Graffiti - Vandalismus mit poetischem Potential

Urbane Graffiti im Vergleich mit konkreter und visueller Poesie


Bachelorarbeit, 2008

44 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Worte werden Bilder
2.1 Ursprünge der Text-Bild-Vermischung und deren Folgen
2.2 Konkrete und visuelle Poesie
2.2.1 Konkrete Kunst
2.2.2 Konkrete Poesie
2.2.3 Visuelle Poesie
2.3 Graffiti
2.3.1 Entwicklungsgeschichte des Graffiti-Writings
2.3.2 Inhalt/ Absicht / Rezeption

3. Direkter Vergleich der Ausdrucksformen
3.1 Gemeinsamkeiten
3.1.1 Skripturale Materialästhetik
3.1.2 Moderne Poesie und nachbürgerliche Gesamtkunst
3.1.3 Kreativität, Nonkonformismus und Freiheit
3.2 Differenzen

4. Schlussbetrachtungen

5. Quellenverzeichnis

6. Anlagen

1. Einleitung

Zum Wesen des urbanen Raumes gehören seit mehreren Jahrzehnten die ihm unfreiwilllig aufgeschminkten Graffiti, die schleichend und anonym nahezu jegliche Wand und Oberfläche der Öffentlichkeit mit ihrer Kryptik okkupieren und heute wesentlich das Gesicht einer Stadt prägen. Vom Großteil der Passanten als sinnlose und kriminelle Krakelei aufgefasst, werden diese nächtlichen Farb- und Wortanschläge meist in der alltäglichen Wahrnehmung ausgeblendet und übersehen. Die dahinter stehenden Aktivisten, deren Motive ebenso rätselhaft wirken wie die hinterlassenen Zeichen, bleiben größtenteils unbekannt und wollen auch nicht in Erscheinung treten. Für sie zählen lediglich die zumeist mittels Marker oder Sprühlack aufgebrachten Buchstaben- ansammlungen und Wörter.

Wendet man sich diesen oftmals farben- und formenreichen Äußerungen einmal bewusst rezeptionsästhetisch zu, so stellt sich aufgrund des semantischen und graphischen Gehalts schnell die Frage, ob diese primär als Texte oder als Bilder aufzufassen sind. Eine eindeutige Zuordnung lässt sich durch den Doppelcharakter nicht treffen, vielmehr handelt es sich um ein Hybridformen aus Schrift und Graphik, wenn nicht sogar aus Literatur und bildender Kunst, die am Ende einer langen Traditionslinie stehen. Sie verweisen indirekt auf die mannigfaltigen Symbioseformen beider Kunstgattungen, welche durch avantgardistische Zirkel zu Beginn des letzten Jahrhunderts jenseits ihrer medienspezifischen Grenzen hervorgebracht wurden und die zu den unterschiedlichsten Kunst- und Literaturströmungen führten.

Für das Phänomen Graffiti wäre es nun interessant, ob diese Bildtexte sich überhaupt, und wenn ja, auf welche Wurzel im Kern zurückverweisen lassen. Dabei scheint es trivial, Graffiti dem Zweig der bildenden Kunst zuzuschreiben und darin eine graphische Gestaltung von asemantischen Schriftzeichen, eine experimentelle Typographie oder Kalligraphie, zu sehen. Stattdessen soll in dieser Arbeit der literarische Kontext im Vordergrund stehen und untersucht werden, in wie weit sich in den Graffiti auch Keime und Konzepte einer „urban poetry“ wieder finden lassen. Das Hauptaugenmerk der Untersuchung soll auf den Schnittstellen zur konkreten und visuellen Poesie liegen. Um den Diskussionsgegenstand für einen fundierten Vergleich vorzubereiten und auf bestimmte Aspekte einzugrenzen, wird zuvor eine Einführung in die Themen erfolgen. Im weiteren Verlauf soll die Frage aufgeworfen werden, ob Graffiti vielleicht eine neue synthetische „Gesamtkunst“ darstellt, die jenseits der beiden Gattungen anzusiedeln ist.

