Wie Grundschulkinder einen Erzählrahmen als Schreibimpuls nutzen

Die Geschichte vom Lieblingsbuch


Examensarbeit, 2007

153 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. EINLEITUNG

2. KINDER SCHREIBEN EIGENE TEXTE
2.1 HISTORISCHER ÜBERBLICK
2.1.1 Aufstieg und Verfall poetisch-produktiver Arbeiten im Schreibunterricht
2.1.2 Die Entstehung des freien Aufsatzes
2.1.3 Der freie Aufsatz in der Reformpädagogik
2.1.4 Der Aufsatzunterricht nach 1945
2.2 DIE BEGRIFFE FREIES SCHREIBEN UND KREATIVES SCHREIBEN
2.3 BEDEUTUNG DES KREATIVEN SCHREIBENS
2.3.1 Schriftsprache – ein Kulturgut
2.3.1.1 Wichtige Funktionen von Sprache
2.3.1.2 Die kulturelle und individuelle Bedeutung der Schriftsprache
2.3.2 Eigene Texte – Spiegelbild eigener Gedanken, Erfahrungen und Erinnerungen
2.3.3 Der persönliche Wert von Kindertexten
2.4 IMPULSE ZUM KREATIVEN SCHREIBEN
2.4.1 Wahrnehmung und Erfahrung als Voraussetzung kreativer Schreibprozesse
2.4.1.1 Ästhetische Erfahrung im Kontext kreativer Tätigkeiten
2.4.1.2 Ästhetische Erfahrung im Kontext kindlicher Bildung
2.4.1.3 Zehn Thesen zu einer basalen ästhetischen Bildung nach Schäfer
2.4.2 Schreibimpulse als auslösendes Moment
2.4.3 Möglichkeiten der Schreibanregung

3. EIN SCHREIBAUFRUF VON E.M. KOHL: DAS LIEBLINGSBUCH
3.1 VORBEMERKUNGEN ZUM SCHREIBAUFRUF
3.2 DER SCHREIBAUFRUF
3.3 UNTERSUCHUNG UND EINORDNUNG DES SCHREIBIMPULSES
3.3.1 Der Erzählrahmen im theoretischen Kontext
3.3.2 Zusammenfassende Analyse des Schreibaufrufes

4. ANALYSE DER KINDERTEXTE ZUM SCHREIBAUFRUF
4.1 EINLEITENDE BEMERKUNGEN
4.2 AUSWERTUNG UND ANALYSE DER KINDERTEXTE
4.2.1 Kriterien und Kategorien der Textauswertung
4.2.2 Quantitative Tendenzen der untersuchten Texte
4.2.3 Weiterführende Interpretationen an ausgewählten Beispielen
4.3 ZUSAMMENFASSUNG DER KINDERTEXTANALYSE

5. SCHLUSSBETRACHTUNG

6. QUELLENVERZEICHNIS

7. MATERIALANHANG
7.1 EINZELAUSWERTUNG DER AUSGEWÄHLTEN KINDERTEXTE
7.2 ÜBERSICHT DER TEXTAUSWERTUNG
7.3 DIE EINGESANDTEN GESCHICHTEN DER KINDER

1. Einleitung

„Jetzt beginnt der Ernst des Lebens.“ Mit dieser zweifelhaften Aufmunterung wird vermutlich jeder ABC-Schütze seit Generationen begleitet und so stellt sich die Frage, was genau dieser angsteinflößende ‚Ernst des Lebens’ ist, der dort beginnt. Möglicherweise ist damit „die Vorbereitung auf die Wahrnehmung von Verantwortung, Rechten und Pflichten in Staat und Gesellschaft“[1] gemeint, die Schule laut ihres Erziehungs- und Bildungsauftrages zu leisten hat. Fest steht jedenfalls, dass die Kernaufgabe der Institution Schule die Erziehung mündiger Bürger[2] mit Ich-, Sach- und Sozialkompetenz ist und dass zu diesen Fertigkeiten u.a. Kommunikationsfähigkeit, Fachwissen, Selbständigkeit, Verantwortung oder Kreativität zählen.

Die Frage, wie diese Kompetenzen am besten vermittelt werden können, haben in den letzten Jahren, nicht zuletzt wegen der teilweise vernichtenden Bilanz internationaler Vergleichsstudien, zu angeregten Kontroversen in deutschen Kultusministerien, Hochschulen und Lehrerkollegien geführt, die auch aufgrund einer ausführlichen Medienbegleitung in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ausgetragen wurden. Die Lösungsvorschläge sind dabei ebenso vielfältig wie konträr und führen in der öffentlichen Debatte nicht selten zur Kontrastierung des Konflikts ‚Kuschelpädagogik vs. strenge Unterrichtsführung’. In der anhaltenden Auseinandersetzung um Organisation, Inhalte und Instrumentarien der schulischen Bildung rückt aber das eigentliche Ziel, nämlich die Erziehung eines mündigen und kompetenten Bürgers im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, oftmals in den Hintergrund der Diskussionen. Diese Erziehung erfordert in hohem Maße Flexibilität und Kreativität, jene Eigenschaften, die heutzutage dem Leitbild gesellschaftlichen Erfolges entsprechen. Denn nur wer kreativ ist, vermag Probleme zu lösen und steigende Anforderungen zu bewältigen und ist somit in der Lage, sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten. Und gerade die mangelnde Kreativität vieler Schüler aus deutschen Bildungseinrichtungen wurde in den Vergleichsstudien beim Lösen von sogenannten Problemaufgaben offenkundig.

Die Grundschule als erste verpflichtende Bildungsinstanz trägt bei der Vermittlung der Grundfertigkeiten naturgemäß eine große Verantwortung und so ist es nicht verwunderlich, dass die meisten Reformbemühungen in diesem Bildungssektor initiiert werden. Dabei herrscht bei allen Differenzen hinsichtlich der Schulorganisation relative Einigkeit bezüglich einer fächerübergreifenden und ganzheitlichen Bildung, welche die Kinder in den Mittelpunkt pädagogischer Handlungen stellt. Damit rücken auch die Reformbemühungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder in den Fokus didaktischer Diskussionen. Trotz oder gerade wegen der fächerübergreifenden Ausrichtung der Grundschule hat der Deutschunterricht die zentrale Aufgabe, die grundlegenden Kulturtechniken Lesen und Schreiben zu vermitteln und damit „die entscheidenden Voraussetzungen für den Unterricht in allen anderen Fächern“ zu schaffen.[3]

Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, hat es in den vergangenen 30 Jahren entscheidende Veränderungen in der fachdidaktischen Forschung gegeben. Nicht nur die Art der Vermittlung von Lese- und Schreibprozessen war dabei von Interesse, sondern auch die Bedeutung der Schriftsprachlichkeit für die kindliche Entwicklung. Die Erkenntnis, dass selbstgeschriebene Texte einen wichtigen Beitrag zur Persönlich- keitsentwicklung und Selbstverwirklichung eines Kindes leisten, bestätigte die Kritiker traditioneller Aufsatzformen darin, ein freies und kreatives Schreiben bereits in der Grundschule zu postulieren. Neben verschiedenen schreibdidaktischen Konzepten des Anfangsunterrichts, wie sie u.a. von Jürgen Reichen, Ute Andresen oder Gudrun Spitta vorgelegt wurden, gibt es auch Versuche, die kindlichen Texte zu analysieren und somit ihre Bedeutung für die persönliche Entwicklung darzustellen, wie Untersuchungen von Charlotte Röhner oder Reinhard Fatke stellvertretend zeigen.

Die Abkehr vom normorientierten Interpretationsaufsatz erfolgt dennoch nur zögerlich, zu traditionell scheint die Ehrfurcht vor den literarischen Meisterwerken im Land der Dichter und Denker und so lässt man die Erben zahlreicher Nobelpreisträger immer noch vielfach lieber die Gedanken fremder Autoren wiedergeben als eigene Gedanken verfassen und reflektieren. Dabei ist das Schreiben nur eine weitere Ausdrucksmöglichkeit der individuellen Kreativität, die jedem Kinde schon lange vor Schuleintritt immanent ist und die es bereits in vielfältiger Form zu äußern imstande ist. Die Voraussetzung, kreative Texte zu verfassen, bringt also jedes Kind in die Schule mit, deren Aufgabe es daher sein muss, dem Schüler mit dem Schriftspracherwerb das notwendige Rüstzeug beizusteuern, um die schriftliche Äußerung zu ermöglichen.

Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen nun die kreativen Schreibprozesse von Grundschulkindern. Durch einen kurzen geschichtlichen Einblick soll zunächst die Chronologie der schreibdidaktischen Entwicklung in Deutschland nachvollzogen werden können. Dabei habe ich die Anfänge des Schreibunterrichts im späten Mittelalter, die wichtigen Epochen der ‚genialen’ Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts sowie der reformpädagogischen Ansätze zu Beginn des 20. Jahrhunderts und schließlich die aktuellen Entwicklungen der Schreibdidaktik punktuell herausgestellt. Aus letzteren ergibt sich dann auch der Versuch, die Begrifflichkeiten freies und kreatives Schreiben zu differenzieren.

Die Bedeutung des kreativen Schreibens, die ich schon kurz angedeutet habe, hat einen gewichtigen Stellenwert und wird dementsprechend ausführlich dargestellt. Zunächst soll geklärt werden, welche wichtigen Funktionen die Sprache allgemein für die Menschen hat und welche Dringlichkeit sich daraus aus kultureller und individueller Sicht für den Schriftspracherwerb ergibt. Die identitätsstiftende Bedeutung des Schreibens durch die mögliche Entäußerung innerer Welten im Kontext der ‚objektiven’ Außenwelt ist besonders für die Selbstverwirklichung des schreibenden Subjekts relevant und soll daher generell und anschließend speziell für Kinder untersucht werden, wobei der persönliche Wert von Kindertexten thematisiert wird.

Nach der Erörterung der materiellen Basis sollen die subjektiven Voraussetzungen kreativer Schreibprozesse dargestellt werden. Dabei gilt es, die Kausalität von Wahrnehmung, Erfahrung und Erinnerungen mit der Entstehung eigener Gedanken als Grundlage für identifizierende Schreibprozesse zu erläutern. In diesem Zusammenhang erscheint es mir wichtig, der exponierten Stellung ästhetischer Erfahrung gerecht zu werden, weshalb ich versuche, diese aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten.

Die umfangreiche Bandbreite didaktisch-methodischer Schreibanregungen soll exemplarisch vorgestellt werden, um einen Eindruck der vielfältigen Möglichkeiten, Schreibprozesse bei Kindern zu initiieren, vermitteln zu können. Dabei werden auch die Wirkmechanismen der Schreibimpulse skizziert.

‚Das Lieblingsbuch’ bildet die Grundlage für den zweiten Teil meiner Arbeit. Dabei geht es nicht darum, ob jedes Kind ein Lieblingsbuch hat, sondern um den gleich- namigen Schreibaufruf von Eva Maria Kohl. Zunächst werden die Entstehung und der Schreibaufruf selbst vorgestellt. Anschließend werde ich den Schreibaufruf unter verschiedenen Gesichtspunkten analysieren. Dabei interessieren natürlich die Anknüpfungspunkte zu den theoretischen Betrachtungen des ersten Arbeitsteiles. Der Ausblick auf die resultierenden Texte der Grundschüler wird ebenfalls in diesem Zusammenhang erörtert. Mögliche inhaltliche und strukturelle Präferenzen der Kinder, die aus dem Schreibimpuls resultieren, werden als Thesen geschlussfolgert.

