Die Sowjetische Nationalitätenpolitik der Gründerväter

Ideologie, Konzeption und Realpolitik des Selbstbestimmungsrechts der Völker


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Vorrevolutionäre Theorien zur Nationalen Frage
2.1 Stalins Nationsdefinition
2.2 Lenis frühe Konzeption des Selbstbestimmungsrechts
2.3 Am Vorabend der Revolution

3. Russland nach der Revolution
3.1 Die (theoretischen) Rechte der Völker Russlands
3.2 Der drohende Reichszerfall und die Gründung der RSFSR
3.3 Das notwendige Übel der Föderation

4. Die UdSSR
4.1 Auf dem Weg zur Sowjetunion
4.2 Die Gründung der UdSSR
4.3 Die Georgische Affäre
4.4 Die „Leninistische“ Nationalitätenpolitik der 20er Jahre

5. Schluss

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der Begriff des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ war in der bolschewistischen Rhetorik ein Schlüsselbegriff für die Nationalitätenpolitik und diente als das Aushängeschild für den Umgang mit ethnischen Gruppen. Die eindeutig positive Konnotation dieses Rechts auf Freiheit der Selbstbestimmung lässt sich hierbei nicht leugnen, jedoch beweist die historische Realität, dass die sie dem theoretischen Anspruch nicht standhalten konnte.

Das Recht auf Selbstbestimmung ist bei genauerem Hinsehen eine inhaltlich äußerst ungenaue, kontrovers zu interpretierende und demzufolge auf verschiedenste Arten praktisch umsetzbarere Losung. Entsprechend groß waren auch die Differenzen innerhalb des wortführenden Kreises der Bolschewiki, insbesondere in der Zeit zwischen der Oktoberrevolution 1917 und dem Entstehen der Sowjetunion im Dezember 1922. Obwohl das Schlagwort der Selbstbestimmung keineswegs neu war, sondern in früheren Abhandlungen zur nationalen Frage, die im übrigen von Marx selbst nur unzulänglich behandelt wurde und aufgrund dessen keine eindeutigen Richtlinien bezüglich ihrer Handhabung hinterließ, bereits eine erhebliche Rolle spielte, so wuchs doch seine Bedeutung durch die veränderte Situation nach der sozialistischen Revolution beträchtlich.

Das Reich war im Begriff zu zerfallen. Nationale Kräfte wurden frei, die den Willen der Völker, ihr eigener Herr zu werden verdeutlichten. Die Bolschewiki hatten erwartet, dass die sozialistischen Kräfte derart groß sein würden, dass sich nationalistische Tendenzen als bourgeoises Element gewissermaßen von selbst auflösen würden. Klassenkämpfe anstelle von ethnischen Interessen würden überwiegen und die verschiedenen Völker auf den Weg in Richtung Verschmelzung zur sozialistischen Weltgesellschaft bringen.

Dies war nicht der Fall. Die nicht-russischen Völker machten unmittelbar nach der Revolution von ihrem Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch. Überall im ehemals gewaltigen russischen Reich gab es ernsthafte Separationstendenzen und die Bolschewiki sahen sich der schwierigen Aufgabe gegenüber, dies zu verhindern. Ein derart in seiner Macht und Größe zusammen-geschmolzenes Russisches Reich würde das Ende sämtlicher weltrevolutionärer Hoffnungen auf den Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus bedeuten.

Diese Erkenntnis hatte für die bolschewistische Nationalitätenpolitik weitreichende Konsequenzen. Vor allem Lenin wandelte mit einer aus den Beobachtungen der sowjetischen Wirklichkeit entfachten Vehemenz und Leidenschaft seine Grundüberzeugungen. Die letzten Jahre seines Lebens nahm die nationale Frage einen großen Raum in seinen Überlegungen ein, und er vertrat und propagierte kompromisslos das Föderationsprinzip, nach dem sich die Völker zu eigenen Nationen formieren und freiwillig zu einem sozialistischen Großstaat zusammenschließen sollten. Im Gegensatz zu Stalin betonte er hierbei ein behutsames Vorgehen bei der Sowjetisierung der Nationen und vor allem eine nach wahren föderativen Rechten aufgebaute Union. Stalin hingegen sah ein stärker zentralistisch regiertes Reich mit autonomen Gebieten und Republiken vor.

