Die Erfahrung von Musik und Tanz als Mittel zur Verbesserung der koordinativen Fähigkeiten bei hörgeschädigten Schülern


Examensarbeit, 2006

121 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

0 Einleitung

1 Motorik
1.1 Psychologische Sicht auf die Motorik Hörgeschädigter
1.2 Physiologische Sicht auf die Motorik Hörgeschädigter
1.3 Ontogenetische Sicht auf die Motorik Hörgeschädigter

2 Lernen

3 Auditive Wahrnehmung
3.1 Physiologie der auditiven Wahrnehmung
3.2 Informationsverarbeitung der auditiven Wahrnehmung
3.2.1 Musikwahrnehmung
3.2.2 Ontogenese der auditiven und der Musikwahrnehmung
3.3 Das Gleichgewichtsorgan
3.4 Hörschädigungen
3.4.1 Arten von Hörschädigungen
3.4.2 Folgen von Hörschädigungen
3.4.3 Potentiale Hörgeschädigter
3.4.4 Kompensationsmöglichkeiten
3.4.5 Therapiemöglichkeiten
3.4.5.1 Musikwirkungen
3.4.5.2 Therapiemethoden mit Musik
3.4.5.3 Wirkungen von Bewegungen und Emotionen
3.4.5.4 Therapienmethoden mit Musik und Bewegung
3.4.5.5 Wirkungen von Vibrationen
3.4.5.6 Wirkungen von Vibrationen in Kombination mit Musik
3.4.5.7 Therapiemethoden unter Einsatz von Vibrationen und Musik

4 Empirische Untersuchung
4.1 Vorüberlegung
4.1.1 Ziel der Untersuchung
4.1.2 Fragestellungen und Hypothesen
4.1.3 Methoden
4.1.3.1 Rahmenbedingungen
4.1.3.1.1 Probanden
4.1.3.1.2 Der Audiva®-Hochtontrainer mit Knochenhörer
4.1.3.2 Die Musik
4.1.3.3 Organisatorischer Ablauf der Übungsstunden
4.1.3.4 Messungen
4.1.3.4.1 Messung der allgemeinen Gesamtkörperkoordination (KTK)
4.1.3.4.2 Messung der Tanzleistung
4.1.4 Störgrößen
4.2 Durchführung
4.2.1 Übungsstunden
4.2.2 Tests
4.2.2.1 Test der allgemeinen Körperkoordination (KTK)
4.2.2.2 Test der Tanzleistung

5 Auswertung
5.1 Statistische Analyse
5.1.1 Test der allgemeinen Körperkoordination - KTK
5.1.2 Test der Tanzleistung
5.2 Überprüfung der Hypothesen
5.3 Interpretation der Ergebnisse
5.4 Methodenkritik

6 Ertrag der Arbeit und Ausblick

Bemerkung

Aus Gründen der Verständlichkeit wird in der folgenden Arbeit ohne Beschränkung der Allgemeinheit an einigen Stellen die männlich-neutrale Form grammatischer Konstruktionen verwendet. Bezieht sich eine Aussage nur auf Individuen eines Ge- schlechts, so ist dies an entsprechender Stelle explizit angegeben.

0 Einleitung

„Die Musik ist eine Sprache jenseits der Worte, sie ist universell. Sie ist die schönste Kunst, die es gibt, sie schafft es, den menschlichen Körper leibhaftig in Schwingungen zu versetzen... . Das geht im Inneren des Körpers vor sich. Es sind Noten, die anfangen zu tanzen. Wie Kaminfeuer. Das Feuer, das rhythmisch groß, klein, groß, schneller, langsamer wird. (...) Schwingungen, Emotionen, Farben in magischem Rhythmus.“ (Laborit, 1995, S.24-25)

Dieses Zitat ist für mich deshalb so faszinierend, weil es von Emanuelle Laborit stammt, einer Schauspielerin, die seit ihrer Geburt gehörlos ist und erst im Alter von sechs Jahren mit Gebärdensprache kommunizieren lernte. Durch diesen Fakt wirft das Zitat Fragen darüber auf, welche Bedeutung Musik für Hörgeschädigte und Ge- hörlose haben kann (Salmon, 2002, S.1), welche Phänomene für Hörgeschädigte mit Musik verbunden sind und welche Empfindungen Gehörlose mit Musik verbinden.

Nach Löwe (1992, S.14) ist Musik ein existentielles Element des Menschseins. Musik gibt es in vielen sozialen Lebensbereichen, angefangen mit dem mütterlichen Gesang bei Säuglingen und Kindern. Später tritt Musik in der Freizeit und bei der Ar- beit auf. Sie wird in Diskotheken gespielt und auf beinahe allen sozialen Ereignissen und Veranstaltungen, wie Hochzeiten, offizielle Feierlichkeiten und sogar Beerdigun- gen. Sollte nun diese wichtige Facette sozialer menschlicher Existenz den Hörge- schädigten verschlossen bleiben?

Für Salmon ist Musik mehr als nur die rhythmische Aneinander- und Nebenein- anderreihung von Tönen. Sie äußert sich als „elementare Musik“ auch in Bewegung, Tanz und Sprache. Sie ist nicht nur auf das passive Zuhören beschränkt, sondern erlaubt aktive Teilnahme (Salmon, 2002, S.1). „Elementare Musik ist vorgeistig, kennt keine große Form, ist erdnah, naturhaft, körperlich für jeden erlernbar, dem Kinde gemäß“ (Salmon, 2002, S.1).

Wenn Musik nach Salmon nicht nur durch einen einzigen Sinn erfahrbar ist, wenn Musik nicht nur die Aufnahme auditiver Informationen, sondern auch persönli- cher Ausdruck ist, und wenn Musik eine derartig zentrale Bedeutung für das Menschsein hat, dann ist es nicht nur möglich, auch Gehörlosen und Hörgeschädig- ten Musik erfahrbar zu machen, es ist für deren Entwicklung von entscheidender Be- deutung.

Früheren Erkenntnissen zufolge beeinflusst Musik bestimmte Lernprozesse po- sitiv. Sie hilft beim Lernen der Sprache und bei der Entwicklung auditiver Diskriminie- rungsfähigkeiten, die für das Sprechen grundlegend sind (Darrow, 1989, S.61-70).

Nach Bode wirkt sie bewegungsstrukturierend und gedächtnisstützend beim motori- schen Lernen (Dießner, 1974, S. 59). Rhythmus ist die zeitlich-dynamische Struktur, die sowohl dem Musik- als auch dem Bewegungsrhythmus zugrunde liegt. Musik- und Bewegungsrhythmus sind nach dieser Lesart verschiedene Erscheinungsformen desselben Phänomens. Daher kann der Musikrhythmus als akustische Orientie- rungshilfe zur Bewegungssteuerung dienen.

Weil Musik so wichtig für das Menschsein ist, sollten Anstrengungen unter- nommen werden, Hörgeschädigten Musik näher zu bringen, und erfahrbar zu ma- chen. Sofern dies möglich ist, könnte die Musik genutzt werden, um die Motorik von Hörgeschädigten, zum Beispiel durch Tanz, zu fördern. Weil Tanz ein Weg persönli- chen Ausdrucks ist und weil Tanz in vielen sozialen Kontexten bedeutsam ist, ist sein Erlernen für Hörgeschädigte wichtig. Des Weiteren gibt es Untersuchungen, nach denen Hörgeschädigte oft eine schlechte koordinative Leistungsfähigkeit haben (z.B. Kosel/Froböse, 1999, S.221+232). Aufgrund dieser vielen Zusammenhänge sollten sowohl die Musikwahrnehmung als auch die koordinativen Fähigkeiten und Fertigkei- ten durch eine gleichzeitige Beschäftigung mit beidem profitieren.

