Polyneuropathie des kritisch Kranken

Langzeit Follow Up und Einflussfaktoren


Doktorarbeit / Dissertation, 2005

77 Seiten, Note: Sehr Gut


Leseprobe


1 Inhaltsverzeichnis

2 Abstract

3 Einleitung

4 Methoden

5 Statistik

6 Resultate
6.1. Charakteristik der untersuchten Intensivstation
6.2. Charakterisierung der Studienpopulation
6.2.1. Inzidenz
6.2.2. Beatmungsdauer und Tracheostoma
6.2.3. Medizinische und chirurgische Erkrankungen
6.2.4. Aufnahmediagnosen
6.2.5. Entlassungsdiagnosen
6.2.6. Elektroneurodiagnostik
6.3. Charakterisierung der Vergleichspopulation aus dem Untersuchungszeitraum
6.4. Langzeituntersuchung
6.4.1. Lizana Score
6.4.2. Barthel Index
6.4.3. Capuzzo Score
6.4.4. Dyke Score
6.5. Prognostische Indizes für Erholung in der Studienpopulation
6.5.1. Deskriptive univariate Statistik der Patienten mit und ohne Erholung
6.6. Vergleich der Gruppen mit und ohne CIP
6.6.1. Multivariate Analyse

7 Diskussion

8 Limitationen

9 Zusammenfassung

10 Literatur

2 Abstract

Polyneuropathie des kritisch Kranken – Langzeit Follow Up und Einflussfaktoren Unger Astrid, Medizinische Universität Wien Hintergrund: Die Polyneuropathie des kritisch Kranken (CIP) ist eine axonale, distal betonte Neuropathie, die zu vorwiegend motorischen Störungen und Muskelschwäche führt. Zu Langzeiterholung und Lebensqualität der Patienten gibt es noch wenige Daten. Ziel dieser Arbeit war es daher, Erholung und Lebensqualität der Patienten nach Erkrankung mit CIP zu untersuchen. Darüber hinaus untersuchten wir die jährliche Inzidenz und versuchten prognostische Indizes für Erholung und mögliche Einflussfaktoren für die Entstehung einer CIP zu erfassen.

Methoden: Retrospektive Studie an einer Kohorte von 48 Patienten (Alter 64.1 ± 13 Jahre, APACHE II Score von 21.1 ± 8) mit klinisch neurologisch und elektrophysiologisch diagnostizierter CIP im Untersuchungszeitraum vom 1.4.1998 bis zum 31.12.2003. Überlebende Patienten wurden median 19 Monate nach ihrer Entlassung von der Intensivstation (ICU) befragt und klinisch nachuntersucht. Zur Bewertung von Erholung, Lebensqualität und Autonomie wurden Lizana Score (Vergleich prä/post ICU), Capuzzo Score und Dyke Score sowie der Barthel Index verwendet. Patienten mit subjektiver Besserung oder gleich bleibendem Befinden im Lizana Score (Gruppe I) wurden jenen mit subjektiver Verschlechterung (Gruppe II) gegenübergestellt. Weiters wurde die CIP Gruppe mit allen im selben Zeitraum aufgenommen Patienten ohne CIP (n=1402) auf mögliche Einflussfaktoren in der Entstehung einer CIP untersucht und mittels logistischer Regression analysiert.

Resultate: Von 48 CIP Patienten der Kohorte überlebten 16 (33.3%) bis zur Nachuntersuchung. Subjektive Erholung nach Beurteilung mittels Lizana Score trat bei 7/16 überlebenden CIP Patienten (43.7%) ein. Alle Patienten wiesen ein klinisch feststellbares Defizit an Muskelkraft, Sensorik, Reflexen und/oder Sensibilität mit distaler Betonung mittels Dyke Score auf. Bei 81.8% (neun von elf) der Patienten war dies zumindest mittleren Schweregrades (Dyke Score > 20). Schwerwiegende Schwäche wurde bei 4/11 Patienten (36.4%) tibial/peronäal festgestellt, bei 3/11 Patienten (27.3%) fand sich ein Dyke Score >20 im Bereich der Hände. Es fand sich eine Diskrepanz zwischen klinisch weiter feststellbarem Defizit bei allen 16 und der subjektiven Einschätzung einer Besserung bei 7/16 Patienten. Patienten der Gruppe II wurden während ihres ICU Aufenthalts häufiger mit Etomidate (4/9 vs 0/7, p=0.04) und einer höheren mittleren Dobutamindosis (5 ± 0.6 vs 3.5 ± 0.7 µg; p=0.05) behandelt. Positiv assoziiert mit einer Erholung war eine Therapie mit Aminoglykosidantibiotika (2/9 vs 5/7; p=0.049). In Gruppe I lag das maximale CRP (32.2±7 vs 21.3 ±12 mg/dl, p=0.046) signifikant höher wobei in dieser Gruppe keine geringere Verwendung von Steroiden gefunden wurde (7/7 vs 5/9, p=019). Verstorbene Patienten mit CIP (32/48) hatten eine höhere Inzidenz an septischem Schock (1/16 vs 11/32; p=0.034), Nierenersatztherapie (4/16 vs 18/32; p=0.041) und Therapie mit mehr als sechs verschiedenen Antiinfektiva (9/16 vs 15/32; p=0.019). Keiner der untersuchten elektrophysiologischen Parameter war prädiktiv für eine Erholung der CIP.

Es fand sich eine CIP Inzidenz von 3.3% (48 von 1450) mit einem kontinuierlichen Anstieg des jährlichen Auftretens (1998: 1.4%, 1999: 2.2%, 2000: 2%, 2001: 5%, 2002: 3.7%, 2003: 5.5%). CIP Patienten wiesen einen höheren APACHE II Score (17 ± 9.3 vs 21.1 ± 8; p=0.002), SAPS II Score (44.3 ± 22 vs 52.5 ± 16; p=0.01), eine höhere Inzidenz an Beatmung (1000/1402 vs 48/48; p=0.0001) und Nierenersatz (266/1402 vs 22/48; p=0.0001) sowie eine längere Beatmungs- (median 4 vs 29.5 Tage; p=0.0001), Nierenersatz- (median 4 vs 10.5 Tage; p=0.0001) und Aufenthaltsdauer (median 5 vs 35.5 Tage; p=0.0001) sowie ein höheres Bikarbonat (22 ± 6 vs 24.2 mmol/l ± 10 ; p=0.006) bei Aufnahme auf. In einer multivariaten Analyse waren jedoch von obigen Faktoren nur hohes Bikarbonat bei Aufnahme (p=0.0002) und Nierenersatztherapie (p=0.0001) unabhängig mit dem Auftreten einer CIP assoziiert. In einem Modell, welches auch Assoziationen inkludiert, die gleichermaßen Folge und Ursache einer CIP sein können, fanden sich hohes Bikarbonat bei Aufnahme (p=0.0016), lange Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation (p=0.0001) und lange Nierenersatzdauer (p=0.043) unabhängig voneinander mit dem Auftreten einer CIP assoziiert.

Zusammenfassung: Diese Studie zeigt klar, dass bei allen überlebenden CIP Patienten dieser kardiovaskulär orientierten Intensivstation auch nach einer medianen Nachbeobachtungszeit von 19 Monaten peripher neurologische Defizite im Sinne der CIP nachweisbar sind. Mit objektiven Scoring Instrumenten feststellbare und vom Untersucher festgehaltene Defizite wurden von den Patienten jedoch subjektiv nur in der Hälfte der Fälle auch tatsächlich wahrgenommen. Elektrophysiologische Parameter zum Zeitpunkt der Diagnosestellung waren nicht in der Lage diese subjektive Erholung vorherzusagen.

CIP Patienten waren durch höhere Schweregradscores, höheres Aufnahme-Bikarbonat sowie höhere Beatmungsrate und -dauer, höhere Nierenersatzrate und Nierenersatz- therapiedauer sowie längere ICU Aufenthaltsdauer charakterisiert. Weder APACHE II noch SAPS II Score waren in der Lage, das Auftreten einer CIP vorherzusagen. Multivariat waren lediglich Aufenthaltsdauer, Bikarbonat und Dauer der Nierenersatz- therapie mit dem Auftreten einer CIP assoziiert.

Critical Illness Polyneuropathy – Longterm Follow-Up and Influence

Unger Astrid, Vienna Medical School, Austria

Introduction: Critical Illness Polyneuropathy (CIP) is an axonal peripheral neuropathy that predominantly leads to motor problems and weakness. There are only few long-term studies dealing with recovery, quality of life (QOL) and autonomy of CIP patients. The aim of this study was to examine recovery and QOL after developing CIP, as well as the search for predictors for recovery and possible influencing factors.

Methods: Retrospective cohort study in 48 patients (age 64.1 ± 13 years, APACHE II Score 21.1 ± 8 points) with clinically and electrophysiologically diagnosed CIP during a period from April 1st, 1998 until December 31st, 2003. Sixteen survivors out of 48 CIP patients were identified and followed-up by structured interview and clinical neurological examination a median of 19 months after their discharge from the Intensive Care Unit (ICU). For rating recovery, QOL and autonomy we used Lizana Score (comparing previous/current), Capuzzo Score and Dyke Score as well as Barthel Index. We compared groups of patients suggesting recovery or unchanged status from Lizana score (group I) to those who subjectively rated deterioration (group II). Factors possibly involved in the development of CIP were evaluated by comparing the 48 CIP patients to a control group of 1402 patients without CIP during the same period of time. These parameters were further analyzed for independence in a multivariate logistic regression model.

Results: Sixteen out of 48 (33.3%) survivors were examined. Subjective recovery was found for 43.7% (7/16) of the CIP patients. Dyke Score revealed deficits in muscle strength, tendon reflexes and sensibility in all patients, predominantly affecting distal parts of the limbs. In 81.8% (9/11) the deficits were rated at least medium severity (Dyke Score > 20). Serious weakness affecting lower leg (peronaeus/tibialis) was found in 4/11 patients (36.4%). In 3/11 patients (27.3%) the same was found in the hands. There was a striking discrepancy between a clinically clearly detectable deficit in all patients and the subjective feeling of recovery in 7/16 patients. Group II patients were more often treated with etomidate (4/9 vs 0/7, p=0.04) and higher dose of dobutamine (5 ± 0.6 vs 3.5 ± 0.7 µg; p=0.05) during their ICU stay. Furthermore, the maximum CRP was higher in group I when compared with group II (32.2 ± 7 vs 21.3 ± 12 mg/dl; p=0.046) but this was not accompanied by a lower use of steroids in group I (7/7 vs 5/9, p=019). Group I patients were more often treated with aminoglycosids (2/9 vs 5/7; p=0.049). In CIP nonsurvivors a higher incidence of septic shock (1/16 vs 11/32; p=0.034), renal support (4/16 vs 18/32; p=0.041) and the treatment with more than six different antibiotics (9/16 vs 15/32; p=0.019) was noted. None of the examined electrophysiologic parameters was predictive for improvement of CIP.

Overall CIP incidence was 3.3% (48 out of 1450) a with continuous increase in the annual CIP rate (1998: 1.4%, 1999: 2.2%, 2000: 2%, 2001: 5%, 2002: 3.7%, 2003: 5.5%). This was paralleled by an increase in severity scores which was more pronounced in patients with CIP (SAPS II: 39.7 ± 6; 52.3 ± 18; 49.6 ± 15; 48.9 ± 18; 54.1 ± 14; 59.7 ± 16 and 45.3 ± 22; 42. 4 ± 22; 43 ± 20; 43.2 ± 20; 45.3 ± 21; 46.5 ± 24, groups without and with CIP, respectively). CIP patients had a higher APACHE II score (17 ± 9.3 vs 21.1 ± 8; p=0.002), SAPS II score (44.3 ± 22 vs 52.5 ± 16; p=0.01), a higher incidence of mechanical ventilation (1000/1402 vs 48/48; p=0.0001) and renal support (266/1402 vs 22/48; p=0.0001) as well as longer duration of ventilation (median 4 vs 29.5 days; p=0.0001), renal support (median 4 vs 10.5 days; p=0.0001) and ICU stay (median 5 vs 35.5 days; p=0.0001). Furthermore a higher bicarbonate (22 ± 6 vs 24.2 ± 10 mmol/l; p=0.006) on admission was noted. In a multivariate analysis only higher bicarbonate on admission (p=0.0002) and renal support (p=0.0001) were independently associated with development of CIP. Including associations, that might be cause as well as consequence of CIP, high bicarbonate (p=0.0016), duration of ICU stay (p=0.0001) and the duration of renal support (p=0.043) were found as independent factors for developing CIP.

