Die Opferthese im Spiegel der Medien

Debatte über Österreichs Rolle in der NS-Zeit


Diplomarbeit, 2006

205 Seiten, Note: Gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Forschungs- und Quellenstand
1.3 Forschungsleitende Fragestellungen
1.4. Methodik und theoretische Ausrichtung

2. Historischer Teil
2.1 Die Genesis des Opfermythos
2.1.1 Die Moskauer Deklaration
2.1.2 Ursachen und Entstehungsgeschichte
2.1.3 Die Rezeption der Moskauer Deklaration nach 1945
2.1.4 Renners Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945
2.1.5 Die Person Dr. Karl Renner
2.1.6 Das „Rot-Weiß-Rot Buch“
2.1.7 Der Staatsvertrag
2.2 Der „Anschluss“
2.2.1 Darstellung und Rezeption
2.2.2 Der „Anschluss“ als Geschichtslüge
2.2.3 Dokumente des Jubels über den „Anschluss“
2.2.4 Der „Anschluss“ und die Opferthese im parteipolitischen Spektrum
2.2.4.1 Die Sozialdemokraten und der „Anschluss“
2.2.4.2 Die Volkspartei und der „Anschluss“
2.2.4.3 Die KPÖ und der „Anschluss“
2.3 Funktionen und Instrumentalisierung der Opferthese
2.3.1 Abzug der Besatzungsmächte
2.3.2 Abgrenzung zu Deutschland und Forcierung des Österreich Patriotismus
2.3.3 Abwehr von Entschädigungsansprüchen
2.3.4 Integration der „Ehemaligen“ ins Opferkollektiv und breite Auslegung des Opferbegriffs
2.3.5 Die Einstellung gegenüber den tatsächlichen NS-Opfern
2.3.6 Integration und Glorifizierung der Soldaten als Opfer und Helden
2.4 Der Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik
2.4.1 Die österreichische Opferdoktrin von 1945 – 1986
2.4.2 Der Generationenkonflikt und die langsame Erosion der Opferthese
2.4.3 Die „Waldheim Affäre“
2.4.4 Das „Gedenkjahr“ 1988
2.4.5 Vranitzkys Erklärung vor dem Nationalrat
2.4.6 Wiederauferstehung der Opferthese
2.4.7 Schüssels Rede zur Opferrolle im Nationalrat
2.4.8 „Ich werde nie zulassen, dass man Österreich nicht als Opfer sieht“ – zur Aktualität der Opferthese

3. Theorie
3.1 Massenmedien und Geschichtsbewusstsein
3.2 Agenda Setting
3.2.1 Die Entwicklung des Agenda-Setting-Ansatzes
3.2.2 Die Chapel-Hill-Studie
3.2.3 Die Komponenten des Agenda-Setting-Prozesses
3.2.4 Wirkungsmodelle
3.2.4.1 Awareness-Modell ( Aufmerksamkeitsmodell )
3.2.4.2 Salience-Modell
3.2.4.3 Prioritätsmodell
3.2.5 Intervenierende Variablen
3.2.5.1 Zeitrahmen
3.2.5.2 Medien
3.2.5.3 Themen
3.2.5.4 Mediennutzung
3.2.5.5 Orientierungsbedürfnisse des Rezipienten
3.2.5.6 Interpersonelle Kommunikation
3.2.5.7 Umweltbedingungen
3.2.6 Agenda-Setting-Forschung
3.2.7 Leserbriefe als Instrument der „Meinungsmache“

4. Methode
4.1 Die Kritische Diskursanalyse nach Siegfried Jäger
4.1.1 Diskurs und Macht
4.1.2 Die Struktur des Diskurses
4.1.2.1 Spezialdiskurse und Interdiskurse
4.1.2.2 Diskursfragmente
4.1.2.3 Diskursstränge
4.1.2.4 Diskursive Ereignisse und diskursiver Kontext
4.1.2.5 Diskursebenen
4.1.2.6 Diskursposition
4.1.2.7 Der gesamtgesellschaftliche Diskurs
4.1.3 Kollektivsymbole
4.1.4 Das Verfahren der Kritischen Diskursanalyse
4.1.5 Analyseschritte bei der Analyse von Diskursfragmenten
4.1.6. Analyse des Opfer-Täter-Diskurses

5. Empirischer Teil
5.1 Forschungsleitende Fragestellungen
5.2 Analyse der medialen Berichterstattung zur Opferthese
5.2.1 „Kronen Zeitung“
5.2.1.1. Anzahl der Artikel und Verteilung der Textsorten
5.2.1.2 Übersicht und exemplarische Analyse einzelner Artikel
5.2.1.3 Leserbriefe
5.2.1.5 Argumentationsstrategien
5.2.1.6 Der institutionelle Rahmen
5.2.1.7 Verschränkungen mit anderen Diskurssträngen
5.2.2 „Die Presse“
5.2.2.1 Anzahl der Artikel und Verteilung der Textsorten
5.2.2.2 Übersicht und exemplarische Analyse einzelner Artikel
5.2.2.3 Leserbriefe
5.2.2.4 Positionierung innerhalb des Opfer-Täter-Diskurses
5.2.2.5 Argumentationsstrategien
5.2.2.6 Beiträge von Redakteuren der „Presse“
5.2.2.7 Gastkommentare zum Thema
5.2.2.8 Der institutionelle Rahmen
5.2.2.9 Verschränkungen mit anderen Diskurssträngen
5.2.3 Der „ Standard
5.2.3.1 Anzahl der Artikel und Verteilung der Textsorten
5.2.3.2 Übersicht und exemplarische Analyse einzelner Artikel
5.2.3.3 Leserbriefe
5.2.3.4 Positionierung innerhalb des Opfer-Täter-Diskurses
5.2.3.5 Argumentationsstrategien
5.2.3.6 Beiträge von Redakteuren des „Standards“
5.2.3.7 Gastkommentare zum Thema
5.2.3.8 Der institutionelle Rahmen
5.2.3.9 Verschränkungen mit anderen Diskurssträngen
5.2.4 Darstellung der Ergebnisse und vergleichende Analyse der drei Medien
5.2.5 Reaktionen ausländischer Medien und der österreichischen Juden auf die Opferthese

6. Resümee und Ausblick

Literaturverzeichnis

Vorwort

Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war mein Interesse an der NS-Zeit in Österreich und vor allem die Reflexion der nationalsozialistischen Vergangenheit. Im Besonderen hat mich das massenmedial transportierte Geschichtsbewusstsein und die stets, abhängig von der ideologischen Positionierung der jeweiligen Medien, kontroversiell verlaufenden Debatten, dazu animiert, dies als Thema für meine Diplomarbeit auszuwählen. Als die Diskussion über Österreichs NS-Vergangenheit in die Gänge kam, nachdem Bundeskanzler Wolfgang Schüssel in einem Interview am 9. November 2000 mit einer israelischen Zeitung gemeint hatte, dass die „Österreicher die allerersten Opfer des Nationalsozialismus“ waren, hat mich die konträre Verortung der beiden Qualitätszeitungen „Standard“ und „Presse“ innerhalb des Opfer-Täter-Diskurses dazu inspiriert, die Berichterstattung der drei Tageszeitungen „Standard“, „Presse“ und „Krone“ hinsichtlich Österreichs Rolle in der NS-Zeit einer Analyse zu unterziehen.

An dieser Stelle möchte ich mich besonders bei meinem Diplomarbeitsbetreuer Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Duchkowitsch bedanken, der bei allen Fragen mit Rat und Tat zur Seite stand und im Rahmen unserer Gespräche immer wieder wertvolle Tipps und Hinweise gab, sowie als wichtiger Motivator in Zeiten des Zweifelns und der Inkonsequenz fungierte.

Besonderer Dank gebührt auch meinen Eltern und Großeltern für die jahrelange Unterstützung und Geduld in den verschiedensten Bereichen und meiner Freundin Babsi, die wichtige Impulse zur Vollendung dieser Arbeit beisteuerte und eine stetige Quelle der Inspiration war.

1. Einleitung

1.1 Problemstellung und Zielsetzung

„Der souveräne Staat Österreich war buchstäblich das erste Opfer des Nazi-Regimes […] Sie nahmen Österreich mit Gewalt. Sie (die Österreicher) waren die allerersten Opfer“.[1]

Dieser Satz des österreichischen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel (ÖVP) war Ausschlag gebend, dem österreichischen Opfermythos in all seinen Facetten im Rahmen einer Diplomarbeit auf den Grund zu gehen. Die aufgrund der zeitgeschichtlichen Forschungen der letzten 20 Jahre, die die weit reichende Kooperation der Österreicher mit dem NS-Regime und die Partizipation der „Ostmärker“ an den Gräueltaten zutage befördert hat, schon längst obsolet geglaubte Opfertheorie feierte nach dem Interview des Kanzlers am 9. November 2000 mit der israelischen Zeitung „Jerusalem Post“ ihre Renaissance. Die Risse bei der Reflexion der heimischen NS-Vergangenheit gingen quer durch alle Parteien und selbst unter den Historikern kam es zu einer lebhaften Debatte, in welchem Ausmaß nun Österreich und die Österreicher Opfer oder Täter waren. Die Massenmedien fungierten dabei nicht nur als reine Transporteure des Geschichtsbildes der politischen Eliten und Zeitgeschichtler, sondern bezogen selbst Position innerhalb des Opfer-Täter-Diskurses.

Das Ziel der vorliegenden Diplomarbeit ist es, ausgewählte Tageszeitungen hinsichtlich ihrer Berichterstattung in Bezug auf das Schüssel-Interview und die eingenommene Diskursposition innerhalb des „Opfer-Täter-Diskursstranges“ zu analysieren. Durch die Auswahl der drei für die Untersuchung herangezogenen Printmedien – „Kronen Zeitung“, „Standard“ und „Presse“ - soll die Vielfalt der Meinungen in Österreich zu diesem Thema abgedeckt werden, da sich die drei Tageszeitungen inhaltlich und von ihrer gesellschaftspolitischen Ausrichtung her stark voneinander unterscheiden. Diese drei Medien eignen sich aufgrund ihrer zumeist zu bestimmten Themenbereichen eindeutigen „Parteiergreifung“, da davon auszugehen ist, dass sie sich innerhalb des „Opfer-Täter-Diskurses“ klar positionieren. In Form von Kommentaren, Gastkommentaren, Leserbriefen etc. steht allen drei Medien dafür genügend Platz zur Verfügung. Das Material-Korpus umfasst die im Zeitraum vom 09. November 2000 bis 30. Jänner 2001 erschienenen Artikel und Leserbriefe in den drei oben genannten Tageszeitungen. Insgesamt sind in diesen drei Medien 53 Artikel publiziert worden, die sich mit dem Thema „Österreichs Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus“ beschäftigt haben. Welches Echo Schüssels Interview hervorgerufen hat, belegt auch die Partizipation der Leserschaft am Diskussionsprozess. Im Untersuchungszeitraum sind in den drei Printmedien 47 Leserbriefe zur Opferthese veröffentlicht worden.

Neben der Positionierung der drei Tageszeitungen „Krone“, „Standard“ und „Presse“ soll auch untersucht werden, ob es zu Reaktionen ausländischer Medien auf die Opferthese des Bundeskanzlers gekommen ist, da es ja in den letzten Jahren, wenngleich mit schwächer werdender Intensität, immer wieder Kritik an Österreichs Distanzierung von seiner NS-Vergangenheit gegeben hat. Vor dem Hintergrund des „Tabubruchs“ – Koalition mit der im Ausland geächteten FPÖ – stand die österreichische Bundesregierung unter besonderer ausländischer Beobachtung, gerade im Hinblick auf ihren Umgang mit der NS-Vergangenheit, da man ja führende Protagonisten der FPÖ als zum Teil rechtsextrem wahr nahm und ihnen einen ambivalenten, wenn nicht sogar positiven Zugang zum Nationalsozialismus attestierte.

Um die reaktivierte Opferthese per se und die Debatten darüber zu verstehen, ist ein Schwerpunkt dieser Arbeit der Genese des Opfermythos, dem Zwecke dieses Konstruktes und der Transformation in der Zweiten Republik gewidmet, da dadurch die Argumente der Befürworter bzw. Gegner der Opferthese – eingebettet in einem historischen Kontext - erst nachvollziehbar bzw. widerlegbar werden. Der Opfermythos wurde ja unmittelbar nach Kriegsende zum bestimmenden Faktor der österreichischen Innen- und Außenpolitik. Die Opferthese, deren Legitimation auf der „Moskauer Deklaration“ von 1943 basierte, konnte ihre integrative Wirkung bis Mitte der 80er Jahre erfüllen und wurde auch mehr oder weniger nicht infrage gestellt. Durch die „Waldheim-Affäre“ und immer mehr zeitgeschichtliche Forschungen, die die Rolle der Österreicher beim Funktionieren und Zustandekommen der Gräueltaten des NS-Regimes zum Gegenstand hatten, begann der dicke Zement zu bröckeln. Da die Erosion der Opferthese an den Grundfesten der Zweiten Republik rüttelte, fand sich – und findet sich bis heute - auch auf höchster politischer Ebene eine breite Verhinderungsfront wieder.

Das Ziel dieser Arbeit manifestiert sich nicht darin, der „historischen Wahrheit“ auf die Schliche zu kommen oder die Geschichte des Nationalsozialismus neu zu schreiben, sondern die Eindimensionalität der Opferthese und die massenmediale Reflexion dieser, kritisch zu durchleuchten.

1.2 Forschungs- und Quellenstand

Die Literaturrecherche ergab, dass bisher noch keine wissenschaftliche Arbeit über die Positionierung der drei Tageszeitungen „ Kronen Zeitung, „Standard“ und „Presse“ im Opfer-Täter-Diskurs existiert. In den letzten Jahren sind einige Publikationen entstanden, die sich mit der Berichterstattung von Medien der Zweiten Republik über konkrete Themen wie dem Holocaust, der Kurt Waldheim-Debatte, dem Adolf Eichmann Prozess, der Restitution oder der Frischenschlager-Reder Affäre beschäftigten. Auch Studien über den massenmedialen Diskurs zum „Anschluss“ oder zu den Gedenkjahren wurden erarbeitet. Heidemarie Uhl publizierte als Teil einer Untersuchung über den öffentlichen Umgang mit der österreichischen Vergangenheit bezüglich „Anschluss“ und NS-Herrschaft eine inhaltliche Analyse der „historischen Berichterstattung von Printmedien anlässlich des 50. Jahrestages des „Anschlusses“ 1988.[2]

Ein sehr umfangreiches Werk zu unterschiedlichen Teilbereichen, vom Eichmann-Prozess, über die Berichterstattung von Aussagen Jörg Haiders zur „ordentlichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich“, bis hin zu „Anschluss“ und „Reichskristallnacht“ stellt Heinz Peter Wassermanns „Zuviel Vergangenheit tut nicht gut“ dar.[3] Das Hauptaugenmerk wurde bei dieser Analyse auf den Transport von historischen Daten, Sachverhalten und Streitthemen sowie deren Kommentierung durch das jeweilige Medium und das Ausmaß der Geschichtsvermittlung an die Leserschaft gelegt. In erster Linie wurden meinungsvermittelnde Artikel und historische Serien als Quellen für die Analyse herangezogen. Wassermann kommt zu folgendem Resümee:

„Der mediale Diskurs hinterlässt ganz sicher keine Sentimentalitäten, sondern bei Tätern, Mittätern oder schweigenden Zusehern vielmehr das Bewusstsein, zumindest einmal Opfer gewesen zu sein, und sei es im Jahrzehnt zwischen 1945 und 1955.“[4]

Laut einer Studie aus dem Jahr 1992, die den Zusammenhang zwischen Printmedienkonsum und der Einstellung zur NS-Zeit untersuchte, hatten 20 Prozent der regelmäßigen Leser von der „Presse“ und dem „Standard“ eine positive oder ambivalente Haltung zum NS-Regime. Von den regelmäßigen Lesern der „ Kronen Zeitung “ äußerten sich sogar 50% ambivalent oder positiv.[5]

1.3 Forschungsleitende Fragestellungen

Folgende leitende Fragestellungen stehen im Zentrum des Forschungsinteresses:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Mit Hilfe dieser Forschungsfrage soll untersucht werden, ob in den Artikeln ein Konnex zu anderen Themen wie beispielsweise den Nahostkonflikt oder die Entschädigung der Zwangsarbeiter hergestellt wird.

1.4. Methodik und theoretische Ausrichtung

Die Analyse der Berichterstattung der drei Zeitungen „Krone“, „Standard “ und „Presse“ im Rahmen des Opfer-Täter-Diskurses basiert auf der Kritischen Diskursanalyse nach Siegfried Jäger. Diese geht davon aus, dass Texte oder Diskursfragmente nicht als individuelle Leistungen zu betrachten sind, sondern als Bestandteile eines (sozialen) Diskurses.[6] Jäger definiert den Text als das sprachlich gefasste Ergebnis einer mehr oder minder komplexen individuellen Tätigkeit bzw. eines mehr oder minder komplexen (individuellen) Denkens, wobei dieser Text zum Zwecke der Weitergabe an andere (Kommunikation) oder an mich selbst (zu einem späteren Zeitpunkt) produziert wird.[7] Die Diskursanalyse ist aber auf die Analyse individueller Produkte angewiesen, die – in ihrer qualitativen Gesamtheit – den (gesamtgesellschaftlichen) Diskurs ausmachen.[8] Diskurse kann man als „Fluss von Wissen durch Zeit“[9] bezeichnen, deren jeweilige gesellschaftliche und politische Implikationen mit Hilfe der Kritischen Diskursanalyse sichtbar gemacht werden können. Weitverzweigte und fluktuierende Diskursstränge (thematisch einheitliche Folgen im Fluss des gesamten Wissens durch die Zeit) kommen aus der Vergangenheit, fließen durch die Gegenwart und wirken in veränderter Form in der Zukunft weiter. Basierend auf dieser Annahme, ist die Kritische Diskursanalyse das am besten geeignete Instrumentarium für die Analyse meines Themas, da ja die Aussagen der Protagonisten zur NS-Zeit ein historisch gewachsenes, tradiertes oder modifiziertes Produkt sind. Die Medien erfüllen bei der Aufrechterhaltung und Entwicklung der Diskurse eine sehr wichtige Funktion. Sie informieren nicht nur, sondern „formieren Bewusstsein“[10], indem sie die Diskurse und die durch sie konstituierten Subjekte prägen und regulieren.

Die zu analysierenden Texte sollen als Bestandteil eines gesellschaftlichen und historisch verankerten Gesamt-Diskurses begriffen werden.

Den theoretischen Hintergrund dieser Arbeit bildet der Agenda-Setting-Ansatz. Der Kerngedanke dieses Konzepts besteht in der Annahme, dass die Massenmedien nicht so sehr beeinflussen, was wir denken sollen, sondern eher bestimmen, worüber wir nachzudenken haben.[11] Sie legen also gewissermaßen fest, welche Themen wir auf unsere Tagesordnung (Agenda) setzen. Der Agenda-Setting-Ansatz schreibt sich die Aufgabe zu, einen Kausalzusammenhang zwischen der Themenauswahl der Medien und den Prioritäten ihrer Rezipienten festzustellen. Der Prozess des Agenda-Settings wird definiert als eine stetige Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Themen, um die Aufmerksamkeit der Medien, des Publikums und der Politik zu bekommen.

Der massenmedial transportierte Opfer-Täter-Diskurs wurde wochenlang am Köcheln gehalten, da das Thema nach wie vor für enorme Emotionen sorgt und auf reges Interesse bei der Leserschaft gestoßen ist, was schon die Partizipation der Rezipienten an der Debatte in Form von Leserbriefen beweist. Aufgrund der Kombination Österreich und seine NS-Vergangenheit, gepaart mit einer heftigen Auseinandersetzung innerhalb der politischen Eliten bzw. der diversen Parteien dieses Landes, konnte der Diskurs auch über mehrere Wochen prolongiert werden und war das bestimmende Thema der innenpolitischen Berichterstattung. Eine explizit rezipientenorientierte Forschung würde den Rahmen dieser Diplomarbeit verfehlen, dennoch sollen die publizierten Leserbriefe analysiert werden, da sie Rückschlüsse über die Verortung der Medien im Opfer-Täter-Diskurs erlauben.

2. Historischer Teil

2.1 Die Genesis des Opfermythos

Der These, dass sich Österreich als das erste Opfer Hitler Deutschlands betrachtete, liegen drei wichtige Eckpfeiler zugrunde. Erstens die von den Alliierten im November 1943 verabschiedete Moskauer Deklaration, in der Österreich als das erste Opfer der Hitlerschen Aggressionspolitik bezeichnet wurde. In diesem Schlüsseldokument wurde allerdings auch eine „Verantwortlichkeitsklausel“ verankert, die Österreich daran erinnerte, dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann. Dieser Annex wurde im Nachkriegsösterreich bewusst ausgeklammert, da er nicht in die von den politischen Eliten konstruierte Opferthese-Diktion passte.

Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes griff die österreichische Regierung die von den Alliierten mit der Moskauer Deklaration offerierte Möglichkeit, sich so gut es ging aus der Verantwortung für die Gräueltaten der NS-Zeit zu stehlen, sofort auf und setzte alle Hebel in Gang, um die Abgrenzung zu Deutschland zu forcieren und eine eigene österreichische Identität zu konstruieren.