2. Worte werden Bilder

Die Werke der konkreten und visuellen Poesie als auch der Graffiti lösen beim Betrachter zunächst Irritationen aus, da das gehegte Medium der Schrift verfremdet, destruiert oder mit anderen Bildern in Beziehung gesetzt wird. Die Körper der Buchstaben erhalten plötzlich eine ungeheure Aufmerksamkeit, rücken aus ihrem Schattendasein in den Vordergrund und machen durch ihre physische Präsenz die semantische Mission nahezu vergessen.

Im Folgenden soll knapp auf die Visualisierungstendenz in der Literatur eingegangen werden. Anstelle der üblichen chronologischen Auflistung von Ereignissen und Namen werden in abstrahierter Weise die wesentlichen Züge und Entwicklungsschritte aufgezeigt, da diese für die weiteren Untersuchungen ergiebiger erscheint. Im Anschluss daran soll es zu einer unkommentierten Gegenüberstellung von konkreter bzw. visueller Poesie und den Graffiti kommen, in welcher die unterschiedlichen Entstehungshintergründe, aber auch die jeweiligen Künstler und ihre Absichten allgemein vorgestellt werden. Dieser erste Teil der Arbeit soll in das Thema einführen und grob die Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Bereiche neutral skizzieren, während im darauf folgenden Hauptteil die eigentlichen, komparatistischen Untersuchungen durchgeführt werden.

2.1 Ursprünge der Text-Bild-Vermischung und deren Folgen

Über viele Jahrhunderte hinweg führten die Künste in der abendländischen Kulturgeschichte getrennte Eigenleben, deren klare Grenzen zueinander durch die Beschränkung auf bestimmte Medien und Zeichen abgesteckt waren. Obwohl es in den unterschiedlichen Epochen zu reichhaltigen formalen und inhaltlichen Beeinflussungen kam, waren beide Medien in einem Werk nur in wenigen Fällen anzutreffen, Visuelles und Verbales, Bild und Text blieben getrennt voneinander. Oft geschah die Verbindung indirekt, beispielsweise durch beigestellte Illustrationen von Texten, in Initialen oder einfachen Figurengedichten. Mit seiner Schrift „Laokoon oder Über die Grenzen von Malerei und Poesie“1 nimmt Lessing im Jahre 1766 eine klare Differenzierung beider Künste vor, indem er die jeweiligen Eigenarten herausarbeitet und so eine bewusste Trennung von den sukzessiv wahrzunehmenden Zeitkünsten, zu denen er die Poesie zählt, und den simultan wirkenden Raumkünsten der bildenden Kunst herbeiführt. Diese deutliche Abgrenzung und Reinigung beider Künste voneinander, die zwar zu einer Erhellung und Verdeutlichung der jeweiligen Eigenschaften führte, behinderte jedoch deren Fortentwicklung.

Seit dem Beginn der 20. Jahrhunderts zeichnet sich in beiden Bereichen eine neue Entwicklung ab. Künstler aus beiden Sphären rebellierten nahezu zeitgleich gegen ihre erstarrten Gattungsgesetze und überschritten auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten die medialen Demarkationslinien. Dieses wechselseitige Aufeinanderzugehen führte dazu, dass in Werken der bildenden Kunst plötzlich Schriftzeichen als gestalterische Mittel auftauchten und die Literatur visuelle Züge annahm. Avantgardistische Arbeiten auf Seiten der bildenden Kunst leisteten diesbezüglich die Kubisten, Dadaisten, aber auch Vertreter des Bauhauses. Sie sollen hier nur erwähnt sein, da weitere Ausführungen vom Thema abschweifen würden.

