs- und Erziehungsarbeit heraus erwächst und auf diese hin zurückorientiert ist. Wenn dies aber wirklich Freires Maßstab ist, so muß man ihn selbst daran messen und feststellen, daß auch seine Ausführungen zum Teil äußerst langwierig, weit ausholend und kompliziert sind und den Bezug zur konkreten Praxis manchmal über weite Strecken vermissen lassen.[8]

2. Fragestellung und Vorgehensweise

Wenn nun aber die Konzeption der conscientização einerseits stark auf dem europäischen Denken basiert, andererseits die Beziehung zwischen ihr und der europäischen Pädagogik, insbesondere der bereits erwähnten „Kritischen Erziehungswissenschaft“, eher als gering einzustufen sind[9], so ergeben sich daraus m.E. zwei Fragestellungen: erstens warum dies so ist, und zweitens ob dies so sein muß.

Versucht man auf die erste Frage eine kurze Antwort zu geben, so müssen wir feststellen, daß im Laufe von 500 Jahren der Kolonialisierung und Eroberung Lateinamerikas prinzipiell ein einseitiger „Waren“verkehr entstand, bei dem einerseits europäisches Wissen, Know-how (heute heißt das Zauberwort Technologie-Transfer[10] ), Religion und Lebensphilosophien nach Lateinamerika transferiert wurden, andererseits aber lediglich „exotische“ Kolonialwaren (z.B. Kaffee, Kakao…) den umgekehrten Weg von Lateinamerika nach Europa zurückfanden. Dies erklärt letztlich auch das „europäische Fundament“ Freires und seine geringe Rezeption unter den führenden hiesigen Erziehungswissenschaftlern.[11] Entsprechend führt dies zur zweiten Fragestellung, nämlich ob dies so sein muß.

Nachdem heute zunehmend ein Bewußtsein für die weltweite Verstrickung wirtschaftlicher, politischer und ökologischer Vorgänge entsteht, wird deutlich, daß auch die sogenannte „Erste Welt“ nicht ohne die „Dritte“ leben kann. Entsprechend wird auch der Ruf nach einer „nachhaltigen Entwicklung“ hörbar, welche Friedens- und Zukunftssicherung vornehmlich dadurch zu erreichen glaubt, daß sie eine gerechte Resourcenverteilung zwischen Nord und Süd anstrebt, und deren zentrales Kriterium ihre globale Sichtweise darstellt. Wahre Globalität wiederum kann aber nicht weiterhin die oben genannten einseitigen Wirtschafts- und Wissensströme beibehalten, sondern muß letztlich zu einer vollen Gleichberechtigung der Partner kommen. Entsprechend muß die Frage lauten: Was können Nord und Süd, was können Erste und Dritte Welt voneinander lernen? Während die eine Teilfrage davon (was der Süden vom Norden lernen kann) im Laufe der Geschichte und bis heute ausreichend beantwortet zu werden scheint, so ist die zweite Teilfrage „Was können wir im Norden von den Ländern und Kulturen des Südens lernen?“ noch recht neu.

In dieser Hausarbeit möchte ich daher auch speziell die Frage stellen, ob und wie ein solcher authentisch-lateinamerikanischer Denk- und Handlungsansatz wie der des brasilianischen Pädagogen Freire auf den europäischen Kontext übertragen werden kann, sowie unter welchen Voraussetzungen dies zulässig ist.

Dieser Fragestellung muß selbstverständlich vorausgehen, die Kon­zeption Paulo Freires darzustellen sowie sein Menschenbild und seine pädagogischen Grundanliegen herauszuarbeiten. Dabei soll methodologisch dem - besonders in latein­amerikanischen Basisgruppen praktizierten - Dreischritt „Sehen - Urteilen - Handeln“ gefolgt werden. Dies soll nicht nur ein Zugeständnis an den lateinamerikanischen Kon­text der Arbeit Paulo Freires sein, sondern liefert eine hilfreiche Matrix auf der die Konzeption Paulo Freires systematisch entwickelt und dargestellt werden kann. Unter dem Schritt „Sehen“ bearbeite ich insbesondere Paulo Freires Analyse der lateinameri­kanischen Gesellschaft in ihrer Unterdrückungssituation und des damit zusammenhän­genden Bildungssystems. Im Schritt „Urteilen“ entfalte ich die Anthropologie Freires, die als Bestimmung des eigentlichen Wesens des Menschen gleichzeitig die Grundlage für seine Pädagogik abgibt, die im folgenden Schritt „Handeln“ insbe­sondere anhand seines Alphabetisierungskonzeptes exemplarisch dargestellt wird. An die drei Schritte schließe ich einen vierten Schritt „Auswerten“ an, unter dem ich die Frage nach einer Übertragbarkeit auf Europa behandeln werde. Dieser vierte Schritt widerspricht nicht dem eigentlichen Dreier-Schema, da der Schritt “Auswerten“ im Grunde wiederum ein erster Schritt „Sehen“ darstellt, von dem aus erneut geurteilt und erneut gehandelt wer­den müßte!

[ Sehen: ]

3. Analyse der lateinamerikanischen Lebenswirklichkeit: die „Kultur des Schweigens“

3.1. Die Entdeckung der „Kultur des Schweigens“

Im Laufe seiner ersten beruflichen Bildungstätigkeiten beim Servicio Social da Industrial (SESI) wird Paulo Freire erstmals mit dem Auseinanderklaffen von elitär-kolonialistischem Bildungsverständnis und dem Bildungsniveau der Arbeiterschicht konfrontiert. Mit den traditionellen Bildungsmethoden von Rede und Vortragsform in gelehrter Ausdrucksweise, deren er sich wie selbstverständlich bediente, stieß er auf taube Ohren bei den ‘einfachen’ Leuten, die ihm gegenübersaßen. Er entdeckte dabei bald, daß „das Problem (…) nicht darin (liegt), daß der Arbeitervater unfähig gewesen wäre, das zu verstehen (…) . Aber es war unmöglich, daß er diese Probleme so hätte verstehen können wie ein Universitätsstudent mit seinem abstrakten Training abstrakter Sprache (…) .“[12][13] Dies kann quasi als Schlüsselerfahrung Freires angesehen werden, aufgrund derer er seine Arbeit und Aufgabe als Erzieher neu zu verstehen begann. Dies geht einher damit, daß Freire auch den sozial-gesellschaftlichen Kontext des Volkes neu zu sehen beginnt. Er entdeckt, „daß der Analphabet Außenseiter der Gesellschaft ist, weil er des Lesens und Schreibens unkundig ist, aber auch, weil ihn die kulturellen Normen und gesellschaftlichen Bedingungen hindern, Mensch zu sein. (… Sie) können nicht den Zeichencode benutzen, der ihnen den Eintritt in ihre Kulturwelt und Gesellschaft erlaubt, und leben folglich in einer Kultur des Schweigens.“[14]

Um diese Sichtweise zu verstehen, ist es nötig, einen Blick auf die konkreten sozio-strukturellen und politischen Gegebenheiten Brasiliens zu werfen, auf deren Hintergrund diese abstrakt-theoretische Beschreibung Paulo Freires basiert. So hatte Brasilien im Jahr 1960 34,5 Millionen Einwohner, von denen 15,5 Millionen (ca. 45%) Analphabeten waren. Im Nordosten Brasiliens, welcher als die ärmste Region des Landes gilt, betrug der Analphabetenanteil 60%, also 15 Millionen nicht lese- und schreibkundige Menschen bei 25 Millionen Gesamtbevölkerung.[15] Dies auf die restlichen Landesteile umgerechnet bedeutet, daß dort der Anteil der Analphabeten lediglich bei 5% liegt. Dies zeigt einerseits einen deutlichen Gegensatz zwischen arm und reich landesweit, andererseits aber auch ein klares Gefälle zwischen dem armen Nordosten und dem übrigen Brasilien.

Auf politischer Ebene kommt hinzu, daß - und das ist für die These Freires von der „Kultur des Schweigens“ von eminenter Bedeutung - das Wahlrecht und damit die gesamte politische Partizipationsmöglichkeit des Volkes an die Fähigkeit des Lesens und Schreibens gebunden ist. Analphabeten sind also von vornherein von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen. In Zusammenschau mit den o.g. Zahlen wird die Dimension dieser Regelung ersichtlich: landesweit haben 45%, im Nordosten gar 60% des Volkes kein Recht auf politische Partizipation und sind diesbezüglich sozusagen ent„münd“igt.

