Seeungeheuer und der Umgang mit der Angst

Zu einem Beispiel der Vermittlung maritimen Volksglaubens


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2004

23 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Betrachtung von Seeungeheuern von der Antike bis in die Frühe Neuzeit

3. Die Betrachtung von Seeungeheuern in der Aufklärung

4. Die Betrachtung von Seeungeheuern in der Romantik

5. Die Seeschlange als Zeitungsente

6. Schlussfolgerungen

7. Quellen und Literatur

1. Einleitung

Die Furcht der Menschen vor dem Meer und seinen Gefahren ist so alt wie die Seefahrt, wenn nicht so alt wie die Menschheit selbst.[1] Von der Antike bis hinein in das 19. Jahrhundert hat es über die ganze Welt verstreut zahllose Sprichwörter und Sinnsprüche über die Gefahren des Meeres gegeben. So hieß es zum Beispiel schon bei den Römern: „Preist das Meer, aber bleibt am Ufer.“[2]

Wenn Menschen über viele Jahrhunderte hinweg Angst vor tiefen Wäldern oder dem Gebirge hatten, Bereichen der sichtbaren Welt, wo dem Volksglauben nach Geister, Dämonen und Teufel wohnten,[3] so erscheint es nicht verwunderlich, dass die Tiefen der Meere, buchstäblich undurchschaubar, eine um so größere Furcht im Menschen erzeugen konnten.

Für die Bewohner der Küstenregionen und im Besonderen für die Seefahrt war das Meer ein notwendiges, aber feindliches Element mit zahllosen Gefahren. Die weiten Ozeane und deren gewaltige Horizontausdehnung führten den Menschen vor Augen, wie klein und schwach sie angesichts der unbekannten Naturgewalten waren. Die Bedrohung durch die Kräfte von Wind und Sturm standen im direkten Zusammenhang mit der See. Wind und Wasser waren unerklärliche Elemente, schrecklich bei Sturm wie auch bei Flaute: „Ein ruhiges Meer, „zähflüssig wie ein Sumpf“, kann für die auf hoher See festliegenden Seeleute den Tod bedeuten, die einem „quälenden Hunger“ und einem „brennenden Durst“ zum Opfer fallen.“[4]

Groß war auch die Befürchtung, auf hoher See die Orientierung zu verlieren und auf die unbekannten Weiten des Meeres getrieben zu werden. Diese Angst war nicht unbegründet. Erst 1769 war es der Wissenschaft im ersten großen internationalen naturwissenschaftlichen Unternehmen möglich, den Urmeter durch Messungen bestimmen zu können, der für die Berechnung der Position auf See grundlegend von Nöten war und die Navigation erst sicher machte. Die ersten Seefahrer fuhren auf Grund der wörtlich zu nehmenden Unberechenbarkeit der See lange Zeit nur in Sichtweite der Küsten.[5]

„So war das Meer bis zu den Triumphen der modernen Technik im kollektiven Gefühlsleben mit den düsteren Bildern der Verzweiflung verknüpft. Es war gleichzeitig Sinnbild für den Tod, die Nacht und den Abgrund. [ ... ] Eine im wesentlichen landgebundene Kultur konnte also ihr Mißtrauen einem Element gegenüber nicht verlieren, das so heimtückisch wie das Wasser ist, noch dazu, wenn es zum Meer anschwillt.“[6]

Was für das Meer als „Ort der Angst par excellence“[7] galt, übertrug sich auch auf dessen Bewohner. Immer wieder wurden Kadaver von Meerestieren unterschiedlichster Größe in den unterschiedlichsten Stufen des Verfalls - und damit der Unkenntlichkeit - an die Ufer der Ozeane gespült. Diese Funde mussten den damaligen Zeitgenossen in ihrem jeweiligen Entwicklungsstand des Wissens bzw. Unwissens über die Biologie der Bewohner der See geradezu sagenhaft erscheinen. Aus diesem Grund mag es auch nachvollziehbar sein, dass Seeleute bis heute zu den abergläubischsten Berufsgruppen gezählt werden können.[8]

Der maritime Volks- oder Aberglaube war und ist sehr formenreich. Die Inhalte beziehen sich u. a. auf den (Aber-)Glauben an den Klabautermann, an Geisterschiffe, spezielle Schutzzeichen und Unglücksbringer an Bord bis hin zu den sagenhaften Bewohnern der blauen Tiefen, den Seeungeheuern.

Im Folgenden möchte ich anhand des Beispiels der sogenannten Seeungeheuer versuchen, die Entwicklung von maritimem Volksglauben und Naturwissenschaften sowie ihr Verhältnis zueinander zu thematisieren und zu erläutern, wobei der Betrachtungsschwerpunkt auf den Epochen der Aufklärung und der Romantik liegt. Im Vordergrund stehen die Darstellungsformen und Erklärungsmuster von beispielhaften Sichtungsberichten, deren Deutungsversuche und die literarischen Rezeptionen von Seeungeheuern – im Wesentlichen Meldungen von Seeschlangen und den sogenannten Riesenkraken. Zur Diskussion werden exemplarisch sowohl zeitgenössische populäre Zeitschriften, Literatur und Enzyklopädien als auch moderne Sekundärliteratur herangezogen.

2. Die Betrachtung von Seeungeheuern von der Antike bis in die Frühe Neuzeit

Erschreckende monströse Wesen sind seit der Antike in verschiedenen Kulturkreisen dem Kontext der Meere zugeordnet worden und verkörpern quasi die Angst vor dem Unbekannten und den Gefahren auf See, wenn nicht sogar die See selbst. Im Alten Testament beispielsweise wird der gewaltige Fisch Leviathan erwähnt. Der Prophet Jonas wird als Strafe für sein fehlendes Vertrauen in Gott von einem Wal verschlungen und danach, als Lohn für die Erkenntnis seiner Gottesfürchtigkeit, wieder ausgespien. In Homers „Odyssee“ wimmelt es geradezu von dem Meer entstiegenen oder in und an ihm wohnenden Unholden: die vielköpfige Seeschlange Skylla, der als Monstrum personifizierte Meerstrudel Charybdis, die menschenfressenden Sirenen und gewissermaßen auch der von Odysseus geblendete Zyklop Polyphemus, ein Sohn des griechischen Meergottes Poseidon. Seeschlangen töteten Laokoon und seine Söhne als Rache der Götter im Krieg der Griechen gegen Troja. Gelehrte wie Aristoteles und Plinius berichteten über Riesentintenfische und Meerjungfrauen.[9] An Japans Küsten wurde über Jahrhunderte der sogenannte Seemönch Umi Bozu gefürchtet, dessen Darstellung auf zahlreichen Gemälden eine frappierende Ähnlichkeit mit einem Riesenkraken hat.[10] Die Liste der Beispiele ist lang und ließe sich noch weiter fortsetzen.

All diese frühen Seeungeheuer galten über Jahrhunderte als Gefahr für die Schiffe auf See und ihre Besatzungen. Man glaubte fest daran, dass sie es waren, die Schiffe zum Kentern brachten und versenkten und die der schrecklichen Macht hilflos ausgesetzten Menschen fingen und verschlangen. Nicht zuletzt durch Gleichnisse aus der Bibel untermauert, wie beispielsweise die erwähnte Parabel von Jonas und dem Wal, verknüpfte die christlich indoktrinierte kollektive Mentalität auf verschiedene Weise das Meer mit der Sünde. Der Sturm erhob sich gegen das Schiff, auf dem der Kapitän fluchte oder Gott lästerte oder sich eine schwangere und somit nach damaliger Sicht unreine Frau an Bord befand.[11] Im Glauben der Menschen handelte Gott häufig als der strafende Gott des Alten Testaments, um die Sünder für ihre Untaten büßen zu lassen. Diese Auslegung für Unglück als Strafe der Sünden durch den zornigen Gott galt nicht nur in der christlichen Welt über das Mittelalter hinaus bis hinein in die Zeit der Aufklärung als die einzig mögliche Erklärung für ansonsten nicht nachvollziehbare Phänomene. Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften gab es noch nicht. Mit Sicherheit wurde in gleicher Weise bei Unglücksfällen auf See interpretiert, wie es zum Beispiel bei Sturmfluten der Fall war. Hier glaubten viele Küstenbewohner, dass sie sich durch sündiges Leben mit Schuld beladen hätten. Die Sturmflut war demzufolge von Gott zur Bestrafung gesandt.[12]

Da Seeleute bei der Landbevölkerung und bei Kirchenmännern im Besonderen als schlechte Christen galten, denen man den Hang zu Seeräuberei und Ausschweifung nachsagte,[13] mag es nicht verwundern, wenn zumindest teilweise angenommen wurde, dass die - vermeintlichen - Seeungeheuer als ausführende Kraft Gottes im Kampf gegen die Sünder auf See ihren berechtigten Platz in der Schöpfung hatten.

Seeleute nannten die Kraken, die angeblich so groß sein sollten wie ganze Schiffe, ob ihrer angeblichen Boshaftigkeit „Teufelsfische“, denn das Meer galt mitunter auch als bevorzugtes Gebiet des Satans und der Höllenmächte.[14] Andreas Schmidt umreißt das Verhältnis von Gottesstrafe und Teufelswirken im Zusammenhang der Erklärungsansätze von Katastrophen folgendermaßen:

„Da der Begriff „Natur“ die Harmonie der Schöpfung bezeichnet habe, wären Katastrophen nur als Werke des Teufels oder als Mahnungen Gottes verstehbar gewesen. Die Ereignisse waren bei den Betroffenen deshalb stark angstbesetzt und mit abergläubischen Vorstellungen verknüpft worden. Der strafende Gott, den Jean Delumeau als eine Vorstellung des „Folkloristischen Christentums“ gekennzeichnet hat, war hierbei wesentlich angsteinflößender als der Teufel, da er als letzte Rettung versprechende Instanz sich in das Gegenteil verkehrte. Der strafende Charakter des Ereignisses wurde auf diese Weise absolut.“[15]

Vom schwedischen Bischof Olaus Magnus verfasst, erschien 1555 in Rom die „Historia de gentibus septentrionalibus“, die „Geschichte der nordischen Völker“, in der unter anderem von der Existenz riesiger Seeungeheuer die Rede ist, die von Seeleuten für Inseln gehalten wurden und auf deren Rücken zur Nahrungszubereitung Feuer gemacht worden war. Daraufhin wären die Monstrositäten abgetaucht und hätten so die getäuschten Seeleute und deren Schiffe mit sich in die Tiefe gerissen.[16] Zuvor hatte Magnus bereits 1539 die „Carta Marina“, die erste detaillierte Karte Nordeuropas, gezeichnet, die mit Darstellungen von zahllosen Seeungeheuern in aggressiver Körperhaltung geradezu übersät war. Die Art der Gestaltung jener Karte wurde Vorbild für eine Vielzahl der folgenden Land- und Seekarten.[17] So zeigt beispielsweise eine Karte des südwestlichen Island von 1570 eine große Anzahl unterschiedlicher, beängstigender Wesen in den Gewässern um die Insel, die den Seefahrern auflauern würden. Unbekannte, nicht oder ungenau kartographierte Bereiche der Meere wurden wie selbstverständlich mit diesen unheilverkündenden Zeichnungen versehen.[18] Dabei erfüllten sie unterschiedliche Zwecke. Grundlegend warnten sie vor Gefahren auf See im Generellen. Die gezeichneten Monstren waren zudem eine permanente Ermahnung an die Seeleute, nicht zu sündigen, da ansonsten Gottes Strafe über sie kommen würde. Später dienten sie einer bewussten Abschreckungspropaganda von Seefahrern, die einen neuen und schnelleren Seeweg entdeckt hatten und ihre günstige Handelsroute durch grausige Berichte bzw. Zeichnungen vor der Konkurrenz schützen wollten.[19] Den Karten wurde lange Zeit Glauben geschenkt, die Intentionen der Kartographen nicht hinterfragt. Die Seeungeheuer wurden nicht als Bestandteil abergläubischer Vorstellungen angesehen, sondern man betrachtete sie vielmehr als Fakt. Warum hätten die Menschen auch nicht daran glauben sollen? Man muss sich den Wissensstand der damaligen Zeit vor Augen führen, um die Denkweise zu begreifen. Wenn man bedenkt, dass Kolumbus‘ Flaggschiff, die „Santa Maria“, etwa 25 Meter lang war und damit noch fünf Meter kürzer als ein Blauwal, dem sie ohne weiteres auf ihrer Reise hätte begegnen können, oder die portugiesischen Karavellen mit 15 Metern Länge nur knapp größer waren als ein Buckelwal,[20] wer könnte sich nicht das Entsetzen der Seefahrer vorstellen, die zu ihrer Zeit noch keine oder nur unzureichende Kenntnis von diesen Tieren hatten? Der Biologe Lothar Frenz schreibt dazu sehr treffend:

„Schon immer haben Menschen Unheimliches und Unbekanntes gesehen, und schon immer versuchten sie, diese Erscheinungen mit Hilfe ihrer Erfahrungen und Mythen zu deuten – Erklärungsversuche, in denen sich auch der Geist der jeweiligen Zeit widerspiegelt.“[21]

Erst im Zuge der fortschreitenden Erforschung der Weltmeere und als der zunehmende Walfang die Kunde von realen, friedlichen Leviathanen mit sich brachte, wurden die meisten Figuren auf den Karten zur allegorischen Darstellung der Gefahren auf See. Für die Veränderung maßgebend war die neue Denkweise der Aufklärung mit ihrem Streben nach rationellem Denken im Kampf gegen den Aberglauben nicht nur im religiösen Sinn, sondern vielmehr auch als Feind der entstehenden Wissenschaften und des Wunsches nach Wissen und Wissensvermehrung.

[...]


[1] Siehe Delumeau 1985, S. 49-63 und Wiese 1995, S. 7.

[2] Siehe Delumeau 1985, S. 49.

[3] Siehe Oppenheim 1974, S. 25-26 und Wiese 1995, S. 8.

[4] Delumeau 1985, S. 50. Vgl. auch Wiese 1995, S. 9 f.

[5] Siehe Ellis 1997, S. 9-10.

[6] Delumeau 1985, S. 63.

[7] Delumeau 1985, S. 49.

[8] Siehe Brown 1972, S. 155, 183. Über Brauch und Glaube der Seeleute siehe auch Stammler 1962, Sp. 2901-2972.

[9] Siehe Ellis 1997, S. 80 und Wiese 1995, S. 90.

[10] Siehe Brown 1972, S. 164-165.

[11] Siehe Delumeau 1985, S. 59 f.

[12] Siehe u. a. Hinrichs/Panten/Riecken 1985 und Jakubowski-Tiessen 1992.

[13] Siehe Delumeau 1985, S. 60.

[14] Siehe Delumeau 1985, S. 60.

[15] Schmidt 1996, S. 35-36. Hier sind im Kontext große Unglücke wie Erdbeben und Vulkanausbrüche gemeint. Die Aussagen sind allerdings meiner Meinung nach ebenfalls auf kleinere Katastrophen wie Attacken vermeintlicher Meeruntiere auf Schiffe anwendbar.

[16] Siehe Delumeau 1985, S. 61; Ellis 1997, S. 13, 42, 44- 45, 64; Frenz 2000, S. 122; Lange 1979, S. 140-142.

[17] Siehe Ellis 1997, S. 13. Über Seekarten generell siehe auch Sauer 1997.

[18] Siehe Wiese 1995, S. 69.

[19] Siehe Wiese 1995, S. 69-71.

[20] Siehe Ellis 1997, S. 12.

[21] Frenz 2000, S. 16.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Seeungeheuer und der Umgang mit der Angst
Untertitel
Zu einem Beispiel der Vermittlung maritimen Volksglaubens
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde)
Autor
Jahr
2004
Seiten
23
Katalognummer
V124111
ISBN (eBook)
9783640287086
ISBN (Buch)
9783640287161
Dateigröße
438 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ursprünglich war der Aufsatz eine Hausarbeit am Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde an der CAU Kiel und wurde mit der Note 1,3 bewertet. Für die wiss. Zeitschrift TOP - Berichte der Gesellschaft für Volkskunde e. V., Ausgabe 28/2004 wurde die HA zu einem Aufsatz leicht umgeschrieben. Die besagte TOP-Ausgabe ist lange vergriffen und wird nicht mehr neu aufgelegt, die Nachfrage besonders zu eben diesem Aufsatz ist aber nach wie vor groß.
Schlagworte
Seeungeheuer, Angst, Volksglaube, Aberglaube, Maritimes
Arbeit zitieren
M.A. Carsten Sobik (Autor:in), 2004, Seeungeheuer und der Umgang mit der Angst, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124111

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