Über die Frage nach der Auslegung des Selbstbestimmungsrechts entbrannte vor der Gründung der UdSSR ein heftiger Disput zwischen den beiden großen Figuren Lenin und Stalin. Betrachtet man die Signifikanz dieser Frage ist dies auch nicht weiter verwunderlich. Sollte sie doch entscheidend den Charakter der geplanten Sowjetunion und das Schicksal der vielen Völker bestimmen, die Teil dieser Union sein würden. Die besondere Konstitution des Russischen Reiches, das aufgrund seiner gewaltigen Ausdehnung auf zwei Kontinenten ein wahres Vielvölkerreich war, macht die Analyse der Auseinandersetzung Lenins, Stalins und ihrer Genossen auf dem Weg zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken überaus lohnend. Mit dem heutigen Wissen um das Ende der Sowjetunion und der darauf folgenden Gründung einer Vielzahl von Staaten, die nicht einmal ansatzweise in einer einheitlichen sozialistischen Gesellschaft aufgehen wollten, sind die Betrachtungen bolschewistischer Theorien und Realpolitik in Richtung Einheitsstaat ganz besonders interessant.

Wie bereits angedeutet soll hier das Augenmerk auf die Jahre vor und unmittelbar nach der Gründung der UdSSR gerichtet werden, in denen eine heftige Diskussion um zukünftige Kompetenzen und Organisationsformen, Status, Rechte und Pflichten Russlands und der Völker, die Teil der Union werden sollten, geführt wurde. Wenn auch deren Ergebnisse, die sich in der ersten Verfassung der UdSSR vom 6. Juli 1923 manifestierten, nicht genauso blieben, vor allem während der Zeit des Stalinismus viele Punkte verändert oder aufgehoben wurden, so blieb doch eine Grundorientierung an den Prinzipien der leninistisch geprägten zumindest äußerlich auf dem Recht auf Selbstbestimmung der Völker basierenden Nationalitätenpolitik bis zum Zerfall der Sowjetunion bestehen. Der Person Lenin und seiner Rolle im Nationalitätenkonflikt soll deshalb ebenso großes Gewicht beigemessen werden, wie der tatsächlichen Umsetzung der Selbstbestimmungsmaxime auf sowjetisch spezifische Art und Weise.

2. Vorrevolutionäre Theorien zur Nationalen Frage

Die Grundannahme marxistischer Lehre und wohl auch der Grund, weshalb Marx dem Nationalen so wenig Aufmerksamkeit beigemessen hatte, nämlich dass das Nationale ein mit der kapitalistisch-bürgerlichen Welt heraufkommendes und mit ihr verschwindendes Prinzip sei, wurde von Lenin übernommen. Außerdem war er ebenso wie Marx der Überzeugung, das Klassenunterschiede im wesentlichen die menschliche Gesellschaft gliedern und über nationale Gruppierungen hinweg verlaufen. Wenngleich das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung von Beginn an Bestandteil seiner Lehren war, so war es doch klar dem Sozialen untergeordnet.[1] Anders als Marx und Engels erkannte er jedoch eine Verknüpfung der nationalen Frage mit den Zielen eines sozialistischen Umsturzes sehr viel klarer. Das mit der straffen Zentralmacht des Zaren beherrschte russische Vielvölkerreich, dessen Bevölkerungsmehrheit eine wirtschaftlich und gesellschaftlich rückständige Lebensform führte und als solches auch in Europa wahrgenommen wurde, bezeichnete Lenin als „Vielvölkergefängnis“.[2] Durch diese Zusammensetzung des russischen Großreichs sah Lenin bereits früh die Bedeutung der Nationalitätenfrage und begann sich eingehender damit zu beschäftigen.

1913 beauftragte er Stalin, eine Abhandlung über den „Marxismus und die nationale Frage“ zu schreiben.