3.2. Die Rolle der Kolonialsprache und die „kulturelle Invasion“

Mit dem Begriff „Kultur des Schweigens“ kennzeichnet Paulo Freire die kolonialistischen Gesellschaften Lateinamerikas insgesamt: er bezeichnet damit im Grunde das Verhältnis zwischen den sozialen Schichten, welches durch die jahrhundertelange Kolonialisierung und Eroberung Lateinamerikas, vornehmlich durch Spanien und Portugal, davon geprägt ist, daß von vornherein der einheimischen (indianischen) Landbevölkerung die Sprache der Eroberer aufgezwungen wurde. Dies Rolle der „Kolonialsprache“ hat mehrere Dimensionen: Es bedeutet zum einen, die Durchsetzung der europäischen Sprachen in Südamerika; es bedeutet auch, daß die Volkssprache (als Umgangssprache) systematisch abqualifiziert und in Küchen und Kneipen verbannt wird, wodurch auch die Mit sprache des Volkes in gesellschaftlich relevanten Dingen verbannt wird[16] ; und zum dritten meint es im übertragenen Sinn die Sprache des sozialen Umgangs, welche auf Seiten der Eroberer eine erobernde, beherrschende und unterdrückerische ist, eine Sprache der Gewalt Mit den Worten Figueroas kann man also sagen, daß „die Funktionsmechanismen der Kultur des Schweigens (…) das Zustandekommen eines Dialogs zwischen allen sozialen Schichten verhindert, weil in ihr nur die weißen Unterdrücker das Sagen haben.“[17] In der Terminologie Freires gesprochen, kann also auch von „Anti-Dialog“ die Rede sein.

Im Grunde tritt für Paulo Freire dies jedoch nicht nur im Rahmen von Sprache auf. Meines Erachtens spiegelt die Tatsache der Kolonialsprache in komprimierter Form lediglich das wider, was für die ganze soziale und kulturelle Wirklichkeit von kolonialisierten Ländern charakteristisch ist, und das Freire als „kulturelle Invasion“ bezeichnet. Freire definiert dieselbe folgendermaßen: „Bei diesem Phänomen handelt es sich darum, daß die Eindringlinge in den kulturellen Zusammenhang einer anderen Gruppe vordringen, ohne die Möglichkeiten der letzteren zu respektieren.“[18] Die Dimensionen der „kulturellen Invasion“ sind wiederum unterschiedlich: Zunächst ist damit natürlich die Invasion und Eroberung durch europäische Kolonialisten gemeint, wie sie in Amerika ab dessen „Entdeckung“ durch Kolumbus im Jahre 1492 stattgefunden hatte. Kennzeichnend für diese historische Invasion waren gewaltsame Unterwerfungen einheimischer Stammesfürsten und ihrer Bevölkerungen bzw. deren Ermordung, war die Aufoktroyierung einer europäischen Religion, war auch die Einführung afrikanischer „Neger“-Sklaven zu kolonialistischen Zwecken, u.v.m. Entlarvend für die Einstellung der Europäer und zugleich Bestätigung der hier vorgetragenen These ist, daß die Einheimischen als nicht zivilisiert oder gar als ‘unzivilisierte Wilde’ angesehen wurden, woran sich zeigt, daß ihre Kultur gar nicht als Kultur anerkannt wurde. Folge dieser europäischen Eroberungsmechanismen ist eine „Europäisierung der Erde“[19], die bis heute nachwirkt.

Diese historische Dimension stellt Paulo Freire allerdings vollkommen zeitenthoben dar, was zum einen dazu führt, daß unklar bleibt, worauf er seine Ausführungen gründet, zum anderen aber auch deutlich macht, daß sich „kulturelle Invasion“ nicht auf eine Reihe historischer Begebenheit beschränken läßt. Für ihn nämlich „kann (diese) von einer Weltmacht-Gesellschaft gegen eine abhängige Gesellschaft geübt werden, oder sie kann zur Herrschaft einer Klasse über eine andere innerhalb derselben Gesellschaft gehören“.[20] Dabei verdeutlicht ersteres, daß beispielsweise auch heutige weltwirtschaftliche Verflechtungen, in denen die sog. Entwicklungsländer von den Industrieländern abhängig sind und gehalten werden, ebenfalls hier dazugehören. Letzteres dagegen bezeichnet Freire auch als „Assistenzialismus“[21]. Es geht ihm dabei um die Feststellung, daß die einheimische „Elite“ in der kolonialistischen Gesellschaft ebenso als „aufgesetzt“ zu charakterisieren ist, wie die von ihnen aufgesetzten fremden kulturellen Modelle.[22]

Exkurs: Die „Zentrum-Peripherie-Theorie“[23]