An stichprobenartig ausgewählten Texten von Kindern, die diesem Schreibaufruf gefolgt sind, sollen zum Einen die individuelle Bedeutung der Geschichten heraus- gearbeitet und zum Anderen die Nachhaltigkeit des Erzählrahmens überprüft werden. Die notwendigen Analysetechniken werden hierzu vorgestellt und die Texte nach diesen Vorgaben ausgewertet. Mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse kann schließlich auch eine mögliche Beziehung zum Schreibimpuls herausgearbeitet werden.

Zwei ausgesuchte Kindertexte habe ich anschließend weiterführend analysiert und versucht, anhand einer umfangreichen Interpretation die persönliche Bedeutung darzu- stellen. Die Zusammenfassung der Textanalyse dient der Überprüfung der aufgestellten Thesen, einer möglichen Revidierung und einer allgemeinen Schlussfolgerung.

Im Schlussteil meiner Ausführungen sollen die theoretischen und praktischen Erkenntnisse dieser Arbeit zusammengeführt und in einem persönlichen Fazit erläutert werden. Dabei ist auch zu klären, inwieweit die Ausgangsfragestellung beantwortet werden kann, d.h., in welcher Form der Erzählrahmen von Grundschulkindern als Schreibimpuls genutzt wird und welche möglichen Konsequenzen daraus für das kreative Schreiben von Grundschulkindern gezogen werden.

2. Kinder schreiben eigene Texte

2.1 Historischer Überblick

Das komische Fass

Einst lebte ein kleiner Sägefisch im Meer. Er hieß Pflupfi. Er schwamm einsam im Meer herum. Auf einmal traf er einen Hammerhai und einen Tintenfisch. Pflupfi fragte: „Wer seid ihr?“ Der Hammerhai sagte: „Ich bin Klugger und mein Freund Stackel.“ Stackel fragte: „Und wer bist du?“

„Ich bin Pflupfi.“ Zusammen schwammen sie weiter. Nach einer Weile entdeckten sie ein Fass. Sie schwammen näher. Auf einmal merkte Stackel, dass etwas auslief. Sofort schwammen sie nach Hause.

Pflupfi erzählte: „Als ich mit meinen Freunden draußen war, fanden wir ein Fass, aus dem etwas heraustropfte.“ Seine Mutter sagte: „Dann lass uns schnell dahin schwimmen.“ Als sie dort waren, schlief seine Mutter ein. „Ich glaube diese Flüssigkeit aus dem Fass lässt alle einschlafen“, sagte Klugger. Sofort holte Stackel sein Handy heraus und rief den Rettungsdienst an. Als dieser da war, warfen sie das Fass in eine Schlucht. Sobald das Fass weg war, wachten alle auf. Wieder zu Hause, erzählten sie von ihren Abenteuern. Ihre Eltern sagten, dass Pflupfi, Klugger, und Stackel richtige Abenteurer sind.

O[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], 4. Klasse[4]

Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Geschichte eines Grundschülers in der jüngeren Vergangenheit entstanden sein muss. Die Thematisierung des Umweltproblems und vor allem die schnelle Alarmierung des Rettungsdienstes per Handy sind deutliche Hinweise dafür. Den Schreibdidaktikern werden indes weitere Merkmale auffallen, die einen modernen Kindertext indizieren. Statt von Reproduktivität, Formalisierung und Normorientierung der traditionellen Aufsatzdidaktik geprägt zu sein, sind in dieser Geschichte sprachliche Selbstbestimmung und Kreativität erkennbar. Grundlage derartiger Kindertexte sind schreibdidaktische Konzepte, die heute als freies und kreatives Schreiben bezeichnet werden und sich in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelten. Bis zu diesem Zeitpunkt waren, abgesehen von Reformpädagogen, Didaktiker und Lehrkräfte zumeist der Ansicht, dass Schüler literarische Texte nur reproduzieren können und nicht in der Lage wären, eigene Gedanken in Schriftform zu verfassen.[5] Im Folgenden soll der Weg des deutschen Aufsatzes von seinen Anfängen im ausgehenden Mittelalter bis zu den schon erwähnten aktuellen didaktischen Schreibkonzepten skizziert werden, wobei Valentin Merkelbachs Abhandlung zur Geschichte des Kreativen im Aufsatzunterricht[6] als wesentliche Grundlage dient.

2.1.1 Aufstieg und Verfall poetisch-produktiver Arbeiten im Schreibunterricht

Das verstärkte Interesse des spätmittelalterlichen Bürgertums an Handel und Gewerbe sowie der ausgeweitete Binnenhandel in Deutschland erforderten auch eine intensivierte Korrespondenz in der Muttersprache. Die Ausbildung durch Latein- und Klosterschulen genügte diesen Ansprüchen nicht, so dass alternativ Deutsche Schulen oder Schreibschulen gegründet wurden. Da das Erlernen des geschäftlichen Briefverkehrs eine wichtige Forderung an diese Schulen war, entstand ein pragmatisch ausgerichtetes Curriculum, welches später auch den Schreibunterricht in der Volksschule, mit Ausnahme der reformpädagogischen Zeit, entscheidend prägte und damit auch fast bis zur Gegenwart in Grundzügen existierte.[7] Im Gegensatz dazu gelang es den höheren Schulen, neben den schriftlichen Gebrauchsformen, wie sie für die Geschäftskorrespondenz notwendig sind, auch rhetorische und philosophisch- ästhetische Schreibformen zu lehren.[8] Die in den Lateinschulen üblichen Stilübungen waren in den höheren Schulen von Anfang an verankert und wurden durch die deutsche Dichtung des 17. Jahrhunderts beflügelt. Der Pädagoge Christian Weise[9] war zu dieser Zeit sowohl theoretisch als auch praktisch ein besonderer Verfechter der deutschen Stilübungen und verfasste u.a. die „poetischen Exercitia“, die den kommunikativen Wert der Poesie „mit dem selbstverständlichen Respekt vor dem solide gefertigten Gelegenheitsgedicht des poetischen Dilettanten[10]“ herausstellten.[11] Die ‚Exercitien’ wurden ab der Mitte des 18. Jahrhunderts allerdings aus den Schulen verdrängt. Mit dem Aufstieg der als literarische Genies verehrten Dichter des Sturm und Drang begann der Abstieg der poetisch orientierten Aufsatzdidaktik. Dazu verbalisiert Merkelbach:

„Poesie war immer weniger auch zum Nachahmen und Selbermachen da und immer ausschließlicher Werk des begnadeten Dichters auf der einen und des stillen Lesers und Interpreten auf der anderen Seite.“[12]

Die zunehmend hohe Wertschätzung der Literaten veränderte den Deutschunterricht also nachhaltig. Außer den schulischen Stilübungen geriet auch das „tradierte Konzept einer praktischen Poetik und Rhetorik“[13] in Verruf, so dass die „poetischen Exercitien“ als Grundlage des Aufsatzunterrichts aufgegeben wurden. Statt wie bisher nur Stilmuster zu sein, sollte die deutsche Literatur nun hauptsächlich erzieherisch auf die Kinder wirken, eine Funktion, die dem Volksschulunterricht ohnehin inhärent war. In den Mittelpunkt literarischer Abhandlungen traten somit religiöse, moralische, sachliche oder nationale Momente.[14] Das bedeutete, die umfassende Interpretation von Texten, also die sprachliche, formale und inhaltliche Analyse, wurde zur natürlichen Basis für die gesamte Bildung hochstilisiert, was zur Folge hatte, dass der Aufsatz „seinen produktiv-poetischen Charakter zugunsten eines produktiv-philosophisch- hermeneutischen“[15] verlor, wie Merkelbach konstatiert. Grundlage für unterrichtliche Interpretationen sollte „gehaltvolle und eindringende Lectüre“ sein, so forderte es Robert Heinrich Hiecke[16] in seinem literaturdidaktischen Konzept. Im Übrigen ist der Interpretationsaufsatz wichtig scheinender Texte bis zur Gegenwart prägendes Merkmal des gymnasialen Literaturunterrichts, auch wenn das literarästhetische Schreiben heutzutage nicht völlig missachtet wird.

2.1.2 Die Entstehung des freien Aufsatzes

Die Beziehung zu fremden Texten und die Verwertung fremder Erfahrungen und Gedanken, wie sie in den höheren Schulen mit dem Einzug der Genie-Ästhetik Gymnasien. Ein pädagogischer Versuch, Leipzig 1842. Dieses Werk gilt als Programmschrift des neuen Literaturunterrichts, in dem Hiecke vor allem fordert, „das Beste, was die neue deutsche Literatur zu bieten hat“ als Grundlage für Schülerproduktionen zur Verfügung zu stellen. Merkelbach zitiert hier hauptsächlich von D. Boueke (Hrsg.): 1971. vordergründig wurden, waren in den Volksschulen, den Pflichtschulen des ‚niederen Volkes’, von jeher bestimmendes Attribut des Schreibunterrichts. Dabei spielten die Werke der großen deutschen Dichter, vor allem der revolutionären oder liberalen des 18. und 19. Jahrhunderts, keine Rolle, sondern vielmehr Texte zur moralischen und sachlichen Bildung,[17] womit auch offensichtlich ist, dass ästhetische Texte der Kinder, also das Verfassen eigener Gedanken und Gefühle, keine Bestandteile des Unterrichts waren. Das kritisierten zum Ende des 19. Jahrhunderts die Volksschullehrer zunehmend und prangerten den ‚gebundenen’ Aufsatz wegen der fehlenden kreativen Entfaltungsmöglichkeiten der Schüler an.

Bereits 1830 hatte sich Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg[18] um eine Verbesserung des Lese- und Aufsatzunterrichts bemüht, indem er u.a. propagierte, dass eine eigenständige Formulierung eines aufgegriffenen Gedankens das einzige Indiz für das Textverständnis sei.[19] Die eigenen Gedanken wie Diesterweg zur Basis eines jeden Aufsatzes zu erklären, war ein gänzlich neues Verständnis in der Schreibdidaktik. Derartig revolutionäre Vorstöße lösen oftmals zeitgenössische Kontroversen aus und so wurde auch Diesterwegs Forderung ambivalent betrachtet. Weil im damaligen Verständnis vieler Didaktiker „Kinder bis zum ‚vierzehnten Lebensjahr unreife Menschen’ seien und keine Gedanken hätten, ‚die sie geneigt wären, dem Papier anzuvertrauen’, müsse man ihnen dazu verhelfen.“[20] Gleichzeitig wurde Diesterwegs Ansatz zum Schreiben ‚ohne praktischen Nutzen’ als mögliches „Mittel zur Selbstverständigung“ quasi eliminiert, da der freie Aufsatz für die Volksschule irrelevant gewesen sei.[21] In anderen Publikationen dieser Zeit wurde die fehlende Notwendigkeit freier Gedankenäußerungen durch Angehörige ‚niederer Schichten’, also den Absolventen von Volksschulen, noch drastischer formuliert, was sicher auch durch die gesellschaftlichen Verhältnisse des ausgehenden 19. Jahrhunderts bedingt war.[22] Wie bereits erwähnt, wurden die entscheidenden Ansätze zur Entstehung des freien Aufsatzes folgerichtig aus dem Kreise der Volksschullehrer, die der konservativen Aufsatzform immer kritischer gegenüberstanden, angeregt und schließlich auch umgesetzt.