2.1 Stalins Nationsdefinition

Stalins Aufsatz ging den Ansprüchen seines Auftraggebers nur sehr dürftig nach. Er rechnete vor allem mit den Nationaltheorien der österreichischen Sozialdemokraten Karl Renner und Otto Bauer ab, die das Nationale völlig lösgelöst von territorialen Bedingungen als auf Kulturwerten basierende Personalverbände definierten. Die Bolschewiki sahen in der austromarxistischen Kulturautonomie ein Konzept, das dem historischen Prozess der „Völkerverschmelzung“ entgegenlief, Nationalismus fördere und dezentralisierte Staatsformen propagiere. Föderalistische Staatenverwaltung wurde aber zu diesem Zeitpunkt sowohl von den Bolschewiki als auch von Lenin selbst vehement abgelehnt.[3]

Nation wurde von Stalin als ein dogmatisches Gebilde mit vier wesentlichen Eigenschaften definiert:

„Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart. [...] Es muss hervorgehoben werden, dass keines der angeführten Merkmale, einzeln genommen, zur Begriffsbestimmung der Nation ausreicht. Mehr noch: Fehlt nur eines dieser Merkmale, so hört die Nation auf eine Nation zu sein.“[4]

Pipes merkt an, dass Stalin die grundlegenden Aussagen von Renner und Bauer missverstanden hat: Nationen seien natürliche Formierungen, die eine wertvolle Funktion hätten und an Wichtigkeit eher zunehmen würden, anstatt wie von den Bolschewiki erhofft, im Siegeszug des Sozialismus verschwinden würden.[5]

Stalin geht von einem kulturell-objektiven Nationsbegriff aus, in dem der subjektive Faktor eines persönlichen emotionalen Bezuges fehlt. Nationalität definiert er als Territorialverband als radikalen Gegensatz zum österreichischen Modell des Personalverbandes.

Für die ethnischen Gruppen, die sich 1913 noch der Russifizierungspolitik des Zaren gegenübersahen, war Stalins Nationskonzept zunächst jedoch außerordentlich attraktiv. Eröffnete es doch das Angebot, im eigenen Territorium die eigene Sprache sprechen und die eigenen kulturellen Traditionen ausüben zu können.

Stalins Geringschätzung ethnischer Kollektive lässt sich hier bereits erahnen. Mit einem Blick auf seine spätere Nationalitätenpolitik deutet sich an, dass er emotionale Kriterien gegenüber objektiv bestimmbaren in den Hintergrund stellt. Den „Nationalcharakter“ bezeichnet er als etwas nicht „Feststehendes“, sondern etwas, das „sich mit den Lebendbedingungen ändert“.[6]

Überdies wird hier die Grundlage der späteren hierarchischen Einteilung der Ethnien gelegt, die eine unübersichtliche Pyramide ethnischer Identitätsform und deren Status bilden sollte.[7]

Lenin stimmte zur Entstehungszeit des Aufsatzes noch grundsätzlich mit Stalin überein, sollte aber bald sein eigenes Nationskonzept entwickeln, welches bei vielen Genossen aus der Kommunistischen Partei nicht sofort auf Zustimmung stieß.

2.2 Lenis frühe Konzeption des Selbstbestimmungsrechts

Lenin grenzte sich aus verschiedenen Gründen von den Theorien Bauers und Renners ab. Zunächst einmal widersprach eine dezentralisierte Form der Parteiführung, wie sie seiner Befürchtung nach in der Konsequenz der austromarxistischen Politik stand, seiner seit 1902 bedingungslos vertretenen Forderung nach einer straff zentralisierten Kaderpartei von Berufsrevolutionären:[8] „Auch beim Aufbau unserer Partei sind wir gegen die Föderation, sind wir für die Einheit der lokalen (nicht nur der zentralen) Organisation der Sozialdemokraten aller Nationen.“[9]

Kompromisslose Einheit der Parteifunktionäre und der proletarischen Revolutionsträger aller Nationen bildete die fundamentale Bedingung für den Sturz des Zarenregimes und den Neuaufbau eines sozialistischen Einheitsstaates.

Nach seiner Auffassung fördere die nationale Kulturautonomie Renners und Bauers hingegen den Nationalismus kleiner Volksgruppen und die Abspaltung und Bildung einer Vielzahl von Kleinstaaten. Dies würde dem historischen Prozess (und der Notwendigkeit) der Vereinigung aller sozialistischen Kräfte über ethnische Grenzen hinweg, welcher für die Internationalisierung der revolutionären Bewegung unabdingbar war, zuwiderlaufen. National-kulturelle Autonomie müsse als bürgerliches Element zwingend bekämpft werden.