Ungenannt liegt hier die sogenannte „Zentrum-Peripherie-Theorie“ zugrunde. Diese analysiert die gängige Vorstellung von der Polarisierung zwischen „reichem Norden“ und „armem Süden“ als falsch, weil dieses Weltbild einerseits die Kluft zwischen arm und reich innerhalb der Entwicklungsländer selbst sowie der Entwicklungsländer untereinander vernachlässigt, als auch andererseits die zunehmende Arm-Reich-Differenzierung innerhalb der Industrieländer unberücksichtigt läßt. Grundaussage dieser Zentrum-Peripherie-Theorie ist folgende: Sowohl in Entwicklungs- als auch in Industrieländern gibt es eine klare soziale und wirtschaftliche Differenzierung zwischen Zentren und Randgebieten (Peripherien). In den Entwicklungsländern sind diese sozialen Unterschiede sehr kraß: eine reiche Minderheit verfügt über den Großteil des Volkseinkommen sowie des Grundbesitzes: So betrug der Anteil der 10% Reichsten am gesamten Volkseinkommen in Brasilien 1980 51%, während der Anteil der 50% Ärmsten lediglich bei 12% lag. Während mit ‘Zentren’ geographisch gesehen die Ballungsgebiete, wirtschaftlich die Industriegebiete und sozial die Oberschichten (sowohl die der Industrie- wie die der Entwicklungsländern) bezeichnet werden, sind mit ‘Peripherie’ die Randgebiete, die Großstadtslums, sowie das meist dünn besiedelte Hinterland gemeint, in den Industriestaaten die vernachlässigte Landwirtschaft, Bergbau etc. Entscheidend ist dabei einerseits, daß die Peripherien jeweils von den Zentren abhängig sind - nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch! - , andererseits die Zentren untereinander (also auch zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern) zunehmend enger verbunden sind, da sie gleiche Interessen haben. Letzteres wird durch die Existenz multinationaler Konzerne besonders gefördert, die eine Art ‘Brückenkopf’ zwischen den Zentren mehrerer Länder bilden.

[...]


[1] W. Keckeisen, Erziehungswissenschaft, Kritische, In: D. Lenzen (Hg.), Pädagogische Grundbegriffe Bd. 1, Reinbek 1989. 482-507. hier: 482

[2] Keckeisen, ebd. 490.

[3] H. Gudjons, Pädagogisches Grundwissen. Überblick-Kompendium-Studienbuch, 4., überarb. u. erw. Aufl., Bad Heilbrunn 1995, 40.

[4] Figueroa, Einführung, 7.

[5] Figueroa, Einführung, 8.

[6] I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Werke VI, 53f.

[7] Figueroa, Einführung, 9f.

[8] Dieses Urteil ist als einer meiner Gesamteindrücke nach der Lektüre mehrerer Werke von Paulo Freire zu verstehen. Persie, 68f, spricht von einer assoziativen Reflexion über die Praxis, die die wissenschaftlich-systematische Herangehenseise an das Werk Freires erschwert.

[9] Es sei angemerkt, daß sich Freire an keiner Stelle auf europäische Erziehungswissenschaftler beruft, sowie daß seine Konzeption im erziehungswissenschaftlichen Studium kaum berücksichtigt wird.

[10] BUND/Misereor (Hg.): Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung, Bonn 1995, Kurzfassung der Studie, S. 26.

[11] Hierzu kann noch angemerkt werden, daß eine Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten (insbesondere Dissertationen) sich mit Freires Konzeption auseinandersetzen. Allerdings stammen die Autoren wiederum zu einem deutlichen Anteil aus Ländern Süd- und Mittelamerikas!

[12] Ich beziehe mich in dieser Arbeit auf diejenigen Werke Freires, die in deutschsprachigen Übersetzungen vorliegen. In der Zitation verwende ich Abkürzungen ohne Nennung des Autors (vgl. Angaben im Literaturverzeichnis). Dies gilt ebenfalls für die übrige häufig zitierte Literatur.

[13] SL 13.

[14] Persie, 67f.

[15] Die Zahlen stammen aus Figueroa, Einführung, 11.

[16] Lange, 12.

[17] Vgl. Figueroa, Einführung, 35.

[18] PdU 129.

[19] Diesen Begriff benutzen H. Kinder/ W. Hilgemann (Hg.), dtv-Atlas zur Weltgeschichte, Bd.1, S. 225, deren Anspruch es ist, „einen möglichst objektiven Überblick zu geben“ (ebd. S. 5).

[20] PdU 130.

[21] EaPF 24f.

[22] EaPF 15.

[23] Vgl. zum ganzen Exkurs: Strahm, Warum sie so arm sind, 24-27,139; sowie Kandil, Art. Entwicklungsländer, In: Schäfers (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, 41995, S. 61-64.

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Erziehung als Bewußtmachungsprozeß - Menschenbild und Volksbildung bei Paulo Freire
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
1996
Seiten
40
Katalognummer
V12566
ISBN (eBook)
9783638184205
ISBN (Buch)
9783638732932
Dateigröße
559 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zusammenfassung der Pädagogik Freires, problemformulierende Methode udn Alphabetisierung, Konsequenzen für Erziehung in Europa
Arbeit zitieren
Markus Raschke (Autor:in), 1996, Erziehung als Bewußtmachungsprozeß - Menschenbild und Volksbildung bei Paulo Freire, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12566

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