Zweitens war die in der Moskauer Deklaration verortetet Opferthese dann auch die Basis für die Unabhängigkeitserklärung der Provisorischen Regierung unter Karl Renner vom 27. April 1945, wo der Opfermythos weiter untermauert wurde. Lediglich die „Verantwortlichkeitsklausel“ wurde noch durch das erfolgreiche Insistieren des Kommunisten Ernst Fischer aufgenommen. Durch den parteiübergreifenden Konsens der politischen Eliten von SPÖ, ÖVP und KPÖ hinsichtlich der Opferdoktrin, in der dann später alle Bevölkerungsgruppen ihren Schutz fanden, wurde die „Lebenslüge der Zweiten Republik“[12] im Großen und Ganzen auch nicht mehr infrage gestellt.

Der Kalte Krieg und die desaströse ökonomische Situation trugen ihren Teil dazu bei, dass eine differenzierte Opfer-Täter-Doktrin nicht als gesellschaftlicher Mainstream akzeptiert wurde.

Der dritte Eckpfeiler ist der Staatsvertrag vom 15. Mai 1955, wo auch noch die „Verantwortlichkeitsklausel“ herausreklamiert werden konnte. Nach dem Abzug der Besatzungstruppen wurde endgültig keine Notwendigkeit mehr gesehen, sich mit der NS-Zeit in Österreich und der Partizipation der Österreicher an den NS-Verbrechen auseinanderzusetzen.

Ab 1945 waren Moskauer Deklaration, Unabhängigkeitserklärung und Staatsvertrag so etwas wie die zentralen historischen Bezugspunkte der österreichischen Erfolgsstory, also des Wiederaufstiegs der Zweiten Republik. Sie sind damit zu „Gründungstexten der österreichischen Lebenslüge“[13] geworden, zu einem negativ besetzten Begriff, den man seit der Waldheim-Affäre im Jahr 1986 mit dem Terminus des Opfermythos überschreibt.

2.1.1 Die Moskauer Deklaration

Die Moskauer Deklaration ist das Schlüsseldokument und die Basis für die These vom ersten Opfer Hitler-Deutschlands. Der Eckpfeiler für den gleich nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes entstandenen Opfermythos spiegelte sich auch im Umgang mit dem Holocaust, den Kriegsverbrechen, der Entnazifizierung und der Restitution wider. Die Lebenslügen der Republik Österreich wurden also nicht nur durch individuellen psychischen Verdrängungswillen, sondern eher durch die Entwicklungen der „Großen Politik“ begünstigt.

„Durch die Moskauer Deklaration von 1943 galt das kleine Österreich, dessen Einwohner sich zunächst überwiegend als Reichsbürger empfunden und Hitlers europäische Eroberungskriege wie den millionenfachen Massenmord ebenso wie die Deutschen im „Altreich“ mit ermöglicht hatten, als besetztes Land“.[14]

Die Gründerväter der Zweiten Republik beriefen sich immer wieder auf dieses Dokument der Alliierten und interpretierten es als schriftlich festgehaltenes Zeugnis für die Unschuld aller Österreicher.

2.1.2 Ursachen und Entstehungsgeschichte

Die Moskauer Deklaration war ein Nebenprodukt der am 19. Oktober 1943 begonnenen Moskauer Konferenz, deren Ziel es war, Maßnahmen zur Verkürzung des Krieges gegen Deutschland und dessen Verbündete in Europa zu beschließen.

Die Moskauer Deklaration entstand am 1. November 1943 als sich die Außenminister Großbritanniens, der USA und der Sowjetunion zu einer Lagebesprechung trafen. In einer formellen Erklärung wurde im Rahmen der Moskauer Außenministerkonferenz Österreich als das erste Opfer bezeichnet, das der typischen Aggressionspolitik Hitlers zum Opfer gefallen war und daher befreit werden sollte.[15]

„Die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sind übereingekommen, dass Österreich das erste freie Land ist, das der Angriffspolitik Hitlers zum Opfer gefallen ist, von deutscher Herrschaft befreit werden muss. Sie betrachteten die Besetzung Österreichs durch Deutschland als null und nichtig. (…) Sie erklären, dass sie wünschen, ein freies, unabhängiges Österreich wiederhergestellt zu sehen“.[16]

Doch sie erinnerten Österreich vor allem auf Betreiben der Sowjets hin in einer „Verantwortlichkeitsklausel“ auch daran, „dass es für die Teilnahme am Kriege an

der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann“, und es werde „anlässlich der endgültigen Abrechnung“ auf Österreichs Anteil zu seiner Befreiung Bedacht genommen werden.[17]

Die Moskauer Deklaration entsprang einer amerikanischen Initiative zur psychologischen Kriegsführung und war aus rein militärisch-propagandistischen Gründen verfasst worden.[18] Die britischen und amerikanischen Nachrichtendienstmitarbeiter wussten von den zunehmenden Spannungen zwischen Österreichern und Deutschen in der Ostmark und sie schenkten den Ausführungen der Exilanten Glauben, die von einem weit verbreiteten Widerstand gegen die Nazis berichteten. So kamen die Alliierten vorschnell zu dem Schluss, dass in Österreich eine Erhebung unmittelbar bevorstand, die man nur noch psychologisch anheizen müsste.[19]

Bereits Anfang 1943 entstanden einige britische Entwürfe, in denen Österreich quasi ein Handel angeboten wurde: Bevorzugte Behandlung nach dem Krieg im Tausch für eine österreichische Kooperation im Kampf gegen die Nazis.[20] Durch die Ausführungen vom ersten Opfer Österreich in der Moskauer Deklaration glaubte man, dem aufkeimenden Widerstand gegen die Nazis zum Durchbruch verhelfen zu können und ihm einen letzten entscheidenden Impuls geben zu können. Man erhoffte sich damit, den österreichischen Patriotismus oder die heimische Opposition zu stärken.

„Das Ziel der Moskauer Deklaration bestand nicht darin, die konkrete politische Nachkriegsplanung der Alliierten für Österreich festzulegen, sondern sie diente als militärstrategisch motivierte Propagandawaffe, um in Österreich Aufstände herbeizuführen.“[21]

Allerdings sollte sich bald nach der Unterzeichnung der Deklaration herausstellen, dass die Annahme einer bevorstehenden Erhebung ein Irrtum war. Nur drei Wochen nach der Moskauer Erklärung gelangten Analytiker zu der Erkenntnis, dass die Österreicher offenbar keine Notiz von ihr genommen hatten.[22]

Im Winter 1943/44 unternahmen die Alliierten eine erneute Propagandaoffensive. Die kurzzeitige Aussetzung der Luftangriffe ging mit einer NS-feindlichen Propagandawelle einher, die im Frühjahr mit dem Abwurf tausender Flugblätter mit der Aufschrift „An das österreichische Volk“ ihren Höhepunkt fand. Die österreichische Bevölkerung reagierte – vielleicht auch infolge einer Abstumpfung nach jahrelanger nationalsozialistischer Massenmobilisierung – auf die neue Propaganda offenbar mit Gleichgültigkeit.[23]

In einem im April 1944 verfassten Bericht des Political Warfare Executive of Special Operations, des Ausschusses für politische Kriegsführung in London, wurde versucht, die halbherzige Reaktion der Österreicher auf die Moskauer Deklaration zu bewerten. Darin sticht vor allem die erstaunlich treffende Charakterisierung der ambivalenten Haltung der österreichischen Bevölkerung hervor. Der Autor betonte, dass der Nationalsozialismus „ein echt österreichisches Produkt“ sei, seine „charakteristischen Merkmale wie der Antisemitismus [...] Hätten eher Vorläufer in der österreichischen als in der deutschen Politik.“ Der österreichische „lokale Patriotismus“ sei zweifellos stärker als der bayrische Partikularismus, bilde aber kein „echtes Nationalgefühl“. Der „Anschluss“ habe zwar selbst unter einem Teil der Parteigenossen seine Popularität eingebüßt, „aber viele kluge Österreicher glauben nicht, dass Österreich zu einer unabhängigen Existenz fähig ist“.[24]

Dass die Alliierten 1943 in der Moskauer Deklaration Österreich als "erstes Opfer" bezeichneten, war vor allem auf Eigeninteressen zurückzuführen. Sie waren an einem möglichst kleinen Nachkriegsdeutschland und daher an der österreichischen Eigenstaatlichkeit interessiert. Die Sowjets wollten auf diese Weise überdies die britische Idee einer an den Habsburgerstaat anknüpfenden Donauföderation unterlaufen.

In der Moskauer Deklaration wurde Österreich als das „erste Opfer“ Hitlers bezeichnet. Dies implizierte nach Ansicht der führenden Politiker, dass Österreich daher nicht für die Verbrechen des Nationalsozialismus verantwortlich gemacht werden könne.[25] Die in der Moskauer Deklaration verankerte „Verantwortlichkeitsklausel“ geriet nach dem Krieg, als man sich als Rechtfertigung für die „Opferthese“ immer wieder auf die Moskauer Deklaration berief, schnell in Vergessenheit bzw. sie wurde von den verantwortlichen Politikern bewusst unter den Tisch gekehrt.

2.1.3 Die Rezeption der Moskauer Deklaration nach 1945

Die Konstitution der Österreichischen Republik passierte ganz unter dem Schatten der Moskauer Deklaration von 1943. Österreich versuchte, die Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime in den Mittelpunkt zu stellen und den Widerstand zu glorifizieren.[26] Das offizielle Österreich interpretierte die Österreichpolitik der Alliierten zu seinen Gunsten und die Moskauer Deklaration von 1943 erfüllte ihren Zweck in der Rechtfertigung der Opferthese.

Österreich wurde ja als das erste Land bezeichnet, das „der Aggressionspolitik Hitlers zum Opfer gefallen war“ und die „Besetzung durch Deutschland“ für null und nichtig erklärt. Damit wurde der Grundstein gelegt für die Wiederauferstehung Österreichs in Freiheit und Unabhängigkeit.

Diese Sichtweise entsprach auch dem Tenor der nach dem Krieg vom US-Department of State herausgegebenen Presseaussendung, Washington sei immer hinter Österreich gestanden.

„In praktischer Hinsicht waren die USA zwar gezwungen, aufgrund der durch den Anschluss herrschenden Lage, bestimmte administrative Maßnahmen zu ergreifen; sie vermieden jedoch konsequent alle Schritte, die de jure als Anerkennung der Annexion Österreichs durch Deutschland hätten betrachtet werden können.“[27]

Demzufolge waren die Vereinigten Staaten immer für die Wiedererrichtung eines freien, unabhängigen und demokratischen österreichischen Staates gewesen. Nachdem in den späten siebziger und achtziger Jahren die offiziellen anglo-amerikanischen Archive für Historiker zugänglich gemacht wurden, ergab sich ein etwas differenzierteres Bild.

Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion vor allem in Fragen der Reparationszahlungen und Besatzungsrechte konnte mit Verweis auf die in der Moskauer Deklaration erwähnte Befreiungsklausel die alte österreichische Verfassung wieder in Kraft gesetzt und dadurch das auf Verfassungsgesetz bezogene Vetorecht der Sowjets für ungültig erklärt werden.[28]

Eine Westanbindung Österreichs sollte auch zusätzlich durch eine Lossprechung von der Verantwortung der Österreicher für ihre NS-Vergangenheit erreicht werden, was aus einer Mitteilung der US-Regierung aus dem Jahre 1948 an ihre eigenen Beamten hervorgeht:

„Ihre Regierung [ der USA ] betrachtet aus diesem Grund die österreichische Regierung während der Zeit des Anschlusses als eine Art Marionettenregierung und deshalb für nicht verantwortlich für Handlungen, die vom Nazi-Regime bzw. seinen Vertretern begangen wurden.“[29]

Mit dem aufkommenden Kalten Krieg wurde die Moskauer Deklaration zum willkommenen Instrument, auf das man als rechtliche und politische Basis für die Besetzung Österreichs verweisen konnte.

„Würde man nämlich Österreich als „befreit“ betrachten, so müßte es an die Sowjets keine Reparationszahlungen leisten. Wenn der Fortbestand des Landes durch den Anschluss nicht unterbrochen worden war, dann könnte man die alte österreichische Verfassung einfach wieder in Kraft setzen und dadurch das auf Verfassungsgesetz bezogene Vetorecht der Sowjets für ungültig erklären. Durch dieses neue Programm könnte auch die Zuwendung Österreichs zum westlichen Lager erreicht werden.“[30]

Die Bundesregierung, der aus pragmatisch-politischen Überlegungen sehr daran gelegen war, jede Kriegsschuld von sich zu weisen, griff die von den westlichen Alliierten bereitgestellte Möglichkeit sofort begierig auf. Die Moskauer Deklaration, die von alliierter Seite primär als Ermunterung zum Widerstand gegen das zusammenbrechende Dritte Reich gedacht gewesen war, wurde zunehmend zur Rechtfertigung, wenn es der österreichischen Seite um die Abwehr von Schuldzuschreibungen am Nationalsozialismus und von Reparationsforderungen seitens der Alliierten ging.[31]

Dies geschah auf Grundlage der von Juristen geschaffenen „Okkupationstheorie“, welche besagt, dass

„Österreich trotz Anschluss und Einverleibung ins Dritte Reich nicht aufgehört hat zu bestehen, aber als Staat seiner Handlungsfähigkeit beraubt wurde – rechtlich also trotz Okkupation weiterbestanden und

deshalb nicht als Rechtsnachfolger des 3. Reiches gelten kann, völkerrechtlich also keine Verantwortung für die Teilnahme am Krieg trägt“.[32]

Auf diesem völkerrechtlichen Konstrukt konnte nunmehr die staatstragende „Selbstinfantilisierung“ vom ersten Opfer der nationalsozialistischen Expansionspolitik aufgebaut werden.[33] Diese Okkupationstheorie wurde zur Leitlinie in den Verhandlungen um den Staatsvertrag, diente zur Abwehr von Entschädigungsansprüchen und war der legitimatorische Ausgangspunkt für den Nationsbildungsprozess nach 1945.

Die den „Anschluss“ legitimierenden Rechtsakte wurden in Österreich erst nach der völkerrechtswidrigen militärischen Besetzung des Landes gesetzt, so dass der Faktor der Freiwilligkeit auf österreichischer Seite nicht als gegeben angenommen werden konnte. Die Tatsache, dass ein Teil der Bevölkerung den „Anschluss“ begrüßte erscheint aus Sicht der „Okkupationstheorie“ irrelevant, weil Staaten nur durch ihre Organe völkerrechtlich wirksam handeln können.[34]

Durch geschicktes Taktieren zwischen den sich im Kalten Krieg verschärfenden Divergenzen der Machtblöcke erwies sich diese Politik als überaus erfolgreich.

2.1.4 Renners Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945

Die Opferthese bildete dann auch das argumentative Zentrum der Unabhängigkeitserklärung der Provisorischen Regierung vom 27. April 1945.

Am 27. April proklamierte die gerade eingerichtete provisorische österreichische Regierung, geführt von Staatskanzler Karl Renner, die Selbständigkeit einer neuen Republik Österreich. Renner stellte einleitend fest, dass der „Anschluss“

durch militärische Bedrohung und kriegsmäßige Besetzung von außen erfolgte und durch den hochverräterischen Terror einer nazistischen Minderheit eingeleitet wurde.[35]

Den „Anschluss von oben“ erwähnte er nicht, also jene im Berchtesgadener Treffen von Hitler in psychoterroristischer Manier Schuschnigg aufgezwungene Unterwanderung seiner Regierung mit einer „fünften Kolonne“ von Nazis.[36]

Aus der Juristischen Perspektive der Diplomaten des Ballhausplatzes, spricht Renner dann sehr missverständlich von einer „Annexion“ des Landes und lässt einen Kalamitätenkatalog großdeutscher Missbräuche folgen, die in der „wirtschaftlichen und kulturellen Beraubung“ des ehemaligen Österreichs gipfelten.[37] Dann folgte der zentrale Satz, aus dem die Doktrin von Österreich als Opfer des Nationalsozialismus konstruiert werden sollte, nämlich

„Dass die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft dieser völligen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Anexion [sic] des Landes das macht – und willenlos gemachte Volk Österreich in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, jemals vorauszusehen oder gutzuheißen instand gesetzt war [sic], zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat, in einen Eroberungskrieg, der von den Eisfeldern des hohen Nordens bis zu den Sandwüsten Afrikas, von der stürmischen Küste des Atlantiks bis zu den Felsen des Kaukasus viele Hundertausende [sic] der Söhne unseres Landes, beinahe die ganze Jugend- und Manneskraft unseres Volkes, bedenkenlos hingeopfert hat“[38]

Die Erörterungen zur Frage des Kriegsdienstes von Österreichern in der Deutschen Wehrmacht waren von einiger Brisanz, denn in der so genannten Mitschuldklausel wurde „Österreich darauf aufmerksam gemacht, dass es für die Beteiligung am Kriege auf Seiten Hitlerdeutschlands Verantwortung trägt“. Diesem Vorwurf begegnete die provisorische Regierung mit dem Hinweis auf die „Tatsache, dass die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers […] das macht- und willenlos gemachte Volk Österreich in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat.“[39]

Es folgten danach die ersten beiden Absätze der Moskauer Deklaration, in der die Alliierten auf dem Höhepunkt des Krieges, Österreich als „erstes Opfer“ Hitlers und den „Anschluss“ für „null und nichtig“ erklärten. Noch vor dem berüchtigten dritten Absatz der Moskauer Deklaration, der die Mitverantwortung Österreichs erklärte, fügte Renner die fünf Artikel der Unabhängigkeitserklärung ein.[40]

Er erklärte die Republik Österreich auf der Grundlage der Verfassung von 1920 für wiederhergestellt, den „Anschluss“ für null und nichtig, eine Provisorische Staatsregierung für eingesetzt, die Österreicher einerseits von den Eiden auf das Deutsche Reich befreit, andererseits in ihr „Pflicht- und Treueverhältnis“ auf die neue Republik eingeschworen.[41]

In diese Erklärung wurde dann noch auf Drängen des Kommunisten Ernst Fischer jener in der Präambel unterschlagene Teil der Moskauer Deklaration eingefügt, in dem von der Verantwortung Österreichs und dem eigenen Beitrag zur Befreiung die Rede war, allerdings verbunden mit dem Nachsatz, dass sich die provisorische Regierung genötigt sehe festzustellen, dass „dieser Beitrag angesichts der Entkräftung unseres Volkes und der Entgüterung unseres Landes nur bescheiden sein kann“.[42]

Dieser Passus ist im Kontext der sich bereits abzeichnenden „Integrationsstrategie der Ehemaligen“ zu sehen. Den Schwerbelasteten wird, um den Forderungen der Alliierten Genüge zu tun, Strenge angedroht, den Mitläufern hingegen, die als gewaltiges Wählerpotential bald einen gewichtigen politischen Faktor darstellen würden, Milde versprochen. In der Regierungserklärung heißt es:

„Jene freilich, die nur aus Willensschwäche, infolge ihrer wirtschaftlichen Lage, aus zwingenden öffentlichen Rücksichten wider innere Überzeugung und ohne an den Verbrechen der Faschisten teilzuhaben, mitgegangen sind, sollen in die Gemeinschaft des Volkes zurückkehren und haben somit nichts zu befürchten.[43]

Die österreichischen Politiker und Beamten hatten bald erkannt, dass die Okkupationstheorie bei der Bemühung, „Österreichs Verantwortung zu minimalisieren, wenn nicht gar zu bagatellisieren“[44] gegenüber der Annexionsthese von Vorteil sein würde. In einem Brief des Diplomaten Norbert Bischoff vom 9. August 1945 an den Völkerrechtler Alfred Verdross erläuterte dieser die Vorteile der Okkupationsthese und resümierte, dass man im Außenamt auf dem Standpunkt stehe, „dass wir ...nach 7-jähriger gewaltsam durchgeführter Occupation [sic!] befreit“[45] wurden. Diese aus Zweckmäßigkeitserwägungen resultierende „Nichtverantwortlichkeitsklausel“ wurde in der Folge im Rennerschen Kabinettsrat zur Staatsdoktrin erhoben. Dort heißt es im Motivenbericht vom Juli 1945:

„a.) Der Kabinettsrat beschließt die Annahme der Besetzungstheorie... das müßte möglichst farblos geschehen, eher als eine Art bloß akademischer Feststellung einer längst bestehenden Überzeugung der Regierung.
b.) Es müßten alle Staatsämter, ebenfalls möglichst unauffällig, von dieser Rechtsauffassung der Prov. Staatsregierung verständigt werden...
c.) Alle Gesetze und Verordnungen müßten von nun ab auf die Besetzungstheorie abgestellt sein, was bisher nicht geschehen ...“.[46]

Damit wurde möglichst unauffällig die offizielle österreichische Politik ab August 1945 endgültig auf die Okkupationsthese und die daraus abgeleitete Opferthese eingestimmt. Der offiziellen Selbstdarstellung zufolge wurde Österreich im März 1938 gewaltsam besetzt, die Jahre 1938 bis 1945 galten als Fremdherrschaft, gegen die sich trotz brutaler Unterdrückung ein österreichisch-patriotischer Widerstand regte.

Aufbauend auf der „zentralen Metapher“ - der „Vergewaltigung“ Österreichs 1938 - ist in Renners Text die Genesis der „großen Erzählung des Opfermythos“ zu verorten.[47] Die Sichtweise durchdrang die politische Symbolik und die Darstellung der NS-Zeit unmittelbar nach Kriegsende in allen Bereichen des öffentlichen Lebens; sie wurde bereits im österreichischen Staatswappen – mit Beschluss vom 1. Mai 1945 – zum Ausdruck gebracht:

Der aus der Ersten Republik übernommene Adler wurde nun mit gesprengten Ketten „zur Erinnerung an die Wiedererringung der Unabhängigkeit Österreichs und den Wiederaufbau des Staatswesens“ versehen.[48]

2.1.5 Die Person Dr. Karl Renner

Als traditioneller sozialistischer Anschlussbefürworter segelte Renner tunlichst um die Ambiguitäten der Hitlerschen Invasion und Annexion/ Okkupation Österreichs herum und ignorierte natürlich seine eigene und die Begeisterung vieler Österreicher über die „Heimführung ins Reich“.[49] Renner selbst entpuppte sich als klassischer österreichischer Opportunist erster Stunde, der immer auf der Seite der Mächtigen stand[50] ; war er jedoch jener führende Sozialist, der im April 1938 für die „Anschluss“- Volksstimmung Propaganda gemacht hatte.

Der provisorische Präsident verteidigte in einer Rede seine Befürwortung des „Anschlusses“ auch noch wenige Tage nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, bedauerte lediglich den Lauf, den die Ereignisse genommen hatten, und fügte reuig hinzu, dass den Österreichern nichts anderes übrig bleibe, als den Gedanken an Großdeutschland aufzugeben, was vielen jedoch möglicherweise schwer fallen werde.[51]

Weniger bekannt ist, dass er nach der deutschen Besetzung des Sudentenlandes eine pronazistische Propagandaschrift verfasste, die Hitler und die westlichen Appeasementpolitiker für den Anschluss des Sudetenlandes ans Dritte Reich lobte ( sie wurde aber nie veröffentlicht ).[52]

Der politische Überlebenskünstler Renner hörte angeblich in Gloggnitz, wo er den Krieg verbrachte, nie von der Moskauer Deklaration und wollte die „Verantwortlichkeitsklausel“ aus der Unabhängigkeitserklärung gänzlich weglassen. Diese Klausel passte tatsächlich gar nicht in den „Sprachduktus“ dieses „Schlüsseldokumentes der Zweiten Republik“[53], in dem die Doktrin von den hilf- macht- und willenlosen Österreichern als unschuldige Opfer Hitler-Deutschlands der Welt kundgetan werden sollte.

Renner behauptete, dass nur ein sehr geringer Prozentsatz der österreichischen NSDAP-Mitglieder[54] zu den glühenden und unerschütterlichen Anhängern der Partei gehörte und die „ Mehrheit der Leute gab nur dem ökonomischen, sozialen und persönlichen Druck nach “.[55]

Renner und seine Partner wollten zwar den Nationalsozialismus in Österreich ausradieren, mussten aber bald erkennen, dass für den ökonomischen Wiederaufbau und für die gesellschaftliche Integration die Unterstützung der „harmlosen Gefolgsleute und Soldaten“ erforderlich war.[56] Renners Katalog der deutschen Ausbeutung Österreichs nach dem „Anschluss“ nimmt die Einverleibung des unabhängigen Österreich der Okkupationstheorie bereits vorweg, ignoriert aber aus heutiger Sicht gänzlich das komplexe Verhältnis der Ostmärker zum Dritten Reich.

Mit aller Vehemenz wurde betont, dass der Nationalsozialismus ein preußisches und ganz unösterreichisches Phänomen war. Das lag auch ganz im Sinne der Anglo-Amerikaner, die sich schon während des Krieges um eine eigenständige österreichische Identität sorgten, die zur Wiedererrichtung eines unabhängigen Österreich dringend notwendig war. Mit der Abkoppelung Österreichs vom Pangermanismus sollte auch der Prozess der „Externalisierung“ aller Verbrechen nach Deutschland anlaufen. Der kluge politische Taktiker Renner erkannte im April 1945 schon sehr genau, dass er das Thema der großen Anzahl österreichischer Kollaborateure und Mitläufer öffentlich nicht ansprechen durfte, da ansonsten die Welt nicht vom Opferstatus Österreichs zu überzeugen gewesen wäre.[57]

In der Vorgangsweise der österreichischen Regierung steckte ein politisches Kalkül, das zweckrationalen Überlegungen entstammte und rein funktional einige gute Gründe für sich beanspruchen konnte. Kritisiert wird von Historikern vor allem die „doppelgesichtige Politik der institutionalisierten Unverantwortlichkeit“, die in weiterer Folge eine beträchtliche „moralische und demokratiepolitische Hypothek für Österreich darstellen sollte“.[58]

Politisch hingegen war die Integrationsstrategie aufgegangen und das offizielle österreichische Geschichtsbild wurde vertraglich bestätigt. In einer Umkehr des Opferbegriffs wurden die tatsächlichen Opfer des Nationalsozialismus wie Juden, Sinti und Roma, KZ-Insassen und Angehörige der Euthanasieopfer, sowie die Leistungen des österreichischen Widerstands ignoriert, gleichzeitig die Opfer der österreichischen Zivilbevölkerung und der heimkehrenden Soldaten in den Vordergrund gestellt.[59] Aufkommende Debatten über die Rolle der österreichischen Täter während des Krieges mussten unterbunden und abgewürgt werden, um das „mittellose“ Österreich so vor Reparations- und Restitutionsleistungen zu befreien.[60]

Dazu kam auch, dass ein Grundkonsens erzeugt werden musste, auf Grund dessen der Parteienstreit der Zwischenkriegszeit überwunden werden konnte.

Um den Kampf gegen die Alliierten und das Ende der „Befreierokkupation“ aufzunehmen, mussten diese traditionellen Auseinandersetzungen zwischen den ideologischen Fronten der Parteien minimiert werden.

Die Übertünchung des heimischen Nazismus und die Eingliederung aller Österreicher in das große Nachkriegsopferkollektiv, die in den nächsten Jahren erfolgte, beruhte also zum Großteil auf Renners Deutungen der österreichischen Geschichte der ersten Stunden und Tage der neuen Republik.

2.1.6 Das „Rot-Weiß-Rot Buch“

Das „Rot-Weiß-Rot-Buch“ wurde in Wien bereits 1946 publiziert und das 224 A4-Seiten umfassende Buch aus der österreichischen Staatsdruckerei verfolgte ein klares und im ersten Satz des Vorwortes offen deklariertes politisches Ziel:

„Die vorliegende Schrift bildet den ersten Teil einer Publikation, die dazu bestimmt ist, Schicksal und Haltung Österreichs während der zwölfjährigen Dauer des Dritten Reiches darzustellen und seinen Anspruch auf den Status und die Behandlung als „befreiter Staat“ im Sinne der Moskauer Deklaration zu begründen.“[61]

Dabei ging es den namentlich nicht genannten Autoren darum, das ihrer Meinung nach falsche und wenig vorteilhafte Bild zu korrigieren, welches man sich im Ausland vom Verhalten der österreichischen Bevölkerung gegenüber dem Nationalsozialismus und dem „Anschluss“ machte, denn die Weltöffentlichkeit sei vielfach noch von den „optischen und akustischen Täuschungsmanövern der nationalsozialistischen Propaganda geprägt“.[62] Vor allem die Bilddokumente vom triumphalen Empfang der Deutschen Wehrmacht in Wien und von der Massenkundgebung am Heldenplatz, in denen sich der Widerspruch zum kollektiven Opfermythos manifestierte, sollten relativiert werden.

„Das Rot-Weiß-Rot Buch forcierte den Mythos des kollektiven Leids und war eine Sammlung sorgsam ausgewählter Dokumente, die den Alliierten eine patriotische Feindseligkeit gegenüber dem Anschluss-Regime glaubhaft machen sollte“.[63]

Deutlich wird im Vorwort auch die Argumentationslinie, die sich durch das ganze Buch zieht: Die Verfasser konzentrieren sich auf die Betonung der beiden Aspekte, die das Bild von Österreich als dem ersten Opfer untermauern sollten: „Widerstand“ und „fehlende internationale Unterstützung bei der Abwehr der deutschen Expansionsbestrebungen“:

„In diesem Zeitraum hat das österreichische Volk mit seinem Blute das erste Kapitel seiner Widerstandsbewegung geschrieben und die erste Rate seiner „Überfahrt“ bezahlt, was umso gewichtiger ist, als das es damals in der Welt allein stand mit seinem Kampfe“.[64]

Österreich wurde ausschließlich als Opfer der deutsch– nationalsozialistischen Expansionspolitik dargestellt:

„Ihr ( der braunen Sintflut ) erstes von der Welt im Stich gelassenes Opfer war Österreich“.[65]

Die Autoren des „Rot-Weiß-Rot“ Buches legten ihren Fokus auf den völkerrechts- und vertragswidrigen Charakter des „Anschlusses“: Österreich sei gegen seinen Willen gewaltsam okkupiert worden, und nur eine „aktionsbereite Gemeinschaft der Friedensmächte“ hätte dem „herannahenden Unheil (...) Einhalt gebieten können“.[66] Daraus wurde abgeleitet, dass das Geschehen im März 1938 nicht als „zwischenstaatliche Angelegenheit, sondern als Teil der Hitlerschen Aggression gegen die Friedensordnung Europas“ zu betrachten sei, und die Konsequenz ist, dass der „Anschluss und seine Begleiterscheinungen nicht zur Basis des politischen Umgangs mit Österreich gemacht werden dürften“.[67]

„Die Okkupation Österreichs war keine österreichische, sondern eine europäische Angelegenheit. Wer anderes behauptet, macht sich, bewusst oder unbewusst, die Schlagworte Hitlers und Goebbels zu eigen!“[68]

Es sei eine „historische Tatsache und das bleibende moralische Verdienst Österreichs, dass es alleine diese aktionsbereite Haltung an den Tag gelegt habe.“[69]

In Bezug auf den Krieg und die Beteiligung der Österreicher wird klar gestellt, dass diesen niemand wollte, da die „Einstellung der österreichischen Bevölkerung zum ´Hitlerkrieg´ von Anfang an ablehnend war, sofern sie nicht von seinem Ausgange die einzige Möglichkeit einer Befreiung vom Nazijoch erhoffte“[70] und der Blutzoll, den die Österreicher im Krieg zu entrichten hatten, war...

„... eine schreckliche Last für das Land, das ohnehin schon so unter der Okkupation zu leiden hatte und jeder der österreichischen Soldaten kann bestätigen, dass er in der deutschen Wehrmacht besonders unfair und erniedrigend behandelt wurde“.[71]

Die Herausgeber räumten ein, dass das im Buch publizierte Quellenmaterial durch die Wirren des Krieges und die vernichteten Dokumente ein lückenhaftes ist und weitere Veröffentlichungen, die genauere Aufschlüsse geben sollten, wurden angekündigt. Allerdings wurden diese nie publiziert. Es war auch nicht notwendig, da Österreichs Anspruch, als befreiter Staat im Sinne der Moskauer Deklaration zu gelten, schon erfüllt war.

Die Opferthese und die Okkupationstheorie wurden im 1946 publizierten „Rot-Weiß-Rot-Buch“ des Außenamtes also weiter untermauert, indem nun Österreich als „erstes Opfer der westlichen Appeasementpolitik“ hingestellt wurde.