Daher war es ein Ansatz der im praktischen Teil dieser Arbeit beschriebenen Untersuchung, die koordinativen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Hörgeschädigten durch musikorientiertes motorisches Lernen zu verbessern. Analog zu Salmon (2002), sollten die Schüler und Schülerinnen Musik und Musikrhythmus verstärkt durch eigenes motorisches Nachvollziehen von Tanzbewegungen und erfahren. Das definierte Ziel der in dieser Arbeit beschriebenen Intervention war es, durch die Be- schäftigung mit Tanz und Musik die koordinative Leistungsfähigkeit der Schüler/- innen zu verbessern. Weiterhin wurde gehofft, dass, durch die Beschäftigung mit den primär sozialen Phänomenen Musik und Tanz, das Sozialverhalten der Schüler/- innen gefördert würde. Erfolgreiches soziales Lernen ist jedoch schwer mess- und operationalisierbar. Um musikorientiertes motorisches Lernen mit Hörgeschädigten zu vereinfachen, wurde vermutet, dass hochtonverstärkte Musik deren Residual- o- der Resthören besser anspricht als normale Musik. Des Weiteren wurde angenom- men, dass die Umwandlung der Musik in Vibrationen, die durch die Kopfhaut über der Sutura Sagittalis übertragen wurden, den Schülern bei der Wahrnehmung der Musik hilft. Basierend auf diesen Annahmen sollte in der hier beschriebenen Unter- suchung herausgefunden werden, ob die kombinierte Anwendung dieser beiden Me- thoden (Hochtonverstärkung und Transformation in Vibrationen) eine stärkere koor- dinative Verbesserung der hörgeschädigten Schüler ermöglicht als herkömmliches musikorientiertes motorisches Lernen. Die Untersuchungen wurden mit Schülern der zweiten Klasse des Landesbildungszentrums für Hörgeschädigte in Halberstadt durchgeführt. Zum einen ist die motorische und auditive Entwicklung bei Schülern der zweiten Klasse weit genug fortgeschritten, um Musik und Tanz effektiv einsetzen zu können. Zum anderen sind die Schüler/-innen noch relativ jung und so kann Defiziten früh vorgebeugt werden.

Die folgende Staatsexamensarbeit ist in einen theoretischen und einen empiri- schen Teil gegliedert. Im theoretischen Teil (Abschnitte 1-3) werden die Funktions- weise der auditiven Wahrnehmung, die Besonderheiten hörgeschädigter Menschen und der bisherige Kenntnisstand zu den psychologischen und physiologischen Wir- kungen von Musik und Vibrationen auf normalsinnige und hörgeschädigte Menschen herausgearbeitet. Im anschließenden empirischen Teil (Abschnitte 4-6) werden Vor- bereitung, Durchführung und Ergebnisse des Experiments zur Verbesserung musik- orientierten motorischen Lernens beschrieben und in den theoretischen Kontext ein- gefügt.

1 Motorik

Ausgehend von der Zielstellung motorische Fähigkeiten und Fertigkeiten bei hörgeschädigten Schülern zu fördern, soll im Folgenden ein kurzer Einblick in die psychischen, physiologischen und ontogenetischen Voraussetzungen der Motorik unter den Bedingungen einer Hörschädigung gegeben werden. Ziel ist es dabei den derzeitigen Kenntnisstand darüber vorzustellen, welche Zusammenhänge es zwi- schen der Bewegungssteuerung und psychischen, physiologischen und Wahrneh- mungs- und Entwicklungsprozessen gibt. Dadurch kann argumentiert werden, dass eine verbesserte Wahrnehmung relevanter Reize die Bewegungsausführung be- günstigt und es kann herausgestellt werden, ab welchem Alter Menschen die Vor- aussetzungen für eine Intervention zur musik- und rhythmusorientierten Bewegungs- erziehung erfüllen. Mit Blick auf die geplante Übertragung von Vibrationen auf den Schädel, soll in diesem Kapitel auch der Zusammenhang zwischen physiologischen Vorgängen im Gehirn und der Bewegungssteuerung kurz näher erläutert werden. Auf dieser Grundlage kann im Kapitel 3.4.5.7 vermutet werden, dass die Erleichterung von Diffusions- und Osmoseprozessen im Gehirn durch Vibrationen die Bewegungs- steuerung und die Lernleistung positiv beeinflusst.

„Motorik, hier verstanden als menschliche Motorik, umfasst [...] die Gesamtheit der Vorgänge und Funktionen des Organismus und die psychische Regulation („Psy- chomotorik“), die die menschliche Bewegung hervorbringen“ (Meinel, 1987, S.21).

Die Motorik ist damit die Voraussetzung sowohl für Arbeitsprozesse als auch für jeg- liche Einflussnahme auf die Umwelt. Nach Ponomarjew (1964, S.58-71) erfuhr die menschliche Motorik ihre Vervollkommnung in der Urgesellschaft nicht nur durch Ar- beitsbewegungen, sondern auch durch „körperliche Übungen, Tanzbewegungen und Tänze“. Er impliziert damit die Überzeugung, dass Tanz ein wirksames Mittel zur mo- torischen Entwicklung ist. Um die Abhängigkeit der Motorik vom auditiven und (vibro) taktilen Analysator und damit die Interventionsmethode begründen zu können, ist es zunächst notwendig den bisherigen Kenntnisstand über die physiologischen und psychischen Vorgänge und die ontogenetischen Voraussetzungen der Bewegungs- steuerung kurz zusammenfassend darzustellen.

1.1 Psychologische Sicht auf die Motorik Hörgeschädigter

Auf psychologischer Ebene haben sich einige in den Grundzügen ähnliche Modelle zur Erklärung menschlicher Bewegung durchgesetzt. Bis auf wenige sehr kurze Bewegungen werden Handlungen aus heutiger Sicht in den verschiedenen Modellen übereinstimmend durch einen geschlossenen Regelkreis gesteuert (Loosch, 1999, S.55-56). Dieser enthält die Aufnahme sensorischer Informationen (Afferenzen), das Erstellen eines Aktionsprogramms und die Handlungsausführung.

„Als Afferenzen werden die von der Peripherie des Organismus zum Zentralnerven- system geleiteten Informationen bezeichnet, welche die Basis von Empfindung und Wahrnehmung bilden“ (Loosch, 1999, S. 58). Weil die Handlung im Organismus und in der Umwelt Veränderungen hervorruft, führt sie auch selbst zu Sinneswahrneh- mungen. Diese werden nach v. Holst und Mittelstaedt (1950, S.464) Reafferenzen genannt. Unter Afferenzsynthese versteht man die Kombination und Weiterverarbei- tung der Afferenzen aller relevanten Sinnessysteme. Ein häufig zitiertes Beispiel für ein solches Regelkreismodell, welches in Abb. 1 zu sehen ist, findet sich bei Schna- bel (1987, S.59).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Vereinfachtes Modell der Bewegungskoordination (Schnabel, 1987, S.59)