Im Bereich der Literatur war eine ähnlich progressive Stimmung festzustellen, die sich vor allem in der Poesie entwickelte, jedoch nicht der Radikalität der bildenden Kunst gleichkam. Im Kern der Strömungen steht ebenfalls der Wille, die Fesseln der tradierten Normen hinter sich zu lassen. Dies beginnt mit dem freien Vers bei Rimbaud, setzt sich mit der Emanzipierung des Einzelwortes gegenüber der Syntax bei Marinetti fort und mündet schließlich im bewussten Umgang mit Einzelbuchstaben durch Isou. Was sich darin abzeichnet ist ein, nicht zuletzt auch auf die sprachphilosophische Einflüsse der Zeit zurückzuführendes, neues Bewusstsein für das Material der Literatur. Die Schrift, die über Jahrhunderte nur als Transportmedium des reinen Geistes fungierte und so transparent wie möglich gehalten wurde, erfährt ab diesem Zeitpunkt eine neue Aufmerksamkeit bezüglich ihrer Körperlichkeit und visuellen Lautstärke. Der Inhalt verliert fortan mehr und mehr an Bedeutung, während das Interesse für die wieder entdeckte Physiognomie und Künstlichkeit der symbolischen Zeichen zunimmt. Diese doppelte Natur des Buchstabens, von Magie und Symbolik, signifikanter und ornamentaler Funktion, rückt zurück in das Blickfeld einiger Poeten und gibt den Anstoß für vielseitige visuelle Experimente. Einen ebenso wesentlichen Beitrag an der „Ikonisierung“2 der Literatur hatte, neben der Wiederentdeckung der Materialität der Schrift, die Innovation Mallarmés, die Fläche des Blattes als literarisches Ausdrucksmittel zu verwenden. In seinem Gedicht „Un coup des des“ aus dem Jahre 1897 setzt er erstmals bewusst Freiräume zwischen den Wörtern und erhebt die Fläche des Blattes bzw. die Leere der Zwischenräume zum poetischen Mittel.

Doch die wahre Verbindung von Schrift und Bild wird erstmals durch Appolinaire vollzogen. Obwohl seine „Calligramme“ von 1914 den romantischen Figurengedichten sehr ähnlich sind, brechen sie doch mit den bisherigen Darstellungsmuster und führen zu einer neuen Form der Interaktion von Text und Nicht-Text bzw. Bild, die als Grundstein für alle folgende Ausprägungen der visuellen Varianten von Poesie anzusehen ist. Hieraus entwickelt sich über weitere Experimente, dabei seien vor allem die Futuristen erwähnt, ein freies Spiel zwischen den beiden Medien, das schließlich zur visuellen und digitalen Poesie dieser Tage führt.

Der Preis hingegen, den die Literatur für die Aufnahme des Visuellen zahlte, war hoch. Von nun an muss sie sich mit existentiellen Fragen auseinandersetzen und ihre eigenen Grenzen ausleuchten. Fraglich wird, was mit Literatur ausgedrückt werden kann, aber besonders wo die Möglichkeiten des literarisch Sagbaren liegen. Im Extremfall des graphischen Einflusses auf ein literarisches Werk heißt dies, dass ein augenscheinliches Werk der bildenden Kunst immer noch Literatur außerhalb der Literatur sein kann. Das Wesensmerkmal Text scheint damit nicht mehr ausreichend für die Zugehörigkeit zur Gattung, wodurch sie sich in die Gefahr der „potentiellen Selbstauflösung“3 begibt.

Für die meisten bimodalen Werke, selbst für die allerersten Bild-Text-Experimente, gilt, dass sie ohne eine kontextuelle Zuordnung nicht mehr einer bestimmten Gattung zuzuweisen sind, da die differenzierenden Merkmale darin irreduziebel verwischen. Es kommt nun viel mehr darauf an, unter welchen Voraussetzungen und mit welcher Intention der Künstler das Werk geschaffen hat und vor allem wie der Leser bzw. Betrachter das Werk rezipiert.

2.2 Konkrete und Visuelle Poesie

Zurückkommend auf die mediale Verwischung der Künste im 20. Jahrhunderts, muss als ein weiterer Meilenstein dieser Entwicklung die neovisuelle Dichtung der 70er Jahre angeführt werden. Die Konglomerate aus Bild und Text beschränken sich darin nicht länger nur auf eine gegenseitige medienspezifische Ergänzung wie noch in ihren jahrhundertealten Vorläufern der Figurengedichte, oder den späteren Comics bzw. der Plakatkunst, sondern erzeugen durch eine Bild-Text-Konfrontation einen polysemantischen Metatext, der ein freies assoziatives Spiel zwischen sprachlichen und graphischen Elementen ermöglicht. Die Ursprünge dieser Dichtung liegen vor allem in der konkreten Poesie, deren Merkmale zunächst vorgestellt werden sollen, bevor weitere Ausführungen zu den neueren optischen Gedichten folgen. Die konsequenteste Umsetzung der avantgardistischen Zweifel, Hoffnungen und Ideale gegenüber der Sprache finden im literarischen Bereich in der konkreten Dichtung ihre Ausprägung. Sie ist gekennzeichnet von einer amimetischen Haltung, die den Blick hauptsächlich auf das Material richtete und markiert den Wendepunkt zu einem neuen Sprachbewusstsein. Im Grunde handelte es sich um die Adaption eines bereits bestehenden Konzepts der bildenden Kunst, das unter dem Namen konkrete Kunst bekannt wurde und fundamental auf die beiden Lyrik-Formen wirkte.

2.2.1 Konkrete Kunst

Wassily Kandinsky, der in seinen theoretischen Werken bereits 1912 die Abkehr von der getreuen Wirklichkeitsabbildung, hin zu einer entfunktionalisierten, entidealisierten und gegenstandsbefreiten Malerei forderte, gilt als der Wegbereiter dieser Richtung. In Abgrenzung zur abstrakten Kunst, deren Werke sich auf Sachverhalte außerhalb des Bildes beziehen, wurde durch ihn eine Entwicklung vorangetrieben, die den Bildgegenständen, seien es bestimmte Formen oder Farben, Eigenqualitäten als Kompositionselemente zu sprach. Die innerbildlichen Elemente erhielten, entgegen jeglicher Tradition, einen selbstreferentiellen Objektstatus und besaßen eine individuelle „Form- und Ausdrucksqualität“4. Sie werden im Bezug auf sich selbst „konkret“ als „Geist-Form“5

wahrgenommen und nur noch anhand ihrer ästhetischen Eigenschaften, nicht mehr im Hinblick auf ihre Referenzialität und den Grad des Realismus, bewertet. Weiteren Anteil an der Entstehung der konkreten Kunst hatte die Entwicklung der suprematistischen Malerei durch Malewitsch, der eine Reduktion auf formale Elemente, besonders Quadrate und Vierecke, proklamierte und der Kunst damit völlig neue Perspektiven eröffnete. Theo van Doesburg, ein Gründungsmitglied des niederländischen „De Stil“-Künstlerkollektivs, arbeitete die beiden Konzepte aus und prägte schließlich durch sein 1930 erschienenes Manifest den Begriff „konkrete Kunst“. Er besiegelte den vollkommenen Bruch von Kunst und Wirklichkeit und hatte wesentlichen Anteil an der Autonomisierung und Vergegenständlichung der Darstellungsmittel, die vom Rezipienten eine aktivere und aufgeschlossenere Haltung gegenüber den Werken voraussetzten. Bereits Van Doesburg versuchte mit seinen Kollegen von De-Stijl das Konzept der Konkreten Kunst auf die Literatur zu übertragen und forderte, dass der Dichter „SCHREIBEN“ statt „beschreiben“ sollte.6 Die Konkretisierung der Poesie scheiterte jedoch daran, dass Buchstaben entweder nur als graphische Mittel ohne jegliche Semantik verwendet wurden oder eine Gestaltung erfuhren, sich aber nicht von der ursprünglichen Wortbedeutung lösten. Ähnliche Ansätze, die ebenfalls die Überführung dieses Prinzips auf die Literatur suchten, lassen sich in der Folgezeit nachweisen, so etwa 1944 bei dem Italiener Belloli oder 1953 bei Fahlström aus Schweden.

