Widerstand und Alltagskultur im postkolonialen Staat


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Widerstand – theoretische Diskussion und Kritikpunkte

3. Widerstand und Gouvernementalität – Fallbeispiele aus Indien und Australien
3.1 Foucaults Theorie der Gouvernementalität
3.2 Fallbeispiel Indien: Formen des Widerstandes gegen das Integrated Child Development Services Programm
3.3 Fallbeispiel Australien: Formen des Widerstandes der Dhan-gadi Aborigines gegen den australischen Staat
3.4 Analyse der Fallbeispiele

4. Schluss

5. Literatur

1. Einleitung

Widerstand – wohl jeder denkt bei diesem Wort unmittelbar an bedeutende Symbolfiguren von Widerstandsbewegungen des vergangenen Jahrhunderts: Mahatma Gandhi in Indien, Nelson Mandela in Südafrika, Martin Luther King und Malcolm X in den USA, Che Guevara in Kuba oder die Geschwister Scholl in Deutschland. Ihnen allen gelang es, in ihrer Position als charismatische Führer, die breite Masse der Unterdrückten zu vereinen, und so den Kampf gegen ungleiche Herrschaftsstrukturen und Machtverhältnisse aufzunehmen. Aufgrund ihrer Erfolge werden sie noch heute als Gallionsfiguren des Widerstands geachtet und verehrt.

Diese Arbeit beschäftigt sich ebenfalls mit Widerstand, die berühmten, soeben genannten Namen, werden dabei jedoch keine Rolle spielen. Dieser Aufsatz handelt von den tausenden namenlosen Helden des Alltags, die durch ihren täglichen, subtilen Widerstand einen großen Beitrag für den Wandel postkolonialer Machtstrukturen leisten, obwohl sie nur äußerst selten in kollektiven Bewegungen organisiert sind.

Ziel dieser Arbeit wird es sein, die „Kunst des Widerstandes“ (Scott 1990) in ihren vielfältigen Facetten zu verdeutlichen, stets mit der Frage im Hinterkopf, welchen Einfluss die besondere Situation des postkolonialen Staates auf die Form des Widerstandes hat.

Nach einer ausführlichen Annäherung an die theoretische Diskussion bezüglich Widerstand werde ich anhand von Foucaults Konzept der Gouvernementalität die Besonderheiten des alltäglichen Widerstandes an zwei Beispielen aus Indien und Australien verdeutlichen. In beide Betrachtungen wird auch stets die Imagination des Staates durch die subalterne Gesellschaft einfließen, da sich bestimmte Verhaltensweisen und Formen des Widerstands nur so erklären lassen. Abschließend werde ich in einer vergleichenden Analyse der Fallbeispiele auf eventuelle Ähnlichkeiten und Abweichungen im Verhalten eingehen.

Zunächst jedoch müssen wir uns einen Überblick über die theoretische Diskussion zum Thema Widerstand verschaffen, wobei ich auch auf Probleme der Konzepte zu sprechen kommen werde.

2. Widerstand – theoretische Diskussion und Kritikpunkte

Dieses Kapitel widmet sich der theoretischen Diskussion des Konzeptes Widerstand. Dabei werden wir auf Fragen wie Was ist Widerstand? Wie lässt sich Widerstand untersuchen? Was sind die Ursachen von Widerstand? stoßen. Darüber hinaus werden wir uns auch Gedanken über die Personengruppe, die Widerstand leistet, machen müssen.

Im Zentrum dieser Arbeit stehen Subalterne, also zum Beispiel Bauern und Indigenen im postkolonialen Staat. Wir dürfen also keine formalen, politischen Aktivitäten in Form von organisierten Widerstandsbewegungen erwarten. Diese sind vor allem der Mittelklasse und dem Bildungsbürgertum vorbehalten (Scott 1985:xv). Aufgrund einer meist fehlenden kollektiven Organisation der Subalternen wird ihnen schnell auch eine Unfähigkeit zum politischen Widerstand unterstellt. Wie wir jedoch sehen werden, sind die alltäglichen, subtilen Formen des Widerstands, wie zum Beispiel das Stehlen von Essen, Sabotage oder Falschaussagen, auf Dauer sehr effektiv und bedeutsam (Scott 1985:xvi). „...likewise it was the unarticulated, unorganized protest and resistance which the employers and the state found most difficult to detect or suppress.” (Onselen zit nach Cohen 1980:11). Diese Arten des subtilen Widerstands, auf die ich im Folgenden noch genauer zu sprechen kommen werde, bedürfen nur wenig Koordination, machen von informellen Netzwerken Gebrauch und stellen eine Form der individuellen Selbsthilfe dar, die eine direkte Konfrontation mit den Autoritäten des Staates vermeidet (Scott 1985:xvi), und gleichzeitig seine Prämissen untergräbt.

Bevor ich diesen Punkt jedoch weiter verfolgen werde, sollten wir uns zunächst um eine Definition von Widerstand bemühen. Widerstand stellte noch vor einiger Zeit eine relativ eindeutige Kategorie dar, indem man ihn in Opposition zur Dominanz betrachtete: Dominanz als feste, institutionalisierte Form der Macht, Widerstand als organisierte Opposition gegen diese institutionalisierte Form der Macht (Ortner 1995:174). Die Arbeiten von Foucault und Scott stellten diese einfachen Definitionen von Widerstand und Dominanz jedoch in Frage. So schenkte Foucault den weniger institutionalisierten, alltäglicheren Formen der Macht größere Aufmerksamkeit, und Scott richtete sein Augenmerk auf weniger organisierte, alltägliche Formen des Widerstands (Ortner 1995:175). Widerstand als anthropologische Universalie – „Where there is power, there is resistance.“ (Foucault zit. nach Hansen 2001:32) – wurde durch Scott und Foucault somit eine sehr weit gefasste Kategorie: „What one finds now is a concern with unlikely forms of resistance, subversions rather than largescale collective insurrection, small and local resistance not tied to the overthrow of systems or even to ideologies of emancipation.” (Abu-Lughod 1990:41). Immer häufiger wird nun jedoch darüber diskutiert, was denn nun Widerstand ist. Dies hat zur Entstehung einer Dichotomie zwischen „richtigem“ Widerstand und epiphänomenalen, zufälligen Aktivitäten beigetragen. „Richtiger“ Widerstand ist in den meisten Augen organisiert, systematisch und kooperativ. Darüber hinaus ist er an höheren Prinzipien orientiert, selbstlos und führt zu revolutionären Konsequenzen. Außerdem verkörpert er Ideen und Intentionen, die die Basis der Dominanz selbst verneinen. Diesem „richtigen“ Widerstand stehen zufällige Aktivitäten gegenüber, die im Gegensatz zur kollektiven Bewegung von Individuen ausgeführt werden. Die Aktivitäten sind unorganisiert und unsystematisch, opportunistisch sowie ohne revolutionäre Konsequenzen. Darüber hinaus beinhalten sie in ihrer Intention oder Bedeutung stets eine Anpassung an das Herrschaftssystem (Scott 1985:292). Man begeht Scott (Scott 1985:295) zufolge jedoch einen großen Fehler, wenn man nur erstere Formen als Kennzeichen des Widerstandes interpretiert. Somit verkenne man die Grundlagen des täglich stattfindenden politischen und ökonomischen Kampfes völlig. Scott schlägt daher folgende Definition von Widerstand vor:

„... class resistance includes any act(s) by member(s) of a subordinate class that is or are intended either to mitigate or deny claims (for example, rents, taxes, prestige) made an that class by superordinate classes (for example, landlords, large farmers, the state) or to advance its own claims (for example, work, land, charity, respect) vis-à-vis those superordinate classes.” (Scott 1985:290 kursive Wörter im Original).

Dieser Definition würde sich wohl auch Cohen (1980:12) anschließen, der in seiner Arbeit versteckte und sichtbare Formen des Widerstandes afrikanischer Arbeiter gegen die fortschreitende Inkorporation in den Kapitalismus untersucht. Seine Arbeit zeichnet ein umfassendes Bild der afrikanischen Arbeiterkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und veranschaulicht die drastischen Auswirkungen subtiler Widerstandsformen wie das langsame und fehlerhafte Arbeiten, Diebstahl und Sabotage, sowie die Schaffung einer eigenen „Arbeitskultur“. Durch die gewollte Verlangsamung von Produktionsprozessen gewinnen die Arbeiter an Macht über ihre Vorgesetzten, welche auf ihre Kooperation angewiesen sind. So konnten zum Beispiel höhere Lohnforderungen seitens der Arbeiter durchgesetzt werden. Als ein beliebtes Mittel hierfür diente häufig auch die Flucht aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis. Cohen (1980:13) nennt hier als Beispiel den Bau der Eisenbahn in Kenya zu Kolonialzeiten. Aufgrund fehlender Arbeitsverträge verschwanden immer wieder ganze Gruppen von Männern von heute auf morgen von ihrem Arbeitsplatz. Durch dieses Druckmittel waren die Arbeitgeber gezwungen, sie durch höhere Löhne und gerechtere Behandlung an ihren Arbeitsplatz zu binden. Nur so konnten die Kolonialherren ihre ehrgeizigen Ziele auf Dauer weiterverfolgen und verwirklichen. Als weitere Form des Widerstandes nennt Cohen (1980:14) Umsiedelungen in entfernte Gebiete, wie zum Beispiel die Kalahari Wüste, um sich der Autorität des Kolonialstaates zu entziehen. Durch die Entstehung einer eigenen Arbeitskultur, welche er am Beispiel namibianischer Minenarbeiter beschreibt, wurde eine soziale Distanz zwischen den Managern und Arbeitern geschaffen. Diese Arbeitskultur beinhaltete Insider-Witze, Tänze, Arbeiterlieder (ähnlich wie die Gospel Songs der afrikanischen Sklaven in den USA), Trinkgewohnheiten sowie geheime linguistische Codes. Cohen berichtet von Arbeitern, die mehrere Namen hatten, darunter meist auch einen „weißen“, da ihr Geburtsname für die Kolonialherren häufig nicht auszusprechen war. Diese verschiedenen Namen dienten zum einen der Wahrung der Anonymität des Arbeiters, trugen zum anderen auch zu erheblichen, von den Arbeitern bewusst implizierten Verwirrungen bei. Wurde somit ein Arbeiter beschuldigt, konnte sich dieser plötzlich nicht mehr erinnern, dass er auch unter diesem Namen bekannt ist und berief sich auf seinen Geburtsnamen. Somit wurde ein Schuldiger in vielen Fällen meistens nicht ermittelt (Cohen 1990:17).

Kommen wir jedoch nochmals auf Scotts Definition von Widerstand zu sprechen, in welcher er folgende Vorteile sieht: (1) liegt der Fokus auf der materiellen Basis von Klassenbeziehungen und des Klassenkampfs, (2) beinhaltet sie sowohl individuelle als auch kollektive Arten des Widerstandes, und schließt somit (3) auch ideologischen Widerstand nicht aus. Darüber hinaus geht sie von (4) unterschiedlichen Standards von Gleichheit und Gerechtigkeit aus, und legt (5) ihren Fokus auf die Intention statt auf die Konsequenz der Handlung (Scott 1985:290).

An dieser Stelle muss das Problem der hinter dem Widerstand stehenden Intention angesprochen werden. Häufig ist tatsächlich eine Intention hinter bestimmten Akten des Widerstandes erkennbar. Besteht man aus definitorischen Gründen jedoch auf deren unbedingte Existenz, ergeben sich Scott zufolge erhebliche Probleme, und viele Aktivitäten sind nicht mehr als Widerstand interpretierbar, obwohl es sich tatsächlich um eben diesen handelt. Scott (1985:290) nennt hier das Beispiel eines armen Mannes aus Sedaka, der seinem Herren einen Sack Reis klaut. Handelt es sich dabei nun um einen einfachen Diebstahl oder um einen Akt des Widerstandes? Beharren wir auf eine dahinterstehende Intention, wird es in solchen Fällen stets schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, Beweise für diese zu finden.

Bleiben wir noch für einen Moment beim Diebstahl, welchen Scott als „low intensity resistance“ beschreiben würde, der „far removed from formal politics and organized opposition“ (Hansen 2001:33) stattfindet. Hansen gratuliert Scott zu seiner Sichtweise des „kleinen Widerstandes“, da so „primitive“ Revolten nicht länger als vorpolitische Stufen der Emanzipation im evolutionistischen Sinne interpretiert werden können. Anderersteits sieht er (wie auch Ortner 1995) in diesem Ansatz die Gefahr des Verschwimmens der Grenzen zwischen banaler Kriminalität und dem Widerstand gegen Autoritäten. Hansen ( 2001:33) zufolge muss jeder soziale Akt sehr wohl auf seine Intention hinterfragt werden, und darf nicht von vornherein als Widerstand gegen den Staat interpretiert werden. Scott würde dagegen wohl mit dem Element „Selbstinteresse“ argumentieren, welches vor allem beim Widerstand von Bauern eine enorme Bedeutung spielt. Unterschlägt ein Bauer zum Beispiel einen Teil der Ernte, ergeben sich daraus mehrere Implikationen. Zum einen haben er und seine Familie genug zu essen, und er muss außerdem weniger Steuern zahlen. Andererseits hat der den Staat zusätzlich um diese Steuereinnahmen, sowie den ihm zustehenden Teil der Ernte gebracht. Ein ähnliches Beispiel ist die Fahnenflucht: (1) rettet der Deserteur durch sein handeln sein eigenes Leben, und verwehrt sich (2) dem Staat als Kanonenfutter (Scott 1985:295). Schwierig ist jedoch stets die Beurteilung der Intention: Will der Bauer nur seine Familie gut ernähren, will er den Staat betrügen oder will er vielleicht sogar beides? Wenn letzteres der Fall ist, welche Intention soll dann stärker gewichtet werden, der Selbsterhaltungstrieb oder der Widerstand? Ich denke aufgrund dieser Verwirrungen verleiht Scott dem Aspekt der Intention keine allzu große Bedeutung, da man sich ansonsten schnell in einem Dickicht aus kaum noch zu beantwortenden Fragen befindet, welche vom Thema eher wegführen, anstatt konstruktiv zur Verdeutlichung beitragen. Dennoch sollte man sich durchaus nicht dazu hinreißen lassen, jeden sozialen Akt als Form des Widerstandes zu interpretieren. Scott sieht in der Unterschlagung der Ernte jedoch sehr wohl einen Akt des (unorganisierten) Widerstandes, der dem Bauern Vorteile, dem Staat hingegen Nachteile verschafft, ganz egal, welche Intention nun dahinter steckt. Solange es sich dabei um einzelne Aktionen handelt, wird ihnen wohl kaum Interesse entgegengebracht werden, entwickelt sich daraus jedoch charakteristische Merkmale in weiten Teilen der Gesellschaft, muss laut Scott (1985:296) unbedingt von Widerstand gesprochen werden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Widerstand und Alltagskultur im postkolonialen Staat
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Völkerkunde und Afrikanistik)
Veranstaltung
Postkolonialer Staat und Lokalkultur
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V122428
ISBN (eBook)
9783640276608
ISBN (Buch)
9783640282548
Dateigröße
465 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Widerstand, Alltagskultur, Kultur, Postkolonialismus, Postkolonialer Staat, Gouvernementalität
Arbeit zitieren
Alexandra Mörz (Autor:in), 2004, Widerstand und Alltagskultur im postkolonialen Staat, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122428

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