Elementarteilchen - Chiffre unserer Gegenwart

Konzepte für eine dramaturgische Adaption


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

36 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. EINLEITUNG
1. Einführung in Thema, Ziele und Aufbau dieser Arbeit
2. Das Presseecho auf den Roman im deutschsprachigen Raum
3. Der Sloterdijk-Skandal anläßlich der Elmauer Rede

II. DIE THEMEN DES ROMANS „ELEMENTARTEILCHEN“
1. Der Individualismus der 68er als unreine Moral
2. Brunos pathologischer Libidinal-Hedonismus
3. Die Todesproblematik
4. Liebesunfähigkeit in Zeiten des medialen Konsumterrors
5. Der ORT als Symbol des Scheiterns kommunistischer Utopie
6. Individualismus führt in letzter Konsequenz zum Ritualmord
7. Am Ende: Wir klonen uns eine glückliche Gesellschaft

III DER STIL DES ROMANS „ELEMENTARTEILCHEN“
1. Die wissenschaftlichen Passagen
2. Ist einfache Schreibweise Mangel künstlerischen Könnens?

IV KONZEPTE FÜR EINE DRAMATURGISCHE ADAPTION
1. Der Schauplatz der Handlung
2. Die Figuren des Romans
3. Die Rolle des Chores
4. Konzepte für ein neues Ende
5. Beispielseequenz

V. VERSUCH EINES RESÜMEES

VI. LITERATURVERZEICHNIS

I. EINLEITUNG

1. Einführung in Thema, Ziele und Aufbau dieser Arbeit

Ein Skandal ist eine öffentliche Auseinandersetzung, in. der es teilweise auch polemisch hergeht und in dem es mindestens zwei Parteien gibt - den Auslöser und dessen Angreifer -, deren Meinungen meist diametral entgegengesetzt an den verschiedenen Enden der Meinungsskala an­gelegt sind und die jeweils aufs Heftigste versuchen, die Öffentlichkeit von ihrer Version von Wahrheit zu überzeugen. Damit die Angreifer je­doch überhaupt den entschiedenen Handlungsbedarf bemessen, muß ihnen der Auslöser dafür schon einen derartigen meinungspolitischen Zündstoff in die Hand liefern, an dem sie sich unproblematisch entzün­den und explodieren können, ohne dabei Gefahr zu laufen, allein mit ih­rer Meinung dazustehen; kurz einem richtigen Skandalauslöser ist be­reits die extreme Position inhärent; Mittelmaß vermag hingegen nicht, eine Öffentlichkeit derart vorausberechenbar und quasiautomatisch in zwei Lager zu spalten.

Als Michel Houellebecqs zweiter Roman unter dem französischen Origi­naltitel „Les particules élémentaires“ 1998 im Pariser Verlag Flammari­on, und ein Jahr später in der deutschen Übersetzung unter dem Titel „Elementarteilchen“ beim Kölner DuMont Buchverlag, erschien, brauch­ten die Leser nicht lange nach den skandalträchtigen Elementen zu su­chen; bereits alle Träger des genetischen Y-Chromosoms konnten sich heftigst auf den Schlips und vielmehr noch sonstwohin getreten fühlen, denn was in dem Satz: „aber seit Jahrhunderten erfüllten die Männer of­fensichtlich so gut wie gar keinen Zweck mehr“1 eine Hauptfigur des Ro­mans, Michel, reflexiv zusammenfaßt, wird am Lebenslauf der zweiten Hauptfigur Bruno dahingehend konkretisiert, daß Männer zur wahrer Lie­be gänzlich unfähige, in ihrem pathologischen Libidinal-Hedonismus untherapierbar gefangene, Perverse sind, die die sinnvolle Fortentwick­lung des Menschen nur bremsen und - da es keinerlei rettende Ausnah­men unter ihnen gibt - deswegen abgeschafft werden müssen. Derlei zynische Angriffe auf verschiedene Personengruppen finden sich mann­igfaltige, so daß sich zugleich Chauvinisten, Feministinnen, Altachtund- sechziger und vor allem Klon-Gegner düpiert fühlen dürften und de- 1 Houellebecq: Elementarteilchen. Köln 1999, S. 187. mentsprechend vehement zum Angriff gegen den Autor bliesen.