„Die Beamten des Außenamtes korrigierten gerne Renners blinde Seite gegenüber dem Widerstand und übertrieben dessen Anteil an der Befreiung Österreichs“.[72]

Das Volumen des tatsächlich in Österreich geleisteten Widerstands lässt sich auch aufgrund seiner oft sehr unterschiedlichen Facetten und Maßnahmen gegen das NS-Regime schwer quantifizieren. Tatsache ist jedoch, dass mindestens 2.700 Österreicher als aktive Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden.[73]

„Gemessen an der großen Zahl der Opfer waren die praktischen Ergebnisse des Widerstandskampfes – etwa in Richtung einer Gefährdung des NS-Regimes, einer ernstlichen Schädigung der NS-Kriegsmaschinerie oder der Erringung der Hegemonie in der Bevölkerung – aber eher bescheiden, und die Befreiung Österreichs von der NS-Herrschaft war nicht das Werk einer Revolution von unten oder eines nationalen Freiheitskampfes, sondern ausschließlich das Verdienst der alliierten Streitkräfte“.[74]

2.1.7 Der Staatsvertrag

Die endgültige Anerkennung der Weltmächte errang Österreich mit dem “Staatsvertrag zur Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich”, der von den vier alliierten Außenministern und Leopold Figl am 15. Mai 1955 im Marmorsaal des Schlosses des Oberen Belvedere in Wien unterzeichnet wurde.

„Die Bezeichnung “Staatsvertrag” verwischte einerseits die Tatsache, dass viele Österreicherinnen und Österreicher sich am Ende des Krieges nicht als befreit sondern als besiegt betrachteten. Zum anderen fiel mit der Streichung der Verantwortungsklausel aus der Präambel des Vertragswerkes die letzte Bastion auf dem Weg zur Durchsetzung des Opfermythos“.[75]

In der allerletzten Runde der Staatsvertragsverhandlungen am 14. Mai 1955 konnte ja auf Betreiben des Außenministers Leopold Figl auch noch die Verantwortlichkeitsklausel aus der Präambel des Vertrags gestrichen werden und damit Österreichs Befreiung und Nichtverantwortung am Krieg vor aller Welt quasi notariell beglaubigt werden.

„Für eine große Anzahl an Österreichern, die 1945 nicht als Befreiung erlebten und sahen, war der Staatsvertrag eine zweite, dieses Mal substantielle, Befreiung. Der Jubel vor dem Belvedere schwappte über alle Widersprüche und politischen Lager hinweg. Ehemalige Mitglieder der NSDAP, der Nationalen Front, Sozialdemokraten, Katholiken, Kommunisten und Monarchisten fanden sich im „Österreich ist frei“ Diktum des 15. Mai 1955 wieder“.[76]

Leopold Figl, der von Anfang an mit aller Vehemenz die Opferthese postulierte, konnte sich also auf seine Fahnen heften, dass nach dem Staatsvertrag nur mehr der Opferstatus übrig blieb.[77]

Bei der Enthüllung eines Denkmales am Schwarzenbergplatz in Wien für die Gefallenen der Roten Armee am 19. August 1945 verlieh er seiner Sicht der NS-Zeit Ausdruck, indem er sagte:

„Sieben Jahre schmachtete das österreichische Volk unter dem Hitlerbarbarismus. Sieben Jahre wurde das österreichische Volk unterjocht und unterdrückt, kein freies Wort der Meinung, kein Bekenntnis zu einer Idee war möglich, brutaler Terror und Gewalt zwangen die Menschen zu blindem Untertanentum.“[78]

Figls Rede kann als beispielhaft für die Selbstdarstellung Österreichs im Rahmen der Opfertheorie betrachtet werden.

"In den Fabriken und Büros, an der Front und in der Heimat wurde stille und erfolgreiche, aber auch gefährliche Sabotage am Hitlerstaate geübt. (...) Wir wahren Österreicher standen in einer Front mit den Soldaten der alliierten Armeen."[79]

Figls Ausführungen entsprachen den persönlichen Erfahrungen der politischen Eliten der Gründergeneration der Zweiten Republik. Unter den 17 Mitgliedern der Regierung Figl I befanden sich 14, die in der nationalsozialistischen Zeit Verfolgungen erlitten hatten. Figl selbst war als Exponent des ständestaatlichen Systems in den Konzentrationslagern Dachau, Flossenbürg und Mauthausen und zuletzt im Wiener Landesgericht – insgesamt fünf Jahre und acht Monate - inhaftiert und nur das rasche Vordringen der sowjetischen Armee rettete ihn vor dem sicheren Todesurteil[80] -, diese Erfahrungen wurden nun aber auf das ganze "österreichische Volk" übertragen.

„Mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages kam der Seiltanz zwischen der Aufrechterhaltung der Opfertheorie in der Außenpolitik und der Bemühung um Konsens in der Innenpolitik, der die unmittelbare österreichische Nachkriegszeit charakterisiert hatte, zu einem vorläufigen Abschluss“.[81]

Im Jubel über den Staatsvertrag waren alle Widersprüche aufgehoben – zwar nicht intellektuell, erst recht nicht moralisch, aber politisch. [82] So war es kein Zufall, sondern Ausdruck des spezifischen Umgangs mit der Vergangenheit und der rein rhetorischen Opfer – Beschwörung, als Bundeskanzler Julius Raab 1955 in einer Rundfunkrede zur Unterzeichnung des Staatsvertrages die Grenzen einfacher Arithmetik sprengte:

„Unser Land war das erste, das 1938 der Machtgier eines Diktators zum Opfer gefallen ist. Österreich war das erste Glied in der Kette, die unentrinnbar die ganze Menschheit in ein gigantisches Völkermorden hineinzog. Österreich war damals das erste Opfer in der Reihe der versklavten Staaten geworden: Möge es ein Symbol sein, dass nunmehr Österreich nach zehn Jahren befreit ist“.[83]

Obwohl mit dem Abschluss des Staatsvertrages die „geschichtliche Fiktion ihre pragmatische Rechtfertigung verloren hatte“[84], beruhte die Selbstdarstellung Österreichs weiterhin auf dem auf der Moskauer Deklaration basierenden und „vom Staat verordneten “[85] Opfermythos, um den herum die Nachkriegsidentität Österreichs konstruiert wurde.

„Kurzfristig mag es politisch opportun und auch notwendig gewesen sein, den eigenen Lebenslügen Glauben zu schenken, langfristig jedoch versperrte die Opferthese den nachfolgenden Generationen die Sicht auf die auch von Österreichern begangenen Kriegsverbrechen und das weitläufige Mitläufertum der Ostmärker. Alle wurden zu Opfern des Nationalsozialismus gemacht und sogar minderbelastete Nazis konnten als Opfer gesehen werden – als Opfer des Entnazifizierungsprozesses der Alliierten“.[86]

Die Folgen dieser Opferideologie waren die fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit und die nicht vorhandene Akzeptanz einer moralischen Haftung für die von Österreichern begangenen Verbrechen.

2.2 Der „Anschluss“

Der "Anschluss" stellte sich als dreifache Machtübernahme dar:

„...als massive militärische Drohung durch den Einmarsch der Wehrmacht, begleitet von einer noch früher einsetzenden Polizeiaktion von Himmlers Gestapo; Aber neben diesem äußeren Faktor, gegen den es kaum ein Erfolg versprechendes Verteidigungsmittel gab, war der „Anschluss“ auch eine Folge der Machtübernahme von einheimischen Nationalsozialisten und Sympathisanten, die sich bereits in niedrigeren wie auch höheren Positionen des "Ständestaates" befanden und hier unter Ausnutzung der autoritär-diktatorischen Strukturen scheinlegal die gewalttätigen Aktionen ihrer Anhänger unterstützen konnten“.[87]

Die Aufstandsbewegung war eine demonstrative Machtübernahme "von unten" durch bedrohlich wirkende Straßendemonstrationen, offenen Aufmarsch von bislang verbotenen Parteiformationen und symbolischen Aktionen.

Zweifellos ist die verbreitete Begeisterung für den „Anschluss“ vor dem Hintergrund eines deutschen Nationalgefühls zu sehen, das in dieser Zeit in Österreich vorherrschend war. Dennoch galt der Zuspruch nicht nur Deutschland, sondern auch dem konkreten politischen und ideologischen System.[88]

In diesem Zusammenhang ist vor allem der virulente Antisemitismus zu nennen, der seit jeher Juden und Außenseiter für soziale Bedrängnis verantwortlich machte.[89]

Zu Beginn des Jahres 1938 änderte Hitler seine Politik gegenüber Österreich und übte immer mehr Druck auf Kanzler Schuschnigg aus. Dadurch ermutigt, kam es immer häufiger zu Demonstrationen von österreichischen Nazis für den „Anschluss“ an das Deutsche Reich. Um das zu verhindern, setzte Schuschnigg für den 13. März eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs an, zu der es allerdings nicht mehr kam. In der Nacht zum 12. März 1938 begann der Einmarsch der deutschen Truppen. Tausende säumten begeistert die Straßen und Plätze von Hitlers Triumphfahrt über Braunau und Linz nach Wien.[90] Geschätzte 250 000 Menschen hörten am 15. März am Wiener Heldenplatz Hitlers „Vollzugsmeldung“: den Eintritt Österreichs ins deutsche Reich.[91] Diese waren zum Teil überzeugte Nazis und zum Großteil Schaulustige, Mitläufer und Opportunisten.[92]

„Die gewaltigen Menschenmassen, die der einmarschierenden Wehrmacht zujubelten, blieben nicht ohne Wirkung. Hitler hatte ursprünglich die Absicht, eine „Personalunion“ zwischen Deutschland und Österreich zu bilden, er war aber so ergriffen von dem Empfang, dass er am 13. März ein Gesetz über die Wiedervereinigung seines Heimatlandes mit dem deutschen Reich unterschrieb“.[93]

Das NS-Regime verzichtete aber auch nicht auf terroristische Mittel. Während Hitler im Siegeszug durch Österreich fuhr, füllten sich bereits die Kerker: 50 000 bis 70.000 Österreicher wurden in den ersten sechs Wochen eingesperrt.[94]

Die pogromartigen Ausschreitungen begannen allerdings bereits am 11. März, noch ehe das Land besetzt war.

„Die antisemitischen Gewaltausbrüche nach Schuschniggs Abschiedsrede wurden von den österreichischen Nationalsozialisten und ihren Komplizen verübt, nicht von den deutschen Invasoren“.[95]

In der Volksabstimmung vom 10. April 1938 bestätigten 99,6 Prozent der Wahlberechtigten – bei einer Wahlbeteiligung von 99,7 Prozent – Österreichs „Wiedervereinigung“ mit dem Deutschen Reich.[96] Lediglich 11 929 Österreicher hatten mit Nein gestimmt und 5 776 hatten ungültige Stimmzettel abgegeben.[97] Dabei waren 360 000 oder acht Prozent der Österreicher als Juden und politische Verfolgte nicht wahlberechtigt; es gab praktisch kein Wahlgeheimnis, die Flüsterpropaganda ließ geheime Kontrollen befürchten, die Einschüchterung war erheblich und alternative Propaganda undenkbar.[98]

Das heißt, das Wahlergebnis hat nur eine begrenzte Aussagekraft über die damals herrschende Stimmung. Die allgemeine Reaktion auf den „Anschluss“ kann trotzdem nicht einfach nur als Leichtgläubigkeit, Opportunismus oder die Hoffnung auf eine Besserung der Wirtschaftslage gewertet werde.

„Die Begeisterung von 1938 entspricht auf einer viel tieferen Ebene der Erregung des Augenblicks; sie steht für ein echtes Wiederaufleben des deutschen Nationalgefühls, das in der Zwischenkriegszeit fast alle erfasst hatte. Auch wenn Hitlers außenpolitische Ziele damals noch unklar waren, hatte doch kaum jemand gegen sein diktatorisches System etwas einzuwenden oder gar gegen seine Absicht, Österreich von unerwünschten Minderheiten und den von der Gesellschaft Ausgestoßenen zu befreien. Schon allein wegen des bestehenden antisemitischen Konsenses stand fest, dass eine Mehrheit der Österreicher bereit war, in dem Großdeutschen Reich ihre „Pflicht“ zu erfüllen“.[99]

2.2.1 Darstellung und Rezeption

Der „Anschluss“ wurde lange Zeit als ein dramatischer Akt der Vergewaltigung Österreichs dargestellt. Der gewaltsame Einmarsch der Hitler Truppen gegen den Willen der Mehrheit der Österreicher stand im Mittelpunkt der offiziellen Geschichtsschreibung. Aus heutiger Sicht dominieren aber bei der Darstellung des „Anschlusses“ an Nazi-Deutschland zwei konträre Sichtweisen:

Der Rolle der Österreicher unter dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstehende Autoren betonen die Begeisterung, mit der die einrückenden deutschen Truppen empfangen wurden und heben die kollektive Hysterie der Bevölkerung hervor.

Währenddessen wird die nationalkonservative Rezeption vorwiegend auf den Umstand verweisen, dass der deutsche Einmarsch einer geplanten Volksabstimmung, welche mit Sicherheit zugunsten eines unabhängigen Österreichs ausgegangen wäre, zuvorgekommen ist.

Im einen Fall war Österreich „Partner“ von Deutschland und Täter bzw. Mittäter, im anderen Fall Opfer von Nazi-Deutschland.

Beide Bilder entsprechen in ihrer Einseitigkeit nicht dem tatsächlichen Geschehen, welches wesentlich komplexer war. Allgemein gilt in der historischen Forschung die Beschreibung des „Anschlusses“ als Staatsstreich auf drei Ebenen als unbestritten: „ein pseudorevolutionärer Aufstand von unten, eine halblegale Übertragung der Macht von oben und eine starke militärische Invasion von außen"“[100]

Die Interpretation des „Anschlusses“ war vor dem Hintergrund der Opfer - These der Schlüssel zur Selbstpositionierung der Republik und die Frage, wie der „Anschluss“ zu verstehen sei, war gleichzeitig die Frage nach der Gültigkeit der „offiziellen“ Geschichtsschreibung der Zweiten Republik.[101] In den ersten Jahrzehnten nach 1945 prägte vorwiegend eine der Okkupationstheorie entsprechende völkerrechtliche Interpretation des „Anschlusses“ das offizielle Geschichtsbild. Demnach war nicht mehr nur der österreichische Staat, sondern auch und zugleich die österreichische Bevölkerung in ihrer Mehrheit Opfer der NS-Herrschaft. Diese Sichtweise trug vornehmlich dem Bedürfnis nach der Lossprechung von Schuld, aber auch nationaler Selbstfindung und Stabilisierung Rechnung und entsprach der Logik der Opportunität, das Beste für Österreich herauszuholen.

Die Geschichte der Rezeption des „Anschlusses“ entspricht aber einem bestimmten Schema fortschreitender Erosion: Vom Festhalten an der Opferthese unter Betonung der militärischen Okkupation, über Ergänzungen und Modifikationen der Opferthese durch das Eingeständnis österreichischer Mittäterschaft bis hin zur These von einer Machtergreifung der österreichischen Nationalsozialisten.

2.2.2 Der „Anschluss“ als Geschichtslüge

Die Verfechter und Verteidiger der Opferthese betonen, dass alleine schon der Begriff „Anschluss“ irreführend ist, da es sich ja um eine militärische Okkupation gehandelt habe.

Der Sozialdemokrat Josef Hindels erläuterte seine Sicht der Dinge in der „Zukunft“:

„Österreich wurde am 12. März 1938 besetzt, annektiert, von der europäischen Landkarte gelöscht. Was damals geschah hatte mit einem Anschluss nichts das Geringste zu tun. Es handelte sich um einen brutalen, das Völkerrecht verletzenden Gewaltakt Hitlerdeutschlands gegen Österreich. Wer heute noch immer von einem Anschluss spricht, wiederholt bewusst oder unbewusst, eine Lüge der Nazipropaganda. ...Österreich hat sich niemals an Deutschland „angeschlossen“. ...zu Recht wird es daher als das erste Opfer der imperialistischen Expansion Hitlerdeutschlands in Europa bezeichnet“.[102]

Die entscheidende Bestätigung der Opferthese wird im militärischen Einmarsch gesehen, der die „Anschlussbereitschaft“ der Österreicher widerlegen soll. Daher hatte auch ein geplantes Referendum, welches zu Gunsten eines unabhängigen Österreichs ausgegangen wäre, unter allen Umständen verhindert werden müssen.

Aus dieser Argumentation lassen sich eindeutige Rückschlüsse für die Kriterien der Beurteilung Österreichs als Opfer Hitlerdeutschlands ableiten:

„Die Annexion wird allein auf der Ebene der Staatsbeziehungen betrachtet, wonach sie als Ergebnis politischer Erpressung und militärischer Gewalt von Seiten Deutschlands, als Kapitulation gegenüber einem übermächtigen Gegner von Seiten Österreichs gelten kann“.[103]

In dieser Sichtweise manifestiert sich eine Fokussierung alleine auf die politischen Institutionen, die losgelöst von der Meinung und den Absichten der Bevölkerung als die geschichtswirksamen Kräfte gesehen werden. Dies impliziert, dass eine überwältigende Mehrheit der Österreicher gegen den „Anschluss“ war und keinen anderen Handlungshorizont gehabt hatte und somit ein Opfer der Hitlerschen Aggressionspolitik wurde.

Die Kriegsgeneration fühlte sich durch die Verantwortlichkeit der Institutionen ausreichend legitimiert und die politischen Institutionen und deren Regulative trugen wesentlich zur Formung des „kollektiven Gedächtnisses“ bei.

„Die Rekonstruktion von Vergangenheit wird institutionell so gesteuert, dass das erinnert wird, was man unter der Herrschaft dieses Systems tun musste, und das vergessen wird, was man in Identifikation mit diesem System tun wollte“.[104]

Ist dieser Mechanismus, sich pauschal als Opfer zu präsentieren, auf der Ebene gesellschaftlicher Institutionen verankert, so kann es kaum zu einem kollektiven Prozess der Herausbildung von Wertorientierung und Bewusstsein kommen, der eine Beurteilung individueller Handlungen unter dem NS-Regime erzwingt.[105]

Von den Absichtserklärungen der politischen Grundkräfte wird auf die mehrheitliche Gegnerschaft der Österreicher zu „Anschluss“ und Nationalsozialismus geschlossen, was sich auch in einem deutlichen Votum für die Unabhängigkeit Österreichs in der für den 13. März geplanten Volksbefragung niedergeschlagen hätte. Der Widerstand Schuschniggs, der als letzten Rettungsanker eine Volksbefragung über den „Anschluss“ an Hitler-Deutschland durchführen wollte, wird mit dem Willen des restlichen Österreichs gleichgesetzt.

2.2.3 Dokumente des Jubels über den „Anschluss“

Die Bilddokumente der rasenden Begeisterung und Jubelstürme sind es, die den offenkundigsten Widerspruch zur Opferthese darzustellen scheinen. Für die Verfechter der Opferthese sind die fotografischen Dokumente in erster Linie als bewusste Inszenierung der NS-Propaganda zu sehen, die bloß einen Ausschnitt der Realität verfälscht wiedergeben, da nur die jubelnden Massen gezeigt wurden.

Das andere Österreich hingegen, also diejenigen, die verhaftet wurden oder flüchten mußten, bleibt im Verborgenen und wer sich bei seiner Interpretation über die „Anschlussbereitschaft“ der Österreicher auf die Jubelbilder beruft, wird ein zweites Mal Opfer der NS-Propaganda. Der ehemalige Außenminister Alois Mock hielt den Kritikern der Opferthese entgegen, dass „sie nur die jubelnden Massen am Heldenplatz im Auge haben“ und daher „spät aber doch Opfer der NS-Propaganda werden“.[106] Mock betonte auch in typischer ÖVP-Manier, dass es der NS-Propaganda darum ging, „den zustimmenden Jubel zu zeigen, um damit ein allfälliges schlechtes Gewissen des Auslandes zu beruhigen“.[107]

Die jubelnden Massen wären in keiner Weise mit der Stimmungslage der Bevölkerung gleichzusetzen.

„Es wäre töricht, bestreiten zu wollen, dass es tatsächlich Hunderttausende waren, die Hitler auf dem Heldenplatz in Wien einen geradezu frenetischen Empfang bereitet haben... Niemand aber konnte die Millionen Österreicher – Angehörige der Vaterländischen Front genauso wie Sozialdemokraten und Mitglieder des Heimatschutzes – zählen, die um das verlorene Vaterland trauerten“.[108]

Im Gegensatz dazu steht bei den Kritikern der Opferthese die Begeisterung der Massen nach dem Einmarsch Hitlers im Zentrum ihrer Argumentationslinie.

„Es besteht kein Zweifel, dass der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich vom größten Teil der Bevölkerung begrüßt, ja in der letzten Zeit von vielen sogar leidenschaftlich angestrebt wurde; Versuche, diese Tatsache in Frage zu stellen, den Massen auf dem Heldenplatz gewissermaßen die Zahl der Nichterschienenen gegenüberzustellen, überzeugen angesichts des überwältigenden Jubels von Braunau bis Graz nicht; an den 99,7% Zustimmung zum „Anschluss“ am 10. April in Österreich ist in der Sache nicht zu zweifeln“.[109]

2.2.4 Der „Anschluss“ und die Opferthese im parteipolitischen Spektrum

Nicht nur die Nachkriegsregierungen Österreichs verwendeten die Ereignisse des Jahres 1938 gleichsam als legitimatorischen Steinbruch - auch die vier politischen Lager missbrauchten diese, wenn auch diskreter, in gleichem Sinne. Alle versuchten aus dem eigenen Verhalten im Zuge des Machtwechsels in Wien und der Aufgabe der Souveränität Österreichs nach 1945 im Lichte der neuen politischen Opportunitäten für sich so viel Kapital wie möglich zu schlagen:

„Die Regierung für den wieder erstandenen Staat, die Sozialdemokraten und die Kommunisten für ihre vom Bann der Illegalität befreiten Parteien, die Christlich-Konservativen und die Christlich-Sozialen sowie die Deutschnationalen für die beiden neu gegründeten politischen Gemeinschaften der Österreichischen Volkspartei und des Verbandes der Unabhängigen, der 1956 von der Freiheitlichen Partei abgelöst wurde“.[110]

Die Chronisten der wieder erstandenen Republik und der Parteien blendeten bedeutende Aspekte von „Anschluss“ und nationalsozialistischer Herrschaft aus. Aspekte, welche die eigene Distanzierung von der nationalsozialistischen Herrschaft und den Gründen, weshalb sich diese in Österreich so einfach errichten ließ, relativiert hätten. Anders als die Repräsentanten der Republik, die den Opferstatus von Staat und Bevölkerung unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aktiv und lautstark zu reklamieren begannen, thematisierten die Parteien die Ereignisse des Jahres 1938 in einer defensiven Art und Weise.

Versuche, historische Schuldzuweisungen tagespolitisch zu instrumentalisieren, wären in Anbetracht des Willens der beiden großen politischen Lager zur Zusammenarbeit nicht opportun gewesen. Dies umso mehr, als deren selektive Interpretationen erheblich differierten und dabei die parteispezifischen Eigenheiten zum Ausdruck kamen, die vor allem die Frage nach der Verantwortung betreffend zu grundlegend verschiedenen Antworten führten.

„Die Ruhigstellung des grundlegenden Konfliktes der Zweiten Republik – des tiefen Gegensatzes zwischen dem sozialistischen und dem christlich-konservativen Lager – liefert dafür viele Beispiele. Die ÖVP wusste 1945 und später, dass die lieber nicht von der Rolle Karl Renners im Jahr 1938 sprechen sollte – weil dann die SPÖ die Rolle der österreichischen Bischöfe im selben Jahr thematisiert hätte. Und so wurden auch Symbole der Versöhnung ausgetauscht, als Kehrseite des Austausches politischer Tabus: Renner erhielt sein Denkmal und seinen Ring, Seipel seinen Platz in Wien und die militanten Antisemiten, Lueger und Kunschak, ihre unkritischen Denkmäler in der österreichischen Geschichtsschreibung“.[111]

[...]


[1] „Das erste Nazi-Opfer“, in: Die Presse vom 10.11.2000, S.7.

[2] Uhl, Heidemarie: Zwischen Versöhnung und Verstörung. Eine Kontroverse um Österreichs historische Identität fünfzig Jahre nach dem "Anschluss", Wien, 1992.

[3] Wassermann, Heinz-Peter: „Zuviel Vergangenheit tut nicht gut!“. Nationalsozialismus im Spiegel der Tagespresse der Zweiten Republik, Innsbruck/Wien/München, 2000.

[4] Ebenda, S. 544.

[5] Vgl. ebenda, S. 24.

[6] Vgl. Jäger, 2001, S. 173.

[7] Vgl. ebenda, S. 118.

[8] Vgl. ebenda.

[9] Vgl. ebenda, S.5.

[10] Vgl. ebenda, S. 112.

[11] Vgl. Burkart, 1998, S. 246f.

[12] Vgl. Gehler, 1997, S. 378.

[13] Vgl. Botz, 1994, S. 18.

[14] Vgl. Steinbach, 1994., S. 122.

[15] Vgl. Stourzh, 1980, S. 214.

[16] Ebenda.

[17] Vgl. Botz, 1994, S. 24..

[18] Vgl. Bukey, 2001, S. 291f.

[19] Vgl. ebenda.

[20] Vgl. Bischof, 1993, S. 50f.

[21] Keyserlink, 1997, S.18.

[22] Vgl. Bukey, 2001, S.292.

[23] Vgl. ebenda., S. 293.

[24] Vgl. Bukey, 2001, S. 294f. Zit nach: NA,RG 226, Sch. 0907, Dok. 69 480: „Austria: Attitudes to Germany, the War and the Future“, 23. April 1944.

[25] Vgl. Albrich, 1994, S. 147.

[26] Vgl. Bailer, 1997, S.103.

[27] Keyserlink, 1997, S. 12f.

[28] Vgl. ebenda., S. 22.

[29] Vgl. Keyserlink, 1997, S. 12f.

[30] Ebenda. S. 23.

[31] Vgl. Botz, 1994, S.24f.

[32] Vgl. Bischof, 1993, S. 348.

[33] Vgl. Manoschek, 1995, S. 49.

[34] Vgl. Keyserlink, 1997, S. 20.

[35] Vgl. Czáky, 1980, S. 36f.

[36] Vgl. Bischof, 2001, S. 324.

[37] Vgl. ebenda.

[38] Vgl. Schärf, 1960, S. 72f.

[39] Proklamation vom 27. April 1945, in: Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, 1. Mai 1945, S. 1.

[40] Bischof, 2001, S. 326.

[41] Ebenda.

[42] Vgl. Schärf, 1960, S. 74.

[43] Vgl. Bischof, 1993, S.353.

[44] Vgl. ebenda.

[45] Vgl. ebenda, S. 354.

[46] Vgl. Bischof, 1993, S. 354.

[47] Vgl. Hanisch, 2000, S.13.

[48] Vgl. Spann, 1994, S. 59.

[49] Vgl. Bischof, 2001, S. 328.

[50] Vgl. Pelinka, 1989, S. 101.

[51] Vgl. Knight, 1988, S. 75.

[52] Vgl. ebenda.

[53] Vgl. Hanisch, 1998, S.16.

[54] In der „Ostmark“ gab es im Vergleich zur Population mehr Mitglieder bei der NSDAP als im „Altreich“. 1942 waren 688.000 Personen bei der Partei; das entspricht 8,2 Prozent der Bevölkerung. Siehe auch Botz, Gerhard: Eine deutsche Geschichte 1938 – 1945?. In: Zeitgeschichte 14, Oktober 1986, S. 19-38.

[55] Blänsdorf, 1987, S. 9f.

[56] Bukey, 2001, S. 321.

[57] Vgl. Pelinka, 1989, S. 103.

[58] Vgl. Bischof, 2001, S. 330.

[59] Vgl. ebenda.

[60] Vgl. Bukey, 2001, S. 319.

[61] Rot-Weiß-Rot-Buch, 1946, S.3, (zit. nach: Schneeberger, 2000, S. 106).

[62] Vgl. ebenda.

[63] Bukey, 2001, S. 322.

[64] Rot-Weiß-Rot Buch, 1946, S. 3, (zit. nach: Schneeberger, S. 106).

[65] Rot–Weiß–Rot-Buch, 1946, S.5, (zit. nach: Safrian, 1994, S. 528).

[66] Rot-Weiß-Rot Buch, 1946, S. 5, (zit. nach: , Schneeberger, 2000, S. 106).

[67] Vgl. ebenda, S. 107f.

[68] Rot-Weiß-Rot Buch, 1946, S. 196, (zit nach: Ebenda).

[69] Rot-Weiß-Rot Buch, 1946, S. 7f, (zit. nach: Ebenda, S. 108).

[70] Rot-Weiß-Rot-Buch, S. 94f, (zit. nach: Uhl, 1997, S. 68).

[71] Ebenda.

[72] Vgl. Safrian, 1994, S. 529.

[73] Vgl. Neugebauer, 2000, S. 207.

[73] Ebenda.

[75] Stourzh, 1998, S. 41f.

[76] Pelinka,1997, S. 99.

[77] Vgl. Blänsdorf, 1995, S. 21.

[78] Vgl. Uhl, 2001, S. 21.

[79] Mahnmal unerbittlicher Gerechtigkeit, in: Das Kleine Volksblatt, 21. 8. 1945, S. 1f.

[80] Vgl. Kriechbaumer, 1995, S. 126.

[81] Bischof, 1993, S. 358.

[82] Pelinka, 1996, S. 29.

[83] Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte, S.472, ( zit. nach: Safrian, 1994, S. 529).

[84] Vgl. Johnson, 1987, S. 50.

[85] Vgl. Gärtner/Rosenberger, 1991, S. 42.

[86] Pelinka, 1995, S. 308.

[87] Botz, 1986, S. 23.

[88] Vgl. Ziegler/Kannonier-Finster, 1993, S.234f..

[89] Haas, 2001, S. 46.

[90] Vgl. Schmidl, 1987, S. 216.

[91] Vgl. Haas, 2001, S. 45.

[92] Vgl. Kreissler, 1984, S. 95f.

[93] Bukey, 2001, S. 52.

[94] Vgl. Haas, 2001, S. 47.

[95] Bukey, 2001, S. 58.

[96] Haas, 2001, S. 47.

[97] Bukey, 2001, S. 65.

[98] Haas, 2001, S. 47.

[99] Bukey, 2001, S. 66.

[100] Vgl. Bukey, 2001, S. 48.

[101] Vgl. Uhl, 1989, S. 99.

[102] Vgl. Uhl, 1992, S. 91. ( Zit nach: Hindels, Josef: 1938: Aus der Vergangenheit lernen. Österreichs Weg vom Austrofaschismus zur Nazi-Barbarei. In: Zukunft, H.3, Wien, 1988, S. 42f. )

[103] Ebenda, S. 92.

[104] Ziegler/Kannonier-Finster, 1993, S.234f.

[105] Ebenda, S. 37.

[106] Vgl. Uhl, 1992, S. 101 ( Zit nach der Rede von Alois Mock bei der Gedenkfeier der ÖVP, Neues Volksblatt, 3.3. 1988. )

[107] Ebenda.

[108] Vgl. ebenda. ( Zit nach: Hermann Withalm: Von einem Anschluss konnte keine Rede sein, Österreichische Monatshefte, 1987/7, S. 14. )

[109] Ziegler, 1995, S. 37.

[110] Vgl. Schneeberger Paul, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.8.2001, S. 23.

[111] Pelinka, 1994, S. 22.

Ende der Leseprobe aus 205 Seiten

Details

Titel
Die Opferthese im Spiegel der Medien
Untertitel
Debatte über Österreichs Rolle in der NS-Zeit
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Publizistik)
Note
Gut
Autor
Jahr
2006
Seiten
205
Katalognummer
V124999
ISBN (eBook)
9783640299850
ISBN (Buch)
9783640304714
Dateigröße
1098 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Positionierung der drei Tageszeitungen "Krone", "Presse" und "Standard" im Opfer-Täter-Diskurs über Österreichs Rolle in der NS-Zeit.
Schlagworte
Opferthese, Spiegel, Medien
Arbeit zitieren
Mag. Oliver Mark (Autor:in), 2006, Die Opferthese im Spiegel der Medien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124999

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