2.2.2 Konkrete Poesie

Zu wirklicher Popularität und einer theoretische Untermauerung fand die konkrete Poesie allerdings erst in den frühen 50er Jahren. Nahezu zeitgleich entwickelten sich an zwei Orten der Welt, die mit der Schweiz und Brasilien kulturell als auch geographisch nicht weiter auseinander liegen konnten, deren Geburtsstätten. Namentlich handelte es sich bei den Pionieren um den Dichter Eugen Gomringer, der als mehrjähriger Sekretär von Max Bill in Ulm tiefe Einblicke in die konkrete Kunst erworben hatte, und in Südamerika um die Noigandres-Gruppe. Ihre Arbeiten wirkten wie eine Initialzündung und führten zu Nachahmern in allen Winkeln der Welt. Diese neue Form der Poesie erwies sich als Affront gegenüber der bisherigen Lyrik und wurde von einem Großteil der Literaturwissenschaftler für lange Zeit ignoriert. Nichtsdestotrotz entwickelte sich in beiden Teilen Deutschlands in der Folgezeit eine große Autoren- und Anhängerschaft. Besonders hervorzuheben sei für die deutschsprachige Entwicklung neben der Wiener Gruppe mit Gerhard Rühm und Konrad Bayer auch die Stuttgarter Gruppe um Max Bense, Helmut Heißenbüttel, Reinhard Döhl, Franz Mon und Ernst Jandl.

Um ausufernde Erklärungen zu den etlichen, sich teilweise stark voneinander unterscheidenden Manifesten zu vermeiden, sollen im Folgenden die allgemeinen Züge der Bewegung zusammengetragen werden.

Mit der konkreten Poesie erreicht die Aufmerksamkeitsverschiebung vom „Inhalt“ zur „Form“7, hervorgerufen durch die stetig steigende Skepsis und das Misstrauen gegenüber der mimetischen Sprachverwendung in der Dichtung, ihren Höhepunkt. Nicht minderen Einfluss an der Entwicklung hatten die schockierenden Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, in welchem Sprache durch die Machthaber als ideologisches Instrument zur Agitation und zum Völkermord missbraucht wurde. Als Reaktion darauf setzten sich die konkreten Dichter mit dem Material und der Analyse von Sprachprozessen auseinander. Zugleich erwies sich die konkrete Poesie auch als rettende Möglichkeit mit neutralen Bedeutungen, jenseits der historischen Assoziationsaufladungen, einen poetischen Neuanfang zu machen. Als eine Art „Neo-Avantgarde“8 griffen sie die experimentellen Ideen der Vorkriegsdichtung auf, führten deren Tradition aber ernster, nüchterner und kontrollierter weiter.

Kennzeichnend für die konkrete Poesie ist die radikale Reduktion des Materials. Das Herauslösen von einzelnen Wörtern und Buchstaben aus dem üblichen Textmeer richtet sich vornehmlich gegen die Achtlosigkeit der bisherigen Sprachverwendung und dient zugleich als poetisches Mittel. Ohne den Schutz des dichten Satzgefüges wirken die wenigen Wörter präpariert und durch das umgebende Weiß des Blattes wie mit einem Scheinwerfer ausgeleuchtet. Gezielt wird das Buchstabenmaterial in seiner Körperlichkeit präsentiert. Diese Separierung des Zeichenmaterials hat aber nicht nur den Vorteil, die asemantischen Qualitäten des Wortes hervorzuheben, sondern befreit sie zugleich von ihrer engen Kontextbindung und präsentiert es in einem bedeutungsungeladenen Vakuum. Aus diesem „Nullkontext“9 erwächst ein Assoziationsraum „konkrete[r] Semantik“, der lediglich durch die Gedanken und Erfahrungen des jeweiligen Rezipienten begrenzt wird. Während der ersten Phase der konkreten Poesie fanden vorwiegend Experimente bezüglich der Grenzen des Sprachmaterials statt. Dabei entstanden auch Texte, die sich ihrer Wortsematik vollkommen verweigerten und nur mit der Physis der Lettern auseinander setzten. Hervorzuheben sind hier die Typoaktionen des Hansjörg Mayer sowie andere Buchstabenbilder dieser Zeit.10 Selbst die Materialgrenze des Wortes, an der Gomringer noch Halt machte, wurde überschritten. Begriffe werden zerstückelt und bis zur Unleserlichkeit aufgelöst. Zu einem weiteren Schlüsselmerkmal der Konkreten Poesie gehört die Nutzung der Fläche als „konstitutives Element“11. Zur Folge hat die freie Anordnung einzelner Begriffe bzw. Buchstaben auf dem Blatt die Loslösung von syntaktischen und grammatikalischen Normen, so dass ein „topographischer Kontext“12 entsteht. Konkrete Poesie arbeitet außerdem mit den Möglichkeiten visuell-verbaler Beziehungen und weist dadurch stark interdisziplinäre Tendenzen auf. Nachfolgend seien einige konkrete Textsorten angeführt, an denen das Spiel mit der Fläche, aber auch deren wesentliche Merkmale, verdeutlicht werden.

Zunächst einmal muss auf das Ideogramm13, einer einfachen und geschlossenen Form konkreter Poesie, eingegangen werden. Der Text besteht zumeist aus einem Wort und thematisiert in seiner graphischen Anordnung tautologisch die innewohnende Bedeutung. Komplexer und offener dagegen ist die Konstellation14, die durch Gomringer entwickelt wurde. Der Begriff wurde von ihm bewusst gewählt und stellt eine Reminiszenz an die Arbeit von Apollinaire dar. Wesentliches Merkmal dieses Textkonzepts, so muss man es aufgrund der Durchdachtheit nennen, ist die „gleichzeitige präsenz einiger – meist weniger – worte“15, die unkommentiert nebeneinander stehen. Die Fläche wirkt dabei als „zwischen- und umgebungsraum, der einzelne Elemente nicht nur trennt, sondern auch verbindet und assoziationsmöglichkeiten schafft.“16 Damit bricht die konkrete Dichtung mit der linear-sukzessiven Textrezeption und erzeugt durch die unkommentierte Konfrontation von unzusammenhängenden Begriffen ein Spannungsfeld, das nahezu grenzenlose Assoziationen erlaubt. Die daraus entstehenden Bedeutungslücken müssen durch den Rezipienten selbst mit Sinn gefüllt werden und fordern ihn zur aktiven Teilnahme auf. Eine Abwandlung der Konstellationen findet sich in den Permutationen17, bei denen an die Stelle der freien Assoziationen eine mathematische Regel tritt, die die Verletzlichkeit der sprachlichen Ordnung allein durch feinste Veränderungen in einer Reihe thematisieren. Als weitere Formen der Typologie führt Gomringer noch Palindrome und Dialektgedichte an, auf die hier jedoch nicht eingegangen werden soll. Anhand der oberen Erläuterungen wird deutlich, dass für das Funktionieren konkretistsischer Texte die Begriffswahl und die Visualisierung entscheidende Kriterien darstellen. Obwohl Piktogramme18, deren Textanordnung absichtlich abbildende Umrisse haben, auch von ihm unter den Oberbegriff fallen, sollen diese später als Grenzfall in der visuellen Dichtung aufgeführt werden. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass konkrete Texte sehr experimentell sind und sich nicht nur auf die oben aufgeführten Kategorien beschränken. Vielmehr vermischen sich diese oft und sind demnach nur ein kleiner Auszug aus der

Bandbreite der Möglichkeiten.

Die konkrete Dichtung, die auch als sprachimmanent bezeichnet werden kann, kennzeichnet weiterhin eine durchdachte Logik, hinter der ein rationaler und methodischer Autor steht, der die Spiel- und Sprachregeln beherrscht. Der Dichter schafft in diesem Sinne keine abgeschlossenen Werke, sondern erzeugt Denkgegenstände19, in denen sich der Betrachter mit der Sprache aktiv und spielerisch auseinander setzen soll. Dieses Merkmal, das sich unter dem Begriff des „konkreten Lesens“20 zusammenfassen lässt, wird erst durch die semantische Offenheit ermöglicht und ist weit vom einfachen Decodieren eines Textes entfernt. Der Leser wird zum Sekundärautor und erzeugt, vor dem Hintergrund seiner individuellen Lebenserfahrungen und dem bisherigen Umgang mit der Sprache, einen höchst subjektiven Sinn. Konkrete Poesie wirkt dabei wie ein „Spiegel unseres Bewußstseins“21, da in die Bedeutungskonstitution persönlichste Assoziationen einfließen. Der Leser muss sich dem Text bereitwillig und unvoreingenommen, entgegen seiner üblichen funktionalistischen und kontextuellen Routine, annähern und ihn auf Strukturen untersuchen, Bedeutungen durchprobieren und die Begriffe für sich in eine syntaktische Ordnung bringen. Tut er dies nicht, wird ihm die Welt der Konkretion vollkommen verschlossen bleiben.