Den Anfang machte die Redaktion der Zeitschrift „Perpendiculaires“, die nach einer Anhörung und Beratung einen Ausschluß über ihren Autor Houellebecq verhängte und damit das Startsignal für das mediale Tur­nierspektakel gab. Daß es sich hier nicht um einen reinen Marketinggag zur mediengerechten Plazierung von Autor und Werk im nationalen Feu­illeton handelte, zeigte sich darin, daß auf die Ausschluß-Aktion der Re­daktion hin diese ihren bisherigen Verlag verlor, der nämlich dummer­weise gleichzeitig der Herausgeber des geschaßten Redakteurs war, nun so seinerseits in aller Deutlichkeit Stellung nahm und sich schüt­zend vor seinen Autor stellte. Später erhielt Houellebecq für „Elementarteilchen“ den „Prix Novembre, der Schuldirektorenverband warnte dennoch offiziell und eindringlich vor dem Buch, das Nudisten­camping „Uespace du Possible“ strengte einen Prozeß an, in dem sie das Verbot des Romans lancierten, jedoch nur die Abänderung des Zeltplatznamens erreichten2. Mit zunehmenden Opfern auf allen Seiten rückte das Objekt des Glaubenskonfliktes mehr und mehr ins Zentrum der medial informierten Öffentlichkeit.

Zugleich stieg jedoch auch die Auflage des Buches in Frankreich bis in disem Jahr über die Marke von 400 000 verkauften Exemplaren, wäh­rend die deutsche DuMont-Ausgabe in der 6. Auflage bei 66.000 verkauf­ten Exemplaren lag3. Desweiteren beweist die Einrichtung von Houelle- becq-Fan-Webseiten im Internet, daß seine Bücher nicht nur von Geg­nern mit dem Ziel gekauft werden, sie schnellstmöglich zu verbrennen. Ein solch gewaltiger Erfolg in die eine wie auch die andere Richtung gilt meistens als Indiz dafür, daß hier dem Inhalt doch eine besondere Wahrheit inhärent sein könne, deren Neuigkeit die einen mit ihrer bishe­rigen Tabuisierungsstrategie scheitern läßt und der die anderen be­geistert applaudieren, dankbar dafür, daß eine neue Wahrheit mehr - die sie selbst so bereits vorher kannten oder zumindest ahnten - nun öffent­lich wahrgenommen sowie diskutiert werden muß und möglicherweise eine Veränderung, im Idealfalle sogar eine Verbesserung der Gesell­schaft oder des gesellschaftlichen Bewußtseins herbeiführt,

Ein Skandalobjekt ist für den aufgeklärten Gesellschaftsteil immer des­wegen von zwingendem Interesse, da man sich selbst dem Druck aus- Elementarteilchen - Chiffre unserer Gegenwart Konzepte für eine dramaturgische Adaption gesetzt sieht, sich über die artikulierten Extrempositionen eine eigene Meinung, möglichst ein differenziertes Urteil, zu bilden und diese ent­sprechend begründen bzw. verteidigen zu können, will man nicht den Anschluß am gesellschaftlichen Diskurs als Teil der Entwicklung von Gesellschaft an sich verpassen. -

Fällt das Urteil - wie in unserem Fall für den hier zu behandelnden Skan­dalroman - teilweise für diesen positiv aus, so stellt sich im Bereich der angewandten Theaterwissenschaft schnell die Frage nach Möglichkei­ten der spezifischen Weiterverwertung des Textes für das Theater; ist eine dramaturgische Adaption künstlerisch möglich und wünschenswert und wenn ja, kann damit möglicherweise der Erfolg der Vorlage wieder­holt, oder gar übertroffen werden?

Diese Arbeit stellt sich genau diesen, in den beiden vorangegangenen Absätzen skizzierten Vorgehensweise und nimmt dabei Marianne van Kerkhovens „zehn Gebote der Dramaturgie“4 auf, lehnt sich explizit an ihr zehntes Gebot an, in dem es heißt:

Dramaturgie heißt unter anderem: das Ausstatten eines kreativen Prozesses mit wel­chem Material auch immer; das Assimilieren der .ersten Ideen' zu einem Projekt (...). Eines der wesentlichen Elemente dramaturgischer Praxis ist daher: das Anlegen ei­nes Reservoirs an Material - auf allen Ebenen .Wissen' ansammeln: (...) Die perma­nente Beschäftigung mit dem Zusammenstellen eines Gepäcks, aus dem zu jeder Zeit geschöpft werden kann.5

Daß dieses zusammengestellte .Gepäck' jeweils kritisch am Roman diskutiert wird ergibt sich aus der Tatsache, daß diese Arbeit aus sich heraus den Diskurs klären muß, den sie führt, da es sich hier - im Ge­gensatz zur realen Theatersituation des Dramaturgen - um ein Situation der Einweg-Kommunikation handelt.

