Georg Simmel - "Psychologie der Diskretion": Eine Einführung und ein Kommentar


Seminararbeit, 2006

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. „Psychologie der Diskretion” – eine Theorie des modernen Lebens

2. Simmels Text

3. Nietzsche bei Simmel

4. Drei Psychologien nach 1900

5. Das spezifisch Simmelsche in der „Psychologie der Diskretion”

Literaturangabe

ŸHeinz-Jürgen Dahme/Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel. Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, Frankfurt: suhrkamp-Taschenbuch (stw 434), 1983. daraus besonders: “Einleitung von Heinz Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt” S. 7 - 34 und aus Abschnitt III “Theorie des modernen Lebens” S. 140 - 166.

Georg Simmel

„Psychologie der Diskretion”

1. „Psychologie der Diskretion” – eine Theorie des modernen Lebens

Der relativ kurze, aber sehr inhaltsreiche Text „Psychologie der Diskretion”, welcher 1906 verfasst wurde, findet sich mit drei anderen Arbeiten Georg Simmels im dritten Abschnitt der „Schriften zur Soziologie”[1]. In diesem dritten Abschnitt, der mit „Theorie des modernen Lebens” überschrieben ist, wurden mikrosoziologisch-psychologische Betrachtungen verortet. Die „Psychologie der Diskretion” lässt sich größtenteils in das Gebiet der philosophischen Soziologie[2] einordnen; Simmel bewegt sich hier auch nach seiner eigenen Auffassung zwischen Philosophie und Wissenschaft[3]. Er befasst sich in den Arbeiten der „Theorie des modernen Lebens” mit Einzelheiten, mit „scheinbar unbedeutenden Details des sozialen Alltags”, aus denen er induktiv Erkenntnisse gewinnt - im Besonderen wird das Allgemeine gesucht[4] – werden persönliche Beziehungen und private Verkehrsformen der Menschen scharfsichtig analysiert. Eine Erklärung (von vielen möglichen), warum Simmel menschliche Mikroprozesse und zwar auf den ersten Blick relativ unbedeutend anmutende Einzelheiten behandelt, liefern die Herausgeber der „Schriften zur Soziologie” Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt unter Berufung auf Nedelmann und Levine in ihrer Einleitung: „[...] so ist nach Simmels Verständnis die Analyse der Dynamik sozialer Mikro-Prozesse, durch die soziale Gebilde zustande kommen und getragen werden, wichtigste Aufgabe der Soziologie”[5]. Dass Simmel diesen eben zitierten Prozessen eine solch hohe Bedeutung für die Soziologie einräumt, sollte auch seine theoretischen Schriften darüber – also die vier Abhandlungen der „Theorie des modernen Lebens” – umso bedeutungsvoller für spätere Rezipienten erscheinen lassen, die einen möglichst korrekten Einblick in Simmels soziologische Theorie zu gewinnen suchen.

2. Simmels Text

Georg Simmel schlägt in seinem Text drei Definitionen beziehungsweise Definitionsvarianten für Diskretion vor; diese wiederum geben nur zusammen eine annähernd vollständige Vorstellung von Diskretion, da jede der drei Varianten ganz bestimmte Aspekte menschlicher Beziehungen heraushebt, andere Aspekte hingegen vernachlässigt. Meines Erachtens lässt sich nun jede dieser drei Definitionsvarianten auf eine jeweils andere Art von Beziehung anwenden, das heißt: es lässt sich jede einzelne Variante auf eine oder mehrere bestimmte menschliche Beziehungen eher anwenden als die anderen beiden, doch dazu später mehr.

War gerade von Beziehungen die Rede, so beginnt auch Simmel seine „Psychologie der Diskretion”, indem er die Aufmerksamkeit des Lesers auf diesen Begriff lenkt: alle Beziehungen der Menschen untereinander beruhen auf gegenseitigem Wissen, auf Wissen also, „das der eine von dem anderem hat”[6]. Der Umfang und die Art des Wissens voneinander sowie – ganz entscheidend – der Umfang und die Art des Nichtwissens voneinander bestimmen eine menschliche Beziehung; dadurch bekommt die Beziehung „ihren Ton, ihren Umfang, ihr Tiefenmaß.”[7] Als die oberflächlichste Beziehung der modernen Kultur muss laut Simmel die Bekanntschaft bezeichnet werden. Man weiß hier im Grunde nicht viel mehr vom anderen, als dass dieser existiert und der andere weiß in der Regel ebenso wenig von einem selbst – man hat in jener Bekanntschaft kaum Einblick in die Persönlichkeit des jeweiligen Gegenüber; ja, selbst bei einer „guten Bekanntschaft” kennt man nur die der Welt und einem selbst „zugewandte Schicht” des anderen Menschen. Trotz dieser enormen Oberflächlichkeit einer so charakterisierten Beziehung, oder vielleicht gerade aufgrund ihrer enormen Oberflächlichkeit (und der damit geringen Vertraulichkeit, welche sich die Agierenden einer Bekanntschaft entgegenbringen), setzt Simmel schon an dieser Stelle das Phänomen der Diskretion an; für ihn bedeutet Diskretion nicht nur jene institutionalisierte Verschämtheit im herkömmlichen Sinne, also der Respekt vor dem Geheimnis des anderen bzw. unser Wille, anderen etwas zu verbergen, sondern sie ist für ihn ganz konkret: sich in einer Bekanntschaft von dem fernzuhalten, was der andere nicht „positiv offenbart“[8], womit Simmel wohl jene Informationen und Tatsachen meint, die das Gegenüber nicht durch offensichtliche Mitteilung kundtut. Dies macht die erste Definitionsvariante der Diskretion aus.

Simmel fährt nun fort, indem er den Begriff der „ideellen Sphären”[9] einführt, welche den Persönlichkeitswert eines Individuums ausmachen. Das Eindringen in eine solche Sphäre käme einem Zunahetreten gleich, was beispielsweise bei einer Ehrenkränkung der Fall wäre. Außerdem bestimmen diese den Menschen umgebenden ideellen Sphären auch seine ganze Bedeutung: wer die Bedeutung eines Menschen wahrnimmt, der fühlt einen zunehmenden Zwang zum Distanzhalten gegenüber diesem – je bedeutender der jeweilige andere erscheint, desto stärker empfindet man ihm gegenüber das Distanzgefühl. Simmel führt hier als ein veranschaulichendes Beispiel die Beziehung Held – Kammerdiener an. Der Kammerdiener hält die gebührende Distanz zum Helden nicht ein, weil er „kein Organ zur Wahrnehmung der Bedeutung hat.”[10] Er nimmt die Bedeutung des Helden nach Simmels Version überhaupt nicht wahr und fühlt deshalb keinen Zwang, dem Helden gegenüber eine gewisse Distanz, eventuell eine gewisse (oberflächliche) Diskretion, einzuhalten. Eine weitere Deutungsmöglichkeit dieser Konstellation wäre meines Erachtens jene, dass der Kammerdiener sehr wohl imstande ist, die Bedeutung des Helden wahrzunehmen und eine gewisse Distanz einzuhalten, dass er jedoch aufgrund seines eigenen Unwerts, von welchem er stets ausgeht, und seiner dienenden Stellung dem Helden gegenüber diese Distanz nicht einhalten muss. Er ist selbst gering genug, so bedeutungslos gewissermaßen, dass er die für andere Menschen, zum Beispiel für den Standesgenossen des benannten Helden, nötige Distanz nicht einhalten muss; der normale Distanzzwang besteht für ihn deshalb einfach nicht. Wie schon erwähnt, ist dies nur eine weitere Deutungsmöglichkeit jener Konstellation Held – Kammerdiener neben jener von Simmel; möglicherweise gibt es noch andere. Von jener Bedeutung des Menschen ausgehend beschreibt Simmel nun die Zudringlichkeit treffend als einen „Mangel an Gefühl für die Bedeutungsunterschiede der Menschen”; warum dieser Mangel an Gefühl, also die Zudringlichkeit, auf den Kammerdiener – trotz seiner Distanzübertretungen dem Helden gegenüber – nicht zutreffen braucht, wurde mit der weiteren Deutungsmöglichkeit zu erklären versucht.

[...]


[1] Dahme, Heinz-Jürgen/Rammstedt, Otthein [Hg.]: Georg Simmel, Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, Frankfurt: Suhrkamp, 1983. Der dritte Abschnitt der „Schriften zu Soziologie” wurde von Dahme und Rammstedt mit dem Titel „Theorie des modernen Lebens” bezeichnet. Die anderen drei Texte daraus sind folgende: „Psychologie der Mode. Soziologische Studie” (1895), „Psychologie der Scham” (1901) und „Psychologie des Schmuckes” (1908).

[2] Ebd., S. 22 f.: In der Einleitung von Dahme und Rammstedt bezeichnen diese ein Werk Simmels dann als zur philosophischen Soziologie gehörig, wenn „manifest oder latent Gesellschaft, Vergesellschaftung und ihre Folgen, das soziale Zusammenleben zum Bezugspunkt der philosophischen Fragestellung gemacht wird.“ Dies ist in der „Psychologie der Diskretion“ fast überall erfüllt.

[3] Ebd., S. 23.

[4] Ebd., S. 27.

[5] Ebd., S. 25.

[6] Simmel, a.a.O., S. 151.

[7] Ebd., S. 151.

[8] Ebd., S. 151.

[9] Ebd., S. 151 f.

[10] Ebd., S. 152.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Georg Simmel - "Psychologie der Diskretion": Eine Einführung und ein Kommentar
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Lektürekurs "Georg Simmel"
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
17
Katalognummer
V124183
ISBN (eBook)
9783640293025
ISBN (Buch)
9783640293148
Dateigröße
420 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Verständlich geschriebene, stringent gegliederte Arbeit über mikrosoziologische Phänomene.
Schlagworte
Georg Simmel, Soziololgie, Psychologie, Diskretion, 1900, Nietzsche, Mikrosoziologie, Phänomene, Sphäre, Beziehung, Mensch, Klassiker, Wechselwirkung, Theorie des modernen Lebens, Soziologische Theorie
Arbeit zitieren
Hans Gebhardt (Autor:in), 2006, Georg Simmel - "Psychologie der Diskretion": Eine Einführung und ein Kommentar, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124183

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