In den Denkspielen geht es neben der vielfältigen subjektiven Bedeutungserzeugung hauptsächlich um die Neu- und Wiederentdeckung der Sprache und die Reflexion von Kommunikation. Die Bewusstmachung der Prozesshaftigkeit, Materialität und semantischen Polyvalenz, aber auch das Fördern der rezeptionellen Phantasie stehen im Mittelpunkt der Arbeiten. Konkretistische Texte thematisieren Sprache als Sprache indem sie ihre Vielfältigkeit nicht in langen Abhandlungen theoretisieren, sondern praktisch, „ästehtisch-simultan“22 demonstrieren. Sie sind Dichtung mit den Elementen der Sprache und verstehen sich als Gegenstand, nicht als eine Aussage über einen Gegenstand. Trotzdem sind sie nicht statisch, sondern erweisen sich als unablässige Bewegung. Das Kriterium für die Qualität eines solchen Gedichts bemisst sich an „dem Grad des Einblicks, den es in das Wesen der Sprache ermöglicht“.23 Der individuell erzeugte Sinn ist sekundär und wird im günstigsten Falle sofort, zugunsten einer neuen Kombination, wieder aufgegeben. Der Rezipient soll anhand dieser “Sprachexerzitien“ prinzipiell eigenständig die Vielfalt und Gemachtheit der Kommunikation entdecken, wenn nötig aber durch theoretische Erörterungen auf die Besonderheiten aufmerksam gemacht werden.

2.2.3 Visuelle Poesie

Durch die Sprachexperimente der Konkretisten, die in vielen ihrer ersten Arbeiten die Buchstabenkörper zerstörten, übereinander schichteten und transformierten, entstand eine gewisse Definitionsunsicherheit bezüglich der Werke der Visuellen Poesie, deren Wurzeln bis in die Antike und das Mittelalter zurückreichen.24

[...]


1 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon. Frankfurt am Main 1988.

2 Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. München 1977. Seite 9. Im Folgenden mit Faust bezeichnet.

3 Faust, 8.

4 Weiss, Christina: Seh-Texte. Zirndorf 1984. Seite 44. Im Folgenden mit Weiss abgekürzt.

5 Weiss, 51.

6 Weiss, 56.

7 Heißenbüttel, Helmut: Texte und Dokumente zur Literatur. Seite 11.

8 Herwig, Oliver: Wortdesign. München 2001. Seite 11.

9 Weiss, 110.

10 Weiss, 100.

11 Mon, Franz: Zur Poesie der Fläche. In: Gomringer, Eugen: konkrete poesie. Stuttgart 1972. Seite 167.

12 Weiss, 72.

13 Abb. 1

14 Abb. 3 und 4

15 Gomringer, Eugen: Zur Sache des Konkreten. St. Gallen 1988. Seite 126.

16 Gomringer, Eugen: Zur Sache des Konkreten. St. Gallen 1988. Seite 93.

17 Abb. 2

18 Abb. 6

19 Gomringer, Eugen: konkrete poesie. anthologie. Stuttgart 1972. Seite 156.

20 Weiss, 116.

21 Bremer, Klaus: Farbe bekennen. Zürich 1983. Seite 35.

22 Weiss, 113.

23 Rückert, Gerhard & Reinhard Schuler: Konkrete Poesie. Dortmund 1974. Seite 12.

24 Zur Einführung in die Geschichte der visuellen Poesie sei folgendes Werk empfohlen. Funk, Julika : Text als Figur - Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Katalog zu einer Ausstellung der Bibliothek der Universität Konstanz. Konstanz 1988.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Graffiti - Vandalismus mit poetischem Potential
Untertitel
Urbane Graffiti im Vergleich mit konkreter und visueller Poesie
Hochschule
Freie Universität Berlin  (AVL)
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
44
Katalognummer
V122324
ISBN (eBook)
9783640261109
Dateigröße
8982 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Graffiti, Vandalismus, Potential
Arbeit zitieren
Art Vandalay (Autor:in), 2008, Graffiti - Vandalismus mit poetischem Potential, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122324

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Graffiti - Vandalismus mit poetischem Potential



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden