Der Selbstfindungsprozess eines Schriftstellers in Martin Walsers Bildungsroman 'Ein springender Brunnen'


Seminararbeit, 2000

23 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Zum Bildungsroman
2. 1 Die Gattung Bildungsroman
2. 1. 1 Historische Aspekte
2. 1. 2 Der Bildungsroman in der Literaturwissenschaft
2. 1. 3 Die Struktur des Bildungsromans
2. 2 Der Begriff „Bildung“
2. 2. 1 Die Bedeutung des Wortes Bildung
2. 2. 2 Bildung als „Identitätsbildung“

3 Zur Künstler- bzw. Schriftstellerproblematik

4 Der Selbstfindungsprozess des Protagonisten
4. 1 Struktur und Aufbau des Romans
4. 1. 1 Das Programm des Erzählers
4. 1. 2 Der dreistufige Aufbau
4. 2 Die Entwicklung Johanns
4. 2. 1 Frühe Kindheit und Elternbindung
4. 2. 2 Provinzialität und gesellschaftliche Einflüsse
4. 2. 3 Intellektualität und Sprachbegabung
4. 2. 4 Konflikte und Kompensation

5 Synthese
5. 1 „Ein springender Brunnen“ als Bildungsroman
5. 2 Der Protagonist als Schriftsteller

6 Zusammenfassung

7 Literatur

I Einleitung

Mit Martin Walsers 1998 erschienenem Roman „Ein springender Brunnen“[1] haben sich bis jetzt erst wenige Autoren beschäftigt. Wenn sie das taten, dann besonders im Zusammenhang mit der Walser-Bubis Debatte, die entbrannt war nach Walsers Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche. Zusätzlich zu der kaum vorhandenen Literatur zeichnet sich diese auch durch viele Widersprüche aus. Manche sehen in Walsers Roman eine Selbststilisierung in Form einer Autobiografie, verbunden mit der Kritik am Autor, den zeitlichen Kontext der Romanhandlung zu wenig beachtet und die Gräuel der Nazi-Zeit mit dem Ziel „nur Schönes [zu] sagen“[2] ausgeblendet zu haben.[3]

Andererseits ist die Rede von einem „Roman, der Zeit und Zeitlosigkeit zugleich aufschreiben will“[4], von einem Porträt des Schriftstellers als junger Mann. Diese unterschiedlichen Sichtweisen haben mich gereizt, aus dem Roman das Wesentliche herauszustellen. Inwieweit hat man das Recht, von einem Roman als Autobiografie zu sprechen? Wird hier nicht vielmehr nachgezeichnet, wie ein junger Mensch Selbstbewusstsein entwickelt und dabei als werdender Schriftsteller seinen Weg in der Welt findet? Das ist doch die Thematik des Bildungsromans.

Im ersten Teil werde ich deshalb die Gattung Bildungsroman näher beleuchten, um dann die Problematik des künstlerischen bzw. literarischen Schaffens anzusprechen. Die Entwicklung des Protagonisten im Roman werde ich anschließend strukturell und inhaltlich nachzeichnen. Die Synthese im fünften Teil soll Aufschluss geben zu den Aspekten, inwieweit „Ein springender Brunnen“ eine Bildungsroman ist und welche Rolle dabei das Schriftsteller-Werden und –Sein für die Hauptfigur des Romans spielt.

II Zum Bildungsroman

Welcher Gattung ist Walsers Roman zuzuordnen? Das Hauptthema beantwortet diese Frage bereits: Zentraler Aspekt des Romans ist die Entwicklung des Protagonisten Johann. Um „Ein springender Brunnen“ jedoch der Gattung des Bildungsromans zuzählen zu können, ist eine genauere Betrachtung der Gattungsmerkmale nötig.

II. 1 DIE GATTUNG BILDUNGSROMAN

Bestimmte Strukturen, Themenkomplexe und typische Merkmale müssen erkennbar sein, um einen Text der Gattung Bildungsroman zuordnen zu können. In der literaturwissenschaftlichen Diskussion ist es jedoch umstritten, ob beispielsweise Johann Wolfgang Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ als Muster der Gattung gelten soll.

II. 1. 1 Historische Aspekte

Eine erste eher unfreiwillige Beschreibung des Bildungsromans gibt Friedrich von Blanckenburg 1774 in seinem „Versuch über den Roman“. Dabei nennt er als „festegesetzte[n] Zweck“ [eines jeden Romans] „die Ausbildung und Formung des Charakters eines Helden“.[5] Idealtypisch konstruiert Blanckenburg hier eine Art Bildungsroman als „Norm der Romanpoetik“[6] und trifft damit den Nerv seiner Zeit, genauer gesagt den des aufsteigenden Bürgertums.

Selbstbewusst werden eigene literarische Gattungen entworfen, werden dem traditionellen Trauerspiel das neue bürgerliche Drama, dem Staatsroman der nichttheoretische Roman gegenübergestellt.[7]

Der Glaube an „die formbare, selbstreflexive Individualität“[8], die aufklärerischen Tendenz, dem Individuum ein Eigenrecht an Bildung zuzugestehen und die allmähliche Loslösung von christlichem Traditionsdenken hin zu einer kausal-mechanischen Denkweise, sind der Hintergrund, vor dem im 18. Jahrhundert der Bildungsroman entsteht.[9]

„Die Darstellung der Genese eines human gebildeten Charakters“[10] war das Ziel des neuen Romantypus, der sich seit Mitte des 16. Jahrhunderts aus Texten entwickelt hatte, die die Biographie der Romanhelden thematisierten.

Hatte die Hauptfigur anfangs eine reine Exempelfunktion „im christlich-theologischen Sinne“[11], so entwickelte der Romanheld sich auch unter dem Einfluss des englischen und französischen Romans zu einer durch Introspektion komplex-psychologisierten Figur. Damit war im 18. Jahrhundert die Grundlage für Wielands 1794 erschienenen Roman „Agathon“ und Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/96) geschaffen.[12]

II. 1. 2 Der Bildungsroman in der Literaturwissenschaft

In der literaturwissenschaftlichen Diskussion hatte die junge Gattung Bildungsroman eine umstrittene Position, was sich bis heute nicht grundlegend geändert zu haben scheint. Wilhelm Diltheys Definition -

„Die Verbindung des psychologischen mit dem Kulturroman erzeugt den eigentlichen Bildungsroman, in dem die Entfaltung eines individuellen Lebens an allgemeinen Kulturwerten zur Darstellung gelangt.“[13]

-zeigt, dass der Bildungsroman sich anfangs als eigenständige Gattung erst etablieren musste. So sah Dilthey den Romantypus als eine Unterart des Künstlerromans.[14] Problematisch wurde die literaturwissenschaftliche Betrachtung, wenn vor allem das Thema einen Text als Bildungsroman auszeichnen sollte:

„Die Darstellung des Jünglings jener Tage, der in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, Freundschaft und Liebe begegnet, mit den Realität der Welt in Kampf gerät, unter mannigfachen Erfahrungen heranreift, sich selber findet und seinen Aufgaben in der Welt gewiss wird.“[15]

Denn diese inhaltliche Definition lässt sich auch auf andere Romangattungen übertragen. Das Motiv der Bildung und Entwicklung findet sich in einer Vielzahl von Textgattungen. So war Dilthey der erste, der die Ähnlichkeit zwischen Bildungsroman und Autobiografie hervorhob.[16] Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in der Autor - Protagonist Beziehung:

„In the autobiography the author and the hero have identical points of view; in the Bildungsroman the author creates an ideal which allows for symbolic interpretation.“[17]

Thematisch besonders nah stehen dem Bildungsroman auch der Erziehungsroman und der eine Kategorie darüber liegende Entwicklungsroman. Diese beiden Romantypen werden inhaltlich definiert und sind im Gegensatz zum Bildungsroman ahistorisch zu verstehen.[18] Die „entscheidenden Funktionen der Erzähler- und der Leserfigur für die Wirkungsintention der Gattung“[19] sind wie bereits bei der Biographie für eine Unterscheidung ausschlaggebend. In moderner Form taucht die Gattung heute entweder im satirisch-deformierten Negativ als Anti-Bildungsroman, oder aber von traditionellen, überholten Schemata abweichend auf. Das „stereotyped image [...]of an innocent young man ready to step into the world to learn the lessons that life has to offer him“[20] gilt nicht länger als Maßstab, Geschlecht und Alter sind nicht das Entscheidende.[21] Der Gattung wird mehr unterstellt, als „die naive Fixierung auf den Bildungsgang des Protagonisten“[22]:

„[...] Sowohl die Romanhandlung, als auch der erzählerische Kommentar werden von einer grundlegenden Spannung zwischen Nacheinander und Nebeneinander, zwischen Erzählung und Reflexion, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit getragen. Diese Spannung wird zum strukturbestimmenden Prinzip und verleiht dieser Romanform eine unverkennbare Ambivalenz.“[23]

Die Struktur des Zitterhaften[24] unterscheidet also den Bildungsroman von anderen Textgattungen, die auch eine Bildungsgeschichte beinhalten.

[...]


[1] Martin Walser: Ein springender Brunnen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998 (= Suhrkamp Taschenbuch 3100). Im Folgenden zitiert als EIN SPRINGENDER BRUNNEN, mit Seitenangabe.

[2] Martin Walser: Die Banalität des Guten. Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.1998.

[3] So z.B. Ingo Arend: Nichts als Gunst und Glanz. In: Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung, 35, 1998, S.13. Im Folgenden zitiert als AREND. Oder Paul Kurz: Süddeutsche Kindheit in den Nazijahren. Martin Walser: Ein springender Brunnen. In: Sudetenland 4, 1998, S. 504-507. Im Folgenden zitiert als KURZ, Mit Seitenangabe.

[4] Reinhard Baumgart: Epen in Wasserburg. Martin Walser verteidigt seine Kindheit. In: Die Zeit 33, 1998. Im Folgenden zitiert als BAUMGART.

[5] Rolf Selbmann: Der Deutsche Bildungsroman. 2., überarb. und erw. Auflage. Stuttgart; Weimar: Metzler 1994, S. 7. Zit. n. Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Orginalausgabe von 1774. Stuttgart 1965 (=Sammlung Metzler 39), S. 321. Im Folgenden zitiert als SELBMANN, mit Seitenangabe.

[6] Ebd.

[7] Vgl. ebd.

[8] Gerhart Mayer: Der Deutsche Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart: Metzler 1992, S. 12. Im Folgenden zitiert als MAYER, mit Seitenangabe.

[9] Vgl. ebd.

[10] Ebd., S. 26.

[11] MAYER, S. 26.

[12] Vgl. ebd., S. 28.

[13] Susan Ashley Gohlman: Starting Over. The Task of the Protagonist in the Contemporary Bildungsroman. New York, London: Garland Publishing 1990 (= Garland Studies in Comparative Literature), S. 17. Zit.n. Wilhelm Dilthey: Sprache und Dichtung. Bern 1934, S. 62. Im Folgenden zitiert als GOHLMAN mit Seitenangabe.

[14] Vgl. SELBMANN, S. 16.

[15] Hans Heinrich Borcherdt: Bildungsroman. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Auflage 1958, I. Band (S. 175-178), S. 175. Im Folgenden zitiert als BORCHERDT, mit Seitenangabe.

[16] Vgl. GOHLMAN, S. 16.

[17] Ebd.

[18] Vgl. SELBMANN, S. 30.

[19] SELBMANN, S. 31.

[20] GOHLMAN, S. 13.

[21] Vgl. ebd., Gohlman unterscheidet hier zwischen „critical“ und „historical usage“.

[22] SELBMANN, S. 23.

[23] Ebd., zit.n. Martin Swales: The German Bildungsroman from Wieland to Hesse. Princeton 1978
(= Princeton essays in literature), S. 223.

[24] Vgl. ebd.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Der Selbstfindungsprozess eines Schriftstellers in Martin Walsers Bildungsroman 'Ein springender Brunnen'
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (FB Germanistik)
Veranstaltung
Proseminar: Einführung in die psychoanalytische Literaturinterpretation
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
23
Katalognummer
V12372
ISBN (eBook)
9783638182744
Dateigröße
402 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Selbstfindungsprozess, Schriftstellers, Martin, Walsers, Bildungsroman, Brunnen, Proseminar, Einführung, Literaturinterpretation
Arbeit zitieren
Franziska Moschke (Autor:in), 2000, Der Selbstfindungsprozess eines Schriftstellers in Martin Walsers Bildungsroman 'Ein springender Brunnen', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12372

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