2.1.3 Der freie Aufsatz in der Reformpädagogik

Inhalte der reformpädagogischen Konzepte isoliert zu betrachten, träte dem Anspruch einer ganzheitlichen Bildung entgegen. Deshalb soll der Schreibunterricht als internalisierter Teil dieser Epoche betrachtet werden, deren Ursachen unter anderem ökonomische und ökologische Krisenerfahrungen im neugegründeten Nationalstaat waren. Der stürmisch vorantreibenden Industrialisierung war ein verminderter Bildungsanspruch involviert, der gerade von fortschrittlichen Pädagogen kritisch betrachtet wurde.[23] Die Erkenntnisse und Forderungen renommierter Didaktiker wie Comenius, Francke oder Diesterweg[24] aufgreifend, begann eine reformpädagogische Bewegung[25], die dem staatlichen Schulsystem entgegentrat, in welchem formale und starre Lehrpläne mit eiserner Härte und Disziplin durchgesetzt wurden und kindliche Kreativität nicht erwünscht war.[26]

Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass die verschiedenen Reformansätze dieser Zeit schwerlich subsumiert werden können. Zu differenziert waren die Ansichten der Protagonisten, ihre politischen Orientierungen, ihre sozialen Perspektiven oder ihre gesellschaftlichen Auffassungen. Die unterschiedlichen theoretischen Aspekte und praktischen Verwirklichungen sollen hier jedoch nicht weiter erläutert werden. Die homogene Grundidee der verschiedenen Strömungen war die Abkehr von der generalisierten Wissensvermittlung, von der strikten Trennung Schule – Leben. Stattdessen sollten die „schöpferischen Kräfte im Kinde“ gefördert werden.[27] Das heißt, Schüler sollten durch die Lehrer angeleitet werden, die Welt zu entdecken und somit einen Zusammenhang zum eigenen Leben herzustellen. Das formale Lernergebnis wurde also zu Gunsten eines Lernprozesses hintergründig, der in verschiedenen offenen Unterrichtsformen in den Mittelpunkt pädagogischer Arbeit trat.

In diesem Kontext muss auch der Schreibunterricht evaluiert werden. Ziel des Aufsatzschreibens musste es demnach sein, eigene Erfahrungen und Erlebnisse der Kinder reflektieren zu lassen, um individuelle Gedanken in schriftlicher oder auch mündlicher Form frei auszudrücken. Das sollte schließlich zur Herausbildung der Persönlichkeit führen. Dabei sollten die Lehrer nur noch eine helfende Rolle spielen. Otto Ludwig präzisiert diese wichtige Aufgabe des freien Schreibens zur Persönlichkeitsbildung in seinem Aufsatz über die Arbeitsschulen: „Durch Arbeit bildet sich eine Persönlichkeit. Schreiben ist Arbeit. Also ist Schreiben geeignet, freie, denkende und autonome Persönlichkeiten zu bilden.“[28] Intentionen der Gründungen von Arbeitsschulen waren die Weiterführung der Kunsterziehungsbewegung und Persönlichkeitspädagogik, zwei reformpädagogische Strömungen.

Als Konsequenz vieler Didaktiker resultierte die Propaganda des freien Aufsatzes. Die Schüler sollten selbst entscheiden, wann sie worüber in welcher Form schreiben, was in literarästhetischer Hinsicht die Rückkehr der poetischen Dilettanten[29] in die Schule bedeutete, ohne allerdings an literarische Texte anzuknüpfen. Nicht zuletzt im Fehlen literarischer Verbundenheit manifestierte sich die Diskrepanz zu einer Vielzahl von Aufsatzdidaktikern „gymnasialer Reserviertheit“.[30] Den Reformbemühungen standen aber auch sonst konservative Ansichten gegenüber, die nicht nur für den freien Aufsatz andauernde Kontroversen folgerten.

2.1.4 Der Aufsatzunterricht nach 1945

Ich verweise auf die einleitenden Worte im Abschnitt 2.1, in dem bereits erwähnt wurde, dass sich die aktuellen Konzepte des freien und kreativen Schreibens erst in den 1970er und 1980er Jahren gebildet haben und zwar aus der Kritik an der traditionellen Aufsatzdidaktik und unter Rückbesinnung auf die Reformpädagogen. Auf die Entwicklung während der NS-Zeit möchte ich nicht näher eingehen, da der Aufsatz- unterricht den allgemeinen Bildungs- und Erziehungszielen angepasst wurde, die im Nationalsozialismus zwangsläufig starken ideologischen Tendenzen unterworfen waren.[31]

Das bedeutet aber auch, dass die Ideen der Reformpädagogen im Unterricht über 40 Jahre weitgehend unberücksichtigt blieben.

Lediglich die Erlebnis- und Phantasiegeschichten zogen, wenngleich primär im Grundschulbereich, in die Curricula der Nachkriegszeit ein, was allerdings nichts an der Faktizität ändert, dass der freie Aufsatz der reformpädagogischen Ära keinen wesentlichen Einfluss auf den Deutschunterricht ausgeübt hat, wie Gundel Mattenklott feststellt.[32] Die „Synthese von freiem und literarischem Schreiben in einem Konzept kreativen Schreibens, in dem Freiheit und Bindung nicht mehr als Gegensatz begriffen werden“, müsse nach Merkelbachs Ansicht das Ziel modernen Aufsatzunterrichts sein und ist den Reformpädagogen bis 1933 nicht gelungen.[33] Aber auch die Kreativitätsforschung der 50er Jahre, neue Einsichten in die Sprachpsychologie und Entwicklungstheorie sowie außerschulische Schreibbegegnungen konnten lange Zeit nicht verhindern, dass Schreibunterricht „eine von vielen Schülern lustlos absolvierte Zwangsveranstaltung zur Herstellung von fast durchweg pragmatischen Texten“[34] geblieben ist. Erst in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erhöhte sich die Kritik an den tradierten Aufsatznormen, die schließlich zu einer schreibdidaktischen Neuorientierung führte.

2.2 Die Begriffe freies Schreiben und kreatives Schreiben

Wie bereits erwähnt, haben sich in den letzten 30 Jahren die Schwerpunkte der schreibdidaktischen Forschung deutlich verschoben. Dabei wurden die Lehrformen des traditionellen Schriftspracherwerbs zunehmend kritisch betrachtet und die Einsicht gewonnen, dass weder der Heterogenität der Schulkinder noch der entwicklungs- psychologischen Bedeutung der Schriftsprache angemessen Rechnung getragen wurde. Im Zuge eines notwendigen Paradigmenwechsels entstanden verschiedene Konzepte freien und kreativen Schreibens. Der Versuch, diese beiden Begriffe voneinander abzugrenzen und zu definieren, ist allerdings nicht einfach, da sie von den Didaktikern in unterschiedlicher Weise verstanden und gebraucht werden. Aufgrund der engen Verflechtung scheint es mir ratsam, zunächst beiden Begriffen immanente Merkmale herauszustellen.

Die Kritik an der traditionellen Aufsatzdidaktik, bei der Reproduktion und Norm dominierten und der formale Aufbau ein wesentliches Merkmal des Schreibens war, führte in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zu einer Rückbesinnung auf reformpädagogische Konzepte des freien Aufsatzes. Dessen Grundprinzipien sind offene Schreibphasen, in denen bekannte sprachliche Muster nicht einfach reproduziert werden sollen, sondern inhaltlich und sprachlich selbstbestimmte Texte entstehen.[35]

Damit gewinnt auch der Schreibprozess selbst an Bedeutung und die Gestaltungskraft der Schreibenden steht im Mittelpunkt der Texterstellung. Diese Erkenntnisse haben zur Folge, dem gesamten Schriftspracherwerb eine viel größere Bedeutung zuzugestehen als bisher, da ihm unter diesen Aspekten in lern- und entwicklungspsychologischer Hinsicht eine andere Dimension beigemessen werden muss. Michael Ritter führt dazu aus, dass das Kind „als Gestalter seiner schriftsprachlichen Aneignungsprozesse anerkannt“[36] werden sollte. Das bedeutet aber auch, den Begriff Schreibkompetenz in einem neuen, erweiterten Umfang zu betrachten, weil mehr dazu gehört, als unsere schriftsprachliche Norm anzuerkennen oder diese menschliche Kulturtechnik nur zu erlernen, wie Eva Maria Kohl konstatiert.[37] Sie schlussfolgert schließlich, dass Schreibkompetenz auch heißt, „das eigene Schreiben selbst zu bestimmen und selbst verantworten zu wollen und zu können.“[38] Eine derartige Verschiebung der Prioritäten, weg von einem formalen Korsett, hin zu einer inhaltlich freien Gestaltung, ermöglicht den jungen Autoren, ihre Phantasie oder Imagination[39] zu entfalten. Aber auch der „erlebnisorientierte Schreibunterricht“, in den 70er Jahren bei nicht wenigen Didaktikern verpönt, erfuhr in der wiederbelebten Aufsatzform eine Renaissance.[40] Für den Schulaufsatz heißt das Abwendung vom textsortenorientierten und kommunikativen Schreibunterricht zu Gunsten freier Themenwahl, freier Textgestaltung, freier Zeiteinteilung und freier Wahl des Schreibortes, was u.a. Kaspar H. Spinner als wesentliche Merkmale des freien Schreibens bezeichnet.[41] Ein Aufsatzunterricht mit dieser Radikalität zur absoluten Freiheit beim Schreiben, die u.a. Gerhard Sennlaub[42] propagierte, stellt auch entsprechende Anforderungen an die Institution Schule und wird daher von Spinner und anderen Didaktikern relativiert. Martin Fix und Hartmut Melenk konkretisieren beispielsweise Bedenken zum schulischen Schreiben ohne jegliche Eingrenzung mit der nachvollziehbaren Begründung, „dass völlige Freiheit von Vorgaben im schulischen Kontext ein theoretisches Konstrukt bleibt“[43], da soziale Erwünschtheit, antizipierte Lehrererwartungen oder Zensuren eine Unterrichtssituation unbedingt beeinflussen und eine Schulklasse als Schreibgruppe keine freiwillige Zusammensetzung ist. Da letztlich jedes Schreiben auch kreativ ist, verzichten Fix / Melenk auf eine Unterscheidung der Begriffe freies und kreatives Schreiben und verwenden sie synonym.[44] Ich werde trotzdem versuchen, eine theoretische Abgrenzung darzustellen.

Das kreative Schreiben im heutigen Verständnis definiert Spinner als aufsatzdidaktisches Konzept infolge der Schreibbewegung der 80er Jahre, wobei er auch die veränderten Kreativitätsbegriffe der 70er und 80er Jahre gegenüberstellt.[45] Ohne diese Kontrastierung zu detaillieren, möchte ich die unterschiedlichen Kernpunkte herausstellen. Während divergentes Denken, welches aus bekannten Denkmustern ausbricht und überraschende Problemlösungen anbietet, als wesentliches Merkmal kreativen Handelns in den 70er Jahren galt, verstand man in den 80er Jahren Kreativität hauptsächlich als Selbstausdruck, als „Entäußerung der verborgenen inneren Welt“.[46] Der Brückenschlag zu der bereits erwähnten Grundidee des kreativen Schreibens ist hier unschwer zu erkennen, wobei allerdings auch dabei die Demarkation zum freien Schreiben ungeklärt bleibt.

