Der spanische Schelmenroman und seine deutschen Verwandten


Magisterarbeit, 2008

104 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der spanische Schelmenroman
2.1 Definitionsversuch
2.1.1 Etymologie der Wörter „Pikaro“ und „Schelm“
2.1.2 Die Abgrenzung zur Novelle, zum Ritter- und Schäferroman
2.1.3 Gattungskonstitutive Charakteristika
2.1.3.1 Pseudoautobiographische Ich-Perspektive
2.1.3.2 Die Herkunft des Protagonisten aus den unteren Schichten
2.1.3.3 Desillusionierungserlebnis oder die Initiation des Pikaro
2.1.3.4 Fortuna oder die Beständigkeit der Unbeständigkeit
2.1.3.5 Die episodenhafte Struktur
2.1.3.6 Offener Schluss des Romans
2.1.3.7 Das Reisemotiv
2.1.3.8 Die Satire und das Lachen
2.2 Die gesellschaftliche Situation in Spanien: der Aufstieg und der Fall eines Imperiums
2.3 Die Entstehungsgeschichte des Schelmenromans

3. Die spanischen Schelmenromane
3.1 „Lazarillo de Tormes“
3.1.1 Die Struktur, der Inhalt und der Titel
3.1.2 Merkmale des pikarischen Romans im „Lazarillo de Tormes“
3.2 Variationen der Pikareske: „Rinconete und Cortadillo“ von
Miguel de Cervantes
3.2.1 Der Autor, „Novelas ejemplares“, der Inhalt
3.2.2 „Rinconete und Cortadillo“, eine „Schelmennovelle“?

4. Schelmenroman in Deutschland
4.1 Der Aufbruch des Schelmenromans in Deutschland
4.2 Der sozial – politische Kontext
4.2.1 Deutschland zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges
4.2.2 Die deutsche Gesellschaft im 17. Jahrhundert
4.3 Versuch einer Abgrenzung zum Bildungsroman

5. Der deutsche Schelmenroman: „Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“
von Grimmelshausen
5.1 Der Autor und der Inhalt des Romans
5.2 „Simplicissimus“ und Schelmenroman
5.3 Der Übergang zum 20. Jahrhundert. Die Rezeption und Wirkungsgeschichte von „Simplicissimus Teutsch“

6. Zeitgenössische Variationen des Schelmenromans in Spanien und
Deutschland
6.1 Die sozial-politische Situation in Spanien am Ende des 20. Jh.
6.2 „Das Geheimnis der verhexten Krypta“ von Eduardo Mendoza
6.2.1 Der Autor, der Inhalt
6.2.2 Ein „Schelmenkrimi“? Pikareske Merkmale bei Mendoza
6.3 Die sozial-politische Situation in Deutschland im 20. Jahrhundert
6.4 Jens Sparschuh „Der Zimmerspringbrunnen“
6.4.1 Der Autor und der Inhalt des Buches
6.4.2 Pikareske Elemente im „Wenderoman“ oder ein moderner Schelmenroman?

7. Schlussbetrachtungen

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Links

1. Einleitung

Meine Auseinandersetzung mit dem Schelmenroman geht zurück auf

das Seminar von Herrn Professor Dr. Wuthenow über die europäischen Schelmenromane im Fachbereich Germanistik und das Seminar von Herrn Professor Dr. Spiller über den Schelmenroman als Antiromanze im Fachbereich Romanistik der Johann Wolfgang Goethe-Universität, die mir den Anstoß für eine komparative Untersuchung des spanischen und des deutschen Schelmenromans gegeben haben. Die Frage der Provenienz und der Verbreitung der spanischen „novela picaresca“ als der Kern des europäischen Schelmenromans beschäftigt Literaturwissenschaftler schon seit langer Zeit. Trotz zahlreicher Beiträge ist man sich in vielen, auch grundlegenden Fragen zum Schelmenroman, seinen Vorbildern, Auswirkungen und sogar Gattungsmerkmalen nicht immer einig und schon die etymologische Begriffsbestimmung erweist sich als problematisch. In dieser Arbeit werden die Wörter „Pikaro“ und „Schelm“ sowie „Schelmenroman“ und „Pikaroroman“ analog verwendet.

Die vorliegende Magisterarbeit hat eine zweifache Aufgabe. Erstens soll die Landesgrenzen überschreitende Entwicklung des Schelmenromans erforscht werden. Zweitens wird die Entwicklung untersucht, die der Schelmenroman innerhalb der letzten Jahrhunderte erfahren hat. So wie sich die Figur des Pikaro horizontal durch die geographische Umgebung und vertikal durch die Gesellschaftsschichten bewegt, möchte ich mich ebenso horizontal durch den physischen Raum und vertikal durch den Zeitraum bewegen. Dabei soll versucht werden zu klären, inwieweit das Aufkommen dieser Gattung mit bestimmten gesellschaftlichen und historischen Konstellationen zusammenhängt und als Reaktion auf diese gefördert wird.

Als Einstieg in das Thema soll der Versuch einer Definition der Gattung unternommen werden sowie ihre Entstehung und Entwicklung im Zusammenhang mit den historisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten zur Zeit der Entstehung untersucht werden. Am Beispiel „Lazarillo de Tormes“ soll der Schelmenroman auf die herausgearbeiteten Merkmale hin geprüft und mit den verschiedenen Variationen des Pikarischen anhand der Novelle „Rinconete und Cortadillo“ in Zusammenhang gebracht werden.

In einem daran anschließenden Teil thematisiere ich den Aufbruch des Schelmenromans in Deutschland und stelle ihn in einen Kontext zur zeitgenössischen gesellschaftlichen und geschichtlichen Situation. Die Differenzen und die Affinitäten zum spanischen Schelmenroman sollen anhand von „Simplicissimus“ dargestellt werden. Als Übergang zum nächsten Kapitel wird die Rezeption und die Wirkungsgeschichte des Schelmenromans bis in die Gegenwart dienen. „Simplicissimus“ steht hierbei stellvertretend für die literarischen Werke des Spätbarocks. Schließlich möchte ich versuchen zu klären, ob man von einem Aufkommen des Schelmenromans in der Gegenwart sprechen kann oder eben nur von Variationen der Pikareske und welche Rolle dem spanischen Exempelwerk „Lazarillo“ dabei zukommt. Um zu zeigen, dass der Schelmenroman nicht nur in Deutschland, sondern auch in Spanien in den letzten Jahrhunderten eine Entwicklung erfahren hat, wird eine Untersuchung des Romans von Eduardo Mendoza aus dem Jahr 1979 hinzugezogen. Sowohl hier wie auch im Fall des deutschen (Wende-) Romans von Jens Sparschuh darf auch der gesellschaftliche Kontext, in den die Werke eingebunden sind, nicht fehlen. Die Ergebnisse der Arbeit werden im letzten Kapitel noch einmal zusammenfassend präsentiert. Um die Zahl der Fußnoten in einer übersichtlichen Zahl zu halten, wurde die zitierte Primärliteratur in Klammern gesetzt und im Text direkt angegeben. Die Sekundärliteratur wurde in der ersten Fußnote vollständig zitiert und in den weiteren mit dem Namen des Autors und dem Erscheinungsjahr, um Verwechslungen bei mehreren Werken desselben Autors zu vermeiden.

2. Der spanische Schelmenroman

2.1 Definitionsversuch

Die Forschung ist sich in einem einig: Die Definition des Pikaroromans

erweist sich als äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Hilfreich für einen Definitionsversuch ist sicher die Klärung der Begriffe, die dem Roman seinen Namen gaben, nämlich: der „Pikaro“ und der „Schelm“. Desweiteren soll die Methode der Abgrenzung des Schelmenromans vom seinen literarischen Zeitgenossen, dem Ritter-, Schäferroman und der Novelle herangezogen werden, um den Gegenstand zu bestimmen sowie die für den Schelmenroman charakteristischen Merkmale zu diskutieren.

2.1.1 Etymologie der Wörter „Pikaro“ und „Schelm“

Heutzutage werden die beiden Wörter, vor allem das verdeutschte Wort „Pikaro“, fast ausschließlich als literaturwissenschaftliche Termini für die Bezeichnung einer bestimmten Art des Romans gebraucht. Nicht einmal über die Schreibweise des Wortes ist man sich einig. In der Literatur findet man einen „pícaro“, „Pícaro“, „Picaro“ oder „Pikaro“. In manchen Aufsätzen wurde sogar mehr als eine Schreibweise des Wortes übernommen, in der Dissertationsschrift von Stefan Kern sogar auf einen und derselben Seite.[1] In den vergangenen fünfhundert Jahren hat sich auch die Bedeutung der beiden Begriffe, die des Pikaro, aber vor allem die des Schelmen, grundlegend verändert.

Das Wort „Pikaro“ ist von dem spanischen „pícaro“ abgeleitet und meint einen „Gauner, Schelm, Betrüger, eine Person, die mit bewusster Freude und Genugtuung die offizielle Gesellschaft herausfordert“.[2] Der Ursprung des spanischen Wortes „pícaro“ ist unklar, einige Forscher suchten ihn sogar im Arabischen oder im Jiddischen, dies gilt jedoch nicht als erwiesen.[3] Juan Corominas zufolge lässt sich der Begriff in der Literatur zum ersten Mal im Jahr 1525 nachweisen. Er wird dort im Sinne von „pícaro de cozina“[4] verwendet und im Jahr 1548 im Sinne von „gemeiner Kerl von üblem Lebenswandel“[5]. In seinem Aufsatz geht Corominas sehr ausführlich auf die verschiedenen Thesen über die Ursprünge des Begriffes ein. Es bedarf also an dieser Stelle keiner weiteren Ausführung, die ja nur eine Zusammenfassung des genannten Aufsatzes wäre. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass Pikaro im Bezug auf unehrenhafte Tätigkeiten, wie Laufbursche, Lastenträger oder Küchenjunge verwendet wurde. Außerdem bezeichnete das Wort Bettler, Taschendiebe oder Gauner, also Menschen niederer Herkunft, die Außenseiter waren und am Rande der Gesellschaft und der Legalität lebten. Das Wort „Pikaro“ wurde im Jahr 1615 mit der ersten Übersetzung des „Guzmán de Alfarache“ von Aegidius Albertinus auch im Deutschen verwendet. Es fand keine Übersetzung statt, vielmehr wurde das Fremdwort im Titel beibehalten.[6]

Die Geschichte des Wortes „Schelm“ zeigt noch größere Unterschiede zwischen der Bedeutung im mittelhochdeutschen und in der Gegenwartsprache auf. Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm wird die Verwandtschaft zu Aas, Cadaver, geschundenes Vieh im Mittel-hochdeutschen und Frühneuhochdeutschen, als Überlieferung von dem Althochdeutschen scalmo aufgezeigt.[7] Das Wort wurde auch in der Bedeutung von Viehseuche, toter Körper von Tier oder Mensch benutzt und öfters als Bezeichnung für Berufe angewandt, die mit Toten zu tun hatten, wie beispielweise der Henker. Aus diesen Bedeutungen hat sich der Begriff verworfener Mensch, Betrüger, Dieb, Verräter und Schurke entwickelt, der dank seiner häufigen Erscheinung die stark negative und abwertende Konnotation verlor und schon im späten 18. Jahrhundert als Bezeichnung für einen neckischen Menschen oder sogar für ein geliebtes Wesen gebraucht wurde.[8] Heute spricht man von einem Schelm als einer Person, die gerne Streiche spielt oder Witze macht.

Als die Schelmenromane ihren Weg in die europäischen Literaturen gefunden hatten, wurde „Pikaro“ oft als „Landstörzer“, „Landstreicher“ oder „Vagabund“ ins Deutsche übersetzt. Die abwertende Konnotation der Wörter „Pikaro“ und „Schelm“ ist heutzutage in der Form, wie sie früher gebräuchlich war, nicht mehr vorhanden. Gemeinsam ist beiden Begriffen die Anbindung an das Alltagsprachliche in der Vergangenheit und an das Literarische in der Gegenwart. Auch die Bezeichnung für das Kriminelle, Amoralische und für die Zugehörigkeit zu den unteren Schichten der Gesellschaft lief in der Wortgeschichte parallel. In der Literaturforschung werden beide Wörter weitgehend synonym verwendet, jedoch ist „Pikaro“ im „Gegensatz“ zum Schelm auch ein international verständliches Wort.

2.1.2 Die Abgrenzung zur Novelle, zum Ritter- und Schäferroman

Um den Schelmenroman bestimmen zu können und seiner Definition

näher zu kommen, ist es hilfreich, sich mittels der Methode der Abgrenzung vom Ritter- und Schäferroman sowie der Novelle dem Gegenstand der Untersuchung zu nähern. Die Forschung sieht den Schelmenroman als Gegensatz zu den Ritter- und Schäferromanen, in denen nicht mehr eine edle Figur heroische Taten vollbringt, sondern eine durchtriebene Gestalt, für die „der vorbeugende Betrug als die beste Überlebensstrategie“[9] gilt. In den verschiedenen Genres findet man völlig verschiedene Welten vor, die sich sowohl im Hinblick auf die Thematik und den Helden als auch auf die Form der Darstellung voneinander unterscheiden.

Die Welt des Ritters ist ritterlich: Der Held reitet durch die Welt und vollbringt heldenhafte Taten, die noch Generationen seiner Nachkommen mit selbstverständlichem Stolz erfüllen werden. Der Ritter bewährt sich im Kampf, ist ehrenhaft und edlen Mutes, galant zu den liebenswürdigen und treuen Damen, von denen er die Hand der Liebenswürdigsten und Schönsten von allen als Anerkennung für seine Heldentaten erhält. Eine andere Welt wird in den Schäferromanen dargestellt: Hier werden nicht die Ritter und Hofdamen, sondern Hirten und Hirtinnen zu Hauptfiguren. Es gibt keine Ehre und Mut bezeugende Kämpfe. Stattdessen wird ein Leben in einer idyllischen, friedlichen und naturgebundenen Welt beschrieben. Die Hirten und Hirtinnen passen auf die Herden auf, singen sich gegenseitig Lieder vor, und die einzigen Leiden sind die der Liebe. Die Novelle wiederum „gibt nicht das umfassende Bild der Weltzustände“ wieder, sondern beschreibt ein Fragment aus einem Menschenleben, das durch ein „plötzliches, krisenhaftes Ereignis (...) eine schicksalhafte Wendung erfährt“.[10]

Anders ist es in der Welt des Schelmenromans. Die Protagonisten sind Schelme, Taschendiebe, Gauner und andere Mitglieder der untersten Gesellschaftsschichten, die sich durch das Leben schlagen müssen und damit beschäftigt sind, ihre Grundbedürfnisse, wie beispielweise den Hunger, zu befriedigen. Sie vollbringen keine Heldentaten, sondern fristen ein dürftiges Dasein, meist als Diener vieler Herren. Sie verkommen auch nicht im vergeistigten Liebeskummer, wie die Hirten, sondern gehen moralisch eher zweifelhafte Ehen ein, die ihnen ein bescheidenes Auskommen garantieren.

So wie die beschriebenen Welten sich voneinander unterscheiden, so verschieden sind auch die Kunstformen, in denen sie vorkommen. Die Novelle ist eine kurze Erzählung in Prosaform, die sich durch formale Geschlossenheit und thematische Konzentration auszeichnet. Sie ähnelt dem Drama in der Struktur: kurze Exposition, straffe Handlung, die zum Wendepunkt führt, Spannungsabfall, und Lösung oder Katastrophe.[11] Dem gegenüber stehen die Romane, vor allem der Ritter- und Schäferroman, in denen die Beschreibungen außerordentlicher Heldentaten und Liebesleiden blumig, pathetisch und auf mehreren hundert Seiten Gegenstand schriftstellerischer Darstellung sind. Die heroischen Geschehnisse werden aus der auktorialen „Vogelperspektive“[12] geschildert. Der Schelmenroman ist wiederum vom Umfang her viel knapper, die Handlung wird in aneinander gereihten, locker miteinander verbundenen Episoden geschildert, die von einem Erzähler in der Ich-Form aus der „Froschperspektive“[13] von unten aus die Gesellschaft betrachten. Statt weit entfernten Zeiten, exotischen oder phantastischen Räumen wird im Schelmenroman das Alltägliche in eine genaue geographische Lage eingebettet und als Szene für die Handlung gewählt.

Helmut Heidenreich definiert den Pikaroroman als „Literatur des sozialen Protests, als didaktische Bekehrungsliteratur oder als literarische Rache der verfolgten Außenseiter“.[14] Die Literatur der damaligen Zeit wurde schon damals für ihre Unwirklichkeit und Unwahrscheinlichkeit kritisiert, nichtsdestotrotz sollte man den Schelmenroman nicht als „Antiroman“ bezeichnen. Vielmehr ist er eine Art ironische Antwort auf die herrschenden realen Zustände, die von den chevalaresken und idealisierten Bildern in der höfisch-heroischen Literatur weit entfernt waren. Dies ist sowohl formal wie auch inhaltlich eine neue Erzählperspektive in der europäischen Literatur, in der die „höhere“ Gesellschaft durch einen Erzähler aus der „niederen“ Gesellschaftsschicht satirisch gezeichnet und dadurch kritisiert wurde.

2.1.3 Gattungskonstitutive Charakteristika

2.1.3.1 Pseudoautobiographische Ich-Perspektive

Diese Perspektive ist einer der wichtigsten Merkmale des pikarischen Romans. Der Schelm selbst wird hierbei zum Übermittler der eigenen Geschichte und erzählt sein Leben rückblickend. Zum einen entsteht dadurch eine dialogische Beziehung zwischen dem Erzähler und dem Leser,[15] die einerseits der Unterhaltung des Lesers, andererseits aber auch als moralische Lehre dienen soll. Der Leser wird unmittelbar in das Geschehen miteinbezogen, oft auch direkt angesprochen und erhält einen Einblick in die pikarische Welt der menschlichen Doppelmoral und Gemeinheit.

Die Autobiographie definiert sich einerseits durch die zweifache Identität des Autors als Erzähler und Protagonist, anderseits durch die Schilderung einer zusammenhängenden Erzählung im Rückblick. In der fiktiven Autobiographie erzählt ein fiktiver Held seine Lebensgeschichte, wodurch der Bezug zum Autor aufgehoben wird. Anthony Zahareas hat in seiner Untersuchung über die Funktion der Autobiographie festgestellt, dass die Nacherzählung der Vergangenheit immer auch eine Interpretation enthält, denn der Erzähler versucht, durch gezielte Selektion biographischer und historischer Fakten sowie deren Interpretation dem Leser seine eigene Lesart seiner Vergangenheit aufzudrängen.[16] Da zudem der Erzähler selbst auch der Welt der Betrüger entstammt sowie seine subjektive Einsicht vermittelt, wird der Leser mit dem Dilemma konfrontiert, ob er ihm überhaupt trauen kann, was von Literaturwissenschaftlern als „unzuverlässiges Erzählen“[17] beschrieben wurde. Die traditionelle Funktion des Ich-Erzählers ist es, die Glaubwürdigkeit des Erzählten zu gewährleisten. Dem Zweck, das Erzählte als Wahrheit zu bestätigen, soll auch die Wahl realer Schauplätze dienen, die ein weiteres Merkmal des Schelmenromans ist. Die Ortschaften, durch die der Schelm wandert, findet man tatsächlich auf der Landkarte und das Erzählte wird vom Ich-Erzähler als wahre Geschichte angekündigt. Jedoch ist all dies nichts anderes als ein Täuschungsmanöver: Im Schelmenroman wird die Funktion der Authentizitätsbestätigung durch den Ich-Erzähler parodiert, indem eine Person als Erzähler eingesetzt wird, die sich als unglaubwürdig oder gar als Lügner erweist.

Die verkehrte Welt aus der Sicht eines naiven Ich-Erzählers zu präsentieren, erlaubt es dem Autor, die Gesellschaft satirisch zu beleuchten, ohne die Verantwortung für seine Kritik selbst zu tragen. Der Schelm braucht sich nicht an die Normen einer Gesellschaft zu halten, die ihn nicht will. Er betrachtet die Gesellschaft von außen und das macht ihn zum scharfen Beobachter. Dadurch, dass er mit den Vertretern verschiedener gesellschaftlichen Schichten in Berührung kommt, bezieht sich seine Kritik auf die ganze Gesellschaft. Oft distanziert sich der Pikaro im Nachhinein von seinem eigenen Leben und sein Bericht wird zur Lebensbeichte.

2.1.3.2 Die Herkunft des Protagonisten aus den unteren Schichten

der Gesellschaft ist ein weiteres Merkmal des Schelmenromans. In seine Position des Außenseiters wird der Schelm praktisch hineingeboren. Leben seine Eltern noch, so sind sie arm, betreiben „unehrenhafte“, sie aus der Gesellschaft ausschließende Berufe wie den des Henkers schlagen sich mittels Gaunerei durchs Leben oder sind Kriminelle. Oft gerät der Schelm erst durch den Verlust der Eltern in seine Position, meistens ist es der Vater, der abwesend ist, weil er umgekommen ist, hingerichtet wurde oder im Gefängnis sitzt. Die Mutter, als alleiniger Ernährer der Familie, ist oft als Kupplerin, Hexe oder Prostituierte tätig. Als Kind zur gesellschaftlichen Unterschicht zugehöriger Eltern muss der Pikaro schon früh lernen, sich durchzubeißen und mit den harten Lebensbedingungen umzugehen. Er ist ganz auf sich allein gestellt und darf von niemandem Hilfe erwarten. Durch seine Herkunft befindet sich der Protagonist am Rande der Gesellschaft oder ist ganz aus ihr ausgeschlossen. Die mittel- und bildungslose Ausgangsposition zwingen ihn zum Kampf darum, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden und sich das primitive „Glück“ eines bescheidenen Lebens ohne Not und Hunger zu sichern. Jedoch ist ihm die Gesellschaft überhaupt nicht wohl gesonnen, sie ist egoistisch, geizig und böse. Der Schelm ist also ein Produkt seiner Umwelt, er ist aufgrund seiner Lebensbedingungen unfreiwillig zu dem geworden, der er ist.[18]

2.1.3.3 Desillusionierungserlebnis oder die Initiation des Pikaro

Dies ist eines der zentralen Motive des Schelmenromans. Es ist das Erlebnis, mit dem der Pikaro in die Welt entlassen wird und durch das er von der Schlechtigkeit dieser Welt erfährt. Bis dahin schlummert er in einem Zustand tiefster kindlicher Naivität, Einfalt und Unwissenheit. Er nimmt zwar die Ereignisse um sich herum wahr, verbindet sie aber nicht mit sich selbst und reflektiert sie nicht.[19] Das Erwachen des Protagonisten aus der Kindheit und die Einführung in die die Welt regierenden Gesetze ist für ihn wie eine zweite Geburt.[20] Es wird ihm schmerzhaft vermittelt, in welcher Position er sich befindet und dass er auf niemanden außer auf sich selbst zählen kann. In dem Moment beginnt sein ständiger Kampf, den er nicht um der Ehre oder des Ruhmes willen führt, sondern um das nackte Überleben und das „Glück“, sich das tägliche Brot sichern zu können. In dieser schockartigen Initiation beginnt auch seine pikareske „Karriere“. Der Pikaro erkennt, dass er nur mit List und Scharfsinn gegen die eigennützige, böse Umwelt, die ihm hartnäckig seine Rechte verweigert, vorgehen kann. Seine Schmerzen und seine Not machen ihn erfinderisch und ausdauernd im Kampf, den er gegen Mensch und Schicksal führt.

2.1.3.4 Fortuna oder die Beständigkeit der Unbeständigkeit

Das Steigen und das Fallen gehören zu den traditionellen Metaphern im Bildbereich des Wirkens der Fortuna.[21] In der römischen Mythologie ist Fortuna die wankelmütige Glücks- und Schicksalsgöttin, die ihre Gaben, wie Glück und Unglück, wunderlich verteilt. Auch das Rad, eines der Attribute Fortunas, dreht sich im ständigen Wechsel vom guten und schlechten Schicksal. Die Wechselhaftigkeit der Fortuna wurde schon lange vor „Lazarillo“ zum Thema der Literatur. In Spanien griff Juan de Mena in seinen didaktischen Gedichten „Laberinto de Fortuna“ von 1496 das Motiv auf, das offenbar eine Nachahmung der „Divina commedia“ von Dante sowie eine allegorische Darstellung der Wechselhaftigkeit des Glücks ist.

Auch in der Traktatliteratur wurde das Thema „Fortuna et virtus“ oft abgehandelt: vor allem als Warnung vor der Überheblichkeit des Menschen, der (ganz gleich ob arm oder reich) den Gipfel des Glückes erreichen sowie abstürzen kann. Die Tugend schützt zwar nicht immer vor Fortunas Launen, ist aber eine Hilfe, um die Höhen und Tiefen des Lebens gleichmütig zu bewältigen.[22]

Der Schelmenroman verarbeitet oft das Thema der „Glücksfälle und Widrigkeiten“, denen sich der Protagonist im Laufe seiner pikarischen Laufbahn stellen muss. Im „Lazarillo“ und einigen anderen pikarischen Romanen wurden die „fortunas y adversidades“ schon im Titel angekündigt. Die Pikaros „ziehen den Kürzeren“ gewöhnlich schon wegen ihrer niederen gesellschaftlichen Herkunft und müssen sich oft schon seit der Kindheit im Kampf gegen Fortuna beweisen. Der Kampf gegen sie ist ein Kampf ums Überleben und gegen die Ungerechtigkeit, mit der die Protagonisten meistens behandelt werden. Er kann ihn nur mittels Ausdauer, Anpassungsfähigkeit und Durchtriebenheit bestehen. Hat er ihn bestanden, zeigt sich Fortuna dem Schelm auch gnädig und nun fängt der Weg nach oben an. Die aufsteigende Lebenslinie führt oft auf den zweifelhaften Gipfel des Glücks, wie es im „Lazarillo“ heißt, oder zu einem Entsagen der Welt durch den desillusionierten Protagonisten, wie es bei Mateo Aléman und in einigen anderen Romanen der Fall ist. Aus dieser Perspektive, auf der Höhe seines Lebens, erzählt der Protagonist meist seine pikareske Laufbahn. Der Leser kann dann schon erraten, dass die Gunst der Fortuna zwar noch andauert, aber das Rad steht nicht still und sich bald weiter drehen wird.

2.1.3.5 Die episodenhafte Struktur

Die Handlung des Schelmenromans ist in scheinbar locker miteinander verbundene Episoden eingeteilt und wirken beliebig fortsetzbar zu sein. Miteinander verbunden werden die Episoden durch die autobiographische Erzählweise sowie durch die Verwendung ähnlicher Motive und Themen.[23] Die auf den ersten Blick relativ simpel konstruierte und chronologisch organisierte fiktive Autobiographie zeichnet die einzelnen Stationen des Schelmenlebens von Beginn seiner zweifelhaften Karriere bis zu deren Höhepunkt nach. Dieser Höhepunkt, von dem aus der Schelm, meist reuevoll oder sich rechtfertigend, seinen Werdegang schildert, ist die Erzählzeit des Textes. Diese Bauweise ermöglicht „Einschübe und Amplifikationen“,[24] die Komplexität des „mehr vom Stoff her als von der Form“[25] bestimmten Romans erschwert jedoch ein Eingreifen in den Text. Diese Komposition dient dazu, dem Text Kohärenz zu verleihen, indem sie nicht nur vereinzelte Episoden einer Vita verbindet, sondern sie vielmehr in Beziehung zueinander setzt und so Kontinuität schafft.

2.1.3.6 Offener Schluss des Romans

Es gibt keine typische oder festgelegte Konstellation für das Finale des pikaresken Romans. Manchmal erreicht der Held, wie Lazarillo, sein Lebensziel und erzählt von dort aus rückblickend seine Lebensgeschichte. Manchmal kehrt der Pikaro, der schlechten Welt den Rücken zeigend, wie Grimmelshausens Simplicius, auf den rechten Weg zurück, und ein anderes Mal bleibt er ein Krimineller, wie Quevedos Buscón. Jedoch ist die Schlusslösung nie wirklich eindeutig. So wie die episodenhafte Struktur lässt auch der Schluss des pikaresken Romans häufig Fortsetzungen und Erweiterungen zu. Im Gegensatz zu einem geschlossenen Ende, das die Handlung zu einem finalen Punkt bringt und entweder im Tod der Figur oder im Wiedergutmachen eines Unrechts seinen Abschluss findet, wird das Ende eines Schelmenromans an einen Punkt gebracht, ab dem sich die Handlung weiter und in verschiedene Richtungen entwickeln kann. Regine Rosenthal hat den Schluss des Schelmenromans unter Bezug auf die offene und geschlossene Form im Drama untersucht und festgestellt, dass Begriffe wie „offen“ und „geschlossen“ nur bedingt auf die Schlusslösung im pikarischen Roman anwendbar sind, obwohl einige Gemeinsamkeiten zum Drama bestehen.[26] Zwar kommt es im Schelmenroman nicht zu einer eindeutigen „Lösung eines Konflikts“ im dramatischen Sinne, jedoch finden sich im ganzen Text Hinweise und „zukunftsgewisse Vorausdeutungen“[27] des Autors, die der Leser nur richtig interpretieren muss, um zu der eigentlichen Schlusslösung zu gelangen. Somit ist offener Schluss des Romans nur relativ offen und die offene und geschlossene Form als Idealtyp zu verstehen, die in der Wirklichkeit als solche selten auffindbar sind.

2.1.3.7 Das Reisemotiv

Das Reisemotiv ist eines der zentralen Motive im Schelmenroman. Als Diener vieler Herren begibt sich der Schelm auf Reisen und erlebt meist gleich zur Beginn der Reise den Initiationsschock, in dem er die Bösartigkeit der Welt und die Gemeinheit seiner Mitmenschen kennen lernt. Die Gründe für das Antreten seiner Reise sind unterschiedlich, sie reichen von materieller Not, die den Schelm zwingt, sich auf die Suche nach Unterhalt zu begeben, bis zum puren Verlangen, die Welt zu erkunden. Im Gegensatz zu den anderen zeitgenössischen Romanen sind auch die Reisestationen realistische, wirklich existierende Ortschaften und nicht idealisierte, geographisch nicht fixierbare Schauplätze.

Die Handlungsstruktur des pikarischen Romans ist dem Reisemotiv verpflichtet, das einerseits dem Standortwechsel dient, um existenzielle Probleme des Protagonisten zu lösen, andererseits aber zur Gestaltung von Gesellschaftskritik eingesetzt wird. Der Schelm „wird von Ort zu Ort verschlagen, er steigt auf der Leiter des Glückes und fällt sogleich wieder“.[28] Auf seiner Reise begegnet der Pikaro den Vertretern verschiedener Gesellschaftsschichten. Er bewegt sich einmal horizontal durch die geographische Umgebung und gleichzeitig vertikal durch die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten.

2.1.3.8 Die Satire und das Lachen

Die Funktion und der Charakter des Lachens für den Menschen und in Anbindung an die Literatur wurden von Michail Bachtin in Kontrast zum Charakter des Ernstes gesetzt und untersucht.[29] Schon im Mittelalter richtet sich das Lachen als eine „Waffe in der Hand des Volkes“[30] gegen den Ernst der weltlichen Herrscher und die Macht Gottes, gegen den Tod und die Strafen der Hölle. Das Lachen befreite den Menschen von der Angst und Einschüchterung des Ernstes und den mit ihm verbundenen Schwächen, Lügen und Heucheleien. Indem das Schreckhafte und Ernste der höheren Klassen durch das Volk ausgelacht wurde, hatte es seine bedrückende Funktion verloren und wurde besiegt. Während es im Mittelalter noch auf die Festtage beschränkt war, für die Bachtin allgemein den Begriff „Karneval“ anwendet, wurde es mit der Zeit zum Ausdruck für das „geschichtliche Bewusstsein“,[31] für das Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit, und fand den Weg zur Literatur, um wiederum „Popularität zu erringen, um Zugang zum Volk zu finden“.[32] Das Verwischen der Grenzen zwischen der Lachkultur und der Literatur und das Übertragen der Sprache und Symbole des Karnevals in die Literatur wurde von Bachtin als „Karnevalisierung der Literatur“[33] bezeichnet.

Schon seit der Antike spielten karnevalsartige Feierlichkeiten im Leben des Volkes eine große Rolle, gleichzeitig beeinflussten sie den gesamten Kulturbereich, die hohe Literatur inbegriffen, zu der die Lachliteratur durchdrungen ist. Die Anfänge des Schelmenromans fallen auch in die Karnevalisierung der Literatur der Neuzeit. Die verkehrte Welt des Schelmenromans weist gewisse Ähnlichkeiten mit der verkehrten Welt des Karnevals auf, und der Schelm ist oft dem Narren ähnlich. Bei Grimmelshausens „Simplicissimus“ trägt der Protagonist sogar zeitweise das Narrenkostüm. Die Figuren des Narren und des Schelms sind verwandt. Beide bedienen sich der Satire, um der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und sie zu parodieren. Dabei wurden auch die beiden Figuren als „betrogene[r] Betrüger und Vertrauensschwindler“[34] von der Gesellschaft verspottet. In der pikarischen Literatur finden sich einige Einflüsse der karnevalistischen Festlichkeiten und Narrenfeste, die einen Vorrat an Mustern für die Schelmenfiguren boten.

Den Bezug des Schelmenromans auf die Menippeische Satire, die schon seit der Antike als „Instrument der Kritik und Invektive“[35] diente, hat Bauer in Anlehnung an Bachtin verdeutlicht. Durch die Verformung der Wirklichkeit mittels der Übertreibung wurde zum einen die Gesellschaft parodiert und kritisiert, zum anderen wurde der Schelm selbst belächelt.

2.2 Die gesellschaftliche Situation in Spanien: der Aufstieg und der Fall eines Imperiums

Im Sommer 711 begann die Eroberung der iberischen Halbinsel durch die Araber, die von Gibraltar aus auf das europäische Festland vorgedrungen waren. Bis 725 war die Halbinsel, mit Ausnahme eines Teiles von Asturien, bis zu den Pyrenäen erobert. Hinsichtlich der Toleranz anderen Religionen gegenüber waren die Araber den Europäern im Mittelalter weit überlegen. Córdoba war bis zum 12. Jh. die wohlhabendste europäische Stadt, in der Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur blühten und gefördert wurden. Über Córdoba fanden viele fortschrittliche wissenschaftliche Erkenntnisse ihren Weg in die Naturwissenschaften des christlichen Europas. Auch hinsichtlich Wissenschaft und Lebensart war die arabische Kultur der abendländlichen überlegen.[36]

In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde Spanien jedoch von den Christen nach und nach zurückerobert. Im Jahr 1462 existierte außer den christlichen Königreichen Kastilien, Aragonien, Navarra und Portugal nur noch das kleine maurische Königreich von Granada. Als Folge der Heirat zwischen Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien im 1469 wurden beide Königreiche vereinigt, das Herrscherpaar vom Papst als „Los Reyes Católicos“ anerkannt und somit der Grundstein für den spanischen Staat gelegt. 1492 wurde die letzte arabische Festung, die „Alhambra“, durch die Katholischen Könige eingenommen und nun veränderte sich die Lage nicht nur das Staatswesen betreffend, sondern auch hinsichtlich der Toleranz anderen Religionen gegenüber:

„Die Muslime wurden als abfällige Christen gesehen und eingestuft, Muhammed als ein `Sektenführer` und Spalter der Kirche; die Juden galten als jene `Halsstarrigen`, welche die Göttlichkeit Christi nicht anerkennen wollten, ja seine Hinrichtung bewirkt hatten“.[37]

Nach dem Sieg mussten Muslime und Juden Spanien verlassen oder wurden mehr oder weniger zur Konversion gezwungen, was nicht nur den Verlust der intellektuellen Elite bedeutete, sondern auch Handwerk, Landwirtschaft und Handel schwächte. Die Inquisition erschwerte den religiösen Minderheiten und selbst den Konvertierten das Leben. Dabei war es die geistige, politische und wirtschaftliche Elite, die das Land verließ. Nur das einfache mittellose Volk, für das es finanziell schwierig oder unmöglich war auszuwandern, musste bleiben und wurde zwangschristianisiert oder getötet.

Jedoch war nicht allein die Reconquista der Grund des Untergangs des andalusischen Reiches. Die inneren Konflikte und politische Spaltungen führten zur Schwächung des Reiches, wohingegen die Vereinigung der katholischen Königreiche zur Entstehung einer Herrschaft mit einer bis dahin nicht gekannten Machtfülle und politischen Stärke des spanischen Reiches führte. Eine der Folgen der Kämpfe auf dem Land war die Verarmung der Bauern, die bis dahin eine wichtige wirtschaftliche Basis bildeten. Nachdem nun ihr Besitz vernichtet und sie selbst versklavt wurden, drängten sie als besitzlose Flüchtlinge massenweise in die Städte, in den aber wegen Überfüllung auch keine Möglichkeiten der Sicherung des Lebensunterhaltes gab.[38] Infolge der religiösen Intoleranz sowie der Vertreibung der kulturellen und wirtschaftlichen arabischen Elite wurde Spanien zwar zu einer einheitlichen politischen Weltmacht, verlor aber an der ökonomischen Bedeutung und verarmte allmählich.

„El siglo de oro“, das Goldene Zeitalter der spanischen Literatur und Kultur, das von 1519 bis 1659 dauerte, war gleichzeitig auch die Epoche des politischen und ökonomischen Niedergangs der spanischen Monarchie. Spanien erlebte eine wirtschaftliche Krise und die Zeichen des Untergangs mehrten sich. Politisch unter der Regierung der Habsburger Dynastie, mit Territorien von Argentinien bis zu den Niederlanden, gehörte Spanien zu den mächtigsten Nationen. Der Erhalt des Imperiums erforderte jedoch ständige Kriege, die wiederum die Staatskasse belasteten und das Imperium schwächten. Nach der Rückeroberung Spaniens und der Entdeckung des amerikanischen Kontinents durch Kolumbus wurde Spanien mit den aus Übersee eingeführten Reichtümern praktisch überschwemmt, was zur steigenden Inflation führte und die Wirtschaft eher schwächte, statt sie zu stärken. Auf der anderen Seite gab es in Spanien fast kein Erwerbs-bürgertum, das mit Abgaben für den Staat hätte belastet werden können. Es gab fast keine Kaufleute, Handwerker oder ähnliche Berufsgruppen. Die verarmten Adeligen, die Hidalgos, die sich früher als Soldaten verdingten und die jetzt (mit ihrem überhöhten Ehrgefühl) keine ihnen entsprechende Beschäftigung fanden, sowie auch der Klerus, lebten auf Kosten der unterprivilegierten Bevölkerungsschicht, der meist Bauern angehörten. Die wiederum flohen vom Land in die Städte, weil sie den Steuerlasten nicht mehr gerecht werden konnten. All dies führte zu einer nur noch größeren Kluft zwischen den Armen und den Reichen.[39]

Die Städte, allen voran Sevilla, die als Tor zur Neuen Welt gesehen wurde, waren voll von Arbeit- und Glücksuchenden, Bettlern und Landstreichern, die am Rand der Gesellschaft existierten. Der Ehrenkodex und das Tabu zu arbeiten führten dazu, dass in Spanien fünf von sechs Einwohnern für die Arbeit und den Handel untauglich waren, während es in England oder Holland nur einer von hundert war.[40] Zur ökonomischen Krise trugen auch die Reformation und die mit ihr verbundene Schwächung des Katholizismus wesentlich bei, ebenso wie der Staatsbankrott, der nicht einmal durch die Ausbeutung der Kolonien aufzuhalten war.[41] Spanien war von den Kolonien praktisch abhängig, da die von den Arabern geschaffene Infrastruktur in Wirtschaft, Landwirtschaft und Handel nicht mehr vorhanden war. Als darüber hinaus England und Frankreich, um Spanien aus seiner führenden Machtposition zu stoßen, die Überfälle auf die spanische Kriegsmarine, die „Armada“ verübten, musste Spanien massive Verluste hinnehmen. Zu der allgemeinen Verelendung im 14. und 15. Jh. haben Missernten und Pest nicht nur in Spanien, sondern in ganz Europa wesentlich beigetragen.

All diese Umstände nehmen einen breiten Raum in der Literatur jener

Zeit ein. Autoren wie Cervantes, Quevedo, Alemán und viele andere waren Zeugen dieses Geschehens und setzten sich mit den Umständen kritisch auseinander. Für manche von ihnen gilt es als bewiesen, bei anderen wird es vermutet, dass sie der Gruppe der Conversos angehörten und somit selbst betroffen waren.[42] Die soziale Stellung der Neuchristen war schlecht, und sie hatten einige Gründe, um desillusioniert zu sein und zu klagen. Sie waren von der Übernahme öffentlicher Ämter ausgeschlossen, ständigen Verdächtigungen ausgesetzt, an ihrem alten Glauben heimlich fest zu halten, und der Bedrohung durch die Inquisition ausgeliefert. Den Inquisitoren genügte schon ein Gerücht, um den Verdächtigten verhaften zu lassen, was von vielen als Möglichkeit genutzt wurde, Streitigkeiten mit dem Nachbarn oder sogar eine unbequeme Ehe zu beenden. All das führte zur einer Atmosphäre, in der kein zwischenmenschliches Vertrauen mehr vorhanden war und jeder hätte als Schwindler oder Betrüger entlarvt werden können. Unter diesen Umständen ist es nicht besonders verwunderlich, dass jene, die diskriminiert wurden und unter dieser Situation litten, sich der Satire bedienten, um Kritik an der zeitgenossischen Gesellschaft zu üben.

2.3 Die Entstehungsgeschichte des Schelmenromans

Die Geschichte des europäischen Schelmenromans begann in

Spanien 1554 mit dem Erscheinen von „La vida de Lazarillo de Tormes, y de sus fortunas y adversidades“, die als Ursprung des pikarischen Romans gilt. Über die literarischen Vorbilder des Schelmenromans ist man sich in der Forschung nicht einig und es wird nach wie vor darüber diskutiert. In der Fachliteratur finden sich Hinweise auf die „Metamorphosen“ oder „Der goldene Esel“ von Lucius Apuleius aus der Antike, die zu Beginn des 16. Jh. in die spanische Sprache übertragen wurden.[43] Durch einen unzuverlässigen Ich-Erzähler, der vielen Herren dient, und in Form des Romans wurde hier die Widersprüchlichkeit zwischen dem Sein und Schein der Gesellschaft aufgezeigt, die dem Schelmenroman als Vorbild gedient haben dürfte.[44]

Die Form der fingierten Autobiographie findet sich ebenfalls im „Baldus“ von Teofilo Folengos, einem Werk über einen Schelm, der einen Bericht über das Leben einer höher gestellten Person abgibt und 1542 aus dem Italienischen übersetzt in Spanien erschien.

Ebenso findet sich die „satirisch-parodistische Erzählkonstruktion der fiktionalen Autobiographie“[45] im „Satyricon“ von Titus Petronius, das von Matthias Bauer als satirisches Sittengemälde und als antiker Vorläufer des Schelmenromans bezeichnet wird.[46] In der mittelalterlichen Literatur macht Ingrid Simson „Libro de buen amor“ von Arcipreste de Hita, „Celestina“ von Fernando de Rojas und „Retrato de la lozana andaluza“ von Francisco Delicados als mögliche Vorläufer des Schelmenromans aus.[47]

Sowohl die genannten Werke als auch die als mögliches Vorbild geltende Schwankliteratur stellen das Leben der unteren Schichten der Gesellschaft und des einfachen Volkes dar. Die mittelalterliche Volksliteratur bildete einen Gegensatz zu der idealisierten „höheren“ Literatur und hat in der Form von Schwanktexten motivische Vorbilder liefern können. Jedoch gibt es auch zahlreiche andere Merkmale, die den „Lazarillo“ von der Schwankliteratur unterscheiden, die im Folgenden ausführlich besprochen werden sollen und die den Text gleichzeitig zum Vorläufer und Prototyp des pikarischen Romans machen.

„Lazarillo de Tormes“ ist das Werk eines bis heute unbekannten Autors und erschien gleichzeitig an drei Orten: Burgos, Antwerpen und Alcalá de Henares. Die Autorschaft ist bis heute ungeklärt geblieben, es wird einzig vermutet, dass der unbekannte Autor zu den Neuchristen, den „conversos“, zählte. Als Grund für die Anonymität des Autors wurde die Furcht von der allmächtigen Inquisition und der staatlichen Zensur genannt, die auch begründet war, weil „Lazarillo“ 1559 zensiert wurde und bis 1812 auf dem Index stand.[48] Eine humanistische Bildung des Autors ist offensichtlich. Die Veröffentlichung an drei Orten gleichzeitig hat einige Literaturforscher zu der Vermutung veranlasst, dass diese Ausgabe auf eine früher erschienene und nicht erhaltene Ausgabe zurückgeht, jedoch sind die Beweise für diese These nicht ausreichend.

In der spanischen Literatur war die Gesellschaft bis dato noch nie von so weit unten, auf eine derart satirische Weise kritisiert worden. Das Werk beginnt damit, dass der Erzähler im Prolog, den er an einen unbekannten Herrn richtet, sein Vorhaben über sein Leben zu berichten äußert. Der Roman ist als chronologisch erzählte Pseudoautobiographie angelegt. Der Erzähler Lazarillo, Sohn eines verurteilten Kleinkriminellen, erzählt rückblickend über die Lebensstationen, die ihn von Salamanca bis nach Toledo führten, wo er im Glauben lebt, alles Erreichbare erreicht zu haben und sich auf dem Gipfel all seines Glücks zu befinden.[49]

Im Ausland wurde „Lazarillo de Tormes“ vom Original übersetzt weiter gedruckt und hatte Erfolge verzeichnet. In Spanien dagegen, wegen seiner Popularität ist es 1573 in einer überarbeiteten, von Zensur akzeptierten, Fassung mit dem Titel „Lazarillo castigado“ erschienen. Obwohl dieses schmale Werk in jeder Hinsicht eine Neuigkeit war und die europäische Literaturgeschichte weitgehend beeinflusst hat, dauerte es fast fünfzig Jahre, bis „jenes Buch [erschien], das sofort zum Muster für eine ganze Reihe anderer Romane wurde und damit traditionsbildende Bedeutung für die pikareske Gattung bekam“.[50] Gemeint ist „Guzmán de Alfarache“ von Mateo Alemán, das 1599 in Zaragoza erschienen war und dem im Jahr 1604 eine Fortsetzung folgte. Wie beim „Lazarillo“, berichtet auch hier der Protagonist rückblickend über sein Leben. Im Gegensatz zu Lazarillo, der sich vor allem gerechtfertigt hat, blickt Guzmán jedoch reuevoll zurück. Die Erzählung der Ereignisse wird oft durch Belehrungen und moralistische Kommentare unterbrochen. Einerseits waren dem Autor, der vermutlich auch ein „converso“ war, die Zensurschwierigkeiten beim „Lazarillo“ sicherlich bekannt. Andererseits waren fünfzig Jahre vergangen und die belehrende Moral sowie religiöse Unterweisung zur Bekehrung und somit die Möglichkeit der Errettung des Sünders stand im Geiste der religiös bestimmten Epoche der Gegenreformation.[51]

„Lazarillo de Tormes“ und „Guzmán de Alfarache“ sind die ersten Werke mit Merkmalen des Schelmenromans, jedoch unterscheiden sie sich auch voneinander, was in der Forschung zu der Frage führte, ob man beide gleich setzen darf. Schon im Umfang unterscheiden sich beide Werke. Auch die Konzeption beider ist verschieden. Sind es beim „Lazarillo“ „harmlos dargebotene Episoden“[52], so ist es bei „Guzmán“ eine „umfassende Generalbeichte“[53]. Des Weiteren unterscheidet sich Guzmán von Lazarillo dadurch, dass er aus freien Stücken zum Pikaro wurde, wohingegen Lazarillo immer durch die Umstände, vor allem den immer zu erleidenden Hunger, quasi zum Handeln gezwungen wurde. Wegen der benannten gemeinsamen Merkmale sollen die beiden Werke hier, trotz der deutlichen Unterschiede zwischen ihnen, als Vertreter derselben Gattung gesehen werden. In den Jahren 1554–1680 wurde „Lazarillo de Tormes“ ca. einunddreißig Mal gedruckt, und es erschienen insgesamt ca. fünfunddreißig Schelmenromane, darunter „Buscón“, „Marcos de Obregon“ und „El diablo conjuelo“.[54]

Die Gattung des Schelmenromans entstand in Spanien während des Goldenen Zeitalters, als die Zeichen des Untergangs des Imperiums sichtbar wurden, und ist mit der damaligen wirtschaftlichen und politischen Situation aufs Engste verbunden. Erst im späten 17. Jahrhundert wurden in Deutschland, Frankreich und England ähnliche Romane geschrieben, die unter dem Einfluss des spanischen Schelmenromans standen, jedoch jeweils landes- und zeittypische Abwandlungen erfuhren.

3. Die spanischen Schelmenromane

3.1 „Lazarillo de Tormes“

Das schmale Werk eines bis heute unbekannten Autors erschien 1554 und wurde bald zu einem wichtigen Vorläufer und gleichzeitig Vertreter für die pikareske Literatur nicht nur in Spanien, sondern in ganz Europa. Seine möglichen Vorbilder wurden bereits im Punkt 2.2 über die Entstehungsgeschichte des Schelmenromans angesprochen. Die Wirkungsgeschichte des in seiner Neuartigkeit außergewöhn-lichen Werkes dauert bis heute an. Über die Jahrhunderte hinweg erfuhr die Geschichte des kleinen Gauners zahlreiche Modifikationen und Umwandlungen in der literarischen Form und behandelten Thematik. Dies ist jedoch mit der allgemeinen Entwicklung der Literaturgeschichte und der zu kritisierenden gesellschaftlichen Gegebenheiten verknüpft. Die Auseinandersetzung mit der späteren Geschichte und der Rezeption des Werkes soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch thematisiert werden. Die Wahl ist unter anderen deshalb auf „Lazarillo“ gefallen, weil das knappe Werk eine große Bedeutung für die Entwicklung der gesamten Literaturgeschichte hat, und auch deshalb, weil sich an diesem Werk alle gattungsimmanenten Merkmale wie an fast keinem anderen ausmachen und untersuchen lassen.

3.1.1 Die Struktur, der Inhalt und der Titel

Die Geschichte des Schelms Lazarillo besteht aus einem Prolog und sieben Kapiteln, in denen sein Leben präsentiert wird. Im Prolog, der in der Form eines an „Vuestra Merced“ gerichteten Briefes verfasst ist, kündigt ein Ich-Erzähler an, seine Lebensgeschichte zu berichten. Die Vorrede ist kurz, aber bündig und zeigt die ungefähre Richtung des Werkes. Der Ich-Erzähler, also Lazarillo selbst, will in Form einer Autobiographie sein Leben von Anfang an bis zu dem Zeitpunkt, an dem er dieses Schreiben verfasst, berichten. Er will von seiner Familie und vom Glück und Unglück, das ihm widerfahren ist, erzählen. Aber auch davon, wie er trotz der Widrigkeiten, die ihm Gott und Mensch immer wieder bescheren, doch noch auf den rechten Weg gelangt, der in ein friedvolles Leben einmündet.

Im ersten Kapitel beginnt Lazarillo damit, von seinen Eltern, seinem Geburtsort und seiner noch relativ unbeschwerten Kindheit zu erzählen. Da seine Mutter jeder männlichen Fürsorge beraubt war und noch ein kleineres Kind zu versorgen hatte, gibt sie Lazarillo einem Blinden als Blindenführer in Obhut. Gleich zu Beginn der gemeinsamen Wanderschaft mit dem Blinden wird Lazarillo die wichtigste Lektion seines Lebens erteilt, in der er erkennt, dass er auf niemanden als auf sich selbst zählen kann und aus seiner „tiefen Einfalt“ (S.14) erwachen muss. Im weiteren Verlauf seines Berichts wird der Blinde noch einige Male als ein guter Lehrer erwähnt, dem Lazarillo seine Vorbereitung auf das harte Leben zu verdanken hat. Den weiteren gemeinsamen Weg bestreiten Lazarillo und der Blinde in einem ununterbrochenen „Zweikampf der gegenseitigen Überlistung“,[55] den Lazarillo führt, um seinen Hunger zu stillen, und der Blinde aus purem Geiz und Grausamkeit, bis Lazarillo entscheidet, sich zu rächen und den Blinden zu verlassen.

Dem Blinden entlaufen, gerät Lazarillo an einen noch schlimmeren Herrn, den geizigen Geistlichen, der ihn fast verhungern lässt. Wenn der Blinde auch geizig war, im Nachhinein beschreibt Lazarillo ihn als „Alexander Magnus im Spendieren und Ausgeben“ (S.31) im Vergleich zum Priester. Das Motiv des Hungerleidens wird im zweiten Kapitel noch weiter ausgeführt. Neben der Darstellung des Geizes und der Heuchelei des Priesters, den Lazarillo aus Angst, einen noch schlimmeren Herrn zu erwischen, nicht sofort verlässt. Auch in diesem Kapitel findet ein Kampf statt. Lazarillo, von Hunger getrieben, lässt sich immer wieder neue Tricks einfallen, um den geizigen Priester zu überlisten und an Essen zu kommen. Die Episode mit der Brottruhe, in die Lazarillo mit seiner ganzen Erfindungskraft einzubrechen versucht, wird von ihm in allen Einzelheiten dargestellt und nimmt den größten Teil dieses Kapitels ein.

Das Thema des Hungers ist zentral und wird bis zu einer Zuspitzung im dritten Kapitel ausgeführt, in dem Lazarillo erzählt, wie er einem verarmten Adeligen begegnet, der ihn zu seinem Diener nimmt. Lazarillos Freude über den vermeintlich reichen Herrn ist schnell vorbei, als er feststellt, dass dieser genau so ein Hungerleider ist wie er selbst. Er gibt es aber nicht zu, weil ihn sein übermäßiger Stolz- und Ehrbegriff daran hindert, der ihn ebenfalls davon abhält, einer Arbeit nachzugehen. Dies ist der erste Herr Lazarillos, den er nicht als Unmenschen präsentiert, sondern mit dem er Mitleid empfindet. Statt für seine Dienste mit Essen entlohnt zu werden, ernährt er seinen Herrn mit dem, was er erbettelt hat. Die Weise, auf die Lazarillo sein Brot mit seinem Herrn teilt, um dessen Gefühl nicht zu verletzen, obwohl er es nicht befürwortet, zeigt, dass er durchaus gutherzig und human anderen Menschen gegenüber ist. Obwohl dieser Herr Lazarillo noch weniger als der Blinde und der Geistliche geben kann, findet hier kein Kampf statt, sondern die beiden werden zu Verbündeten, die gemeinsam die Qualen des Hungers durchzustehen versuchen.

Das vierte Kapitel ist sehr knapp gehalten und beschreibt in wenigen Sätzen den nächsten Herrn Lazarillos, einen Mönch, der das Gebet und das Klosteressen meidet, bei dem es dafür sehr weltlich zugeht. Nach knapp einer Woche hat Lazarillo seine ersten Schuhe zerlaufen und den Mönch verlassen. In diesem Kapitel wird das Hungermotiv zunächst nicht behandelt und Lazarillo beschreibt nur den Mönch, anstatt Geschehnisse darzustellen, in denen er selbst der Protagonist ist. Diese Richtung wurde schon im Kapitel mit dem armen Adeligen eingeschlagen, in dem Lazarillo immer mehr in den Hintergrund geraten ist und sein Herr dafür als eine „Schöpfung eines originellen Charakters“[56] ausgearbeitet wurde, im Vergleich zu den vorherigen Figuren, die „weitgehend in einer festen Tradition stehen“.

Im fünften Kapitel ist Lazarillo Diener eines Ablasskrämers, bei dem er einige Monate verbringt. Jedoch erzählt er hier weniger von dem Verhältnis zwischen ihm und seinem Herrn. Das Hungermotiv und der Kampf „List gegen List“ finden hier keine Anwendung. Vielmehr ist dieses Kapitel die Darstellung einer einzelnen Episode, in der die Gerissenheit des betrügerischen Krämers beim Verkauf der Ablässe präsentiert wird. Lazarillo erwähnt zwar im letzten Satz des Kapitels, dass er auch bei diesem Herrn einiges auszuhalten hatte, und distanziert sich von dessen Betrügereien, ist hier aber nur als Erzähler und nicht als handelnde Figur präsent.

Danach folgt wieder ein kurzes Kapitel, in dem Lazarillo in die Dienste eines Kaplans tritt, nachdem er in einem Satz erwähnt, dass er auch einem Maler gedient hatte. Für den Kaplan verkauft er Wasser, steht aber nicht in direkter Dienerbeziehung zu ihm. Ab diesem Moment geht es ihm auch wesentlich besser. Er leidet keinen Hunger mehr, wird von seinen Herren nicht gepeinigt, kann sich sogar für seinen Verdienst alte Kleider kaufen und wird nun ein „ehrlicher Mann“(S. 88). Nach einer kurzen Erwähnung des gefährlichen Dienstes bei einem Vogt sucht sich Lazarillo eine Beschäftigung als Ausrufer, die vergleichbar mit der des Henkers ist und sich keiner besonders guten gesellschaftlichen Stellung erfreut. Aber immerhin bekleidet er ein öffentliches Amt, und das war schon immer sein Ziel. Als ihn noch ein Erzpriester mit der eigenen Konkubine verheiraten will, geht Lazarillo darauf ein, weil er darin das Versprechen eines besseren, gesicherten Lebens sieht. Nach so vielen Missgeschicken hat er endlich den Frieden und den Wohlstand erreicht, die er schon im Prolog als den sicheren Hafen und den Gipfel all seines Glücks bezeichnet hat.

[...]


[1] Kern, Stefan: Die Kunst der Teuschung. Dissertation (ohne Angabe des Verlags) 2004. S.55

[2] Noehles, Gisela: Nachwort. In: Sestendrup, Manfred (Hg.): Leben und Wandel Lazaril von Tormes.

Und Beschreibung was derselbe für Unglück und Wiederwärtigkeit ausgestanden hat. Stuttgart 1997.

S.103

[3] Hoffmeister, Gerhard: Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext. Rezeption,

Interpretation, Bibliographie. Amsterdam 1987. S.4

[4] Corominas, Juan: Das Wort „pícaro“. In: Heidenreich, 1969. S. 255 f.

[5] ebd.

[6] Vgl.: Jacobs, 1983. S. 40

[7] Grimm, J. und Grimm, W.: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. [in 32 Teilbänden] Leipzig: 1854-1960.

hier: http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/dwb vom 19.08.07

[8] ebd.

[9] Bauer, Mathias: Der Schelmenroman. Stuttgart 1994. S. 35

[10] Braak, Ivo; Neubauer, Martin: Poetik in Stichwörtern. Kiel 1972. S. 212

[11] Vgl.: Braak; Neubauer, 1972. S. 212

[12] Vgl.: Bauer,1994. S.19

[13] ebd.

[14] Heidenreich, Helmut: Einleitung. In: Heidenreich, 1969. S. XV

[15] Vgl.: Bauer,1994. S.13

[16] Zahareas, Anthony N.: The Historical Function of Pikaresque Autobiographies: Toward a History of

Social Offenders. In: Spadaccini, Nicolas: Authobiographie in early Spain. Minneapolis 1998

[17] Vgl.: u.a. Bauer,1994. S.1

[18] Baader, Horst: Spanische Schelmenromane. 2. Band. München 1965. S. 572

[19] Rötzer, Hans Gerd: Picaro – Landstörtzer – Simplicius. Darmstadt 1972. S. 15

[20] Vgl. u.a.: Rötzer, 1972. S. 16

[21] König, Bernard: (Anonym) La vida de Lazarillo de Tormes, y de sus fortunas y adversidades. In:

Roloff, Volker; Wentzlaff-Eggebert, Harald (Hg.): Der Spanische Roman vom Mittelalter bis zur

Gegenwart. Stuttgart 1995. S. 38

[22] Vgl.: König. In: Roloff / Wentzlaff-Eggebert, 1995. S. 35

[23] Jacobs, Jürgen: Der deutsche Schelmenroman. München, Zürich 1983. S. 30-31

[24] Vgl.: Jacobs, 1983. S. 31

[25] Chandler, Frank W.: Definition der Gattung. In: Heidenreich, 1969. S. 1

[26] Rosenthal, Regine: Die Erben des Lazarillo. Identitätsfrage und Schlusslösung im pikarischen

Roman. Frankfurt / M. 1983. S. 17-25

[27] Rosenthal, 1983. S. 22

[28] Welzig, Werner: Der Wandel des Abenteuertums. In: Heidenreich, 1969. S. 450

[29] Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt / M 1990.

S.32-60

[30] Vgl.: Bachtin, 1990. S. 39

[31] Vgl.: Bachtin, 1990. S. 44

[32] ebd.

[33] Vgl.: u.a. Bachtin, 1990. S. 47

[34] Vgl.: Bauer,1994. S.17

[35] Vgl.: Bauer,1994. S.23

[36] Hottinger, Arnold: Die Mauren. Arabische Kultur in Spanien. Zürich 1995. S. 27

[37] Vgl.: Hottinger, 1995. S.330 f.

[38] Vgl.: Hottinger, 1995. S.319

[39] Vgl.: Bauer, 1994. S. 32-33

[40] Poppenberg, Gerhard: Einleitung. In: Neuschäfer, Hans-Jörg (Hg.): Spanische Literaturgeschichte.

Stuttgart 2001. S. 78

[41] Vgl. Bauer1994, S.34

[42] Vgl. Bauer, 1994. S.34

[43] Simson, Ingrid: Das Siglo de oro. Stuttgart 2001. S. 130

[44] Vgl.: Bauer, 1994. S.13

[45] Gebauer, Mirjam: Wendekrisen. Der Pikaro im deutschen Roman der 1990er Jahre. Trier 2006. S. 27

[46] Vgl.: Bauer, 1994. S. 23

[47] Vgl.: Simson, 2001. S. 130

[48] Jacobs, 1983. S.10

[49] Sestendrup, Manfred (Hg.): Leben und Wandel Lazaril von Tormes. Und Beschreibung was derselbe

für Unglück und Wiederwärtigkeit ausgestanden hat. Stuttgart 1997. S.103. Für weitere Zitate wird

diese Ausgabe genutzt.

[50] Vgl.: Jacobs, 1983. S. 14

[51] Vgl.: Simson, 2001. S. 133

[52] Bauer, M.: Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans. Wiesbaden 1992. S. 4

[53] ebd.

[54] Petriconi, Helmut: Zur Chronologie und Verbreitung des spanischen Schelmenromans. In:

Heidenreich, Helmut (Hg.): Pikarische Welt. Schriften zum europäischen Schelmenroman.

Darmstadt 1969. S. 73 f.

[55] Tarr, Frederick C.: Die thematische und künstlerische Geschlossenheit des „Lazarillo de Tormes“.

In: Heidenreich, 1969. S. 18

[56] Vgl.: Tarr. In: Heidenreich, 1969. S. 27-28

Ende der Leseprobe aus 104 Seiten

Details

Titel
Der spanische Schelmenroman und seine deutschen Verwandten
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
gut
Autor
Jahr
2008
Seiten
104
Katalognummer
V123248
ISBN (eBook)
9783640280261
ISBN (Buch)
9783640283743
Dateigröße
1235 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lazarillo, Simplicissimus, Grimmelshausen, Eduardo Mendoza, Jens Sparschuh, schelmenroman, pikarische Elemente
Arbeit zitieren
Danuta Depka Prondzinska (Autor:in), 2008, Der spanische Schelmenroman und seine deutschen Verwandten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123248

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