Aspekte der Gewalt in Ingeborg Bachmanns Roman Malina


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

31 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1.0 EINLEITUNG
1.1 Allgemeines
1.2 Begrenzungen und Thema der Arbeit
1.3 Erläuterung der Begriffe „Gewalt“ und „Aggression“

2.0 HAUPTTEIL
2.1 Struktur des zweiten Kapitels
2.2 Gewaltdarstellungen im zweiten Kapitel
2.2.1 Der Vater als Inbegriff der Zerstörung
2.2.2 „Blutschande“
2.2.3 Faschismus
2.2.3.1 Die Vaterfigur und der Faschismus
2.3 „Diktator“ Malina ?
2.3.1 „Weinen“ – Malina als dominante Figur
2.4 Töte ihn! töte ihn! – Das Ende des Romans
2.4.1 Interpretationen aus der Forschung
2.4.2 Eigene Analyse

3.0 SCHLUS
3.1 Gewalttäter und ihre Formen der Gewalt
3.1.1 Der Vater
3.1.2 Malina
3.2 Schlussbetrachtung

LITERATURVERZEICHNIS

ANHANG

1.0 EINLEITUNG

1.1 Allgemeines

Zusammen mit „Der Fall Franza“ und „Requiem für Fanny Goldmann“ sollte „Malina“ nach dem Willen Ingeborg Bachmanns[i] den Zyklus „Todesarten“ bilden. Im Jahre 1971 wurde der Roman „Malina“ als der einzige vollendete Teil dieses künstlerischen Werkes veröffentlicht. Auch 30 Jahre nach dem Tod der Autorin gibt es unzählige Lesarten und unterschiedlichste Interpretationen, das Buch lässt keine rein eindimensionale Betrachtung zu. Immer wieder stand und steht noch die Frage nach den möglichen biographischen Zusammenhängen im Vordergrund, welche zum einen ganz verworfen und zum anderen als elementar angesehen wird.

Handelt es sich bei „Malina“ um einen Krimi, einen Liebesroman oder vielleicht um ein Drama, da zu Beginn des Textes die Personen aufgelistet und Zeit und Ort genannt werden ? Eine Festlegung auf eine alleinige Kategorie würde dem Buch sicherlich nicht gerecht, vielleicht trifft eine Mischung aus Psychodrama, Gesellschaftssatire und Lebensphilosophie eher zu.

Im gesamten „Todesarten“ – Zyklus lässt sich eine Gemeinsamkeit ausmachen: die Zerstörung des Weiblichen als mögliches Thema der Romane, bzw. der Romanfragmente. Frauen, die von einer Männerwelt seelisch und körperlich zugrunde gerichtet werden, stellen unter anderem einen Aspekt zur näheren Betrachtung dar. Wobei eine solche Sichtweise dem Buch wohl einen sehr feministischen und emanzipatorischen „Beigeschmack“ unterstellen würde. Weiterhin lassen sich natürlich weitere thematische Bezüge hinsichtlich des Faschismus in Bachmanns Werken finden, den sie als Kind persönlich miterlebte. Die Beziehungen von Mann und Frau stehen in ihren Werken deshalb oft im Zusammenhang mit dem Faschismus:

„Wenn Bachmann später über Faschismus schreibt, dann meint sie nicht nur seine organisierte, seine öffentliche Spielart. Vielmehr spürt sie seinen Ursprüngen nach im Alltag der zwischenmenschlichen Beziehungen, zumal in den Beziehungen zwischen Mann und Frau.“[1]

Andere Arbeiten über „Malina“ greifen den Aspekt der Figurenkonstellation auf, d.h. es steht dabei die Frage im Vordergrund, ob es sich bei der Ich - Erzählerin im Roman und Malina (und Ivan) um ein und dieselbe Person handelt. All diesen möglichen Sichtweisen soll in der vorliegenden Arbeit nur partiell nachgegangen werden, also insofern, wie es für den Hauptaspekt vonnöten zu sein scheint, welcher im nun folgenden Einführungskapitel näher erläutert werden soll.

1.2 Begrenzungen und Thema der Arbeit

Ich habe mir geschworen, dich zu töten! Aber ich habe geschrien: Ich hasse dich mehr als mein Leben![2]

Die Arbeit trägt den Titel „Aspekte der Gewalt in Ingeborg Bachmanns Roman Malina“. Doch bevor diesem Gesichtspunkt konkret im Buch selbst nachgegangen werden kann, soll zuerst geklärt werden, was man unter Gewalt eigentlich versteht. Dies ist das Thema des ersten Kapitels im Hauptteil; vorgestellt werden in kurzer Form allgemeine und spezielle Definitionen des Ausdrucks „Gewalt“. Dies scheint mir unerlässlich, um später in vergleichender Weise das Verständnis und die Darstellung von Gewalt im Roman selbst betrachten und interpretieren zu können. Auch eine kurze Erklärung des Begriffes „Aggression“ soll erläutert werden, um diesen vom Gewaltbegriff, wenn nötig, trennen zu können.

Nach diesem noch allgemein gehaltenen Teil, wird in den folgenden Teilen der Hausarbeit nun konkret auf den Roman selbst Bezug genommen.

Die Arbeit lässt sich inhaltlich in drei größere Abschnitte aufteilen.

- Zunächst ist die Figur des Vaters und sein Verhältnis zum „Ich“ der Ausgangspunkt der Interpretation. Da der Vater nur im zweiten Abschnitt, dem sogenannten „Traumkapitel“ eine Rolle spielt, werden vorher die Struktur und die möglichen Hintergründe eben dieses Kapitels erläutert.

Verschiedene Aspekte stehen in der nun folgenden Interpretation im Vordergrund.

So stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Tochter zum Vater ?

Gibt es hierbei eine dominante Figur oder eine ausgeglichene Beziehung zwischen beiden Figuren ?

Zuerst spielen in diesem Kapitel die Gewaltaspekte in allgemeiner Form eine Rolle, im folgenden soll die Metapher der „Blutschande“, welche im zweiten Drittel des Buches mehrmals auftaucht näher betrachtet werden.

Sichtweisen aus der Literaturwissenschaft werden zu diesem Thema miteingebracht.

Den darauf folgenden größeren Abschnitt, bei dem die Figur des Vaters im Mittelpunkt steht, bilden die darauffolgenden zwei Unterkapitel, die sich mit der Darstellung des Faschismus allgemein und schließlich in Zusammenhang mit der Vaterfigur beschäftigen (wobei sich diese beiden Aspekte kaum auseinanderhalten lassen, da sie im Roman meist gemeinsam auftreten).

- Anschließend folgt der zweite größere Part der Arbeit, in welchem nun die Figur Malina – wiederum hinsichtlich der Beziehung zur Ich- Erzählerin – den Kern der Interpretation bildet. Schon allein die Überschrift dieses Kapitels der Hausarbeit rückt die Frage in den Vordergrund, ob Malina ein aggressives, bzw. gewalttätiges Verhältnis zum Ich besitzt ?

Analog zur vorherigen Betrachtung der Metapher der „Blutschande“, wird auch hier ein konkretes Bild herausgegriffen, welches in mehreren Szenen vorkommt:

Das „Weinen“ der Ich- Figur und die Absichten und Verhaltensweisen Malinas werden hierbei interpretiert.

Dies bildet den Abschluss des zweiten Teils der Arbeit.

- Der dritte und letzte Part greift das Ende des Romans heraus, eine Schlüsselszene, die auch immer wieder in der Forschung zu unterschiedlichsten Interpretationen führt.

Demnach sollen auch zunächst einige dieser Sichtweisen aus der Wissenschaft – ergänzt mit eigenen Überlegungen - erläutert werden, bevor im folgenden Kapitel eine gänzlich eigene Analyse zum letzten Teil des Buches erfolgt.

Im Schlussteil werden dann schließlich die wichtigsten Punkte der vorherigen Kapitel in komprimierter Form nochmals zusammengefasst und ein Fazit zur gesamten Arbeit gezogen.

Zu erwähnen ist noch, dass in der Arbeit vor allem die letzten beiden Kapitel, d.h. der zweite Teil „Der dritte Mann“ und das abschließende Kapitel „Von letzten Dingen“ für die Interpretation eine Rolle spielen. Denn vor allem hier finden sich fruchtbare Ausgangspunkte, die für die genannten Interpretationsziele relevant sind. Somit spielt das erste Drittel des Romans, d.h. der Abschnitt „Glücklich mit Ivan“ eine eher nebensächliche Rolle, sozusagen nur als „Hintergrund“ für die nächsten beiden Kapitel. Diese Beschränkung zieht logischerweise nach sich, dass die Figur des „Ivan“ dann ebenfalls nur am Rande betrachtet werden kann, da das Hauptaugenmerk hinsichtlich der Protagonistenauswahl auf den Figuren des Ichs, des Vaters und Malinas liegt.

1.3 Erläuterung der Begriffe „Gewalt“ und „Aggression“

Wie bereits in der Einführung erwähnt, soll in diesem Kapitel nun eine Definition von „Gewalt“ im allgemeinen und auch wissenschaftlichen Sinne erfolgen, um das notwendige Hintergrundwissen zu besitzen, das für einen Vergleich mit den Gewaltstrukturen in „Malina“ notwendig sein wird.

Im allgemeinen „täglichen“ Gebrauch werden die Substantive „Gewalt“ und „Aggression“ meist gleichbedeutend verwendet, es lässt sich zwischen beiden Wörtern keine eindeutige Trennlinie ziehen.

Dennoch gibt es einige Merkmale, die eine Unterscheidung beider Begriffe erleichtern können.

Aggressionen müssen nicht immer Auslöser für Gewaltakte sein, Aggression kann zum Beispiel als innerer psychischer Zustand eines Menschen angesehen werden, welcher durch eine vorhergehende unangenehme Situation bewirkt wurde.

Gewalt wird oft auch als eine Form aggressiven Verhaltens eingestuft, welche sich dann gegen andere Mitglieder derselben Gesellschaft richten kann. Aggression stellt im Gegensatz zu dieser Gewaltdefinition jegliches Verhalten dar, das auf Störung, Verletzung, Verdrängung und Vernichtung anderer Lebewesen ausgerichtet ist.

Schlagen wir einmal in einem Fremdwörterlexikon nach, so finden wir unter dem Substantiv „Aggression“ folgendes:

„die; -,-en 1. feindseliges Verhalten, Angriffsverhalten als Reaktion auf Bedrohung oder zum Zweck der Machtausübung 2. feindselige Einstellung, ablehnende Haltung (jemandem oder et. gegenüber), Angriffslust 3. völkerrechtswidriger Angriff, Überfall auf einen Staat“[3]

Die Suche nach „Gewalt“ bringt im „Duden“ folgendes Ergebnis:

„Die; -, -en [mhd. Gewalt, ahd. (gi)walt, zu walten]: 1.Macht, Befugnis, das Recht u. die Mittel, über jmdn., etw. zu bestimmen, zu herrschen: (...) 2.unrechtmäßiges Vorgehen, wodurch jmd. zu etw. gezwungen wird: (...) 3.elementare Kraft von zwingender Wirkung: (...)“[4]

Gewalt ist demnach eher unrechtmäßig und mehr als zwingende Kraft anzusehen, als Aggression, welche sich auch nur in einer ablehnenden Haltung manifestieren kann.

In der Psychologie, die sich ja mit dem Verhalten des Menschen und dessen Auswirkungen auf die Umwelt beschäftigt, gibt es durchaus unterschiedliche Thesen zum Begriff der Aggression.

Man kann dabei von 3 wissenschaftlichen Haupttheorien aggressiven Verhalten ausgehen, den Triebtheorien, den Frustrations-Aggressions-Theorien und den Lerntheorien[ii], welche hier aber nicht näher vorgestellt werden können (siehe Anhang).

Nach dieser kurzen Einführung soll nun zum Hauptteil und damit zu konkreten Textstellen im Buch übergegangen werden.

2.0 HAUPTTEIL

2.1 Struktur des zweiten Kapitels

„Das zweite Kapitel des Romans, >Der dritte Mann<, wird von der Mehrheit der Rezensenten und Interpreten als das Schlüsselkapitel, das Herzstück des Romans verstanden, um das herum die anderen Stücke >komponiert< seien.“[5]

Um dem Stellenwert dieses zweiten Kapitels gerecht zu werden, soll in kurzer Form zunächst dessen formaler und inhaltlicher Aufbau beschrieben werden.

Die oben zitierte Aussage von Bärbel Lücke macht deutlich, welche Bedeutung dieses Kapitel im Roman hat. Der Titel ist laut Lücke einem Kriminalfilm von Graham Greene entliehen, der im weitläufig verschlungenen Kanalsystem von Wien spielt:

„Das Kanalsystem, im Film Schauplatz auch eines psychischen Dramas, dient als Chiffre dafür, dass der Leser im zweiten Kapitel ins Reich des Unterbewussten entführt wird, ins Reich der Träume.“[6]

Sigrid Weigel schreibt:

„Das zweite Kapitel „Der dritte Mann“ (...) besteht aus einer Serie von Traumszenen, die gleichsam die Nachseite zum >Heute< des Ich darstellen: „Es sind die Träume von heute nacht“.[7]

Im allgemeinen „Traumkapitel“ genannt, spielt dieses zweite Kapitel an verschiedenen Schauplätzen, welche oft sprunghaft gewechselt werden, es herrscht im Gegensatz zu den anderen beiden Kapiteln eine abstrakte Zeit- und Ortslosigkeit vor.

Dies wird schon zu Beginn deutlich gemacht:

„Der Ort ist diesmal nicht Wien. Es ist ein Ort, der heißt Überall und Nirgends. Die Zeit ist nicht heute. Die Zeit ist überhaupt nicht mehr, denn es könnte gestern gewesen sein, es kann wieder sein, immerzu sein, es wird einiges nie gewesen sein.“ (S.174)

Vordergründig besteht „Der dritte Mann“ aus den Kämpfen und Auseinandersetzungen der Ich – Erzählerin, d.h. der Tochter mit der alles beherrschenden allmächtigen Vatergestalt.

Der Vater ist mehrere Male der Inbegriff unterschiedlichster Macht- und Wissensinstanzen, so tritt er zum Beispiel unter anderem als Regisseur (S.199) und Couturier (S.209) aber auch als Verkörperung eines Krokodils (S.223) auf. Einige Male werden Dialoge zwischen dem „Ich“ und Malina eingeschoben; die Art der Darstellung dieser Gespräche erinnert an ein Drama, zumal diese Dialoge formal (untereinandergesetzte Namen) an ein Theaterstück erinnern. Kennzeichnend für ein solches Gespräch sind die beständigen Fragen und Anweisungen Malinas, die in dem betreffenden Kapitel zur Figur Malina aber noch näher untersucht werden sollen.

Die Beziehung der Ich-Figur zu dem Vater ist von Konfrontationen geprägt, die Vaterfigur verbietet dem Ich einerseits „das Schreiben und die Sprache“[8] andererseits allerdings ist das Ich an dieselbe „libidinös gebunden“[9].

Nach dieser kurzen strukturellen Übersicht über das zweite Kapitel soll nun im nächsten Abschnitt Bezug auf den Inhalt genommen werden.

2.2 Gewaltdarstellungen im zweiten Kapitel

2.2.1 Der Vater als Inbegriff der Zerstörung

Wie bereits oben erwähnt, befindet sich die Ich-Figur im Kapitel „Der dritte Mann“ im Unbewussten bzw. Unterbewussten, was sich durch die angesprochene Zeit- und Ortslosigkeit manifestieren lässt. Im Mittelpunkt steht die Figur des Vaters, der die Tochter (die Ich- Erzählerin) auf grausame Weise quält und misshandelt. Das Zitat „Das ist der Friedhof der ermordeten Töchter. Er hätte es nicht sagen dürfen, und ich weine bitterlich.“ (S.175) am Anfang dieses Kapitels stellt nur ein Beispiel für eine solche „psychische“ Misshandlung dar. Der Vater zeigt der Tochter diesen Friedhof, vermutlich will er ihr ihr eigenes Grab zeigen. Er selbst wird aber auch zum physischen Aggressor:

„Aber damit ich aufhöre, mein Nein zu rufen, fährt mir mein Vater mit den Fingern, seinen kurzen festen harten Fingern in die Augen, ich bin blind geworden, aber ich muß weitergehen. Es ist nicht auszuhalten.“ (S.177)

In gewalttätiger Form unterbindet der Vater in dieser Szene jegliche Form von Widerstand, das Ich soll keine Möglichkeit haben, sich der Kontrolle und Unterdrückung des Vaters entziehen zu können. Lücke meint dazu, dass die Tochter die Farben nicht sehen solle, der Vater wolle ihr „die geistige Schaukraft rauben, sie ihrer Spiritualität berauben“[10]. Symbolisiert sieht Bärbel Lücke dies in der Farbe Blau:

„Mein Blau, mein herrliches Blau, in dem die Pfauen spazieren, und mein Blau der Fernen, mein blauer Zufall am Horizont!“ (S.177)

Die Farbe Blau symbolisiert nicht nur dieses Berauben der „Spiritualität“, sondern steht auch seit jeher für das Königliche und somit für eine Art Macht und Würde. Die Vaterfigur, die auf S.176 mit „Sire!“ angeredet wird, steht somit in direktem Bezug zu dieser Farbe: dieses Majestätische gebührt hier nur dem Vater, die Tochter wird zum Schweigen gezwungen. Eine weitere Konnotation zur Farbe Blau ist die der Freiheit; der Himmel besitzt ebenso diesen Farbton. „Das Blau der Fernen“ und „mein blauer Zufall am Horizont“ (ebda.), beides steht hier für die Freiheit und Unabhängigkeit, die die Ich-Figur nie erreichen wird. Indem dieses Blau in sie eindringt, wird diese Farbe zweckentfremdet, denn anstatt die unerreichbare Ferne des Himmels und des Horizonts zu repräsentieren, wird das Blau zum Verderben in allernächster Nähe.

Auffallend ist dennoch das ambivalente Verhältnis des Ichs zur Vaterfigur. Obwohl das weibliche Ich Opfer der väterlichen Macht ist, stellt es sich doch einige Male vor den Vater und schützt diesen sogar. So versucht die Ich- Erzählerin, den Vater vor der Polizei zu schützen, obwohl deren Eingreifen eigentlich eine Möglichkeit wäre, dem Vater – zumindest vorzeitig – zu entkommen:

„Ich höre die Polizeisirene, die Polizisten springen schon aus einem Streifenwagen, ich sage in höchster Angst, hilf mir jetzt, wir müssen die loswerden, wir müssen. Malina spricht mit den Polizisten und erklärt, es gebe hier ein Fest und Übermut, Übermut und sehr viel gute Laune.“

(S.205)

Hier zeigt sich deutlich die Abhängigkeit der Tochter von ihrem Vater, die sie trotz der Grausamkeiten an ihn bindet. Doppeldeutig lässt sich in diesem Traum der folgende Abschnitt verstehen:

„Versteh doch, wir sehen einander wieder, sagt Malina, aber nicht, eh das ein Ende hat, denn er hat mich töten wollen. Ich widerspreche leise, nein, nein, er hat nur mich, ich fange zu weinen an, denn Malina ist gegangen,...“ (S.205).

Dieser kurze Ausdruck „er hat nur mich“ lässt sich in zweierlei Hinsicht interpretieren: Zum einen in dem Sinne „er hat nur mich töten wollen“ (als Bezug auf den vorherigen Satz von Malina) oder zum anderen im wörtlichen Sinne „er hat nur mich (alleine)“.

Für beide Varianten ließen sich Deutungen im Text finden, natürlich versucht der Vater ständig die Tochter zu töten, was ihm mehrere Male auch gelingt. In dieser Situation werden die Blumentöpfe zunächst nur auf das Ich geworfen („er hebt einen Blumentopf auf, er schleudert ihn gegen mich“ S.204), erst danach werden die Töpfe auch auf die Straße geschleudert, allerdings ohne konkretes Ziel. Nur „damit die Leute weggehen“ (S.205); Malina meint aber, dass er das Ziel des Vaters gewesen sei, was die Ich- Erzählerin ihm dann zu widerlegen versucht, indem sie ihm erklärt, dass dieser es ja nur auf sie abgesehen habe.

Die zweite Deutung („er hat nur mich“) würde für eine Art Mitleid der Tochter für ihren Vater sprechen, den sie hier eigentlich bedauert und ihn nicht verlassen kann, denn sie gehört zu ihm:

„mein Vater ist auf dem Boden eingeschlafen, inmitten der Verwüstung, alles ist zerstört, verwüstet, ich lege mich neben meinen Vater, in die Verwüstung, denn hier ist mein Platz, neben ihm, der schlaff und traurig und alt schläft“ (S.206).

Zu diesem Zeitpunkt hegt das Ich bereits einen leisen Verdacht, dass der Vater eben nicht der Vater, sondern ein „fremder Mann“ sei. Diese Vermutung schlägt die ich- Figur aber sofort wieder nieder, noch kann sie dies nicht wahrhaben.

Das Ich redet sich diesen Verdacht selbst wieder aus, denn

„es darf nicht ein fremder Mann sein, es darf nicht vergeblich und nie ein Betrug gewesen sein. Es darf nicht wahr sein“ (ebda.).

Die formale dreimalige Wiederholung des Ausdrucks „es darf nicht“ und des Substantivs „Verdacht“ unterstreicht dies noch. Die Tochter will die Vermutung überhaupt nicht zulassen, dass sie eventuell unrecht hatte und macht sich deshalb selbst Mut, dass nicht ist, was nicht sein darf.

Betrachtet man die Sprache des Vaters und die Dialoge zwischen ihm und der Tochter, so ergeben sich folgende Auffälligkeiten:

Es gibt insgesamt relativ wenig Stellen im zweiten Kapitel in denen es zu einem längeren Gespräch zwischen der Figur des Vaters und der Tochter kommt. Wenn der Vater sich äußert, dann geschieht dies entsprechend seiner Taten.

Er, der das Ich auf solch vielfältige Weise quält und misshandelt, bedient sich somit einer Sprache, die desöfteren von Befehlen und Ausrufen geprägt ist:

„Aber mein Vater brüllt: Was, jetzt auf einmal willst du nicht, ich werde, ich werde!“ (S.183);

„Mein Vater schreit zurück: Sag das noch einmal!“ (S.224);

„Mach den Mund auf! Was soll das heißen! Den Mund auf, sag ich! Er schreit stundenlang und hört nicht auf“ (S.201).

Die Aussagen des Vaters haben den alleinigen Sinn, das Ich zu erniedrigen, zu verhöhnen und eine Wahrheit zu schaffen, die auf Lügen basiert.

Somit kommt es auch selten zu längeren Gesprächen zwischen den beiden, die kurzen Dialoge bestehen nur aus wenigen Sätzen, die meistens der Vater beendet oder durch eine Gewalttat abschließt.

2.2.2 „Blutschande“

Einige Male tritt im zweiten Kapitel das Substantiv „Blutschande“ auf, in der Forschung gibt es mehrere verschiedene Deutungsweisen dieser Metapher.

Auf Seite 181 wird dieser Begriff das erstemal genannt:

„Mein Vater ist zufällig noch mal nach Hause gekommen. Meine Mutter hat drei Blumen in der Hand, es sind die Blumen für mein Leben, sie sind nicht rot, nicht blau, nicht weiß, doch sie sind für mich bestimmt, und sie wirft die erste vor meinen Vater hin, ehe er sich uns näher kann. Ich weiß, dass sie recht hat, sie muß sie ihm hinwerfen, aber ich weiß jetzt auch, dass sie alles weiß, Blutschande, es war Blutschande, aber bitten möchte ich sie um die anderen Blumen doch...“ (S.181).

Mechthild Geesen sieht diese Szene als konkreten Hinweis auf eine „Andeutung eines körperlichen Missbrauchs“[11]. Durchaus nachvollziehbar ist eine solche Deutung, denn mehrmals werden auch schlüssige Hinweise im zweiten Kapitel auf einen sexuellen Missbrauch der Tochter gegeben. So wird z.B. wenige Zeilen weiter unten in ganz konkreter Form der Vater als „Verursacher“ der Blutschande genannt:

[...]


[1] Heidelberger-Leonard, Irene: „Ingeborg Bachmann und Jean Améry – Zur Differenz zwischen der Ästhetisierung des Leidens und der Authentizität traumatischer Erfahrung“. In: Stoll, Andrea: „Ingeborg Bachmanns >Malina< “. Suhrkamp, Frankfurt, 1.Auflage 1992. S.289

[2] Bachmann, Ingeborg: “Werke – Dritter Band: Todesarten: Malina und unvollendete Romane”. Hrsg: Koschel, von Weidenbaum und Münster. Piper, München/Zürich, 5.Auflage 1993. S.191. è Mit >Bachmann, Ingeborg: “Malina“< gekennzeichnete Literaturangaben und Seitenangaben in der Hausarbeit beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe.

[3] Internetquelle: Langenscheidts Fremdwörterbuch online. http://www.langenscheidt.aol.de/

[4] Drosdowski, Günter [Hrsg.]: „Duden Deutsches Universalwörterbuch“. Hrsg. u. bearb. vom Wiss.Rat u.d. Mitarb. d. Dudenred. unter Leitung von Günther Drosdowski. Dudenverlag, Mannheim/Wien/Zürich, 1989. S.605

[5] Lücke, Bärbel: „Ingeborg Bachmann: Malina – Interpretation“. Oldenbourg, München, 1.Auflage, 1993. S.119

[6] ebda.

[7] Weigel, Sigrid: „Zur Genese, Topographie und Komposition von Malina“. In: Mayer, Mathias: „Werke von Ingeborg Bachmann“. Hrsg. von Mathias Mayer. Reclam, Stuttgart, 2002.S.221

[8] Weigel, Sigrid: „Zur Genese, Topographie und Komposition von Malina“. In: Mayer, Mathias: „Werke von Ingeborg Bachmann“. Hrsg. von Mathias Mayer. Reclam, Stuttgart, 2002.S.221

[9] ebda.

[10] Lücke, Bärbel: „Ingeborg Bachmann: Malina – Interpretation“. Oldenbourg, München, 1.Auflage, 1993. S.126

[11] Geesen, Mechthild: „Die Zerstörung des Individuums im Kontext des Erfahrungs- und Sprachverlusts in der Moderne- Figurenkonzeption und Erzählperspektive in der Prosa Ingeborg Bachmanns“. Schäuble, Rheinfelden, 1998. S.33

[...]


ANHANG

[i] Ingeborg Bachmann 1971

è Internetquelle: http://www.ingeborg-bachmann-forum.de/ibnachruf.htm

Kurzbiographie über Ingeborg Bachmann:

„Ingeborg Bachmann 1926 - 1973

Die Dichterin und Literatin wurde am 25. Juni 1926 in Klagenfurt als Tochter eines Lehrers geboren. Dort besuchte sie auch die Schule und maturierte 1944. Ab 1945 studierte sie Philosophie, Germanistik und Psychologie in Innsbruck, Graz und Wien. 1950 promovierte sie in Wien mit einer Arbeit über die Rezeption der Philosophie Heideggers.

Nach mehreren Auslandsaufenthalten wurde sie Redakteurin beim Sender Rot-Weiß-Rot. 1952 hielt sie eine erste Lesung auf einer Tagung der "Gruppe 47". Von 1953 bis 1957 arbeitete sie als freie Schriftstellerin in Italien, 1955 unternahm sie eine Reise in die USA. In den Jahren 1957 und 1958 war sie als Dramaturgin beim Bayrischen Fernsehen tätig, bis 1962 lebte sie abwechselnd in Rom und Zürich. Im Wintersemester 1959/60 war sie erste Gastdozentin für Poetik an der Universität Frankfurt/Main. 1963 bis 1965 lebte sie in Berlin, unternahm Reisen nach Prag, nach Ägypten und in den Sudan. Ab 1965 hatte sie ihren ständigen Wohnsitz in Rom. 1973 unternahm sie noch eine Reise nach Warschau, Auschwitz, Krakau und Breslau.

Die Schriftstellerin und Lyrikerin kam in Rom auf tragische Weise ums Leben: am 26. September 1973 erlitt sie in ihrer Wohnung schwere Verbrennungen und starb knapp drei Wochen später. Ingeborg Bachmann ist am Klagenfurter Friedhof Annabichl begraben.“

è Internetquelle: http://bachmannpreis.orf.at/bp_2001/infos/bachmann/start_bachmann.htm

[ii] Aggression I: Triebtheorien

Sowohl die biologische Verhaltensforschung, als auch die ältere Psychologie sehen Aggression als angeborenen feindseligen Instinkt an. Der frühere Hauptvertreter dieser Sichtweise war Sigmund Freud, der mit seinen psychoanalytischen Theorien große Aufmerksamkeit erregte. Er war davon überzeugt, dass in jedem Menschen ein Lebenstrieb (Eros) und ein Todestrieb (Thanatos) herrschen. Der Todestrieb erzeuge eine destruktive Energie, welche sich bis hin zu einer unerträglichen Spannung aufbauen und sich dann durch eine aggressive Handlung wieder entladen könne.

Aggression II: Frustrations-Aggressions-Theorien

Vertreter der Frustrations-Aggressions-Theorien lehnen die vorige Sichtweise völlig ab. Aggression ist nicht angeboren, sondern entstehe durch Frustration. Die so gebildete Aggression kann sich dann auch an beliebigen Zielen entladen, wobei man somit seine entstandene aggressive Energie zum Beispiel auch durch das Ausüben einer Sportart oder ähnlichem „loswerden“ kann.

Aggression III: Lerntheorien

Lerntheorien beruhen auf der Annahme, dass aggressives Verhalten erworben und aufrechterhalten wird. Dies geschieht durch Konditionierung, d.h. durch Lernen mittels Belohnung oder Bestrafung oder durch Beobachtungslernen, also durch Nachahmung eines Modells, das das jeweilige Verhalten ausführt.

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Details

Titel
Aspekte der Gewalt in Ingeborg Bachmanns Roman Malina
Hochschule
Universität Augsburg  (FB Germanistik)
Veranstaltung
Hauptseminar Ingeborg Bachmann
Note
1,5
Autor
Jahr
2003
Seiten
31
Katalognummer
V12504
ISBN (eBook)
9783638183710
ISBN (Buch)
9783638691291
Dateigröße
500 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dichter Text - einzeiliger Zeilenabstand. 235 KB
Schlagworte
Ingeborg Bachmann Gewalt Malina Roman Aggression
Arbeit zitieren
Rene Jochum (Autor:in), 2003, Aspekte der Gewalt in Ingeborg Bachmanns Roman Malina, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12504

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