Zur Bewegungssteuerung werden die Informationen des kinästhetischen, opti- schen, vestibulären, taktilen und des auditiven Analysators in die Afferenzsynthese einbezogen (Meinel/Schnabel, 1987, S.65). Für eine Einschätzung des Bewegungs- lernens Hörgeschädigter ist es besonders wichtig, die Anteile herauszufinden, die der akustische und der vestibuläre Analysator an einer gelungenen Bewegungsausfüh- rung haben. Das Ausmaß, zu dem die einzelnen Analysatoren Einfluss auf die Be- wegungssteuerung haben, wird bei Anochin (1967), Loosch (1999) und Willimc- zik/Roth (1988) jedoch nicht benannt. Nach Meinel/Schnabel (1987, S.67) ist der An- teil des Vestibularanalysators an einer gelungenen Bewegungsausführung noch nicht eindeutig bestimmbar. Der akustische Analysator ist nach Meinel/Schnabel (1987, S.69) nur bei wenigen sportlichen Bewegungsformen (Rudern und eine Reihe von Ballspielen) in der Afferenzsynthese von Bedeutung. Offenkundig ist auch die Wich- tigkeit des akustischen Analysators für den Tanzsport. Neben den sportartspezifi- schen Beispielen räumen Meinel und Schnabel (1987, S.70-71) die große Bedeutung des akustischen Analysators für dynamische Impulse und verbale Informationen in der Bewegungsvermittlung ein. Verbale Informationen unterstützen durch Reduzie- rung und Akzentuierung der Sinnesreize das Verstehen von Bewegungsabläufen und deren Speicherung. Eine Störung des akustischen Analysators bedingt eine schwä- chere Nutzung des verbalen Analysators. Daraus folgt, dass Hörgeschädigte Prob- leme beim Bewegungslernen und beim Erlangen einer Bewegungsvorstellung haben. Diese Probleme könnten für ihren motorischen Entwicklungsrückstand verantwortlich sein. Ob aus diesen Erkenntnissen geschlossen werden kann, dass der verbale Ana- lysator in der Bewegungsvermittlung bei Hörgeschädigten besonders angesprochen werden sollte oder ob möglichst auf andere Analysatoren ausgewichen werden soll- te, ist nicht eindeutig begründbar. Eine Entscheidung dieser Frage hängt unter ande- rem auch von weiteren Zielstellungen der Förderung der Hörgeschädigten, z.B. der Absicht den verbalen Analysator auszubilden, ab.

1.2 Physiologische Sicht auf die Motorik Hörgeschädigter

Aus physiologischer Sicht beginnt die Bewegungsplanung im motorischen Kor- tex des Großhirns (Cerebrum). Der primär-motorische Kortex (Area 4 von Brodmann – Abb. 2) ist sowohl direkt über die Pyramidenbahnen, als auch indi- rekt über das extrapyramidale Sys- tem mit den Effektororganen (z.B. Muskeln) verbunden (Abb. 3).

Die Pyramidenbahn ist die wich- tigste absteigende Bahn. Sie stellt eine unmittelbare Verbindung zwi- schen motorischem Kortex und Rückenmark her, „z.T. mit direkten

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Abb. 2: Area 4 von Brodmann (http://en. wikipedia.org/wiki/Brodmann_area_4)

synaptischen Kontakten zu den Mo- toneuronen“ (Schmidt/Lang/Thews, 2005, S.149), also zu den Neuronen, die Muskeln direkt ansteuern. Auf diese Weise können Bewegungshandlungen direkt vom motorischen Kortex gesteuert werden.

Das extrapyramidale System ist eine Sammelbezeichnung für alle anderen sub- kortikalen Neuronen, die an der Bewegungssteuerung beteiligt sind. Es besteht aus dem Kleinhirn (Cerebellum) und den Basalganglien. Das extrapyramidale System erhält eine so genannte Efferenzkopie, d.h. eine Kopie aller Bewegungskommandos. Das Kleinhirn bekommt außerdem eine Kopie der spinalen, auditiven, vestibulären und visuellen sensorischen Informationen, eine so genannte Afferenzkopie (Abb. 3). Aus diesen Informationen errechnet es, nach heutigem Modell, Abweichungen vom Sollwert der Bewegung, die es an den Kortex zurückmeldet (Schmidt/Lang/Thews, 2005, S.150). Die Basalganglien (Abb. 4) auf der anderen Seite „erhalten von fast allen Rindenfeldern bereits hochverarbeitete Informationen“ (Schmidt/Lang/Thews, 2005, S.150). Der größte Teil der von den Basalganglien ausgehenden Neuronen führt zurück in den motorischen Kortex. Nur ein kleiner Teil hat über den Nucleus pedunculopontinus und Kerngebiete im Tectum einen direkten Zugang zum Rü- ckenmark (Abb. 3).

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Abb. 3: Vereinfachte Darstellung der Bewegungssteuerung im Menschen

Die Basalganglien spielen vor allem bei Handlungen eine Rolle, die aus eige- nem Antrieb erfolgen (Schmidt/Lang/Thews, 2005, S.150). Durch die sensorischen Analysatoren entsteht eine Rückkopplungsschleife, die laufende Korrekturen im Be- wegungsablauf ermöglicht und so die Bewegungskoordination verbessert. Frühere Theorien, dass auch der Hippocampus, der für die Filterung von Afferenzen zustän- dig ist, direkt mit der Bewegungssteuerung zusammenhängt, sind nach Ergebnissen von Pyykkö und Starck (1985, S.155) wahrscheinlich unzutreffend.

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Abb. 4: Basalganglien und ihre Position im Großhirn (Marieb, 1999, S.442, Beschriftung „Cerebellum“ eingefügt)

Diese Sicht auf die Motorik zeigt viele Gemeinsamkeiten mit der psychologi- schen Betrachtungsweise. Leider wurden bisher kaum Bereiche im Zentralnerven- system gefunden, in denen sowohl das Hören als auch die Motorik verarbeitet wer- den, beziehungsweise in denen beide direkt neuronal verbunden sind. Deshalb ist es schwer, plausibel zu machen, dass es einen niederstufigen und damit schnellen und direkten Zusammenhang zwischen Hören und Motorik gibt. Es könnte jedoch ange- nommen werden, dass bereits hochverarbeitete Informationen aus dem auditiven Kortex auf die Motorik wirken. Dies ist in Übereinstimmung mit der Beobachtung Meinels und Schnabels (1987, S.69), dass der akustische Analysator nur einen ge- ringen Einfluss auf sportliche Handlungen hat, während der verbale Analysator für das Bewegungslernen von großer Bedeutung ist (ibid. S.70-71). Meinel und Schna- bel argumentieren an dieser Stelle aber mehr mit der Notwendigkeit akustischer Rei- ze für das Gelingen bestimmter sportlicher Handlungen als mit Ergebnissen über die tatsächliche Nutzung des akustischen Analysators. Der verbale Analysator entspricht nach ihrer Beschreibung einem System, welches hochverarbeitete Informationen nutzt. Daher ist das Modell Meinels und Schnabels mit diesen Indizien aus der Hirn- physiologie im Einklang. Eine zuverlässige Aussage über den Einfluss von Hörschä- digungen auf die Bewegungsausführung oder das motorische Lernen kann auf Grundlage der hier vorgestellten anatomischen und physiologischen Bedingungen trotzdem nicht gegeben werden, weil unklar ist, inwiefern der verbale Analysator bei Hörgeschädigten andere Konzepte verarbeitet als bei Normalsinnigen.

1.3 Ontogenetische Sicht auf die Motorik Hörgeschädigter

Das komplexe System der Bewegungssteuerung ist, abhängig vom Lebensalter, entwicklungsspezifischen Veränderungen unterworfen. Singer und Bös definieren diese motorische Ontogenese als „die lebensalterbezogene Individualentwicklung von Haltung und Bewegung sowie der zugrunde liegenden Steuerungs- und Funkti- onsprozesse“ (1998, S.237). Ob diese Entwicklung in Phasen oder kontinuierlich ver- läuft, ist bisher ungeklärt. Willimczik und Roth (1988, S.331) in Übereinstimmung mit Meinel und Schnabel (1998, S.240) gliedern die motorische Ontogenese in zwölf Phasen, von denen die ersten sieben in Tabelle 1 dargestellt sind. Sie gehen davon aus, dass bestimmte motorische Entwicklungsaufgaben nur in spezifischen sensiblen Phasen bewältigt werden können. Diese sensiblen Phasen (auch sensitive oder kriti sche Phasen) sind Zeiträume im Entwicklungsprozess des Menschen, „in denen die- ser auf Umweltreize intensiver mit entsprechenden Entwicklungseffekten reagiert als zu anderen Zeitpunkten“ (Thiess/Schnabel/Baumann, 1978, S.175). Nach Ende einer sensiblen Phase können fehlende Erfahrungen, dieser Ansicht zufolge, nicht mehr aufgeholt werden. Die Wahrheit dieser Annahme hätte zur Folge, dass bei Hörge- schädigten die Frühförderung der Motorik besondere Wichtigkeit erhält, da eine Voll- ständige motorische Entwicklung sonst nicht mehr möglich sein könnte. Auf der an- deren Seite ist aber auch die Entwicklung des Musik- und Rhythmusverständnisses zu beachten, denn dieses ist Voraussetzung für musikorientiertes motorisches Ler- nen. Dementsprechend wird eine Begründung des optimalen Alters für die Interventi- on im Zusammenhang mit einer Betrachtung der Ontogenese der Musikwahrneh- mung im Kapitel 3.2.2 gegeben. Dabei wird auf die motorische Entwicklung Bezug genommen.

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Tab.1: Entwicklungsphasen der motorischen Ontogenese (Willimczik/Roth 1988, S. 331)

Ein anderes Modell der motorischen Ontogenese nimmt eine kontinuierliche Entwicklung, ohne sensible Phasen, an. Entwicklungsschübe, die bei Kindern beob- achtbar sind, werden hier nicht auf das Alter, sondern auf das erreichte Entwick- lungsniveau des Kindes zurückgeführt. Es wird davon ausgegangen, dass neben dem Reifungsprozess auch Lernprozesse, Selbststeuerungsprozesse und Sozialisa- tionsprozesse die motorische Entwicklung beeinflussen (Baumann/Reim, 1984, S.197). Dieses Modell beschreibt ein weniger starres Bild der motorischen Ontoge- nese. Es erlaubt die Möglichkeit, auch bei Verzögerungen des motorischen Lernens, wie es bei Hörschädigungen auftritt, noch eine vollständige Ausbildung aller motori- schen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erreichen.

Eine spezielle Betrachtung der Motorik von Hörgeschädigten ist in der Literatur kaum vorhanden. Kosel und Froböse (1999, S.221+232) finden einen motorischen Entwicklungsrückstand von 1,5 Jahren bei 9-11jährigen Kindern mit Hörschädigun- gen. Salmon begründet dies durch einen Mangel an Bewegungserfahrungen (2002, S.5). Nach Willimczik und Roth (1988, S.314) hängt die motorische Ontogenese un- ter anderem auch von sozioökonomischen, sozialen, familiären und materialen Be- dingungen ab. Dementsprechend könnte auch für eine sekundäre Beeinflussung der motorischen Entwicklung durch soziale, materiale und familiäre Bedingungen argu- mentiert werden. Wie im Kapitel 3.4.2 deutlich wird, sind sämtliche sozialen und fami- liären Beziehungen durch eine Hörschädigung direkt beeinflusst.

Die Probanden der in Abschnitt 4-6 dieser Arbeit beschriebenen Untersuchung befinden sich im Alter zwischen 7 und 10 Jahren. Weil die Probanden hörgeschädigt sind, besitzen sie einen Entwicklungsrückstand. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, sollten sie daher zumindest das Ende der vierten, größtenteils jedoch die fünfte Phase der motorischen Entwicklung erreicht haben. Das bedeutet, dass sie erste Erfahrungen mit Bewegungskombinationen gemacht haben und ihre motorische Lernfähigkeit schnell zunimmt (Meinel/Schnabel, 1987, S.316). Infolgedessen ist anzunehmen, dass die Probanden je nach Alter ein unterschiedliches Ausgangsniveau und unter- schiedliche Lernvoraussetzungen mitbringen. Die Lernvoraussetzungen sollten, nach diesem Modell, altersentsprechend gut sein.

2 Lernen

Im letzten Abschnitt wurde herausgestellt, dass die motorische Individualent- wicklung abhängig von Lernprozessen ist. Je nachdem, ob man sensible Phasen in der motorischen Entwicklung annimmt oder nicht, ist das motorische Lernen in be- stimmten Lebensabschnitten besonders wichtig. Dies lässt sich damit begründen, dass die Annahme sensibler Phasen impliziert, dass bei fehlender Frühförderung bestimmte Lernprozesse später schwierig oder gar nicht nachzuholen sind. Deshalb sollen im folgenden Kapitel die Voraussetzungen und Prozesse des Lernens vorge- stellt werden. Das nicht-assoziative Lernen ist dabei für den Experimentalteil beson- ders wichtig, weil es die Wahrnehmung der Vibrationen verringern und damit Lernef- fekte minimieren könnte. Durch das kognitive und das Konditionierungslernen erwer- ben die Schüler/-innen eine Bewegungsvorstellung von der Choreographie. Die Dar- stellung der Erkenntnisse über diese beiden Arten des Lernens soll verdeutlichen, inwiefern eine Einschränkung der verbalen Kommunikation zwischen Schüler und Lehrer besonders das kognitive Lernen beeinträchtigt. Das Wiederholungs- oder Konditionierungslernen von Bewegungen bleibt zwar von der Hörstörung unbeein- flusst, es können sich aber negative Effekte ergeben, wenn die Bewegungsausfüh- rung aufgrund des eingeschränkten kognitiven Lernens schlechter ist. Zusätzlich sol- len die physischen Orte der Informationsspeicherung im Körper benannt werden. Auf dieser Grundlage wird im Kapitel 3.4.5.7 die Annahme begründet, dass Vibrationen des Schädels positive Effekte für das motorische Lernen haben könnten.

Allgemein lässt sich Lernen als Prozess definieren, „der zu relativ stabilen Ver- änderungen im Verhalten […] führt und der auf Erfahrungen aufbaut. Lernen ist nicht direkt zu beobachten, sondern muss aus den Veränderungen des beobachtbaren Verhaltens erschlossen werden“ (Zimbardo, 1995, S.263). Tembrock (1978, zitiert nach Zekai, 1993, S.17) fügt hinzu, dass das Lernen mit spezifischen Speichervor- gängen verbunden ist. Die Fähigkeit zur Speicherung und zum Abrufen von Informa- tionen wird als Gedächtnis bezeichnet.

Schmidt, Lang und Thews (2005, S.225-227) unterscheiden, nach der Art der abgespeicherten Informationen, zwei Formen des Gedächtnisses. Das deklarative Gedächtnis (auch Wissensgedächtnis) enthält Episoden oder Fakten, die bewusst abgerufen werden können. Episoden werden dabei vor allem im rechten Frontal- und Temporalkortex des Großhirns gespeichert, während Fakten speziell im Temporal- kortex abgelegt werden. Im deklarativen Gedächtnis ist Lernen mit Kognitionen, also bewussten Prozessen, verbunden. Das nicht-deklarative Gedächtnis (auch Verhal- tensgedächtnis, implizites oder prozedurales Gedächtnis) auf der anderen Seite er- laubt das Erlernen von Fertigkeiten, und die Bildung von Erwartungen oder Konditio- nierungen. Die verantwortlichen Hirnregionen sind für das Fertigkeitenlernen die Ba- salganglien, der motorische Kortex und das Zerebellum. Für die Konditionierung ist, je nach Art der Konditionierung, das Zerebellum oder der Hippocampus in Verbin- dung mit dem Neokortex verantwortlich. Das Erwartungslernen geschieht durch eine Verringerung der Aktivität im okzipito-temporalen Kortex oder im linken Präfrontalkor- tex. Weil diesen Informationen zufolge sämtliche für das Experiment relevanten Ge- dächtnisleistungen im Zentralnervensystem innerhalb des Schädels ablaufen kann vermutet werden, dass eine Einflussnahme auf die Physiologie in diesem Bereich diese Gedächtnisleistungen beeinflusst. Die Einwirkung von Vibrationen ist eine Ein- flussnahme auf physiologische Prozesse im Schädel, weil nach Zekai (1993, S.7+9), wie in Kapitel 3.4.5.5 näher erläutert wird, sich dadurch Durchblutungsprozesse und die Hämodynamik verändern können. Daher sind Veränderungen in der Gedächtnis- leistungen Hörgeschädigter schon durch rein physiologische Effekte der Vibrationen zu erwarten.

Die Speicherung von Informationen geschieht bei allen oben genannten dekla- rativen und nicht-deklarativen Gedächtnistypen durch eine der folgenden Arten der Informationsverarbeitung:

- nicht-assoziatives Lernen,
- Lernen durch Konditionierung,
- Lernen durch Biofeedback,
- das sensorische Gedächtnis und
- kognitives Lernen (Schmidt/Lang/Thews, 2005, S.225-229).

Weil das nicht-assoziative Lernen für den Umgang mit den Vibrationsgeräten von Bedeutung ist und weil Lernen durch Konditionierung und kognitives Lernen die An- eignung einer Choreographie erst ermöglicht, werden diese im Folgenden näher er- läutert.

Nicht-assoziatives Lernen ist eine Abnahme oder Zunahme physiologischer Re- aktionen auf Reize, wenn aus ihnen entweder keine Konsequenzen hervorgehen, oder wenn als Folge ein besonders intensiver Reiz eintritt. Es findet beispielsweise dann statt, wenn ein Mensch an einer Eisenbahnlinie wohnt und nach kurzer Zeit den Bahnlärm nicht mehr bewusst wahrnimmt und auch seine physiologischen Reaktio- nen nicht mehr vom Bahnlärm beeinflusst werden (Schmidt/Lang/Thews, 2005, S.225). Für das Experiment ist zu befürchten, dass das nicht-assoziative Lernen, aufgrund des Ausbleibens direkter Konsequenzen der Vibrationsreize, dazu führt, dass die Hörgeschädigten die Vibrationen nach einiger Zeit nicht mehr wahrnehmen und auch keine physiologischen Reaktionen mehr zeigen. Dies hätte zur Folge, dass eine besondere Lernleistung aufgrund der Vibrationen nicht mehr angenommen wer- den kann.

Beim nicht-assoziativen Lernen werden also vorhandene physiologische Verän- derungen auf bestimmte Reize abgeschwächt oder verstärkt. Diese Möglichkeiten werden durch das Lernen durch Konditionierung insofern erweitert, dass auch ur- sprünglich neutrale Reize durch Paarung mit nicht-neutralen Reizen, mit physiologi- schen Reaktionen verbunden werden können (klassisches Konditionieren). Durch das operante Konditionieren können dann sogar eigene Verhaltensweisen zum Aus- löser einer Reizerwartung werden. Beide Formen des Konditionierens nutzen das Wiederholungslernen. Sie laufen auf unbewusster Ebene ab und sind nicht an verba- le Prozesse gebunden. Deshalb sind sie für Hörgeschädigte unabhängig von mögli- chen verbalen Einschränkungen gleichermaßen wirksam, solange der zu konditionie- rende Reiz ein normal entwickeltes Sinnessystem anspricht. Dementsprechend kann eine Bewegungsvorgabe durch ein (visuelles) Bewegungsvorbild für Hörgeschädigte genauso effektiv sein wie für Normalsinnige. Aus diesem Grund wird in der Interven- tion des hier beschriebenen Experimentes vorwiegend mit dem Nachahmen von Be- wegungsvorbildern gearbeitet und weniger mit Verbalisierungen der unterrichteten Inhalte.

Eine weitere Art des Lernens geschieht nach Schmidt, Lang und Thews (2005, S.228) im sensorischen Gedächtnis. Das sensorische Gedächtnis ist ein Speicher, der für sehr kurze Zeit (0,5-1s) große Mengen sensorischer Informationen aufneh- men kann. Dort werden diese Informationen für den oder die Kurzzeitspeicher kodiert und die wichtigsten Merkmale extrahiert (Schmidt/Lang/Thews, 2005, S.228). Dieser Kurzzeitspeicher (auch Kurzzeitgedächtnis genannt) kann für einige Sekunden bis Minuten nicht mehr als 7±2 Informationseinheiten („chunks“, z.B. Nummerngruppen oder Satzteile) speichern. Wird diese Information bewusst mehrfach wiederholt, so wird sie nach der Vorstellung von Schmidt, Lang und Thews im Langzeitgedächtnis gespeichert. Dieses Lernen durch Umspeicherung von einem ins andere Gedächtnis heißt kognitives Lernen. Es findet zum Beispiel dann statt, wenn die Probanden des hier beschriebenen Experiments sich anhand von verbalisierten Beschreibungen den Ablauf der Choreographie merken. Diese Beschreibungen können auch vom Leh- rer/von der Lehrerin vorgegeben sein. Nach Gfeller und Baumann ist das Verstehen verbaler und geschriebener Informationen bei Hörgeschädigten negativ beeinflusst (1988, S.192-205), weil die Gesamtzahl der sprachlichen Begriffe begrenzt ist. Dar- aus kann geschlossen werden, dass auch das kognitive Lernen durch Verbalisierung bei Hörgeschädigten schwieriger ist. Diese Erkenntnis deckt sich mit den in Kapitel

1.1 vorgestellten Einschränkungen der Motorik Hörgeschädigter, die aus der verrin- gerten Bereitschaft des verbalen Analysators folgen.

Das Modell mit sensorischem, Kurz- und Langzeitgedächtnis wird jedoch in der Literatur von verschiedenen Seiten angegriffen oder ergänzt. So hält Anderson (2000, S.174+200-203) die Unterteilung in Kurz- und Langzeitgedächtnis und den starren Informationsfluss vom sensorischen zum Kurzzeit- und dann zum Langzeit- speicher für nicht plausibel und geht davon aus, dass die Art der Datenverarbeitung entscheidend für die Speicherung und Abrufbarkeit von Informationen ist. Ein weite- rer Faktor, der auf das Lernen wirkt, sind Emotionen (Mariauzouls, 2005, S.5). So werden z.B. Schicksalsschläge oder positive Ereignisse sehr detailliert abgespei- chert, ohne dass ein langwieriger Wiederholungsprozess notwendig wäre. Auch Ver- suche an Ratten zeigen, dass diese unter Stress gefundene Rettungswege schneller wiederfinden (Mariauzouls, 2005, S.7). Wie schon erwähnt, wirken sowohl positive als auch negative Emotionen förderlich auf das Lernen. Positive Emotionen gehen mit einer Ausschüttung von Dopamin einher. Der Dopaminspiegel erhöht sich z.B. dann, wenn eine Aufgabe erfolgreich gelöst wurde. Er kann aber auch durch wohltu- ende äußere Reize, wie angenehme Musik oder Lob, dass maximal 1s nach dem Vorgang stattfindet, direkt positiv beeinflusst werden (Mariauzouls, 2005, S.5+7). Mit Blick auf das unten beschriebene Experiment bedeutet das, dass emotionale Wir kungen des Musikstückes oder der Vibrationen oder emotionale Wirkungen durch die für die Hörgeschädigten neuartige Empfindung von Musik die angestrebten Lernef- fekte steigern.

Weiterhin wird von einigen Autoren argumentiert, dass eine gleichmäßige Aus- lastung der verschiedenen Zentren des Gehirns eine Verbesserung der Lernleistung ermöglicht. So vermutet Margarete Imhof (1995, S.242-243), dass motorische Ne- bentätigkeiten „überschüssige, nicht aufgabenbezogen einsetzbare, Energien bin- den“. Mariauzouls (2005, S.7) ordnet dieselbe Eigenschaft leiser instrumentaler Mu- sik zu. Sie regt die rechte Hirnhälfte an und bindet so überschüssige Kapazitäten, die bei Tätigkeiten, die vorwiegend die linke Hemisphäre nutzen, brachliegen würden.