Kohl, Ritter u.a. verweisen dazu oftmals auf Spinner, welcher den Unterschied im Wesentlichen dahingehend beschreibt, „dass beim kreativen Schreiben an die Stelle der freien Themenwahl bewusst gestaltete Inszenierungen von Schreibsituationen treten.“[47] Die Verfechter des freien Aufsatzes, die eine Authentizität der Textinhalte ohne jede Eingrenzung des kindlichen Ausdruckswunsches postulieren, sehen in den vorgegebenen Schreibimpulsen eine Einengung der Phantasie, was u.a. von Kohl vielfach widerlegt wurde. Dass Schreibinszenierungen die dichterische Freiheit keineswegs beschränken, sondern vielmehr die Kreativität der Kinder anregen oder erweitern, hat Kohl häufig demonstriert.[48] Ihren Forschungen zufolge scheint es wichtig zu sein, einen gewissen Rahmen vorzugeben und trotzdem einen offenen Raum zu schaffen, in welchen sich die Kinder frei bewegen können, wobei hier vordergründig die geistig freie Tätigkeit gemeint ist. Die Autorin nennt dieses Medium der kreativen Schreibanregung Schreibspielräume.[49] Nicht zuletzt deswegen verwendet Kohl die Begriffe freies und kreatives Schreiben weitestgehend synonym, ohne die signifikanten Unterschiede zu ignorieren. Mit Verweis auf Gudrun Spitta differenziert sie beispielsweise dahingehend, dass beim freien Schreiben „zu Recht größter Wert auf die Entwicklung selbstständiger Überarbeitungsstrategien gelegt wird“[50].

Dennoch kann offensichtlich konstatiert werden, dass dem kreativen Schreiben ebenfalls ein hohes Maß an Freiräumen zugebilligt wird, welches den Kindern bei Inhalt, Form und Gestaltung viele Möglichkeiten des Selbstausdruckes gibt. Als nötige Anregungen dafür entwickelte Spinner seine drei Grundprinzipien des kreativen Schreibens: Irritation, Expression und Imagination. „Die Schaffung von Irritation provoziert die Entfaltung neuer Einfälle; die Expression zielt auf Authentizität, und das Stichwort Imagination verweist darauf, dass es auch um die Ausgestaltung von Fantasien und ein Sich-Hineindenken in andere Welten und menschliche Erfahrungsweisen geht.“[51] Wichtig ist nach Spinners Ansicht die Verbindung der Prinzipien, auch wenn die jeweiligen Anteile bei verschiedenen Schreibanregungen unterschiedlich stark ausgeprägt sind.[52]

Trotzdem bleibt die Frage nahezu ungeklärt, ob die Begriffe freies Schreiben und kreatives Schreiben klar voneinander zu trennen sind, ob freies Schreiben ohne kreatives Denken und kreatives Schreiben ohne ein gewisses Maß an formaler Freiheit überhaupt möglich sind oder einander bedingen, was uneingeschränkt plausibel erscheint. Letztlich entsprangen die schreibdidaktischen Konzepte beider Strömungen „einer Unzufriedenheit mit den herkömmlichen Formen von Aufsatzunterricht“[53] und können durchaus unter dem Titel „Freies und kreatives Schreiben“ subsumiert werden.[54] Und wenn die verschiedenen Schreibimpulse die Kreativität der Grundschulkinder erweitern und damit Erfahrungsräume für Kinder zum Schreiben geöffnet werden können, „in denen sie sich ‚frei schreiben’, dann stelle ich mir vor, dass sich beide Konzepte auf sinnvolle Weise verbündet haben, anstatt sich gegenüberzustehen“, resümiert Kohl.[55]

Die grundsätzlichen Unterschiede sind demnach im Wesentlichen einer theorie- didaktischen Abgrenzung geschuldet und so marginal, dass ich mich der Darstellung von Kohl, Spinner und Ritter anschließe und in dem Bewusstsein der Unterscheidungs- merkmale beider Konzepte, kreatives Schreiben als eine Form freien Schreibens auffasse.

2.3 Bedeutung des kreativen Schreibens

2.3.1 Schriftsprache – ein Kulturgut

Die menschliche Sprache ist ein komplexes System sinnvoll verbundener Zeichen und dient der Kommunikation von Menschen einer Gemeinschaft. Eine pragmatische Beschreibung diesen Inhalts kann man so oder so ähnlich in diversen Lexika oder sprachwissenschaftlichen Lehrbüchern nachlesen. Die Überlegungen zur Sprache sind vermutlich genauso alt wie die Sprache selbst und so gibt es mittlerweile diverse Definitionen, deren Elemente konkretisiert werden müssen. Vor allem der grundlegende und übereinstimmende Aspekt, dass es sich um ein Zeichensystem handelt, erfordert weiterführende Erläuterungen, wie man sie im Studienbuch Linguistik findet: „Die einzelnen Zeichen bilden die Basiseinheiten der Sprache, mit denen wir im Zeichenverkehr operieren; sie bilden die fundamentalen Inhalts-Ausdrucks-Einheiten, mit deren Hilfe zusammengesetzte, komplexe Zeichen aufgebaut werden können.“[56] Außer in der Sprachwissenschaft ist die Sprache aber auch Forschungsgegenstand der Philosophie, der Theologie, der Rechtswissenschaft, der Psychologie, der Anthropologie, der Biologie oder auch der Mathematik und Computerwissenschaft[57] und diese Aufzählung verdeutlicht schon, dass Sprache weit mehr sein muss als ein reines Kommunikationsmittel. Umfang und Thematik meiner Arbeit lassen an dieser Stelle keine weiterführenden sprachtheoretischen Abhandlungen zu, so dass ich mich auf einige Funktionen der Sprache, vornehmlich deren Bezug und Bedeutung zum kreativen Schreiben, konzentrieren werde.

2.3.1.1 Wichtige Funktionen von Sprache

Als wichtigste Aufgabe, die auch per definitionem festgelegt ist, wird sicher die kommunikative Funktion von Sprache angesehen. Allerdings muss dann auch geklärt werden, was damit genau gemeint ist, denn wir kennen verschiedene Kommunikations- formen. Menschen können mithilfe der Sprache mündlich, fernmündlich oder in verschiedenen schriftlichen Varianten kommunizieren. Es werden also Gedanken oder Informationen ausgetauscht oder exakter formuliert: übermittelt. Die ‚Kommunikative Funktion’ meint demnach, mit einer Äußerung einen beabsichtigten Effekt beim Zuhörer, Dialogpartner oder Leser auszulösen.[58] Meines Erachtens ist es an dieser Stelle wichtig anzumerken, dass beabsichtigter Effekt und erzielte Wirkung beim Adressaten höchst unterschiedlich sein können. Unabhängig davon ermöglicht erst die sprachliche Fähigkeit den Menschen, „eine Gemeinschaft zu bilden, die zusammen lebt [...]. Ohne die Sprache könnte der Mensch sich nicht sozialisieren“[59], schreibt Kohl und fügt hinzu, dass Sprache damit zur wichtigsten Kulturtechnik der Menschen geworden ist.[60]

Technik ist aber eine Fähigkeit, die nicht angeboren ist, sondern erworben und ausgebildet werden muss. Die Sprache muss von den Menschen erlernt werden, denn Wörter sind schon auf der Welt, bevor die Kinder geboren werden.[61] Sie können die Wörter zunächst nur hören, später versuchen sie, diese nachzusprechen. Mit der Entwicklung des logischen Denkens eröffnen sich schließlich auch neue Sprach- dimensionen; Wörter bekommen eine Bedeutung, Abstrakta können benannt und beschrieben, Wissenswertes kann erfragt werden. Kinder entwickeln ihre Persönlichkeit und erschließen sich die Welt auch mithilfe der Sprache. Kohl fasst den wichtigen Prozess des Spracherwerbs als Verwirklichung von Intellekt, Denken und Sozialisation zusammen.[62] Mit Rückblick auf die Sprachfunktion heißt das, Kinder können zunehmend als Kommunikationspartner auftreten.

Wenn die kommunikative Funktion der Sprache erörtert wird, muss auch der ambivalente nicht-kommunikative Gebrauch erwähnt werden. Es ist bekannt, dass viele Personen, auch viele Kinder und Jugendliche, Tagebücher schreiben ohne die Absicht, dass sie je von Anderen gelesen werden. Es werden Briefe an andere Menschen geschrieben, die nie gesendet werden oder Gedichte verfasst, die keinen Empfänger finden sollen.[63] Man könnte dies auch als eine Form der Kommunikation mit sich selbst erachten, was allerdings der Bedeutung des Wortes widerspricht.[64] Ich möchte an dieser Stelle auch nicht näher darauf eingehen, ob der Mensch, der in ein Tagebuch schreibt, der gleiche ist, der es später liest, weil die persönliche Bedeutung des Textschreibens an anderer Stelle dieser Arbeit ausführlich dargestellt wird. Es scheint jedoch einleuchtend, dass zumindest der Verfasser seine Aufzeichnungen nutzt, um sich vergangene Ereignisse oder frühere Empfindungen zu vergegenwärtigen, so dass Sprache offensichtlich nicht nur der interpersonalen, sondern auch der intrapersonellen Verständigung dient. Die Reflexion eigener Aufzeichnungen ist letztlich auch Teil der Selbstverwirklichung und damit ein Baustein der Persönlichkeitsentwicklung.

Einen diesbezüglichen Zweck kann ein Selbstgespräch, man könnte es als mündliches Pendant bezeichnen, nicht in diesem Maße erfüllen. Wozu dient es dann? „Wenn wir [...] auch die Fälle zählen, in denen wir nicht unbedingt etwas Hör- oder Sichtbares produzieren, dann ist das Selbstgespräch nur ein anderes Wort für ‚nachdenken’“.[65] In diesem Falle werden also keine Informationen weitergegeben, sondern vielmehr die Gedanken beim Reden erst entwickelt, was aber auch beim Schreiben möglich ist. Die Sprache ist damit auch ein „Mittel des Denkens, hat also kognitive Funktion.“[66]

Sowohl auf der kommunikativen als auf der nicht-kommunikativen Ebene verknüpft sich oftmals auch die emotionale Funktion der Sprache. Neben physischen Reaktionen ist Sprache sicherlich die geeignetste Möglichkeit, Emotionen zu äußern oder auszulösen. Jedes Wort, das uns zufällig begegnet, löst eine Kette von Reaktionen aus, beschreibt Gianni Rodari anschaulich am Beispiel eines Steines, der ins Wasser fällt. Dieses Wort „zieht fallend Töne und Bilder, Analogien und Erinnerungen, Bedeutungen und Träume in eine Bewegung hinein, welche die Erfahrung und das Gedächtnis, die Phantasie und das Unbewußte (sic!) berührt [...]“.[67] Diese Serie von Assoziationen wird u.a. durch die individuellen ästhetischen Erfahrungen der Subjekte ausgelöst, wie ich an späterer Stelle ausführen werden. Die emotionale Funktion der Sprache ist folglich in hohem Maße von den individuellen Dispositionen abhängig.

Die funktionalen Aspekte könnten noch weiter differenziert werden, worauf ich aber wegen des vorgegebenen Rahmens dieser Arbeit verzichte und auf das Kapitel 6 von Kirsten Adamzik verweise, in welchem die Sprachfunktionen recht ausführlich dargestellt werden.[68]

2.3.1.2 Die kulturelle und individuelle Bedeutung der Schriftsprache

Im Folgenden soll die Bedeutung der Schrift bezüglich der beschriebenen sprachlichen Funktionen skizziert werden. Der äquivalente Zusammenhang von Sprache und Gedächtnis ist bereits angerissen worden und so muss die Frage beantwortet werden, welchen Einfluss die Schrift auf dieses Konstrukt hat. Mattenklott bezeichnet die Schrift als wichtigste Materialisation des Gedächtnisses.[69] Sie ermöglicht es, Gedanken festzuhalten, Begriffserklärungen nachzulesen oder Informationen aufzubewahren. Geschriebene Texte sind anderen Menschen und sich selbst immer wieder zugänglich. Sie haben also Bestand und ermöglichen eine spätere Reflexion der Gedanken und Emotionen.

Das Schreiben, die archaische Form der Fernkommunikation, ist vom Telefon zwar zurückgedrängt worden, ersetzt werden konnte es aber nicht. Auch wenn sich die Schriftkultur gewandelt hat, die Verständigung per sms mit einer nahezu eigenständigen Schriftsprache sei exemplarisch genannt, wird heutzutage wieder vermehrt die Kommunikationsform gewählt, die einen Rückzug in die Stille und eine Zeit der Besinnung und sprachlichen Formulierung ermöglicht. Damit kann man Mattenklotts These von 1998 zu einer Renaissance der Schriftlichkeit bestätigen, entgegen einigen „Kulturpessimisten“, die das wiederkehrende Interesse am Schreiben als Aufmerksam- keit deuteten, „die dem gewidmet wird, was im Modernisierungsprozeß (sic!) verschwindet.“[70] Vielmehr kann konstatiert werden, dass das Schreiben – und damit auch das Lesen – als wichtige Kulturtechnik weiterhin etabliert ist.

Damit Schrift zu einem „intimen Raum der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung“[71] werden kann, muss die Lust am Schreiben erhalten werden. Die meisten Kinder kommen nämlich hochmotiviert in die Schule, sie wollen schreiben und lesen lernen.[72] Schon weit vor Schuleintritt haben sie sich die Sprache erschlossen, assoziieren Bilder und Gedanken zu bestimmten Wörtern und können diese dann trotz größter Anstrengungen weder schriftlich wiedergeben noch decodieren. Stattdessen erfahren sie Lesen und Schreiben oftmals „als sinnentleerte formale Aufgabenbefolgung innerhalb eines Autoritätsgefüges ohne persönliche Identifikation, ohne jeden kommunikativen Bezug.“[73] Und diese Erfahrungen setzen sich nicht selten über den Anfangsunterricht hinaus fort, indem die schulischen Schriftnormen das verbindlichste Kriterium für Textbeurteilungen darstellen und oftmals zu einer lebenslangen generellen „Abwehrhaltung gegen das Schreiben“[74] führen, anstatt Schreibmündigkeit zu erzeugen, die laut Kohl dort beginnt, „wo die Konfrontation mit der Norm der Schriftsprache nicht mehr zu Schreibblockaden führt“.[75] Erst dann kann Schrift in einem Spielraum neue Fühl- und Denkwelten entwerfen, sowie Texte in den unterschiedlichsten Formen und Gestalten entstehen lassen.[76]

Aber auch für die Entwicklung formaler Denkoperationen und kognitiver Lernprozesse ist der Schriftspracherwerb von großer Bedeutung. In welcher Form die Beherrschung der Schriftsprache die Denkprozesse beeinflusst und damit die intellektuellen Kompetenzen des Individuums erweitert, beschreibt Ludwig Duncker in seiner anthropologischen Abhandlung aus dem Jahre 1994: „Die der Schrift inhärente lineare Anordnung der alphabetischen Zeichen [...] fördert eine Neuorganisation und Umformung des Denkens. Analog zur typographischen Struktur der Sätze wird das Denken unter dem Einfluss der Schrift zur Linearität erzogen.“[77] Duncker spitzt dies noch weiter zu, indem er folgert, dass Schrift die Voraussetzung für die Entwicklung formal – logischen Denkens ist, welches dem Schreibvorgang innewohnt.[78]

Die Ausführungen können keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, aber sie zeigen, welche vielfältigen Möglichkeiten (Schrift-) Sprache eröffnen kann, wenn Freiräume beim Schreiben gewährt werden und man die Gelegenheit hat, seine Texte mit eigenen Inhalten zu versehen. Entgegen der Ansicht konservativer Grundschuldidaktiker kann dabei die formale Seite von Sprache zunächst peripher betrachtet werden. Bevor die Kinder nicht wissen, was oder worüber sie schreiben wollen und dürfen, ist auch das Wie für sie irrelevant. Das bedeutet für den Schriftspracherwerb, einen von Normzwängen befreiten, experimentellen Umgang mit der Sprache zu postulieren. Mit dem Wunsch, den Inhalt der Texte zu vermitteln, wird recht schnell von den Kindern selbst die Einsicht gewonnen, dass „die Texte auch einer allgemeinen und objektiven Norm genügen müssen.“[79] Mit jener Erkenntnis und fortschreitender Schreibroutine, die sich durch Lust am Schreiben einstellt, werden die formalen Kriterien der Schriftsprache zur Selbstverständlichkeit.

„Spielzeug Sprache“ nannte Kohl ihre Publikation 1995 und formuliert darin ferner, dass Sprache ein Werkzeug sei.[80] Kurt Tucholsky proklamierte 1929 in der ihm eigenen Art: „Sprache ist eine Waffe“[81], was auch unter Berücksichtigung des zeitlichen und inhaltlichen Kontextes eine interessante Ansicht bleibt. Spielzeug? Werkzeug? Waffe? Man darf Sprache sicher nicht auf einen dieser Termini reduzieren. Aber die Symbiose dieser drei Begrifflichkeiten, also der sichere Gebrauch aller drei Formen, macht Sprache zu dem was es ist: Ein faszinierendes Medium mit unendlich vielen Gestaltungsmöglichkeiten.

2.3.2 Eigene Texte – Spiegelbild eigener Gedanken, Erfahrungen und Erinnerungen

„Die Gedanken sind frei“, verkündet uns nicht nur ein altes Volkslied, sondern auch der Werbeslogan eines bekannten Internetanbieters. Der prägnante Satz pointiert ein Phänomen, welches Generationen von Psychologen und Sprachwissenschaftlern gleichermaßen beschäftigt. Wie entstehen Gedanken und warum sind sie von Individuum zu Individuum so unterschiedlich? Welchen Einfluss haben Wahrnehmung, Erfahrungen oder Erinnerungen? Warum fällt es manchen Menschen leicht, Gedanken zu äußern, anderen wiederum nicht? Die Liste der Fragen sowie ihrer mehr oder weniger plausiblen Antworten ließe sich problemlos erweitern. Dieses Kapitel soll sich darauf beschränken, metaphysische Vorgänge und deren mögliche Artikulierung zu konturieren, wobei insbesondere die Entstehung und Notation eigener Gedanken von Interesse sind.

Manchen Menschen wird eine blühende Phantasie bescheinigt, nicht selten die euphemistische Bestätigung, dass der Adressat die Äußerungen nicht nachzuvollziehen vermag oder die geistige Fähigkeit des Absenders in Frage stellt. Bestenfalls Künstlern und Kindern gesteht man in einem gewissen Rahmen Spielen, Erzählen und Phantasieren zu, als entäußertes Ergebnis der Verarbeitung wahrgenommener Außenwelt mit der individuellen psychischen Innenwelt.[82] Dieser Verarbeitungsprozess ist meines Erachtens aber das Fundament eines jeden Textes, wobei es unabhängig ist, ob fiktionale Texte, Interpretationen fremder Texte, autobiografische Texte oder die oftmals in der Schule verlangten, pragmatischen Texte niedergeschrieben werden.

Man könnte bei einem solchen Verarbeitungsprozess auch von einer inneren Sprache als Basis für die geschriebene Sprache reden, wie es Mechthild Dehn mit Verweis auf Lew Wygotskis[83] Untersuchungen getan hat.[84] Die sekündlich modifizierte Wahrnehmung als wesentliche Grundlage innerer Prozesse impliziert, dass auch die innere Sprache „dynamisch, inkonstant und fluktuierend“[85] sein muss und als Medium eines inneren Dialogs[86] bezeichnet werden kann. Dabei haben die Wörter und Begriffe der inneren Sprache eine viel größere Bedeutung für das Individuum als es in der äußeren Sprache ausdrücken kann.[87] Das Schreiben von Texten ermöglicht dem Autor, sich der inneren Sprache zu nähern. Den Zugang zu inneren Bildern und die Fähigkeit, die innere Sprache nach außen zu transformieren, bezeichnet Dehn auch als Kontextualisierung.[88]

Die gegensätzliche Beziehung von Innen- und Außenwelt thematisiert Johannes Merkel in seinem Aufsatz zum inneren und äußeren Bewusstsein.[89] Ohne den komplizierten Begriff ‚Bewusstsein’ zu konkretisieren – hierzu verweise ich auf Merkels ausführliche Darstellung – versuche ich, die wichtigsten Ausführungen zusammenzufassen. Der Spracherwerb ist ein markanter Punkt der individuellen menschlichen Entwicklung. Die sukzessive Differenzierung von innerem und äußerem Bewusstsein, die mit dem Erlernen der Sprache fortschreitet, ist für die Individualentwicklung von enormer Bedeutung. Sie ermöglicht es, jede Wahrnehmung der inneren oder äußeren Welt zu zuordnen. Diese automatisierte Zuschreibung ist die Grundlage späteren Handelns. Auch wenn Kinder die beiden Bewusstseinsformen zunächst nicht unterscheiden können, begreifen sie peu à peu, „daß (sic!) sie andere an Phantasien und Erinnerungen nur dann teilhaben lassen können, wenn diese in die Mitteilungsweisen gekleidet werden, die der Kommunikation unserer inneren Welt dienen“.[90] Die eigene Innenwelt und die ‚objektive’ Außenwelt bilden aber kein starres Konstrukt, sondern verändern sich mit den und durch die persönlichen Erfahrungen, Erwartungen und Bedürfnisse(n), welche zunehmend auch die Wahrnehmung determinieren. Dabei kann die Erfahrung als interaktiver Vorgang „zwischen Außenwelt und dem ständig überarbeiteten Modell unserer Kategorien“[91] gesehen werden, dessen Kulminationspunkt „die Wieder- herstellung der Lebensganzheit“ als Ziel künstlerischer Aktivitäten ist.[92] Künstlerische Aktivitäten werden von Merkel auch als schöpferische Prozesse bewertet, denen die kreativen menschlichen Fähigkeiten immanent sind. Dabei verblüffen Kinder bereits frühzeitig mit ihrer Phantasie beim Spielen, Erzählen, Malen oder bei ähnlichen Tätigkeiten. Der Erwerb der Schriftsprache erweitert demzufolge die Ausdrucksmöglichkeiten kindlicher Phantasie um eine Variable, die den Vorteil der Beständigkeit aufweist.

Erfahrung und Wahrnehmung sind Konstituenten der Kreativität und stehen in einem korrelativen Verhältnis, denn Erfahrung hat auch Einfluss auf die Wahrnehmung, Erfahrung vermittelt zwischen innerem und äußerem Bewusstsein, erst Erfahrung ermöglicht überhaupt Vorstellung oder anders ausgedrückt, „Imagination ist eine Funktion der Erfahrung“.[93] Das bedeutet für das Schreiben: Auch scheinbar triviale Texte wie Gegenstandsbeschreibungen dokumentieren die individuellen Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Welche Auswirkungen diese Erkenntnisse wiederum auf die Bewertungskriterien für Schulaufsätze haben müssen, möchte ich in der vorliegenden Arbeit nicht explizieren, sondern an dieser Stelle auf Spinner verweisen, der an exemplarischen Texten nachgewiesen hat, dass selbst Beschreibungen „nicht einfach eine mehr oder weniger korrekte sprachliche Wiedergabe eines objektiv gegebenen Phänomens, sondern Ergebnis eines je unterschiedlichen Zugriffs auf die Welt“[94] sind. Folglich kann auch jeder Text als Teil des Identitätsprozesses verstanden werden, der den Auftrag hat, das angeeignete Weltverständnis zu vermitteln. Damit erhält Schreiben zusätzlich eine Funktion, „durch die das Individuum sich als gestaltendes Subjekt erfahren kann.“[95] Die dabei erreichte Beständigkeit der Präsentation ermöglicht dem Verfasser zukünftig die Distanzierung vom eigenen Ich. Durch die Rückwirkung eigener Gedanken in das Bewusstsein des schreibenden oder später lesenden Subjekts wird die Voraussetzung für die persönliche Identität geschaffen.[96] Auf diese Weise leistet Schreiben einen wichtigen Beitrag zur Identitätsentwicklung, die letztlich auch Grundlage kompetenten Handelns ist, da Kompetenz Identität voraussetzt, womit auch die Bedeutung der Schriftsprache für die ganzheitliche Bildung offenbart wird.

2.3.3 Der persönliche Wert von Kindertexten

„Durch Schreiben wurde ich geboren. [...] Indem ich schrieb, existierte ich und entschlüpfte den Erwachsenen, [...]. Ich, der Schreibende.“[97] In dem seiner philosophischen Theorie entsprechenden Ausdruck kommentierte Jean-Paul Sartre seine kindlichen Schreibanfänge. Ohne seine existentialistische Weltanschauung oder die Radikalität seiner Darstellungsweise zu bewerten, erscheint es mir interessant, Motivation und persönliche Bedeutung seiner frühen Schriften zu erwähnen. Die Wörter ermöglichten ihm, den Figuren Leben zu schenken und somit zu erreichen, „die Bilder aus meinem Kopf zu reißen und außerhalb meiner selbst zu verwirklichen, [...]“[98] Mithilfe rezipierter Werke wurde es für Sartre zum Spiel, Erinnerung und Imagination im eigenen Text zu vereinen; das Schreiben wurde somit zum eigenen Vergnügen.[99]

Vergnügen an einer Tätigkeit ist zweifelsfrei ein sehr guter Motivator, dieser Beschäftigung nachzugehen. Das setzt natürlich auch voraus, dass ein Prozess nicht durch äußeren Druck, sondern durch intrinsische Motivation angeregt wird. Diese „eigene Lust am Schaffen“ ist schließlich die Basis für kreatives Arbeiten.[100] Dabei bedingen sich Vergnügen und intrinsische Motivation durchaus äquivalent. Auf einer derartigen Grundlage entstandene Texte müssen für Kinder folglich eine großartige Erfahrung sein, denn wenn ein Mensch gern schreibt, artikuliert Kohl, hat er erfahren, „dass Schreiben für ihn persönlich bedeutsam ist.“[101] Damit wäre auch die schulinhärente Polarisierung, wie Kohl sie verdeutlicht[102], aufgehoben und eine Schreiblust der Schüler die Basis modernen Schreibunterrichts.

„Erfundene Geschichten sind wie Träume...“, zitiert Heide Bambach[103] ein schreibendes Kind und ergänzt, dass in solchen Geschichten Lebenserfahrung und angeeignete Welt verarbeitet werden. Die Geschichten entwickeln sich dabei aus den wachsenden Vorstellungen der jungen Autoren, was selbstverständlich auch bedeutet, diese Vorstellungen entfalten zu lassen und folglich auf Zeitvorgaben zu verzichten.[104]

Aus diesen Gründen sollte ein Schreibresultat auch nicht darauf reduziert werden, Grundlage einer guten Zensur zu sein, also in erster Linie dem Lehrer zu gefallen. Vielmehr muss das Ergebnis der Arbeit für das Kind bedeutsam sein, was ja einerseits schon aufgrund des Erscheinungsbildes, also durch die materielle Präsenz, gegeben ist. Aber auch der Textinhalt vermittelt dem Autoren ein Gefühl der Eigenständigkeit. Im freien Text bietet sich dem Kinde nämlich die Chance, Erfahrungen festzuhalten und zu verarbeiten. Ergo erleben Kinder das Schreiben als sinnstiftende Beschäftigung.[105] Vorstellungskraft des Schreibenden und die Beherrschung der Schreibtechnik ermöglichen diese für das Kind bedeutende Tätigkeit. Die kindliche Phantasie impliziert dabei auch das Wissen, denn „Imagination setzt Wissen voraus, Wissen schließt immer Imagination ein.“[106] Die angenommene Realität und die persönliche Weltdeutung bilden hierbei quasi zwei Pole, die ein „Spannungsfeld zwischen Ich und Welt“ erzeugen, in dem die Texte stehen.[107] Diese, durch das Schreiben erzielte, produktive und konstruktive Form der Weltzuwendung ist ein Wechselspiel von Fähigkeiten und Tätigkeiten[108] und wird durch den Schreibvorgang nicht nur angeregt, sondern auch kontinuiert. Das Kind setzt sich mit dem Text auseinander, möglicherweise verwirft es Gedanken, bringt neue Gedanken ins Spiel, imaginiert, ruft Wissen ab – es produziert autonom, das bedeutet auch, dass es an Autonomie gewinnt.[109] Insofern bewirkt das Schreiben auch die Ausbildung der Identität und den Eintritt in einen kulturellen Kontext,[110] welcher u.a. durch die Werke unzähliger Literaten fundamentiert ist, weil jeder neue Text im Kontext eines älteren steht.[111] Mit dem Schreiben beginnt für ein Kind das Wechselspiel von Rezipienten- und Produzentenrolle.

Die Geschichten der Kinder liefern demnach auch Informationen zu intrapersonalen Vorgängen. Sie zeigen, was den Textverfasser innerlich bewegte oder welche Sichtweisen er zu bestimmten Vorgängen und Ereignissen hatte. Außerdem widerspiegeln die freien Texte auch die spezifische Sprachentwicklung des jeweiligen Kindes, geben also einen Überblick zu den lexikalischen und syntaktischen Fähigkeiten.[112] Letzteres lässt auch Rückschlüsse bezüglich der typischen Zugriffsweisen, der sogenannten Schreibmodi, zu. Nach Spitta sind das fünf qualitativ verschiedene Schreibzugänge, die hierarchisch geordnet ein bestimmtes Schreibniveau anzeigen und bei Spitta auch näher erläutert werden. Ich nenne die Schreibmodi hier lediglich und verzichte wegen ihrer eingeschränkten Relevanz für die folgenden Ausführungen auf eine ausführliche Beschreibung, welche bei Spitta nachgelesen werden kann:

- assoziativ – chronologisch orientierte Schreibhaltung,
- normorientierte Schreibhaltung,
- kommunikativ orientierte Schreibhaltung,
- subjektiv – authentische Schreibhaltung,
- heuristische Schreibhaltung.[113]

Bei der Annahme, dass jene Schreibzugänge relativ gleichmäßig und linear durchlaufen werden, entsteht bei konventioneller Beurteilung der Verdacht, dass Kinder im Grundschulalter vergleichsweise einheitlich auf einem niederen Niveau verweilen. Das widerlegten aber Analysen von Kindertexten, die im freien Schreiben entstanden, da alle Schreibhaltungen, also auch der professionelle heuristische Zugang, bereits bei Grundschulkindern nachgewiesen werden konnten.[114]

Das schreibende Kind erweitert demzufolge in verschiedenen Bereichen seine Fähigkeiten, wobei die Entwicklung bzw. Erweiterung der Schreibkompetenz natürlich den Schwerpunkt bildet. Schreibkompetenz verstehe ich dabei als Oberbegriff, der sowohl die schreibpraktische als auch die kognitive Perspektive berücksichtigt. Damit soll nochmals verdeutlicht werden, dass nicht nur dem Schreibergebnis als solchem, sondern auch dem eigentlichen Schreibprozess entsprechende Bedeutung beigemessen werden muss. Der Prozess wird dabei nie abgeschlossen, da jedes Lesen oder Nach- denken des Verfassers wieder der Ausgangspunkt für neue oder erweiterte Sichtweisen, neues Wissen, Imagination und damit auch für neue Texte ist.

Bilanziert man die Entfaltung der letzten beiden Kapitel, manifestiert sich die Erkenntnis, dass kindliche Schreibprozesse nicht losgelöst von denen Erwachsener betrachtet werden dürfen. Vielmehr stehen sie in engem Zusammenhang, wenngleich die Abläufe der einzelnen Schreibprozesse bei Kindern etwas weniger nuanciert sind.[115] Entgegen veralteten Theorien ist die Kindheit kein defizitäres Durchgangsstadium, sondern eine eigenständige Periode menschlicher Entwicklung, ein „Raum der Aneignung und Verarbeitung von Wirklichkeit, [...] der kindlichen Selbstbildung und Weltentdeckung.“[116] Dafür liefern die kindlichen Texte eine dauerhafte Retrospektive. Sie dokumentieren außerdem die Entwicklung spezifischer Denkfähigkeiten und Begriffsbildungen, die durch die Erschließung der Schriftkultur gewährleistet wird.[117] Um die kindlichen Dispositionen herauszustellen, sollten Kindertexte dementsprechend als ästhetische Gesamtkunstwerke betrachtet werden, welche die individuellen und kulturellen Hintergründe der Kinder widerspiegeln.[118]

2.4 Impulse zum kreativen Schreiben

2.4.1 Wahrnehmung und Erfahrung als Voraussetzung kreativer Schreibprozesse

Im Verlaufe der Arbeit wurde erörtert, welche Bedeutung das kreative Schreiben für Menschen allgemein und für Kinder speziell haben kann. Es hat sich gezeigt, dass Sprache, insbesondere die Schriftsprache, ein geeignetes Medium ist, um die individuelle Sichtweise auf die Welt oder die eigenen Befindlichkeiten darzulegen und für die Mitmenschen und sich selbst transparent werden zu lassen. Vor allem durch die distanzierte Reflexion der eigenen Gedanken im Bewusstsein des Autors konnte das Schreiben von Texten durchaus zu einer identitätsstiftenden Tätigkeit stilisiert werden, die eine Möglichkeit bietet, innere Bilder zu entäußern und somit auch eine selbstreflektierende Weltentdeckung anzuregen. Es bedarf folgerichtig noch der Klärung, welche äußeren Faktoren jene inneren Vorgänge bedingen, d.h. welche Umwelteinflüsse vom Individuum aufgenommen werden und welche Auswirkungen sie haben.

Ich habe mich für die induktive Entfaltung dieser Thematik entschieden, weil der Begriff ‚Wahrnehmung’ zunächst recht trivial erscheint und in der Regel relativ eindeutige Bestimmungen wie ‚auditiv’, ‚visuell’, ‚taktil’ u.s.w. antizipiert werden. Damit wäre die Problematik allerdings nur unzureichend beschrieben, denn es geht vielmehr um die Qualität der Wahrnehmung, um sinnliche Erfahrung und deren Bedeutung für das eigene Ich als Basis kreativer Texte. Als ‚ästhetische Erfahrung’ werden die verschiedenen Phänomene der Wahrnehmung und deren Folgen oftmals subsumiert. Ich weise aber darauf hin, dass bei einer notwendigen komplexen Betrachtung der ästhetischen Erfahrung nicht nur die unmittelbaren Auswirkungen der Wahrnehmung berücksichtigt werden dürfen, sondern insbesondere auch die langfristigen Prozesse im individuellen Bewusstsein eine entscheidende Rolle spielen.

2.4.1.1 Ästhetische Erfahrung im Kontext kreativer Tätigkeiten

Wenn kreative Aktivitäten thematisiert werden, hat das bei den meisten einschlägigen Abhandlungen zur Folge, ästhetische Erfahrung, ästhetische Wahrnehmung oder ästhetische Bildung[119] in den Blickpunkt zu nehmen. Seitdem Immanuel Kant[120] den Ästhetikbegriff geprägt hat, versuchen diverse ästhetische Theorien, die genannten Begriffskonstrukte zu bestimmen. Dabei bewegen sich viele philosophische Definitionsversuche in einem gewissen Spannungsfeld. Zum Einen wird eine relative Unbestimmbarkeit des Ästhetischen als besonderes Merkmal herausgestellt. Zum Anderen wird Ästhetik manchmal nur noch ausnehmend exklusiven Kunstformen zugesprochen.[121] Letzteres steht aber beispielsweise im Widerspruch zu Naturerscheinungen, deren sinnliche Wahrnehmung durchaus eine ästhetische Erfahrung begründen können. Nicht zuletzt deshalb sehe ich von einer derart diffizilen Begriffsbestimmung ab und befinde eine weitere Auslegung der abstrakten Determinanten mit einer gewissen Offenheit der Bezeichnung praktikabel. Demnach könnte ästhetische Erfahrung bedeuten, „dass wir unsere Aufmerksamkeit auf die je besondere Erscheinung von Betrachtungsobjekten richten (die auch einzelne Eigenschaften, Situationen oder Empfindungen sein können) um ihrer sinnlichen Präsenz, kurz: um der Besonderheit ihrer Erscheinung selbst willen.“[122] Allerdings wird auch dieser Definitionsversuch der komplexen Thematik nur ansatzweise gerecht, weshalb er lediglich als Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen gelten kann.

Die Bestimmung des Ästhetikbegriffs kann durchaus als ein konstitutives Thema dieser Arbeit angesehen werden, da die ästhetische Erfahrung als Grundlage kreativer Tätigkeiten, speziell das Schreiben, von Bedeutung ist. Mir erscheint es dabei notwendig, ästhetische Erfahrung nicht auf Gegenstände oder Ereignisse außerhalb einer Person zu beschränken, sondern wie Kraemer und Spinner die Subjektivität hervorzuheben, d.h. ästhetische Wahrnehmung um die „Wahrnehmung des eigenen Empfindens“ zu erweitern.[123] Infolge dessen kann die bildungsimmanente „Subjekt – Objekt – Entgegensetzung“ reduziert werden, weil das betrachtende Subjekt durch die ästhetische Erfahrung einen Selbstwert erfährt, indem es sich im betrachteten Objekt involvieren kann.[124] Damit wird die ästhetische Bildung laut Kraemer und Spinner zum wichtigen Pendant der begrifflichen Kategorisierung.[125] Klarer wird diese Ausführung, wenn man sich die Denk- und Wahrnehmungsweisen der Kinder vergegenwärtigt. Was von den Kindern wahrgenommen wird, erzeugt innere Bilder, die sich wiederum zu Geschichten verknüpfen. Wahrgenommenes verwebt sich mit eigener Vorstellung zu einer subjektiven Wirklichkeit, die zugleich „Ausdruck der persönlichen Bedeutung dieser Wahrnehmung ist.“[126] An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass schon die Auswahl der wahrgenommenen Objekte und Erscheinungen ein höchst subjektiver Vorgang ist. Jeder kann sich das Kind vorstellen, dessen ganze Aufmerksamkeit dem vorbeifahrenden Zug, Polizeiauto oder Kranfahrzeug gilt und nicht irgendeinem unterrichtsinternen Impuls.

Die Ausführungen lassen deutlich erkennen, dass sich ästhetische Erfahrung, gerade unter schulischen Gesichtspunkten, nicht auf die musischen Unterrichtsfächer begrenzen darf. Vielmehr muss auf dem Fundament von Sinneswahrnehmungen eine ästhetische Bildung begründet werden, die einen emotional – ganzheitlichen Zugang zum eigenen Ich ermöglicht.[127] Das setzt wiederum eine Wahrnehmung voraus, die nicht funktionalisiert ist, sondern sich selbst genügt; eine Wahrnehmung, die mit einem Staunen und mit Intensität verbunden ist[128]; eine ästhetische Wahrnehmung, und diese ist stets auch mit einer besonderen Aufmerksamkeit für das Wahrgenommene verbunden, wobei die Exklusivität der Erscheinung fasziniert. Das bedeutet aber nicht, dass Ästhetik allein auf Einzigartigkeit begründet werden darf, was dann auch den möglicherweise entstandene Eindruck widerlegt, ästhetische Erfahrung würde sich nur durch die Anschauung selbst genügen, über den Begriff der visuellen Wahrnehmung reicht sie nämlich weit hinaus.[129]

Das wird durch ein weiteres Charakteristikum, die Imagination, verdeutlicht, denn „Ästhetische Wahrnehmung überschreitet die sinnliche Wahrnehmung, weil sie unsere Vorstellungskraft anregt.“[130] So kommt es ohne Weiteres vor, dass man beispielsweise das Foto einer gemähten Wiese betrachtet und sich daraufhin den Geruch frischen Heus vorstellt. Das setzt freilich voraus, einen derartigen Duft schon einmal intensiv wahrgenommen zu haben. Das letzte Merkmal des Aufsatzes von Kraemer und Spinner ist die Verfremdung, d.h. die Entautomatisierung der Alltagsroutinen und daraus resultierender „Intensivierung der Wahrnehmung.“[131] Schon ein Blick aus dem Fenster könnte zum Beispiel den sichtbaren Ausschnitt vom Alltag herausheben, da er wie ein gerahmtes Kunstwerk erscheint.

Nach Kraemer und Spinner sind die der ästhetischen Bildung internalisierten Kennzeichen: Sinnliche Wahrnehmung, Staunen, Aufmerksamkeit, Beachtung des Besonderen, Imagination, Subjektivität und Verfremdung. Sie fundamentieren letztlich die ästhetische Bildung,[132] bei der eine differenziertere Wahrnehmung hervorgehoben wird, d.h. die „Berücksichtigung mehrerer Sinne bei der Beschäftigung mit einem Gegenstand.“[133] Diese ästhetische Bildung steht dabei auch im äquivalenten Zusammenhang mit dem kreativen Schreiben, bei dem ästhetische Erfahrung oftmals eine wichtige Instrumentalisierung darstellt.[134]

Die vielfältigen individuellen Perspektiven ästhetischer Wahrnehmung versuche ich einmal, mithilfe eines Beispiels ansatzweise zu verdeutlichen: Durch eine verbalisierte Beschreibung eines Apfelbaumes assoziieren wir Bilder und Gerüche. Wir können uns den Geschmack vorstellen. Eventuell haben wir eine Raumvorstellung oder wir denken an eine bestimmte Jahreszeit. Möglicherweise gedenken wir eines persönlich bedeutenden Ereignisses. Vielleicht bekommen wir einfach nur Appetit, einen Apfel zu essen. Gleiches könnte geschehen, wenn ein Apfel vor uns auf dem Tisch liegt. Wir könnten aber auch einen Apfelbaum beschreiben, oder es fällt uns die tragische Geschichte Hans Giebenraths und Hermann Hesses ästhetische Beschreibung der Mostkelterei ein.[135]

Erst die individuelle ästhetische Erfahrung ermöglicht eine derartige Adaption von Bildern und Sprache. Ästhetische Erfahrung ist demzufolge viel mehr als pure Wahrnehmung. Sie muss als kreativer Wahrnehmungsakt bezeichnet werden, „der Selbsterkenntnis und Welterkenntnis zugleich einschließt“[136], wobei die „Vergegen- wärtigung frühen ästhetischen Erlebens den Grund und Ausgangspunkt“ der „Selbstbildungsbewegung“ des schreibenden Subjekts darstellt.[137] Daraus resultiert, dass kreatives Schreiben als ästhetischer Prozess zu verstehen ist, was nochmals die Bedeutung des Schreibaktes selbst akzentuiert.

2.4.1.2 Ästhetische Erfahrung im Kontext kindlicher Bildung

Im folgenden Abschnitt sollen keine grundlegend anderen Sichtweisen der ästhetischen Erfahrung dargestellt, sondern der Zusammenhang zu kindlichen Bildungsprozessen skizzierend ergänzt werden, um die verschiedenen Anknüpfungspunkte zu verdeutlichen. Der Aufsatz Gerd E. Schäfers[138] dient dafür als Bezugsebene.

[...]


[1] Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2005: Schulgesetz, S.10.

[2] Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird auf die femininen Pluralbildungen im Verlaufe der Arbeit verzichtet. Bürger, Didaktiker, Lehrer, Schüler o.ä. schließt immer beide Geschlechter ein.

[3] Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2005: Lehrplan Deutsch, S.5.

[4] Dieser Text entstand im offenen Unterricht zum Thema „Kreatives Schreiben – Schreiben zu einem Bild“ in einer 4.Klasse der Grundschule Biederitz, 2005.

[5] Vgl. Kohl 2006.

[6] Merkelbach 1993, S.5ff.

[7] Vgl. Merkelbach 1993, S.5f.

[8] Vgl. Merkelbach 1993, S.5f.

[9] Chr. Weise (1642-1708 ), u.a. 8 Jahre Professor am Augusteum in Weißenfels und 30 Jahre Rektor in Zittau (vgl. O. Ludwig 1988, S.28ff, 45ff.), wo er seine „poetischen Exercitia“ niederschrieb, die nicht alle Schüler zu Dichtern machen sollten und trotzdem nicht nur instrumentellen Charakter hatten; Merkelbach verweist hier auf J. Müller 1982, S.10. Außerdem proklamierte Weise in seinem Lehrbuch der Poesie den dreifachen „inneren“ Nutzen der Poeterey; Merkelbach zitiert hier von A. Matthias 1907, S.88.

[10] Dilettant ist hier nicht abwertend, sondern in seiner ursprünglichen Bedeutung zu verstehen, nämlich als nicht beruflich geschulter Künstler bzw. Kunstliebhaber (hier: auf dem Gebiet der literarischen Kunst); vgl. Dudenredaktion (Hrsg.): Duden Herkunftswörterbuch; Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim 2001, S.147.

[11] Merkelbach 1993, S.6.

[12] Merkelbach 1993, S.7.

[13] Merkelbach 1993, S.7.

[14] Vgl. Merkelbach 1993, S.7.

[15] Merkelbach 1993, S.8.

[16] R.H. Hiecke (1805-1861), u.a. Konrektor am Merseburger Gymnasium und Direktor des Greifswalder Gymnasiums(vgl. O. Ludwig 1988, S.195f.) schrieb u.a.: Der deutsche Unterricht auf deutschen

[17] Vgl. Merkelbach 1993, S.8f.

[18] F.A.W. Diesterweg (1790-1866); veröffentlichte 1830 den Leitfaden Praktischer Lehrgang für den Unterricht der deutschen Sprache. Darin betont Diesterweg die Wichtigkeit des freien Schreibens und die Notwendigkeit der Ermutigung und Unterstützung durch die Lehrer (vgl. Merkelbach 1993, S.9f.).

[19] Vgl. Merkelbach 1993, S.9; Merkelbach zitiert von Frank 1973, S. 184ff.

[20] Merkelbach 1993, S.9f; Merkelbach zitiert von G.A. Lindner. In: H. Geffert (Hrsg.) 1956, 31965, S.18; G.A. Lindner schrieb 1884: Enzyklopädisches Handbuch der Erziehungskunde (vgl. Merkelbach, S.9).

[21] Vgl. Merkelbach 1993, S.9f; Merkelbach zitiert von G.A. Lindner. In: H. Geffert (Hrsg.) 1956, 31965, S.18.

[22] Vgl. Merkelbach 1993, S.10f.

[23] Vgl. Borst 1997.

[24] Neben einigen anderen Didaktikern gelten J.A. Comenius (1592-1671), A.H. Francke (1663-1727) und F.A.W. Diesterweg (1790-1866), Anmerkung 18, als Vorreiter einer vom Kind selbst initialisierten Bildung.

[25] Der Zeitraum von 1890-1933 wird allgemein der Reformpädagogik zugeschrieben und beschränkt sich nicht ausschließlich auf Deutschland, wie C. Freinet (FRA), M. Montessori (ITA) oder E. Key (SWE) beweisen (vgl. Borst 1997).

[26] Vgl. Borst 1997.

[27] Vgl. Borst 1997.

[28] Ludwig 1988, S.322.

[29] Vgl. Anmerkung 10.

[30] Vgl. Merkelbach 1993.

[31] Ich beziehe mich hier hauptsächlich auf die Entwicklung in der BRD. Zu Entwicklungstendenzen des Schreibens in der DDR (ab 1970) schrieb Kohl einige Anmerkungen, u.a. im Vorwort und im Aufsatz „Die Wolke ist ein Wandersmann“, vgl. Anmerkung 48.

[32] Vgl. Mattenklott 1979, S.40ff.

[33] Merkelbach 1993, S.25.

[34] Merkelbach 1993, S.25.

[35] Vgl. Ritter 2006: Freies und kreatives Schreiben.

[36] Vgl. Ritter 2006: Freies und kreatives Schreiben.

[37] Vgl. Kohl 2001, S.4.

[38] Vgl. Kohl 2001, S.4.

[39] Phantasie und Imagination können heutzutage durchaus synonym verwendet werden, vgl. Rodari 1992, S.172.

[40] Vgl. Spinner 2001, S.111.

[41] Vgl. Spinner 2001, S.111.

[42] G. Sennlaub; Vertreter des erlebnisorientierten Aufsatzunterrichts, der den Kindern freistellt, wann, wo und worüber sie schreiben (vgl. Spinner 2001, S.111).

[43] Fix/Melenk 2002, S.34.

[44] Fix/Melenk 2002, S.34.

[45] Vgl. Spinner 2001, S.108ff.

[46] Vgl. Spinner 2001, S.110.

[47] Vgl. Spinner 2001, S.111.

[48] E.M. Kohl hat in mehreren Publikationen sowohl Schreibinszenierungen als auch daraus resultierende Kindertexte vorgestellt, z.B. Schreibspielräume, 2005; Spielzeug Sprache, 1995; u.a.

[49] Kohl 2005.

[50] Kohl 2005, S.11.

[51] Spinner 2001, S.108.

[52] Vgl. Spinner 2001, S.108.

[53] Spinner 2001, S.111.

[54] Vgl. Ritter 2006: Freies und kreatives Schreiben.

[55] Kohl 2005, S.11.

[56] Linke/Nussbaumer/Portmann 1996, S.39.

[57] Linke/Nussbaumer/Portmann 1996, S.3f.

[58] Vgl. Adamzik 2004, S.30f.

[59] Kohl 1995, S.6.

[60] Vgl. Kohl 1995, S.6.

[61] Vgl. Kohl 1995, S.6.

[62] Vgl. Kohl 1995, S.6.

[63] Vgl. Adamzik 2004, S.31.

[64] kommunizieren: aus lat. communicare >gemeinschaftlich tun; mitteilen< ; vgl. Dudenredaktion (Hrsg.): Duden Herkunftswörterbuch; Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim 2001, S.431.

[65] Adamzik 2004, S.32.

[66] Adamzik 2004, S.33.

[67] Rodari 1992, S. 10.

[68] Adamzik 2004, S.30-40.

[69] Vgl. Mattenklott 1998.

[70] Mattenklott 1998.

[71] Mattenklott 1998.

[72] Vgl. Kohl 2005, S.24.

[73] Spitta 1999, S. 213.

[74] Mattenklott 1998.

[75] Kohl 2005, S.24.

[76] Vgl. Mattenklott 1998.

[77] Duncker 1994, S.117.

[78] Vgl. Duncker 1994, S.117; Duncker zitiert hier von Schlaffer 1986, S.19f.

[79] Ritter 2006: Freies und kreatives Schreiben.

[80] Kohl 1995.

[81] Tucholsky 2004, S.130.

[82] Vgl. Merkel 2000, S.9ff.

[83] L. Wygotski (1896-1934); gilt als Begründer der „sozio-kulturellen Theorie“, wonach die Komplexität der kognitiven Entwicklung von einer Interaktion des sozialen Umfeldes mit dem Kind selbst bestimmt wird, wobei die Sprache des kindlichen Umfeldes eine wesentliche Rolle spielt; 1934 entstand sein wichtiges entwicklungspsychologisches Werk Denken und Sprechen, das 1962 erstmals ins Englische und 1964 ins Deutsche übersetzt wurde (vgl. G. Mietzel 2003, S.99f.).

[84] Vgl. Dehn 1999, S.66ff.

[85] Dehn 1999, S.67; Dehn zitiert hier von L. Wygotski 1969, S.350.

[86] Vgl. 3.2.1.1: hier wird der nicht-kommunikative Gebrauch der Sprache iwS erläutert.

[87] Vgl. Dehn 1999, S.68; Dehn zitiert hier von L. Wygotski 1969, S. 347.

[88] Vgl. Dehn 1999, S.68ff.

[89] Merkel 2000.

[90] Merkel 2000, S.15.

[91] Merkel 2000, S.16; Merkel zitiert hier von Ornstein 1988, S.173.

[92] Merkel 2000, S.18; Merkel zitiert hier von Neumann 1995, S.146.

[93] Rodari 1992, S.100.

[94] Spinner 2001, S.29.

[95] Spinner, 2001, S.33.

[96] Vgl. Spinner 2001, S.38.

[97] Sartre 1965, S.87.

[98] Sartre 1965, S.80.

[99] Vgl. Sartre 1965, S.81ff.

[100] Vgl. Staudte 1993.

[101] Kohl 2001, S.4.

[102] Vgl. Kohl 2001, S.4.

[103] Bambach 1999, S 243.

[104] Vgl. Bambach 1999, S.244f.

[105] Vgl. Spitta 1999, S.216.

[106] Dehn 1999, S.72.

[107] Vgl. Ritter 2006: „Aber der Zauberer fand die Tür nicht mehr...“.

[108] Vgl. Dehn 1999, S.72.

[109] Vgl. Dehn 1999, S.34f.

[110] Vgl. Ritter 2006: Freies und kreatives Schreiben.

[111] Vgl. Kohl 2005, S.35.

[112] Vgl. Spitta 1999, S.216.

[113] Spitta 1999, S.217f.; die einzelnen Schreibmodi werden hier auch näher erläutert.

[114] Vgl. Spitta 1999, S.218f.; Spitta verweist hier auf Bereiter und Spitta a.a.O.

[115] Vgl. Spitta 1998, S.28.

[116] Kohl 2005, S.25.

[117] Vgl. Duncker 1994, S.113.

[118] Vgl. Ritter 2006: „Aber der Zauberer fand die Tür nicht mehr...“.

[119] Auch wenn die Begriffe definitorisch unterschieden werden könnten, werden sie in der Literatur heutzutage weitestgehend synonym verwendet (vgl. Roszak 2004, S.38, Anmerkung 8). Dem schließe ich mich an.

[120] I. Kant (1724-1804); gilt als Begründer der modernen Philosophie, die das Denken selbst zum Gegenstand der philosophischen Theorie machte. (Vgl. Knaurs Zeittafeln zur Deutschen Geschichte, Weltbild Verlag Augsburg, 2001.)

[121] Vgl. Roszak 2004, S.37.

[122] Roszak 2004, S.39.

[123] Kraemer/Spinner 2002, S.11.

[124] Vgl. Kraemer/Spinner 2002, S.11.

[125] Vgl. Kraemer/Spinner 2002, S.10f.

[126] Schäfer 1999, S.28.

[127] Vgl. Kraemer/Spinner 2002, S.10.

[128] Vgl. Kraemer/Spinner 2002, S.10.

[129] Vgl. Schäfer 1999, S.22f.

[130] Kraemer/Spinner 2002, S.11.

[131] Kraemer/Spinner 2002, S.12.

[132] Kraemer/Spinner verwenden hierfür auch den Begriff synästhetische Erfahrung, der m.E. das Gleiche umfasst.

[133] Kraemer/Spinner 2002, S.12.

[134] Vgl. Gien 2002, S.131.

[135] H. Hesse: Unterm Rad, 1906.

[136] Roszak 2004, S.41.

[137] Mattenklott 2004, S.117.

[138] Schäfer 1999.

Ende der Leseprobe aus 153 Seiten

Details

Titel
Wie Grundschulkinder einen Erzählrahmen als Schreibimpuls nutzen
Untertitel
Die Geschichte vom Lieblingsbuch
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
153
Katalognummer
V122391
ISBN (eBook)
9783640269556
ISBN (Buch)
9783656701033
Dateigröße
8762 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
"Die Arbeit [...] überzeugt sowohl durch die Wahl seiner Thematik, die klug argumentierende und kritisch reflektierende wissenschaftliche Arbeitsweise, die sehr guten Literaturkenntnisse und nicht zuletzt durch seinen gut lesbaren, flüssigen Stil." "Die Arbeit[...], die versucht Zusammenhänge zwischen Vorgaben zum Schreiben und den in Auseinandersetzung mit diesen Vorgaben entstandenen Texten von Kindern herauszuarbeiten, setzt insofern an einem bislang weitgehend vernachlässigten Forschungsfeld der Deutschdidaktik an, was die Bedeutung der Arbeit bereits vorab nachhaltig unterstreicht."
Schlagworte
Grundschulkinder, Erzählrahmen, Schreibimpuls
Arbeit zitieren
Alexander Jantz (Autor:in), 2007, Wie Grundschulkinder einen Erzählrahmen als Schreibimpuls nutzen , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122391

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Wie Grundschulkinder einen Erzählrahmen als Schreibimpuls nutzen



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden