Abriss einer Soziologie der Nekrophilie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

13 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


„Was wollen Sie denn, ein jeder hat seine Leidenschaft, die meinige ist die Leiche“ – Ein Nekrophiler im gerichtlichen Verhör (Rauch 1947: 78).

Ausgehend von Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis, finden sich bis heute einige dutzend wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Nekrophilie. Meist liegen diese in Form kurzer Aufsätze oder Artikel vor. Eine einzige knappe quantitative Studie zur Nekrophilie liefern Jonathan Rosman und Peter Resnick (1989). Das vorhandene Material lässt sich grob in drei Typen gliedern: psychoanalytische Fallanalysen, Verhaltensanalysen und medizinische Einordnungsversuche. Eine einheitliche Definition des Phänomens fällt anhand der wenigen und diesbezüglich uneinheitlichen Texte schwer. Ich möchte daher im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine primäre Unterscheidung von latenter und manifester Nekrophilie einführen. Als latent nekrophil sollen erotische Phantasien in Verbindung mit dem Tod oder Leichen, aber auch sexuelle Handlungen, die symbolisch auf den Tod verweisen, bezeichnet werden. Hierzu gehört beispielsweise das lustvolle Totstellen beim Koitus, die Bevorzugung schlafender Sexpartner (sleepy sex), die Erotisierung von Särgen, bleichem Make-up und dergleichen mehr. Tatsächliche sexuelle Handlungen mit und in Gegenwart von Leichen, sei dies in Form von Onanie, Streicheln, Küssen, Koitus, Nekrophagie oder Verstümmelungen sollen jedoch als manifest nekrophil gekennzeichnet werden. Das Gros der verfügbaren Literatur beschäftigt sich fast ausschließlich mit manifest nekrophilen Phänomenen. Dagegen scheinen Beispiele latenter Nekrophilie von höherer soziologischer Relevanz zu sein, da hier soziales Handeln in stärkerem Maße interpretierbar wird. Ziel dieser Arbeit ist die Interpretation nekrophiler Handlungen als soziale Handlungen, wobei eine möglichst hohe Bandbreite an Dimensionen der Nekrophilie, wie sie in der Fachliteratur präsentiert werden, angerissen werden soll.

Nekrophilie stellt im deutschen Rechtssystem keinen gesonderten Straftatbestand dar. Die diesbezüglichen Schwierigkeiten liegen auf der Hand: Wer wäre im Falle manifester Nekrophilie der Geschädigte? Tote Körper sind keine Rechtspersonen, Angehörige der Leiche können sich dagegen sehr wohl geschädigt fühlen, jedoch verfügen auch sie über kein Besitzrecht am Toten. Diese Schwierigkeiten werden jedoch über den Umweg eines Rekurses auf moralische Werte umschifft. Manifeste Nekrophilie ist daher sehr wohl strafbar. Dieser Umweg wird über den §168 StGB geregelt. Darin heißt es:

„(1) Wer unbefugt aus dem Gewahrsam des Berechtigten den Körper oder Teile des Körpers eines verstorbenen Menschen, eine tote Leibesfrucht, Teile einer solchen oder die Asche eines verstorbenen Menschen wegnimmt oder wer daran beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer eine Aufbahrungsstätte, Beisetzungsstätte oder öffentliche Totengedenkstätte zerstört oder beschädigt oder wer dort beschimpfenden Unfug verübt.
(3) Der Versuch ist strafbar.“

Der Gesetzestext belegt ein starkes moralisches Tabu. Hinter der Bezeichnung des „beschimpfenden Unfugs“ steht die Auffassung, dass auch der tote Körper über ein gewisses Maß an Würde verfügt und damit nicht ein bloßes Ding ist. Diese Auffassung lässt sich auf christlich-abendländische Moralvorstellungen zurückführen. Ruhestätten, Orte an denen Leichen aufgebahrt werden und auch die möglichst mit dem Sterbesakrament versehene Leiche gelten dort als geweiht. Die Durchführung sexueller Handlungen mit Bezug auf Leichen gilt in diesem Kontext in zweierlei Hinsicht als moralisch falsch. Erstens ist gemäß der christlichen Tradition das Praktizieren sexueller Handlungen ohne die Intention der Fortpflanzung zumindest problematisch. Symbolisch steht die Sexualisierung des Todes einer reinen, lebenserzeugenden Fortpflanzungssexualität sogar konträr gegenüber. Zweitens ist die Durchführung einer solchen unmoralischen Handlung in Verbindung oder in Gegenwart von Toten eine Entweihung eines gesegneten Körpers oder einer gesegneten Stätte. Auch der Begriff der Totenruhe bezieht sich auf diese den Toten zukommende Weihe, die nicht auf beschimpfende Weise zerstört werden darf. Die Existenz dieses auch rechtlich verankerten Tabus verleiht der Nekrophilie eine soziologische Relevanz. Obgleich die Allgemeinverbindlichkeit christlicher Werte in der Moderne rückläufig ist, bleiben kulturgeschichtlich verankerte Ressentiments gegenüber nekrophilen Akten institutionell verankert.

In Hinblick auf ältere europäische Gesetzbücher, wie dem alten österreichischen Recht, ist interessant, dass an Leichen verübte Handlungen so bestraft werden konnten als seien sie an lebenden Menschen ausgeführt worden. Nekrophilie wird so noch immer kein expliziter Straftatbestand, das Schänden einer Leiche kann rechtlich jedoch beispielsweise als äquivalent zu Vergewaltigung oder Mord gelten (vgl. Rauch 1947: 72), womit ein bloßer Objektstatus von Körpern toter Menschen negiert wird. Jener Umstand kann als Kernaspekt der bis heute andauernden rechtlichen Ächtung manifester Nekrophilie angesehen werden.

Eine solche Ächtung liegt nicht allein im Rechtssystem vor. Die Medizin liefert ein anderes Beispiel einer solchen institutionellen Verankerung von Moralvorstellungen.

Der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld entwickelt um die Jahrhundertwende des 19./20. Jahrhunderts einen eigenen Ansatz zur Erklärung der Nekrophilie. In seinem Aufsatz „Nekrophilie und Vampirimus“ (1938: 511ff) findet sich eine bezeichnende einleitende Bemerkung, in der es heißt, er wolle sich nun „der schrecklichsten Verbindung von Amor und Tod – den Perversionen, die beginnen, wo das Leben aufhört“ (ebenda) zuwenden. Dass Nekrophilie „eine der furchtbarsten sexuellen Anomalien“ (ebenda) sei, steht bereits vor Beginn der Untersuchungen Hirschfelds außer Frage. Der moralische Impetus ist hier a priori festgelegt. Hirschfeld macht anhand des geläufigen Bildes des Todes als dem Bruder des Schlafs deutlich, dass Formen eines Schlaf-Fetischismus durchaus Grundlage nekrophiler Handlungen sein können. Zudem sei Nekrophilie auch von sadistischen Impulsen begleitet, da „Tod und töten unvermeidlich im Geiste des Perversen vorhanden“ (ebenda: 512) seien. Statt einer Differenzierung von latenter und manifester Nekrophilie nimmt Hirschfeld eine Trennung von echter - und einer Nekrophilie der günstigen Gelegenheit vor. Das ausschlaggebende Kriterium zur Ermittlung um welche Form der Nekrophilie es sich in einem jeweiligen Fallbeispiel handelt ist die Frage, ob der Nekrophile die Gelegenheit hatte seine Lust auch anders als in Bezug auf Leichen zu befriedigen, bzw. ob die Nekrophilie lediglich als eine Ersatzhandlung zu verstehen ist. Die Definition wird anhand von Fallbeispielen erläutert. So wird der Fall eines Mannes geschildert, dessen Verlobte vor der Hochzeit verstarb. Er grub ihre Leiche kurz nach der Beisetzung aus, nahm sie mit zu sich nach Hause, „lebte“ fortan mit ihr und überschüttete sie mit Zärtlichkeiten. Da, nach Hirschfeld, der tote Körper in diesem Fall nur eine Ersatzfunktion desselben lebendigen Körpers übernimmt, liegt eine Nekrophilie der günstigen Gelegenheit vor, denn der Mann verkehrt nicht mit der Leiche seiner Verlobten weil sie tot ist, sondern weil es sich um seine Angebetete zu Lebzeiten handelt. Auch die Beispiele von marodierenden Soldaten, die getötete Frauen vergewaltigen, (Lust)mörder, die sich von der Leiche ihrer Opfer plötzlich sexuell angezogen fühlen, wie auch die vielfältig beobachteten Fälle der Nekrophilie aus Aberglauben, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden wird, fallen unter die Rubrik der günstigen Gelegenheit.

Formen einer solchen abergläubischen, d.h. kultisch-magischen oder dem Brauchtum entstammenden Nekrophilie finden sich in verschiedenen kulturgeschichtlichen Traditionen, wobei nähere Untersuchungen oder detailliertere Fallsammlungen bezüglich dieser Phänomene noch ausstehen. So ist es ein bekannter Ritus, dass eine vor der Hochzeit verstorbene Verlobte von ihrem Bräutigam defloriert werden musste, wie es beispielsweise in Altindien der Fall war (vgl. Hoffmann 2003: 337). In abgeschwächter, mehr symbolischer Form gab es bis weit ins 19. Jahrhundert ähnliche Bräuche auch in Teilen Deutschlands, wo der Bräutigam eine Nacht allein mit der Leiche seiner Braut zu verbringen hatte (vgl. Rauch 1947: 86). Hinduistische Strömungen, insbesondere Verehrer Shivas pflegten Nekrophilie als eine Art spiritueller Übung. Eine ähnliche mystische Konnotation wird von Spielarten des Tantra vertreten. In den Keramiken der peruanischen Moche-Kultur findet sich häufig das Motiv von Skeletten, die untereinander oder mit lebenden Menschen sexuelle Handlungen vornehmen. Häufig verfügen solche Motive über einen sexualmagischen Charakter, so wird bei den indonesischen Asmaten noch heute ein Ritual praktiziert, bei dem ein menschlicher Schädel drei Tage lang an die Genitalien gehalten wird, um die sexuelle Energie des Besitzers aufzunehmen. Selbst die abendländische mittelalterliche Magie und Alchimie scheut nicht davor zurück mitunter nekrophile Handlungen zu praktizieren und zu empfehlen. Zur „Heilung“ von Zwittern wird in diesem Kontext geraten, mit einer kürzlich verstorbenen Jungfrau zu schlafen (vgl. Hoffmann 2003: 337f).

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Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Abriss einer Soziologie der Nekrophilie
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Veranstaltung
Soziologie der Sexualität
Note
1,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
13
Katalognummer
V125626
ISBN (eBook)
9783640311392
ISBN (Buch)
9783640310272
Dateigröße
422 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Abriss, Soziologie, Nekrophilie, Soziologie, Sexualität
Arbeit zitieren
Sebastian Theodor Schmitz (Autor:in), 2009, Abriss einer Soziologie der Nekrophilie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125626

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