Durch die gleichmäßigere Auslastung des Gehirns kann so, nach Mariauzouls, die Konzentration bei Tätigkeiten, wie Rechnen, Lesen oder Schreiben, erhöht werden. Es könnte argumentiert werden, dass Musik und Motorik zumindest teilweise unter- schiedlich Ressourcen des Gehirns binden. Mit Bezug auf das Argument der Interfe- renz ungebundener Ressourcen ist die Nutzung von Musik im motorischen Lernen vorteilhaft für die Aufmerksamkeit und damit für die Lernleistung der Probanden. Lei- der sind weder von Imhof noch von Mariauzouls überzeugende Testergebnisse vor- gelegt worden, die diese Hypothese bestätigen.

Motorisches Lernen

Ein Sonderfall des Lernens ist das oben schon erwähnte motorische Lernen. Es bezeichnet den „Erwerb, [den] Erhalt und die Veränderung von spezifischen primär sensorischen und motorischen, kognitiven und emotionalen Funktionen“ (Mechling, 1992, S.323 zitiert nach Loosch, 1999, S.171). Das motorische Lernen wirkt sich di- rekt auf die Physiologie und Anatomie des Gehirns aus, wo Bewegungsfertigkeiten in neuronalen Schleifen (sog. Engrammen) physisch repräsentiert sind. Durch viele Än- derungen neuraler Verschaltungen können auch anatomische Veränderungen des Gehirns auf der Makroebene entstehen. Zum Beispiel sind bei Musikern Teile des Corpus Callosum (Brücke) und die Fingerareale im motorischen Kortex vergrößert (Weinberger, 2004, S.94).

Das Bewegungslernen geschieht bei normalsinnigen Menschen durch einen sensomotorischen Kreislauf: Bewegung erzeugt Wahrnehmung und Wahrnehmung führt zu Bewegung. Das Individuum erfährt Befriedigung durch diesen Kreislauf, wäh- rend gleichzeitig Bewegungslernen stattfindet (Salmon, 2002, S.4). Verschiedene Autoren schlagen zwei- (z.B. James 1890, Adams 1971, Daugs & Blischke 1984) bis fünfstufige (Galperin, 1967) Phasenmodelle zur Beschreibung des Bewegungsler- nens vor. Nach einem Vergleich von elf Konzepten des Bewegungslernens (Müller, 1995, S.21-40) ist sieben Modellen gemeinsam, dass in der ersten Phase durch be- wusste kognitive Auseinandersetzung mit Darbietungen der Sollbewegung ein Be- wegungsplan geschaffen wird. Anschließend werden die Rückmeldungen der Analy- satoren, sowie die des Übungsleiters genutzt, um die Bewegung dem Sollbild an- zugleichen.

In der Sportwissenschaft hat sich das dreiphasige Modell von Meinel und Schnabel (1987, S.187-228) bewährt. Es geht von einer ersten Phase der Grobkoor- dination aus, in der eine Bewegung nur unter günstigen Bedingungen zum Erfolg ge- führt werden kann. Bewegungsantizipation ist in dieser Phase unmöglich und nur wenige Sinneseindrücke (Afferenzen) und verbale Informationen werden in die Be- wegungssteuerung einbezogen. Besonders kinästhetische Informationen bleiben in dieser Lernphase von der Afferenzsynthese, also von der Kombination und der ge- meinsamen Verarbeitung aller Sinnesreize weitgehend ausgeschlossen. Beim Erler- nen von Bewegungen, deren Rhythmus mit Musik koordiniert werden kann, wirkt auch die Musik auf die Afferenzsynthese ein. Der durch die Musik vorgegebene Rhythmus wirkt dabei bewegungsstrukturierend und erleichtert die differenzierte Wahrnehmung des Bewegungsrhythmusses, bzw. der zeitlich-dynamischen Struktur der Bewegung. Musik wirkt weiterhin ausdrucksfördernd und gedächtnisunterstüt- zend. Diese Effekte der Musik lassen sich sowohl in der Phase der Grobkoordination als auch in späteren Phasen des motorischen Lernens nutzen (Dießner, 1974, S. 59).

Sind dem Lernenden bereits Bewegungen bekannt, die der neuen Zielbewe- gung ähnlich sind, so kann die Informationsaufnahme auch durch ideomotorisches Mitvollziehen erfolgen. Das bedeutet, dass durch die Beobachtung einer Darbietung der Bewegungshandlung bereits eine eigene mentale Bewegungsvorstellung ge- schaffen wird (Meinel/Schnabel, 1987, S.193-198). Wie schon im letzten Abschnitt dieses Kapitels aus Sicht der Konditionierung begründet, wird in der unten vorgestell ten Intervention die Bewegungsvermittlung größtenteils durch Bewegungsvorbilder und ideomotorisches Mitvollziehen geschehen. Dies ist sinnvoll, weil durch die Hör- schädigungen der Probanden das Wissen schlechter verbal vermittelt werden kann, und weil auf diese Weise die Orientierung an der Musik einfacher ist.

Die zweite Phase des Bewegungslernens ist durch eine annähernd fehlerfreie Ausführung der Bewegung unter Normalbedingungen gekennzeichnet. Treten stö- rende Einflüsse auf oder wird die Bewegungshandlung unter ungünstigen Bedingun- gen ausgeführt, dann verschlechtert sich die Bewegungsausführung. In der zweiten Lernphase verbessert sich auch die Wahrnehmung der Bewegung. Während in der ersten Phase das Handlungsergebnis die dominierende Information bei der Bewe- gungsbewertung war, werden hier zunehmend Informationen über die Bewegungs- ausführung verarbeitet. Durch die im Lernverlauf größer werdende Bedeutung des kinästhetischen Analysators wird es dem Übenden zunehmend möglich, Bewe- gungsanteile wahrzunehmen und zu kontrollieren, die er nicht sehen kann (Mei- nel/Schnabel, 1987, S. 200-213). Die Aneignung der Tanzchoreographie kann auf- grund der zeitlichen Rahmenbedingungen diese Lernphase nicht überschreiten. Die zunehmende Orientierung auf den kinästhetischen Analysator ist für Hörgeschädigte wahrscheinlich aufgrund der Einschränkungen des auditiven und des verbalen Ana- lysators wichtig. Daher können in dieser Phase bei Hörgeschädigten größere Lern- fortschritte vermutet werden. Eine Untersuchung zu diesem Thema war in der Litera- tur nicht zu finden.

Die dritte Phase, oder Phase der variablen Verfügbarkeit, erreicht das Bewe- gungslernen dann, wenn eine Bewegung auch unter schwierigen Bedingungen noch ausgeführt werden kann. Alle Prozesse der Informationsaufnahme und –verarbeitung werden noch weiter verbessert und es wird immer weniger notwendig, dass der Ler- nende seine bewusste Aufmerksamkeit auf die Bewegung richtet (Meinel/Schnabel, 1987, S.217-227).

Zusammenfassend ist Bewegungslernen notwendig für die motorische Ontoge- nese. Es wird in Lernphasen eingeteilt, die fließend in einander übergehen. In allen Lernphasen werden Rückinformationen über die Bewegungsausführung für die Be- wegungssteuerung bzw. für das Bewegungslernen benötigt. Diese Rückinformatio nen stehen dem Lernenden durch eigene Sinnesafferenzen und durch verbale Rückmeldungen des Lehrers zur Verfügung. Menschen mit Hörschädigungen sind demzufolge beim Lernen bestimmter Bewegungen benachteiligt, weil ihnen akusti- sche Informationen zur Afferenzsynthese und teilweise auch verbale Informationen zur Bewegungskorrektur fehlen. Gerade im Tanz, dessen Wichtigkeit für die soziale und motorische Entwicklung eingangs begründet wurde, sind akustische Informatio- nen von zentraler Bedeutung. Daher werden im Folgenden Kapitel die Funktionswei- se, die Wirkungszusammenhänge und mögliche Fehlfunktionen der auditiven Wahr- nehmung vorgestellt, um ein Abschätzen der Konsequenzen einer Hörschädigung für das motorische Lernen und die motorische Entwicklung zu ermöglichen.

3 Auditive Wahrnehmung

Die auditive Wahrnehmung besitzt im täglichen Leben von Menschen eine Viel- zahl an Funktionen. Eitner nennt die Informations-, Wahrnehmungs-, Alarmierungs-, Aktivierungs-, Orientierungs-, Kommunikations- und die soziale und emotionale Wahrnehmungsfunktion des Hörens (nach Große, 2001, S. 50). Wie im letzten Kapi- tel gesehen, besitzt die auditive Wahrnehmung auch eine große Bedeutung für das Erlernen bestimmter Bewegungen, insbesondere im Tanz.

Im Folgenden sollen daher zuerst die Physiologie des auditiven (Kapitel 3.1) und später des vestibulären Sinnes (Kapitel 3.3) und die Prozesse der auditiven Da- tenverarbeitung (Kapitel 3.2) näher betrachtet werden. So soll eine Grundlage ge- schaffen werden, mögliche Fehlfunktionen des auditiven und vestibulären Apparates und ihre direkten Auswirkungen besser zu verstehen. Anschließend (Kapitel 3.4) werden die Arten von Hörschädigungen und ihre primären und sekundären Folgen, sowie Kompensationsmethoden, vorgestellt. Dies soll ein besseres Verständnis für die Heterogenität und die Bedürfnisse dieser Gruppe vermitteln. Die Wahrneh- mungsveränderungen, die mit einer Hörschädigung einhergehen, sind für die Bewe- gungsvermittlung, sowie für die Auswahl der Musik wichtig. Zuletzt (Kapitel 3.4.5) werden bereits vorhandene Therapiekonzepte für die Folgen von Hörschäden und ihre Wirkungen vorgestellt, damit die in Kapitel 4 dieser Arbeit beschriebene neue Interventionsmethode in Beziehung zu bereits bekannten Konzepten gesetzt werden kann.

3.1 Physiologie der auditiven Wahrnehmung

Schall entsteht durch Bewegungen fester Körper, die Schwingungen auf das umgebende Medium, z.B. Luft, übertragen, die sich dann als wellenförmige Druck- veränderungen des Mediums ausbreiten (Schick, 1990, S.3). Diese Schallwellen können vom Menschen wahrgenommen werden, wenn sie das entsprechende Sin- nesorgan, das Ohr, erreichen (Heldmann, 1994, S.2). Die Luftdruckschwingungen übertragen sich auf das Trommelfell. Laute Geräusche bedeuten dabei eine hohe Schwingungsamplitude, während leise Geräusche nahe der Hörschwelle das Trom- melfell um weniger als den Durchmesser eines Wasserstoffatoms bewegen (Plack, 2004, S.5-6). Die Schwingungen des Trommelfells werden über drei kleine Knochen, Hammer, Amboss und Steigbügel, zum ovalen Fenster der Cochlea (Schnecke) ge leitet, wo sie auf die Flüssigkeit in der Cochlea übertragen werden (Abb. 5). Bei ho- hen Schalldrücken spannt ein Muskel das Trommelfell und kippt damit den Steigbü- gel vom ovalen Fenster weg. Auf diese Weise kann der Schalldruck im Mittelohr um bis zu 30db reduziert werden (Wichmann, 2005, S.28).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5: Bau des menschlichen Ohres. (Infrasonics, 2006, „Cochlea“ nachträglich eingefügt)

Die Cochlea ist der innere Teil des Ohres und für die Umwandlung mechani- scher Schwingungen in Nervenimpulse zuständig. Sie ist schneckenförmig und wird zur Spitze (Apex) hin allmählich schmaler, wodurch jeder Abschnitt eine andere Re- sonanzfrequenz hat. An der Stelle, die dieselbe Resonanzfrequenz wie das ankom- mende Schallsignal hat, verstärkt sich die Schwingung und bewirkt Relativbewegun- gen zwischen der Tektorial- und der Basilarmembran (Abb. 6). Dadurch werden feine Sinneshärchen, die Stereozilien, in Bewegung gesetzt, an deren Wurzel Rezeptoren die Bewegungen in Aktionspotenziale des Hörnervs umwandeln. Je lauter das Schallereignis dabei ist, desto höher ist die Frequenz der den Hörnerv entlanglau- fenden Aktionspotenziale.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6: Querschnitt durch einen Abschnitt der Cochlea (Wichmann, 2005, S.30)

Neben dieser Möglichkeit, die Stereozilien durch Luftschall in Bewegung zu ver- setzen, ist seit dem 19.Jahrhundert die Möglichkeit bekannt, dass sich der Schall durch den Schädel zu den Sinneszellen ausbreitet. Der Schädel schwingt dabei wie eine dünne Sphäre je nach Frequenz in verschiedenen Schwingungsmodi (Sten- felt/Goode, 2005, S.1252). Der Schall dringt gleichzeitig auf verschiedenen Wegen zum Ohr. Er breitet sich in den externen Ohrkanal aus, versetzt die Mittelohrknöchel- chen, die Cochleaflüssigkeit und die Wände der Cochlea, sowie die Zerebrospi- nalflüssigkeit in Schwingung (Stenfelt/Goode, 2005, S.1245). Auf diese Weise kön- nen durch mechanische Vibrationen des Schädelknochens, selbst bei einem zerstör- ten Mittelohr, die Rezeptoren der Stereozilien gereizt werden und Aktionspotenziale im Hörnerv entstehen. Die Knochenleitung überträgt durch die Schwingungseigen- schaften des Schädels hohe Frequenzen besser. Insgesamt ist die Knochenleitung jedoch um 40db leiser als das normale Hören (Shibata, 2001).

Unabhängig davon, ob die Stereozilien durch Knochenleitung oder durch Luft- schall gereizt wurden, laufen diese Aktionspotenziale den Hörnerv entlang über den Nucleus cochlearis und verschiedene andere Zentren, wie dem Olivenkern zum audi- torischen Kortex. Dabei gelangt die Information beider Ohren in beide Gehirnhälften.

Mariauzouls (2005, S.6) vermutet auch eine Beteiligung des Hippocampus und des limbischen Systems an der auditiven Informationsverarbeitung. Kemp und Kaada (1975, S.323-342) nehmen an, dass der Hippocampus entweder eine Art Filter für jene sensorischen Informationen ist, die ins Bewusstsein gelangen oder dass dort die Synthese verschiedener Afferenzen für die Orientierung im Raum abläuft. Eine Betei- ligung des limbischen Systems an der auditiven Verarbeitung ist plausibel, weil nach Marieb (1999, S.452-453) das limbische System für die Steuerung von Emotionen verantwortlich ist und weil diverse direkte Verbindungen zwischen Emotionen und Hören gefunden wurden. So kann Hören Emotionen auslösen, was sich unter ande- rem in einer Erhöhung des Muskeltonusses beim Hören von Geräuschen widerspie- gelt. Zusätzlich beeinflusst es Augen, Kopf- und Nackenbewegungen (Lindner, 1987, S. 7), was für einen Zusammenhang zwischen Hören und Raumwahrnehmung spricht.

3.2 Informationsverarbeitung der auditiven Wahrnehmung

Hörschädigungen können nicht nur aufgrund von Fehlfunktionen im Ohr entste- hen, sondern ihre Ursache auch in der Weiterverarbeitung der Sinnesreize haben. In einem solchen Fall spricht man von einer zentralauditiven Störung. Weil aber auch Schädigungen am Ohr Geräuschempfindungen verzerren und so deren Verarbeitung erschweren können, ist eine Betrachtung dieser zentralnervösen Verarbeitungspro- zesse notwendig. Im folgenden Kapitel sollen deshalb die Verarbeitung auditiver In- formationen und dabei wirkende Gestaltprinzipien dargestellt werden. So können mögliche Deutungsunterschiede bei der Musikwahrnehmung zwischen Individuen, sowie zwischen normalsinnigen und hörgeschädigten Menschen, aufgedeckt wer- den. Auch die Auswahl geeigneter Musik setzt ein Verständnis der auditiven und der Musikverarbeitung voraus, denn die Musik muss leicht wahrnehmbar sein und die bewegungsrelevanten Merkmale sollten in leicht verständlicher Form enthalten sein.

Es soll im folgenden Kapitel außerdem klar werden, dass die Musikwahrneh- mung und –verarbeitung keineswegs eine unveränderliche Größe ist, sondern dass sie sich in der Individualentwicklung verändert. Weil die Probanden des in dieser Ar- beit vorgestellten Experiments ein Alter zwischen 7 und 10 Jahren haben, hat die Ontogenese der Musikwahrnehmung einen Einfluss auf ihre Möglichkeiten relevante Merkmale aus der Musik zu extrahieren und motorisch umzusetzen. Zum Beispiel die Erkennung und der Nachvollzug von Rhythmen sind in dieser Phase von Entwick- lungsprozessen geprägt. Dies ist besonders für Tanzprojekte, wie dem in dieser Ar- beite beschriebenen wichtig. Als letztes soll in diesem Abschnitt auf interkulturelle Gemeinsamkeiten und kulturelle Einflüsse auf Musik eingegangen werden. Auf diese Weise können etwaige Unterschiede zwischen der Musikkultur der Hörgeschädigten und der Musikkultur Normalsinniger und ihre Auswirkungen auf Motivation und Mu- sikverständnis eingegrenzt werden.

Im letzten Kapitel (3.1) wurde die Umwandlung von Schallwellen in Aktionspo- tenziale besprochen. Nachdem die Aktionspotenziale des Hörnervs die entsprechen- den Zentren des Gehirns erreicht haben, werden die Signale weiterverarbeitet. Die Schwierigkeiten, die mit der Verarbeitung auditiver Informationen einhergehen, wer- den oft unterschätzt. Es ist beispielsweise schwer zu erklären, wie ein Kind die Stimme der Mutter nachahmen kann, ohne zu Versuchen außerdem das Quietschen seiner Wiege zu kopieren. Anhand welcher Kriterien unterscheidet das Kind, welche Teile der ankommenden Welle zur Mutter gehören und welche zur Wiege oder ande- ren Nebengeräuschen? Bregman (1994, S.5-6) vergleicht den Vorgang der auditiven Datenverarbeitung mit zwei parallelen Kanälen an der Seite eines Sees (einige Fuß lang, einige Zoll breit und einige Fuß von einander entfernt). In Analogie zu den Phä- nomenen des Hörens soll nun an den Bewegungen zweier Taschentücher, die am Ende der beiden Kanäle ins Wasser hängen, abgelesen werden, wie viele Boote auf dem See sind, wo sie sich befinden, welche Größe sie haben und ob Wind über das Wasser bläst. Es scheint unmöglich dieses Problem zu lösen, obwohl es direkt ana- log zu normalen Prozessen der auditiven Wahrnehmung ist.

Um das Problem der Zuordnung von Geräuschen zu Schallquellen zu lösen, nutzen Menschen Konstanzgesetze, die den psychologischen Konstanzgesetzen der visuellen Wahrnehmung ähnlich sind. Mit Hilfe dieser Konstanzgesetze wird die Schallwelle in Anteile zerlegt, welchen dann Zusammengehörigkeiten zu verschiede- nen Schallereignissen zugeordnet werden. Diese Zusammengehörigkeiten werden bei Bregman Streams genannt. Ein Stream bezeichnet alle Geräusche (oder alle An- teile der durch die Ohren aufgenommenen Welle), die zum selben Ereignis gehören (Bregman, 1994, S.665). Ereignisse können gleichzeitig oder nacheinander ablaufen. Es können auch dieselben Geräusche mehreren Streams zugeordnet werden, weil die Einteilung der Schallwelle manchmal nur schwer eindeutig möglich ist. Ein Stream ist für das Hören dasselbe, wie Objekte für das Sehen (Bregman, 1994, S.10). Die Zuordnung in Streams geschieht noch vor dem Aufmerksamkeitsfilter, da erst durch diese Zuordnung mehrere Schallobjekte vorhanden sind, denen Aufmerk- samkeit zugeteilt werden kann (Bregman, 1994, S.450).

Eine Methode, die diese Zuordnung in Streams unterstützt, ist das Richtungshö- ren. Aus der Zeitdifferenz des Auftreffens eines Schallereignisses auf beiden Ohren kann die Richtung eines Geräusches auf der transversalen Ebene lokalisiert werden. Durch die Form der Ohrmuscheln wird die Frequenzzusammensetzung des Schalls verändert. Geräusche, die von oben (superior) kommen, klingen heller, während Ge- räusche von unten (inferior) dunkler klingen. Auf diese Weise kann die Herkunftsrich- tung von Geräuschen relativ zum Körper bestimmt werden (Wichmann, 2005, S.46- 51 und Mariauzouls, 2005, S.15). Geräusche, die zu demselben Stream, bzw. Ereig- nis, gehören, ändern ihre Richtung langsam, sind kontinuierlich, beginnen und enden gleichzeitig, oder werden anhand von Vorwissen identifiziert (Bregman, 1994, S.665). Das Vorwissen führt zum Beispiel dazu, dass die Stimme eines Freundes unabhän- gig von der Räumlichkeit oder einer Übertragung durch das Telefon immer gleich klingt, beziehungsweise wiedererkannt wird (Bregman, 1994, S.2). Auch zeitliche Nähe von Geräuschen und Tonhöhenähnlichkeit, sowie die Kontinuität von Geräu- schen, die durch Störungen unterbrochen wurden, bewirkt eine Zuordnung zu dem- selben Stream. Nach dieser Zerlegung in Streams ist es durch die Aufmerksamkeits- steuerung nur möglich, einen einzelnen Stream zu fokussieren. Diese Einteilung ist jedoch nicht immer eindeutig. Gleiche Klänge können auf verschiedene Weisen zerlegt werden. Die Tonfolge W væ æ†WU v kann entweder, wie im Notenbeispiel angedeutet, als zwei Streams aufgefasst werden, oder sie kann als ein Stream mit einem komplexeren Klang W væ æWU v erkannt werden. Diese Mehrdeutigkeit wird in der Musik genutzt. Die auditive Wahrnehmung wird gelenkt und überlistet (Bregman, 1994, S. 674). Bei zentralauditiven Hörschädigungen liegt keine organische Störung des Oh- res, sondern ein Defekt in diesen oder höherstufigen Verarbeitungsprozessen vor.

[...]

Ende der Leseprobe aus 121 Seiten

Details

Titel
Die Erfahrung von Musik und Tanz als Mittel zur Verbesserung der koordinativen Fähigkeiten bei hörgeschädigten Schülern
Hochschule
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg  (Institut für Sportwissenschaft)
Note
1
Autor
Jahr
2006
Seiten
121
Katalognummer
V122623
ISBN (eBook)
9783640279180
ISBN (Buch)
9783640283033
Dateigröße
1886 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wirkung, Interventionskonzeptes, Ausprägung, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Schülern, Schülerinnen
Arbeit zitieren
Franz Wegener (Autor:in), 2006, Die Erfahrung von Musik und Tanz als Mittel zur Verbesserung der koordinativen Fähigkeiten bei hörgeschädigten Schülern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122623

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