Conclusions: This study clearly demonstrates clinically detectable deficits in half of the patients of this medical-cardiologic ICU after a median follow-up of 19 month. There was a striking discrepancy between a subjective improvement rated by 7/16 the patients and objective abnormalities in strength, tendon reflexes and sensibility in all of the 16 CIP patients. None of the electrophysiologic parameters was able to predict subjective recovery. Patients with CIP were characterized by higher APACHE II and SAPS II scores, higher incidence and duration of both mechanical ventilation and renal replacement therapy and longer ICU stay. Neither APACHE II nor SAPS II Score were predictors for development of CIP. On multivariate analysis only bicarbonate and duration of renal replacement therapy were independently associated with development of a CIP.

3 Einleitung

Polyneuropathie des kritisch Kranken (Critical Illness Polyneuropathie=CIP) ist ein Syndrom, welches erstmals in den frühen 80er Jahren in der Literatur beschrieben wurde (1 - 4). Es handelt sich hierbei um eine Neuropathie, welche durch eine axonale motorische und/oder sensible Nervenfaserdegeneration gekennzeichnet ist (4) und vor allem bei kritisch kranken Patienten auftritt. CIP tritt bevorzugt bei Erwachsenen auf, wenige Fälle werden auch von betroffenen Kindern berichtet (5). Die stark differierende Symptomatik ist durch Schwäche gekennzeichnet, welche als ein Resultat aus Muskelabbau, Myopathie, Neuropathie oder deren Kombination auftritt (6 - 9). Als erstes Frühsymptom wird oft erschwertes und verlängertes Weaning vom Respirator beschrieben durch Befall von Zwerchfell und/oder Atemhilfsmuskulatur (10). Zusätzlich ist eine Schwäche der Extremitätenmuskulatur typisch, diese tritt bevorzugt peripher auf und kann bis zur Tetraplegie ausgeprägt sein (11). Zu den weiteren klinischen Hauptsymptomen zählen Sensibilitätsstörungen und abgeschwächte oder fehlende Muskeleigenreflexe (12, 13). Resultierend verlängert sich oft die Mobilisierungsphase (14) sowie Rehabilitation der Patienten nach der Intensivstation (15 - 18).

In Hypothesen über die Entstehung von CIP werden Systemic Inflammatory Response Syndrom (SIRS), Sepsis und Multiorganversagen (Multi Organ Failure=MOF) an erster Stelle erwähnt (4, 6, 8, 10, 13, 17, 19 - 24). Hier könnte hier ein zirkulierendes Toxin, Mikrozirkulationsstörungen und endoneurales Ödem peripherer Nerven eine Rolle spielen (6, 25 - 27). Weiters werden auch der Einfluss einer Skelettmuskelinfiltration mit proinflammatorischen Zytokinen, freie Sauerstoffradikale, Proteasen, Platelet activating factor und Arachidonsäure ursächlich für die Muskelschwäche diskutiert (28, 29). Der Einsatz von Muskelrelaxantien, Corticosteroiden (28, 30 - 32) oder Aminoglykosiden (17, 32, 33) allein oder in Kombination wird ebenso diskutiert. Weiters könnten auch Hyperglykämie (24, 34, 35) Mangelernährung, länger dauernde Immobilität (24), lang dauernde künstliche Beatmung (36), parenterale Ernährung, Hyperosmolarität, neurologische Ausfälle (Glasgow Coma Scale unter 10) (15), Hyperkaliämie, Hypermagnesiämie (32, 33), metabolische Azidose und Nierenversagen (33, 35) ursächlich an der Entstehung von CIP beteiligt sein. Letztendlich weiß man aber noch nicht genau, aus welchen Gründen eine CIP nun tatsächlich entsteht – die Genese ist wahrscheinlich multifaktoriell bedingt (37, 38).

CIP kann sowohl klinisch-neurologisch als auch elektroneurographisch diagnostiziert werden (8, 39, 40). Es tritt eine axonale Nervendegeneration auf, dh. die Anzahl der Nervenfasern ist reduziert, die umgebende Myelinscheide aber intakt.

Die Ergebnisse der Elektroneurographie zeigen somit typischerweise eine erniedrigte Summenpotentialamplitude der Muskelaktionspotentiale und erniedrigte sensorische Nervenaktionspotentiale bei normalen Latenzzeiten und Geschwindigkeiten (16, 28, 41, 42), sowie das Auftreten von Spontanfibrillationen und „sharp waves“ im EMG (43). Zur Absicherung der Diagnose gegenüber einer Myopathie sind Elektromyographie und Muskelbiopsie geeignet (8). Diese invasiven Diagnoseoptionen werden jedoch mangels therapeutischer Konsequenz selten durchgeführt, eine Abgrenzung von CIP zu Critical Illness Myopathie (CIM) ist daher nicht immer möglich, manche Autoren fassen die beiden Krankheitsbilder zu Critical illness polyneuropathy and myopathy (CIPNM) (8, 9, 29) oder Critical illness weakness (44) zusammen.

In dieser Arbeit wird CIP jedoch als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet. Auch De Sèze (11), Leijten (17) und Fletcher (15) beschrieben CIP abgegrenzt von CIM.

Nach Hund (14) verläuft CIP monophasisch und meist selbst limitierend, sobald der Auslöser für die kritische Erkrankung beseitigt ist – mit Ausnahme von Patienten, die an schwerer Sepsis litten und somit einen wesentlich verlängerten Aufenthalt auf der Intensivstation hatten. Die Therapie von CIP beschränkt sich mangels besseren Wissens derzeit auf die intensive und frühe Behandlung von Sepsis und anderen inflammativen Grunderkrankungen, sofern diese ursächlich mit CIP assoziiert werden können. Therapieversuche mit Immunglobulinen haben bei CIP bisher positive Ergebnisse gezeigt (43), jedoch wurden die Ergebnisse noch nicht über eine randomisierte Placebostudie evaluiert.

Aus einer Studie von Van den Berghe et al (35) geht hervor, dass die restriktive Kontrolle des Blutglukosespiegels innerhalb 80-110mg/dl bei postoperativen kritisch kranken Patienten neben einer verringerten Mortalität auch die die CIP Inzidenz signifikant zu reduzieren vermag. Weiters wurden auch antiinflammatorische und neuroprotektive Eigenschaften von Insulin beschrieben (44, 45). Siroen et al (46) berichten von reduzierter CIP Morbidität und Mortalität durch Insulintherapie. Für Rehabilitation der Patienten bleibt aber in erster Linie intensive Physiotherapie, um Mobilität und somit auch soziale Reintegration und Lebensqualität der Patienten zu verbessern (15 - 18).

Obwohl CIP weltweit auftritt und es bereits viele Studien zu dieser Erkrankung und dessen doch recht hoher Inzidenz gibt - die Inzidenz bei Sepsispatienten wird von 70% bis zu 100% beschrieben (15, 24, 27, 47, 48) - wird CIP vermutlich nach wie vor zu selten diagnostiziert oder übersehen. Eine Ursache hierfür ist sicherlich, dass die klinische Symptomatik oftmals nicht offensichtlich, also subklinisch ist, somit auch keine elektroneurographische Untersuchung angeordnet wird (49). Weiters können aber auch mangelnde Awareness oder Wissen über CIP vermutet werden (20).

Es gibt wenig systematische Langzeitstudien über neurologische Folgewirkungen, Outcome sowie Lebensqualität von CIP Patienten. Die meisten Untersuchungen umfassen nur ein relativ kleines Patientenkollektiv in einem engen Zeitraum (4, 11, 24, 25, 50 - 54). Daten über Erholung und Lebensqualität wurden in erster Linie für unselektierte Gruppen von ICU Überlebenden untersucht (55 - 58).

Ziel dieser retrospektiven Studie war es, Erholung und Lebensqualität von CIP Patienten und die Persistenz von CIP Symptomen im Langzeitverlauf zumindest ein Jahr nach Entlassung von dieser gemischten medizinisch-kardiologisch-postoperativen Intensiv- station zu untersuchen. Sowohl prognostizierte Erholung als auch Lebensqualität der Patienten ist relevant für Prognosemitteilung an die betroffenen Patienten selbst, weiters wichtig als Aufwandschätzung für Angehörige und Krankenkassen. Für Ärzte ist es interessant und wichtig, die Langzeitresultate ihrer Behandlung beurteilen zu können. Weitere Schwerpunkte dieser Arbeit waren die Erhebung der CIP Inzidenz, sowie die univariate und multivariate Analyse von Prädiktoren der Erholung und möglicher Einflussfaktoren der Ausbildung einer CIP.

4 Methoden

Es wurden 48 Patienten im Zeitraum 1.4.1998 bis 31.12.2003 in die Untersuchung aufgenommen. Die Identifizierung der Patienten erfolgte über die Diagnose Polyneuropathie (PNP) bzw. CIP aus den Krankengeschichten (KG), mikroverfilmten KG und aus ICDoc.

Es wurden auch frühere und spätere ICU Aufenthalte der erhobenen Patienten auf die Diagnose CIP überprüft. Auf 48 Patienten traf die Diagnose CIP zu, 16 davon überlebten bis zum Untersuchungszeitpunkt (1.5.2005) und bildeten die Gruppe für die Langzeituntersuchung. Diese Patienten wurden nach einem medianen Zeitraum von 19 Monaten (Range 9; 38) nach ihrer Entlassung von der ICU nachuntersucht. Bei ungefähr zwei Drittel der Patienten (63%) war dies nach Ablauf eines Jahres.

Die Patienten wurden telefonisch kontaktiert und zur ambulanten klinischen Nach- untersuchung eingeladen. Fünf Patienten kamen nicht zur Nachuntersuchung, diese wurden nur telefonisch befragt. Der Grund für das Fernbleiben war bei einem Patienten Bettlägrigkeit, eine anderer wollte aufgrund zu großer Entfernung zum Untersuchungsort nicht anreisen. Bei einem Patienten bestand nach Terminvereinbarung eine akute Verschlechterung der gesundheitlichen Situation mit Krankenhausaufenthalt, ein Patient war durch seine mangelnde Gehfähigkeit verhindert und bei einem Patienten bestand kein Interesse an einer Nachuntersuchung/Studienteilnahme.

Für die ambulante Untersuchung und Befragung der Patienten wurden vier standardisierte Fragebögen zur Beurteilung der subjektiven und objektiven Lebensqualität und der Muskelkraft gewählt: Lizana Score (59), Barthel Index (60), Capuzzo Score (55) und Dyke Score (61). Für die telefonische Befragung kamen drei Scores zur Anwendung:

Lizana Score, Barthel Index und Capuzzo Score. Die Scores sind im Folgenden kurz wiedergegeben:

Lizana Score (Abbildung 4.1)

Der Lizana Score wurde zur Beurteilung der subjektiv eingeschätzten Lebensqualität durch die Patienten herangezogen (Abbildung 6.6), wobei die Gruppen „Lizana besser“ und „Lizana gleich“ als Erholung galten und als Gruppe I zusammengefasst wurden. Zum Vergleich wurden die Werte der Gruppe II - keine Erholung („Lizana schlechter“) herangezogen. Im Lizana Score wurde die subjektive Lebensqualität der befragten Patienten ein Monat vor der ICU (previous) dem aktuellen Zustand zum Untersuchungs- zeitpunkt (current) gegenübergestellt. Die Patienten wurden zu fünf Bereichen des täglichen Lebens, zu ihrem Gesundheitszustand sowie ihrer Arbeitsfähigkeit befragt. Die Bewertung erfolgte über eine minimal mögliche Punkteanzahl von fünf Punkten. Je schlechter die subjektive Situation angegeben wurde, desto höher war der Punktestand und konnte maximal 15 Punkte erreichen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4.1: Lizana Score

Barthel Index (Abbildung 4.2)

Der Barthel Index umfasst die Beurteilung von 10 wichtigen Alltagsfunktionen nach den Kategorien „abhängig“ (dependent), „mit Hilfe“ (with help) und „unabhängig“ (independent). Die Bewertung erfolgte durch die Befragung der Patienten und über ein Punktesystem, wobei eine maximal erreichbare Punkteanzahl von 100 vollkommene Unabhängigkeit bedeutete. Je mehr Hilfe ein Patient bei seinen Aktivitäten benötigte und je abhängiger dieser von Hilfspersonen war, desto geringer wurde der Punktestand und konnte minimal bei Null Punkten liegen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4.2: Barthel Index

Capuzzo Score (Abbildung 4.3)

Der Capuzzo Score umfasst „Italian quality of Life questionnaire“ und „Spanish quality of Life questionnaire“. Im ersten Teil wurden körperliche Aktivität, soziale Integration, subjektive Lebensqualität und objektive Sprechfähigkeit sowie funktionelle Ein- schränkungen beurteilt, der zweite Teil umfasste primäre Bedürfnisse, Alltagsaktivitäten und den emotionalen Zustand. Die Bewertung des Capuzzo Scores erfolgte über Punktevergabe von minimal möglich Null bis maximal möglichen 50 Punkten. Bei größtmöglicher Selbständigkeit und bester Lebensqualität war die Punktezahl niedrig, je größer die Einschränkungen waren, desto mehr Punkte akkumulierten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4.3: Capuzzo Score

Dyke Score (Abbildung 4.4)

Der Dyke Score umfasst sowohl die subjektive Angabe von Muskelkraft, Sensibilität und autonomen Symptomen seitens der Patienten als auch die Beurteilung des neuro- logischen Defizits durch klinisch neurologische Untersuchung. Diese beinhaltete die Prüfung ausgewählter Hirnnerven, Muskelkraft, Reflexe und Sensibilität. In Zusammenarbeit mit Prof. Wöber, Univ. Klinik für Neurologie am AKH Wien wurde der Dyke Score in allen Bereichen modifiziert, und speziell an CIP angepasst. Zusätzlich wurde das Vorliegen einer mechanischen Atemhilfe, Bedarf an zusätzlicher Sauerstoffversorgung und Atembeschwerden in die Untersuchung aufgenommen, wie auch Sensibilitätsprüfung an Oberschenkeln und Oberarmen. Die Bewertung der Patientenangaben erfolgte durch ein Punktesystem, wobei ein Punkt für das Vorhanden- sein eines Symptoms stand, Null Punkte bedeutete kein Symptom vorhanden. Die Beurteilung von Muskelkraft und Reflexen erfolgte für die rechte und linke Körperhälfte getrennt auf einer Skala von Null bis vier. Null bedeutete kein Defizit, eins leichtes Defizit, zwei mittleres Defizit, drei schweres Defizit und vier schwerstes Defizit oder Fehlen der Funktion. Die Bewertung der Sensibilität wurde ebenfalls nach rechter und linker Körperhälfte vorgenommen, jeweils an der Zeigefingerbasis und an der Basis der großen Zehe. Die Punktevergabe war hier in drei Stufen gegliedert: Null Punkte bedeutete seitengleiche Wahrnehmung, ein Punkt rechts ungleich links wahrgenommen und zwei Punkte fehlende Wahrnehmung.

Die erhobenen Punktezahlen aller Abschnitte wurden abschließend summiert. Die minimal mögliche Punkteanzahl von Null bedeutete, dass der Patient kein neurologisches Defizit hatte. Je höher diese Punktezahl anstieg, desto gravierender war das Defizit des Patienten. Als maximal erreichbare Punkteanzahl galt ein Wert von 240.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4.4: Dyke Score

Patientenbezogene Daten, Laborwerte und Medikation wurden dem CareVue Patientendatenmanagementsystem, dem elektronischen Archivierungssystem sowie der physikalischen Krankengeschichte (KG) entnommen und danach statistisch ausgewertet. Folgende Covariaten wurden aus der KG (CareVue elektronisches PDM System, mikroverfilmte KG, ICDoc Scoring System) erfasst:

Alter, Geschlecht, Aufnahmediagnosen, Entlassungsdiagnosen, die Schweregradscores Simplified Acute Physiology Score (SAPS II) und Acute Physiology and Chronic Health Evaluation (APACHE II), ICU Liegedauer, Überlebensrate, Beatmungsdauer, Vorliegen eines Tracheostomas, Atemfrequenz (AF), Systolic arterial pressure (SAP), Mean arterial pressure (MAP), Heartrate (HR), Temperatur, Vorliegen eines Schocks, einer Sepsis, die Therapie mit einer intraaortalen Ballonpumpe (IABP), der Einsatz eines extrakorporalen Eliminationsverfahrens (chronisch venovenöse Hämofiltration oder Hämodiafiltration), der Einsatz einer Extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO), Glasgow Coma Scale (GCS), Elektroneurographie und die Medikation während des ICU Aufenthalts. Zusätzlich wurden folgende Laborwerte erfasst: C-reaktives Protein (CRP), Fibrinogen (FGEN), Leukozyten, ph-Wert, Bikarbonat, Bilirubin und Kreatinin.

Als Aufnahmediagnose galt die zur Aufnahme auf die Intensivstation führende primäre Diagnose. Aufgrund der im Kollektiv in hohem Maße vorhandenen Multimorbidität lag pro Patient mitunter mehr als eine Aufnahmediagnose vor.

Als Entlassungsdiagnose galt die im ärztlichen Befundbericht dokumentierte Diagnose, wobei hier mehrere Entlassungsdiagnosen pro Patient gestellt wurden.

SAPS II ist ein aus 14 Parametern (Alter, klinische und labordiagnostische Messwerte, Glasgow Coma Scale) bestehender Score, welcher über eine ermittelte Punktezahl zur Bewertung des Schweregrades einer Erkrankung und zur Prognoseabschätzung bei Intensivpatienten dient.

APACHE II ist ein Verfahren zur Bewertung des Schweregrades der Erkrankung und Prognoseabschätzung bei Intensivpatienten unter Berücksichtigung von akuten Funktionsstörungen, Alter und vorbestehendem Gesundheitszustand.

Der Glasgow-Coma-Scale dient zur Abschätzung und Dokumentation von Bewusstseinsstörungen und Hirnschädigungen. Dies ist eine Skala, bei der für Augenöffnen, sprachliche Antwort auf Ansprache und motorische (Bewegungs-) Reaktion Punkte vergeben werden. Die maximal erreichbare Punkteanzahl beträgt fünfzehn Punkte, minimal sind drei Punkte erreichbar.

Folgende Medikamentengruppen wurden bei der Untersuchung berücksichtigt: Sedativa/Hypnotika, Muskelrelaxantien, Opioid Analgetika, Corticosteroide, Katechola- mine und Antiinfektiva.

In der Gruppe Muskelrelaxantien wurden Vecuronium und Mivacurium verabreicht. Zu den Sedativa/Hypnotika wurde jede Gabe von Midazolam, Etomidate, Ketamin und Propofol gezählt.

Als Opioid Analgetikum wurden Fentanyl und Sufentanylgaben subsummiert.

In der Gruppe Corticosteroidmedikation wurde jede systemische und orale Therapie mit einem Corticosteroid über mehr als 24h erfasst. Folgende Wirkstoffe wurden eingesetzt: Prednisolon i.v,/oral und Hydrocortison.

Als Katecholaminmedikation wurde jede systemische Gabe von Noradrenalin, Suprarenin, Isuprel und Dobutamin subsummiert.

Ende der Leseprobe aus 77 Seiten

Details

Titel
Polyneuropathie des kritisch Kranken
Untertitel
Langzeit Follow Up und Einflussfaktoren
Hochschule
Universität Wien
Note
Sehr Gut
Autor
Jahr
2005
Seiten
77
Katalognummer
V122630
ISBN (eBook)
9783640264360
Dateigröße
1258 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Polyneuropathie, Kranken
Arbeit zitieren
Dr. Astrid Unger (Autor:in), 2005, Polyneuropathie des kritisch Kranken, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122630

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