Sie wird dafür zunächst einen Überblick über wichtige Positionen aus dem deutschsprachigen Feuilleton geben und das Ausmaß dessen Be­schäftigung mit den „Elementarteilchen zu skizzieren versuchen. Nach einem kurzen Exkurs auf die Sloterdijk-Debatte in Deutschland, die star­ke Parallelen zur Diskussion um Flouellebecqs Roman - nicht nur was das Reizthema Klonen, sondern auch die Vehemenz und Polemik an­geht, mit der beide Debatten geführt wurden - zeigt, wird sie im zweiten und dritten Teil die inhaltlichen Themen und den sprachlichen Stil des Romans analysieren. Dem differenzierten Urteil über den Roman soll eine Beurteilung über die Angemessenheit der feuilletonistischen De­batte um die „Elementarteilchen“ nebenangestellt sein.

Der fünfte Teil soll Konzepte für eine zeitgemäße dramaturgische Adap­tion entwickeln, die sich an den Ergebnissen aus Teil ll-lll orientieren. Zeitgemäß meint in diesem Fall, daß in unserer Zeit des postdramati­schen Theaters keine 1:1 Übertragung angestrebt wird, sondern daß der Text des Romans ein Material bereitstellt, aus dem im Prozeß der dramaturgischen Arbeit etwas Neues entstehen kann. Dem Resümee, welches noch einmal die Ergebnisse der Teile ll-IV zusammenfaßt, sind das Verzeichnis sämtlicher für diese Arbeit verwendeten Literatur sowie eine Urheberschaftserklärung über die alleinige und eigenständige Ab­fassung dieser Arbeit hintenangestellt. Die Kenntnis des Romaninhal­tes „Elementarteilchen“ wird als bekannt vorausgesetzt.

2. Das negative Presseecho im deutschsprachigen Raum

Dem folgenden Überblick liegt die Pressemappe des Verlagshauses DuMont, Köln, zugrunde, was bedeutet, daß sich der Autor sich zum ei­nen der Fahrlässigkeit dessen bewußt ist, nicht selbst nach Material ge­sucht zu haben, sondern sich relativ unkritisch auf die Auswahl, die der Verlag mit der zumindest unterschwelligen Werbeintention herausgibt, zu verlassen. Da diese jedoch auch einige negative Artikel beinhaltet, darf wohl davon ausgegangen werden, daß der Informationsschwer­punkt hier vom Verlag mehr auf den Skandalwert als Werbewert für das Buch gelegt wurde als auf die einseitig-lobende Berichterstattung.

So schreibt beispielsweise die Berliner Zeitung:

Bis zu diesem glücklichen Ende im pathetischen Posaunenton (...) muß aber noch in voller Breite vorgeführt werden, , warum der bisherige Zustand von Natur und Gesell­schaft gleichermaßen von Übel ist. Dies kann man aus den schlichten aber ausführli­chen Nacherzählungen der Lebensläufe der Haupt- und diverser Nebenfiguren ler­nen (...) Sie alle sind nichts als didaktische Handpuppen, jede für sich .symptomatisch' und .charakteristisch für ihre Epoche', mit denen ein Erzähler seine Thesen illustriert - und zwar zumeist in schlechtem, küchensoziologischen, philosophi­schen, bisweilen auch naturwissenschaftlichen Jargon.6

Übler noch ging die Hannoversche Allgemeine Zeitung mit dem Roman ins Gericht. Unter dem Reißer: „Nichts unterm T-Shirt“ und dem disqua­lifizierenden Untertitel: „Heftig umstritten und extrem langweilig: Michel Houellebecqs .Elementarteilchen“1 tritt Thomas Schaefer den Beweis an, daß er das Buch anscheinend nicht vollständig gelesen hat, wenn er schreibt, daß Houellebecqs Bewertung der 68er .undifferenziert und oft schlichtweg falsch' sei, da sie .offenbar zur gängigen Erklärung für alle grassierenden Mißstände der Jetztzeit herhalten müssen, ohne dass noch jemand genauer nach ihren Ursachen, Zielen und Folgen fragt'7. Ganze Teilbereiche des Romans - so z.B. die Entwicklungsgeschichte von David di Meóla dienen genau dazu; nämlich die extremste bzw. pa­thologische Form der Individualisierungsprozesses bis hin zu tatsächli­chen Ritualmorden seit dem Beginn der Liberalisierung darzustellen. Der rheinische Merkur untertitelt seine Besprechung mit dem Wort vom „öden Thesenroman“8, die FAZ ist da mit ihrer Wertung schon differenz­ierter: „Seine .Particules élémentaires' sind ein atemberaubend span­nender Text und ein schlecht komponierter Roman.“9 Massive Kritik al­so, die in den Fällen, in denen Form und Inhalt gleichzeitig abverurteilt werden, reinweg gar nichts Positives an Resümee übrigläßt.

Sprachen die Artikel kritisch über Flouellebecqs utopisches Romanen­de, so wurde in vielen Fällen die Parallele zum Sloterdijk-Skandal gezo­gen, weswegen hier kurz darauf eingegangen werden soll; bietet der deutsche Skandal doch das besonders kritische Spektrum von Positio­nen innerhalb der Bevölkerung des Landes, das sich aufgrund seines nationalsozialistischen Erbes mitsamt Rassenlehre und daraus resul­tierendem Genozid in besonders permanenter und teilweise übertriebe­ner Pflichtdistanz zum Gebiet der Eugenik selbstverortet.

3. Der Sloterdijk-Skandal anläßlich die Elmauer Rede

Nachdem Peter Sloterdijk in seiner Rede am auf Schloss Elmau die folgenden Absätze vorgetragen hatte:

Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungs­eigenschaften führen wird - ob eine künftige Antrhropotechnologie bis zu einer expli­ziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion - zur Manipulation biologischer Risiken - wird vollziehen können - dies sind Fragen, in de­nen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Hori- zont vor uns zu lichten beginnt. 10 warf ihm der „seit dem Historiker Streit geradezu als Orakel geehrte, in allen geistespolitischen Angelegenheiten, welche die deutsche Politik betreffen“11 Habermas faschistische und totalitäre Tendenzen vor, Sloter- dijk erklärte „die Kritische Theorie seines obersten Kritikers in einem of­fenen Brief an die Zeit frech für tot“12, woraufhin ihn dieser als „neuheidnisch“13 brandmarkte.

Im Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs14 stellte Sloterdijk dann als zentrales Problem die Verlogenheit der „Moralphilosophen“ heraus, die sich weigern sich dem längst überfälligen Problem der Eugenik im Jah­re drei des „Bio-Kalenders post Dolly createm“ zu stellen: Nach seinem Hirtenbeispiel, mit dem er nachweist, daß die Menschen tatsächlich schon seit Jahrtausenden biotechnische Züchtung an Tieren vollziehen, kommt er zu dem Schluß bezüglich der Tabuisierung der Eugenik:

„Das Dilemma der Modernen besteht eigentlich darin, daß sie wie Pflanzenesser denken und wie Fleischesser leben. Deswegen laufen Ethik und Technik bei uns nicht parallel.“ Anschließend rekurriert Sloter­dijk auf die christlich traditionelle Vorstellung vom Schöpfergott, gegen dessen „vollkommenes Werk eines vollkommenen Urhebers es keine Reklamationen gebe und auch nicht zu geben brauche.“, weist dann aber darauf hin, daß seit dem 2. Jahrhundert nach Christus die „Idee eines Gottes aufkommt, bei dem Können und Wollen nicht mehr eins sind, also die Vorstellung eines zweitklassigen Urhebers. Seitdem sind die Gedanken der Eu­ropäer in Bezug auf den ersten Macher gespalten in solche, die die Optimalität der Schöpfung verteidigen, und solche, die meinen, daß die Schöpfung ein Ergebnis aus unzureichendem Können ist und daß daher Nachbesserungen legitim sind.“

Das große Unbehagen führt er anschließend darauf zurück, „daß die Menschen sagen, wenn schon geschaffen werden muß oder soll, dann bitte nur auf der Grundlage auf wirklich gekonntem Können, wir können nicht zulassen, daß an uns weiter herumgepfuscht wird.“ Abschließend legt er die „Technikfurcht in unserer Kultur“ als übertrieben dar, da die Homöotechnik im Gegensatz zur bisherigen Allotechnik anfange eine naturähnliche Technik zu werden:

Sie bricht nicht mehr so sehr mit dem modus operandi der Natur, sondern knüpft jetzt an, sie lehnt sich an, sie kooperiert, sie schleust sich ein in Eigenproduktionen des Lebendigen, die aufgrund evolutionärer Erfolgsmuster im Gang sind. Da beginnt eine neue, aber ebenfalls unheimliche Kooperation und Symbiose mit der alten Natur. Homöotechnik als Katalysator natürlicher evolutionärer Prozesse, das ist die Form des technischen Eingriffes der Menschen in die Natur, ge­gen die - stellt man sich den Machergott mit Sloterdijk und seines Er­achtens nach mit den Kabbalisten als Informatiker vor - es bei göttlicher Schreibe des menschlichen Informatikers, der die genetischen Codes schreibt keine Einwände mehr geben würde.

Hier endet das Gespräch leider, denn es bleiben zentrale Fragen offen - z.B. die, woran man Diejenigen erkennt, die in eben jener Weise quali­fiziert sind, daß sie nicht pfuschen sondern Evolution perfekt katalysie­ren - und vor allem, ob es tatsächlich unbedingt notwendig ist, der Natur mittels Klonen Beine zu machen.

II. DIE THEMEN DES ROMANS „ELEMENTARTEILCHEN“

1. Der Individualismus der 68er als unreine Moral

Der Roman, dessen fiktive Entstehungszeit laut dem Erzähler :“Zu ein­em Zeitpunkt, da die letzten Vertreter dieser Spezies im Aussterben be­griffen sind“ datiert, handelt von den Bedingungen und Gründen des Aussterbens der Spezies Mensch. Maßgeblich daran mitschuldig sind die Ideale der Achtundsechziger-Bewegung, nicht weniger schwer ist der Vorwurf, den der Roman entwirft. Die genaue Argumentationslinie lautet wie folgt:

Die Individualisierung als positive Utopie der 68er ist nicht mehr mit den Regeln einer Moral wie der von Kant vereinbar, die da - und es ist kein Zufall, daß der Protagonist Michel diese extrem früh verinnerlicht hat - lautet: „Die reine Moral ist einzig und universell. Sie erfährt im Laufe der Zeit keinerlei Veränderung und auch keinerlei Erweiterung. Sie hängt von keinen historischen, wirtschaftlichen, soziologischen oder kulturel­len Faktoren ab; sie hängt von gar nichts ab.“15 Und etwas später: „Im Extremfall ließe sich behaupten, daß eine Gesellschaft , die von den rei­nen Prinzipien der universellen Moral geleitet wird, ebenso lange be­steht, wie die Welt.“16

Die Prinzipien der 68er eines Michail Bakunin: „Die Freiheit der ande­ren dehnt die meine bis ins Unendliche aus.“17 hält der moralischen Ka­tegorie der Verantwortung eben überhaupt nicht stand: „Die mühselige Pflege, die das Aufziehen eines kleinen Kindes erfordert, erschien dem Paar sehr bald unvereinbar mit ihrem Ideal der persönlichen Freiheit, und so wurde Bruno 1958 in gegenseitigem Einvernehmen zu seinen Großeltern mütterlicherseits nach Algier geschickt.“18 In dem Maße, in dem die Eltern sich auf Kosten ihrer Kinder verwirklichen, steigen deren psychische Schäden, die sie zu (lebensunfähigen Geschöpfen machen. Houellebecq bekräftigt dies anhand einer wissenschaftlichen Passage: „Der Entzug des körperlichen Kontakts mit der Mutter während der Kind­heit führt etwa bei der Ratte zu schweren sexuellen Verhaltensstörungen und insbesondere zu einem gehemmten Paarungsverhalten.“19 Anders ausgedrückt: Wäre Jane ihrer moralischen Verantwortung als Mutter für ihre beiden Söhne korrekt nachgekommen, hätten diese sich normal zu liebepfsfähigen Männern entwickelt.

2. Brunos pathologischer Libidinal-Hedonismus

So aber sind diese dazu verdammt, als libidinose Wracks ihr Leben zu fristen, der eine, Michel, indem er sich lebenslang in die frigide Wissen­schaft einigelt , der andere, Bruno, indem er nach den Demütigungen durch die bösen Internatsmitschüler einen Hedonismus masochisti­scher Art entwickelt, da er libidinose Begehren desto mehr verfolgt je geringer seine Erfolgschancen sind, so daß seine erotischen Wünsche unbefriedigt bleiben; An seinem einzigen wirklichen Glück - der Bezie­hung mit Christine - ist er, zumindest was die Initiative angeht, in keiner Weise beteiligt. Insofern ist er weniger ein normaler Hedonist, als viel­mehr ein pathologischer Erotomane, da selbst der Libidinal-Hedonist bei permanenter Frustration seiner Begierden schließlich auf andere Gebiete verlagern wird, um den Glückszustand zu erreichen, der ihm auf diesem Gebiet versagt bleibt:

Das Hauptziel seines Lebens war sexueller Art gewesen(...) Darin war Bruno charak­teristisch für seine Epoche. ()

Während eines Sprachaufenthaltes, den Bruno im Juli 1972 in Traunstein (...) ver­brachte, gelang es Patrick Castelli, einem anderen jungen Franzosen seiner Gruppe, innerhalb von drei Wochen siebenunddreißig Mädchen flachzulegen. Im gleichen Zeitraum erzielte Bruno eine Trefferquote von Null. Er zeigte schließlich seinen Schwanz einer Verkäuferin im Supermarkt - die zum Glück in Gelächter ausbrach und darauf verzichtete, ihn anzuzeigen.(...) Die meisten Jugenderinnerungen, die Bruno besaß, waren ähnlicher Art.20

Wird hier bereits im ersten Satz eine ganze Generation auf ein kulturell stereotypes Schema, das sich mit dem Niveau eines Glückskeksspru­ches eines Faustersterteil aus John von Düffels Rinderwahnsinn: „Die Wahrheit ist die Geilheit!“21 zufrieden gibt, herabreduziert, so zeigt sich im zweiten Teil die klare, zur Selbstdemütigung - hier vor der Verkäuferin - neigende, pathologische Tendenz von Brunos Sexualität. Wenn Michel an anderer Stelle sinniert:

[...]


1 von Düffel, John: Rinderwahnsinn. Gifkendorf 1999, Seite 45.

2 Quelle: Die Presse vom 25.9.1999, Wien.

3 Quelle: Telefonische Auskunft des DuMont Buchverlages, Abt. Vertrieb, vom 10.9.2000

4 van Kerkhoven, Marianne: Zehn Gebote der Dramaturgie. In: Denkwelten und Wege der Dramaturgie.

5 Ebenda, Seite 7 f..

6 Riedle, Gabriele: Dann über Klonen. Ein Kälteproblem: Michel Houellebecq rächt sich mit einem literarischen Amoklauf für den Egoismus der 68er Mütter. In: Berliner Zeitung, 11/12.9.1999.

7 Schaefer, Thomas: Nichts unterm T-Shirt. Heftig umstritten und extrem langweilig: Mi­chel Houellebecqs .Elementarteilchen1. In.Hannoversche Allgemeine Zeitung, 6.10.1999.

8 Ritzenhofen, Medard: Gottlob, ein Skandal. ln:Rheinischer Merkur (Bonn), 43/99.

9 Hanimann, Joseph: Zähflüssiger Verkehr. À la mode: Der Herbst des Schriftstellers Mi­chel Houellebecq. In. FAZ, 22.12.1998.

10 Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief überden Humanismus. Frankfurt/Main 2000^, Seite 46 f..

11 Jäger, Lorenz: Deutsches Beben. Ist die kritische Theorie am Ende? Zur Debatte um Peter Sloterdijk. In: FAZ, 13.9.1999.

12 Podak, Klaus: Der Mensch - gefährlich und gefährdet. Die Sloterdijk-Debatte: Auf dem Weg von der Sach- zur Machtfrage.SZ, 25/26.9.1999.

13 Ebenda.

14 Die folgenden Zitate beziehen sich alle auf: Sloterdijk, Peter: Die Sonne und der Tod. Über mentale Gitterstäbe, Erregungslogik und Posthumanismus sowie die Unheimlich­keit des Menschen bei sich selbst. Peter Sloterdijk im Gespräch mit Hans-Jürgen Hein­richs. In: Lettre 33, Frühjahr 2000.

15 Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Köln 20005, Seite 38.

16 Ebenda.

17 Ebenda, Seite 108.

18 Ebenda, Seite 29.

19 Ebenda, Seite 66.

20 Ebenda, Seite 72.

21 von Düffel, John: Rinderwahnsinn. Gifkendorf 1999, Seite 45.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Elementarteilchen - Chiffre unserer Gegenwart
Untertitel
Konzepte für eine dramaturgische Adaption
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Institut für Theaterwissenschaft in der Fakultät für Philologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2000
Seiten
36
Katalognummer
V123223
ISBN (eBook)
9783640276257
ISBN (Buch)
9783640276370
Dateigröße
2307 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Elementarteilchen, Chiffre, Gegenwart, Houellebecq, Dramaturgische Adaption
Arbeit zitieren
Magister Artium Daniel Kasselmann (Autor:in), 2000, Elementarteilchen - Chiffre unserer Gegenwart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123223

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