„Die Sozialisten kämpfen gegen alle und jedwede, gegen die groben und verfeinerten Erscheinungsformen des bürgerlichen Nationalismus. Gerade eine solche Erscheinungsform ist eben die Losung der ‚national-kulturellen Autonomie’, die das Proletariat und die Bourgeoisie einer Nation vereinigt und die Proletarier der verschiedenen Nationen voneinander trennt.[10]

Lenins eigene Hervorhebung des bürgerlichen Nationalismus manifestiert, dass er das nationale Moment sehr wohl akkreditiert, jedoch unterscheidet zwischen einem bürgerlichen Typus des Nationalismus und einem solchen, der mit sozialistischen Zielen vereinbar ist. Bis zu seinem Tod sollte Lenins auf den ersten Blick unlogische und für viele seiner Parteigenossen paradoxe Haltung zum Nationalismus eine Gratwanderung sein, die im Versuch der politischen Umsetzung nicht konfliktfrei war. Auf der einen Seite formulierte er immer wieder eindeutige Vorbehalte gegenüber Nationalgefühlen, tritt aber gleichzeitig für eine bedingungslose Achtung vor allen Völkern als ohne Einschränkung gleichberechtigt ein. Lenin selbst schien darin keinen Wiederspruch gesehen zu haben.

„Wir fordern unbedingte Gleichberechtigung aller Nationen im Staate und unbedingten Schutz der Rechte jeder nationalen Minderheit. [...] Wenn wir für die Gleichberechtigung aller Nationalitäten gegen die Fronherren und den Polizeistaat schützen, sind wir nicht für die „nationale Kultur“, sondern für die internationale Kultur, in die von jeder nationalen Kultur nur ein Teil, nämlich der konsequent demokratische und sozialistische Gehalt einer jeden nationalen Kultur eingeht.“[11]

Er war also auch Gegner der völligen Negation des Nationalen einer Rosa Luxemburg.[12]

Aus dem historischen Kontext des Russischen Reiches, in dem der Zarenherrscher seit langem die verschiedenen ethnischen Gruppen ihrer Rechte beraubte, erkannt Lenin deutlich die Relevanz nationaler Gefühle. Diese zu ignorieren würde den Verlust sämtlicher Sympathien in der Peripherie bedeuten.

[...]


[1] Uwe Halbach,, Das sowjetische Vielvölkerimperium. Nationalitätenpolitik und nationale Frage, Mannheim 1992, S. 20.

[2] Ebd. S. 12.

[3] Ebd. S. 20f.

[4] J. Stalin, Der Marxismus und die Nationale und Koloniale Frage. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden, Berlin 1955, S. 32.

[5] Richard Pipes, The Formation of the Soviet Union. Communism and Nationalism 1917 – 1923, Cambridge 1964, S. 38.

[6] Stalin, Der Marxismus und die Nationale und Koloniale Frage, S. 31.

[7] Halbach, Das sowjetische Vielvölkerimperium, S. 22.

[8] Boris Meissner, Nationalitätenfrage und Sowjetideologie, in: Nationalitätenprobleme in der Sowjetunion und Osteuropa, hrsg. von Georg Brunner, Boris Meissner, Köln 1982, S. 13.

[9] W.I. Lenin, Über die Nationale und die Koloniale Nationale Frage. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden, Berlin 1960, S. 100.

[10] Ebd. S. 98.

[11] Ebd. S. 97f.

[12] Halbach, Das sowjetische Vielvölkerimperium, S. 22.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Die Sowjetische Nationalitätenpolitik der Gründerväter
Untertitel
Ideologie, Konzeption und Realpolitik des Selbstbestimmungsrechts der Völker
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Historisches Seminar)
Veranstaltung
HS: Die Sowjetunion der 1920er: Satire und Wirklichkeit
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
23
Katalognummer
V122931
ISBN (eBook)
9783640285310
ISBN (Buch)
9783640309627
Dateigröße
485 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sowjetische, Nationalitätenpolitik, Gründerväter, Sowjetunion, Satire, Wirklichkeit
Arbeit zitieren
Yvonne Troll (Autor:in), 2006, Die Sowjetische Nationalitätenpolitik der Gründerväter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122931

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