Scham - eine Emotion in ihren sozialen Bezügen


Vordiplomarbeit, 2006

26 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Voraussetzungen für das Auftreten des Schamaffekts
2.1 Die menschliche Existenzweise
2.2 Die Fähigkeit zur Selbstobjektivierung

3. Merkmale des Schamaffekts

4. Funktionen der Scham.

5. Scham als soziales Phänomen
5.1 Scham im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Normen
5.2 Die Bedeutung der Anderen
5.3 Scham für andere und Kollektivscham.

6. Scham und Beschämung in der Erziehung

7. Soziale Merkmale als Schamanlass – Status und Scham

8. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Scham als eine menschliche Emotion ist dem Menschen durch sein persönliches emotionales Erfahrungsrepertoire bekannt. Er schämt sich für Mängel in seinem sozialen Bild, seiner körperlichen Erscheinung, für Ungeschicklichkeit, für Andersartigkeit. Eine Aufzählung ließe sich fortführen und spezifizieren, doch lassen sich Scham und ihre Struktur weder über Schaminhalte, also das, wofür eine Person sich schämt, noch über Schamanlässe, nämlich die Situation, in der sie sich schämt, erklären. Schamanlässe und Schaminhalte variieren innerhalb der Geschichte, innerhalb von verschiedenen Gesellschaften und aufgrund individueller Dispositionen. Eine für einen bestimmten Menschen beschämende Situation kann einer anderen Person nichts anhaben – eine Situation, die früher als beschämend empfunden wurde, erscheint zu einer anderen Zeit als nicht schambehaftet. Es ist schwierig oder unmöglich, Schamanlässe und -inhalte zu bestimmen, die für die Gesamtheit der Menschen zutreffend sind. Situationen können ein schamverursachendes Potential haben, es kann ein korrelativer, aber kein kausaler Zusammenhang zwischen bestimmten Umständen und dem auftretenden Schamaffekt vermutet werden. Diese Hausarbeit hat es sich daher zum Thema gemacht, sich dem Phänomen der Scham zu nähern über die Fragestellung nach dem sich schämenden Menschen und der ihn umgebenden Gesellschaft. Was ist Besonderheit der menschlichen Existenzweise und wie verhält der Mensch sich zu sich selbst und zu seiner Umwelt? Die Annäherung an den Begriff Scham geht zuerst vom Menschen selbst aus, von der Frage nach dem sich schämenden Subjekt: Was für ein Wesen ist der Mensch, dass er sich schämen kann und schämt? Was ist Besonderheit der menschlichen Existenzweise? Dieser Frage werde ich mich in 2.1 widmen, um danach (2.2) eine erste Einordnung der Scham in einen sozialen Zusammenhang vorzunehmen. Nach der Klärung der allgemeinen Bedingungen der Scham, die sich in der spezifischen (sozialen) Existenzweise des Menschen finden, werde ich mich den allgemeinen Merkmalen des Schamaffekts zuwenden (3.), die auf seiner Unterscheidung von anderen emotionalen Zuständen bestehen und sich in spezifischen emotionalen Empfindungen, physiologischen Besonderheiten und veränderten Verhaltens- weisen konkretisieren, die für den Schamaffekt zwar nicht bindend sind, ihn aber in ihren individuellen Abstufungen durchaus charakterisieren. Weiterhin werde ich auf die der Scham innewohnenden Funktionen eingehen (4.) und mich dann der Scham als sozialem Phänomen zuzuwenden (5.), um ihre Abhängigkeit von gesellschaftlichen Normen (5.1) und der Anwesenheit anderer Menschen (5.2), sowie ihren potentiell sozialen Charakter (5.3) zu erläutern. Auf die individuelle in sozialen Zusammenhängen geschehende Beeinflussbarkeit des Schamempfindens unter dem Einfluss der Erziehung werde ich in 6. eingehen, um letztendlich die Unterschiede im Schamempfinden von verschiedenen Personen unter dem Gesichtspunkt des sozialen Merkmals Status zu betrachten (7.). Ziel dieser Hausarbeit ist es damit, das Phänomen Scham unter Berücksichtigung seiner individuellen Komponenten in seinen allgemeinen sozialen Bezügen darzustellen.

2. Voraussetzungen für das Auftreten des Schamaffekts

2.1 Die menschliche Existenzweise

Die menschliche Existenzweise muss allgemeine Bedingung für das Auftreten des Scham- affekts sein. Schon der Philosoph und Soziologe Max Scheler[1] geht in seiner Phänomenologie des Schamgefühls von einer Abhängigkeit des Affekts von der Existenzweise des Menschen aus. Sein Menschenbild sieht den Mensch zusammengefügt aus den beiden Komponenten „Geist“ und „Leib“ (vgl. Scheler 1957, S. 67 ff.). Der Geist steht für das Göttliche, alle geistigen Erkenntnisakte und das geistige Gefühl der Liebe. Der Begriff Leib umfasst das Tierische, die körperliche Abhängigkeit und die körperlichen Bedürfnisse und Triebe. Der Mensch ist zwischen diesen beiden Seinsformen gefangen und er ist sich dessen bewusst. Er wird als ein Wesen, das im Gegensatz zum Tier zu geistigen Akten fähig ist, immer wieder auf seine leibliche Existenz zurückgeworfen. Die Zerrissenheit des Menschen zwischen beiden Seinsformen und die damit verbundene „Disharmonie … zwischen dem Sinn und dem Anspruch seiner geistigen Person und seiner leiblichen Bedürftigkeit“ (ebd., S. 69) sind Voraussetzung für das Schamgefühl.

Die Bewusstwerdung der körperlichen Gebundenheit, der Abhängigkeit vom Körper, wird als unangenehm und defizitär wahrgenommen. Scheler verortet hier die Schamempfindung: Scham liegt in dem „Gegensatzerlebnis eines irgendwie ideal ‚Seinsollenden’ zu einem ‚Faktischen’“ (ebd., S. 68). Da der Mensch seine geistige Existenz als körperunabhängig wahrnimmt, ist er im Bewusstwerden seines Körpers und den damit verbundenen niederen Bedürfnissen in seinem Empfinden desorganisiert und in seinem göttlichen Idealbild gestört. Diese innere Desorganisation schlägt sich im Schamgefühl nieder: „Er schämt sich in letzter Linie seiner selbst und ‚vor’ dem Gott in ihm“ (ebd., S. 69).

Schelers Theorie, dass Scham ihren Ursprung in einer inneren Widersprüchlichkeit findet, scheint nachvollziehbar, doch wendet er sich hauptsächlich der für den Körper empfundenen Scham zu. Um Schamphänomene umfassender erklären zu können, müssen auch andere Sphären, in denen der Mensch sich bewegt, so beispielsweise psychisches Innenleben und soziale Umwelt, mit einbezogen werden. Die Einflussnahme sozialer Faktoren als mögliche Bedingung auftretender Schamgefühle berücksichtigt Scheler jedoch nicht, als Vertreter einer biologistischen Determiniertheit der Scham verleugnet er vielmehr einen Einfluss der gesellschaftlicher Umstände auf die empfundene Scham und sieht andersherum das Schamgefühl als naturgegebene Ursache von Sitten (vgl. ebd., S. 108).

2.2 Die Fähigkeit zur Selbstobjektivierung

Eine andere, auf die Sozialität des Schamgefühls bezogene Herangehensweise zur Annä-herung an die Voraussetzungen für selbiges bietet Jean-Paul Sartre in seiner Analyse der Scham (Sartre 1943, S. 457 ff.). Sartre erklärt das Zustandekommen von Scham beispielhaft an der Situation eines Menschen, der von einem anderen dabei gesehen wird, wie er heimlich durch ein Schlüsselloch eine Situation beobachtet und dabei entdeckt wird. Das Erblickt-werden löst beim Entdeckten Scham aus.

Da der Mensch, der zuerst ein in seinem Bewusstsein unreflektiertes Subjekt ist, durch den „Blick des Andern“ (ebd., S. 471) zum Objekt gemacht wird, wird ihm eine andere Perspektive auf sich selbst eröffnet. Der Blick des Andern macht dem Menschen sein angeblicktes Selbst offenbar – Scham entsteht schließlich in der „Anerkennung dessen, dass ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt“ (ebd., S.471). Dem Gesehenen wird in der Welt also erst durch das Gesehenwerden eine Existenz zugeschrieben – zuvor ist er „unreflektiertes Bewusstsein“ – gleichzeitig tritt jedoch mit der Ambivalenz dem zugeschriebenen Sein gegenüber eine Art Identitätskrise ein. Das Angeblicktwerden wird somit als Selbstentfremdung beschrieben: „man kann sagen, daß ich es bin und es gleichzeitig nicht bin“ (ebd., S.473).

Die Existenz anderer Menschen, und somit die Möglichkeit des Gesehenwerdens von anderen, sind also, wie Sartre dargelegt hat, Voraussetzung der Scham. Der soziale Aspekt der Scham ist hiermit deutlich geworden; die Gesellschaft ist eine der Bedingungen innerhalb derer Scham passiert. Auf das Individuum bezogen muss die Fähigkeit zur Selbst-objektivierung gegeben sein. Das Individuum muss dazu in der Lage sein, sich selbst von außen mit den Augen anderer zu sehen – zu erkennen, dass es nicht nur für sich ist, sondern auch für andere ist. In der Anerkennung des Fremdbildes und der bewusstwerdenden Divergenz entsteht die schamauslösende Identitätskrise („Ich bin es, doch ich bin es nicht.“). Es stellt sich also die Frage, wann der Mensch dazu fähig ist, zwischen Selbst- und Fremdbild zu unterscheiden.

In Bezug auf die menschliche Ontogenese liefert die Säuglingsforschung hier mögliche Antworten.

In der kindlichen Entwicklung, die immer einen sozialen Bezug hat, da das Kind im Austausch mit der Umgebung steht, werden Selbst- und Fremdbilder immer weiter ausdifferenziert. Das Kind entwickelt ein Bild von sich selbst, ein Bild von anderen, und ist schließlich dazu fähig, das Bild der anderen von sich selbst zu erfassen. Es ist davon auszugehen, dass Schamreaktionen sich parallel zur fortschreitenden Entwicklung des Kindes herausbilden und sich „parallel zur Genese des Selbsterlebens und des Erlebens des anderen zunehmend auf weitere Bereiche des Selbst in Interaktion mit den anderen ausdehnen“ (Hilgers 1996, S.196).

Mario Jacoby schließt sich in seinem Werk der Auffassung von Tomkins (1963) an, dass Scham als „angeborener Affekt“ zu betrachten ist (Jacoby 1991). Demnach treten frühe Schamempfindungen bereits im Alter von 6-8 Monaten auf, nämlich wenn der Säugling im Rahmen der Achtmonatsangst versucht, sich ängstlich abzuwenden oder zu verstecken (er „fremdelt“), wenn er einen Fremden erblickt, obwohl er das vertraute Gesicht der Mutter erwartet (vgl. ebd. S. 90 ff.). Die gleiche Reaktion kann beim Kind ausgelöst werden, wenn die Mutter oder eine ähnlich wichtige Bezugsperson dem Kind mit einem Gesichtsausdruck begegnet, den es nicht erwartet, wenn also das Gesicht der Mutter fremd erscheint. Das Kind fühlt sich abgelehnt und „auf sich selbst zurückgeworfen“, es kann sich beschämt vorkommen.[2] Auch Hilgers stellt fest, dass sich Vorläufer eines Schamgefühls als „rudimentäre Unlusterfahrung“ schon in den ersten Lebensmonaten in Form von „Fremdenangst und in Zusammenhang mit der Erfahrung mangelnden Zusammenspiels mit den Eltern“ (Hilgers 1996, S.196) zeigen. Verlegenheit und Scham werden demnach zuerst durch Fremdheit ausgelöst. Erst wenn eine Vorstellung vom eigenen Bild entsteht, wird Scham zu einer „komparative(n) Reaktion gegenüber dem Selbst“ (ebd., S. 196). Dies ist bei einem ca. 15 Monate alten Kind der Fall: in diesem Alter kann es sich selbst im Spiegel erkennen und begreift, dass dieser etwas über es vermittelt (vgl. ebd. S.195/196).

Bezugnehmend auf die unter 2.1. vorgestellten Theorie kann festgehalten werden, dass der Schamaffekt unter folgender Voraussetzung auftreten kann: Der Mensch agiert aufgrund seiner ihm eigenen Existenzweise in verschieden Lebenssphären und wird sich darüber in einem Zustand der Irritation und Desorganisation bewusst. Dieser Zustand tritt auch ein, wenn die Vorstellungen vom Selbst- und Fremdbild des Individuums als unstimmig erfahren werden. Die Mehrdeutigkeit seiner besonderen Existenzweise als Mensch sowie die Bewusstheit über seine Existenz als ein Wesen, das nicht nur für sich, sondern auch für andere ist, stören potentiell seine personelle Einheit. Diese Irritation kann als der dem Schamaffekt zugrunde liegende Zustand benannt werden.

3. Merkmale des Schamaffekts

Obwohl vermutlich jeder Schamaffekt anders verläuft, so wie Schamanlässe und -inhalte stets variieren, lassen sich dem Schamaffekt bestimmte emotionale Empfindungen, physiologische Besonderheiten und verändertes Verhalten charakteristisch zuordnen.

Jeder Schamaffekt wird vom in seiner personalen Einheit desorganisierten Individuum in individueller emotionaler Vielfältigkeit erlebt. So kann es sich dadurch, dass die Augen der anderen real oder internalisiert auf es gerichtet sind, bloßgestellt fühlen, es fühlt sich passiv, der Situation ausgeliefert, es möchte am liebsten verschwinden oder „vor Scham im Boden versinken“.

Wenn der Schamaffekt eintritt, der Mensch angeblickt und vor dem Blick der anderen bloßgestellt wird, gehen mit den gefühlsmäßigen Empfindungen körperliche Reaktionen und Wahrnehmungen einher. Der Sich-Schämende versucht, den Blicken auszuweichen. Er schlägt die Augen nieder, er wendet den Blick oder den gesamten Kopf ab (vgl. Heller 1980, S. 111). Eine typische durch Scham ausgelöste vegetative Reaktion ist das Erröten, das von der sich schämenden Person selbst leiblich als aufsteigendes Hitzegefühl empfunden wird. Außerdem hebt es diese zusätzlich hervor (vgl. Landweer 1999, S. 41). Das durch die Schamesröte hergestellte zusätzliche Exponiertsein kann, weil die Person aufgrund des körperlichen Empfindens darum weiß und womöglich noch von anderen darauf hingewiesen wird, zu einer Verstärkung des Schamerlebens führen.

Die Irritation des Schamsubjekts, sein Gefühl des Exponiertseins, drückt sich bisweilen nicht nur über den Gesicht- und Kopfbereich betreffende Reaktionen aus, sondern schlägt sich im Erscheinen des gesamten Körpers nieder. Es kommt zu „undurchführbaren(n) oder sich gegenseitig blockierende(n) Bewegungsimpulse(n). Wer sich schämt, will sich am liebsten vor sich selbst verstecken, vor sich fortlaufen, in Staub und Nichts oder im Boden versinken“ (ebd., S. 40). Der mit dem Schamaffekt einhergehende Wunsch, verschwinden zu wollen, und das Gefühl, vernichtet zu sein, können sich in Bewegungsimpulsen, die eine Verkleinerung des Körpers andeuten, beispielsweise indem die Person sich duckt, ausdrücken (vgl ebd., S. 40). Auch Wurmser hebt hervor, dass das durch Scham ausgelöste Verhaltensmuster darauf abzielt, das Schamsubjekt aus der Situation zu isolieren: „Das Ziel der Scham ist das Verschwinden“ (Wurmser 1990, S. 147). Eine Realisation dessen kann konkret im Impuls, sich zu verstecken, stattfinden, sich aber auch im Erstarren des Körpers ausdrücken.

[...]


[1] Die Darstellung von Schelers Ansichten zur Scham und der Existenzweise des Menschen wird hier vorgenommen im Wissen um und in deutlicher Distanzierung von den sexistischen, rassistisch-biologistischen und eugenischen Untertönen in dessen Werk.

[2] Hier wird die Rolle der primären Bezugspersonen und der Erziehung für das Schamempfinden und spätere Schamanfälligkeit des Kindes angedeutet. Ich werde darauf in 6. näher eingehen.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Scham - eine Emotion in ihren sozialen Bezügen
Hochschule
Fachhochschule Kiel
Veranstaltung
Tiefendimensionen zwischen menschlicher Kommunikation und Interaktion: Eine Einführung in das psychoanalytische Denken
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
26
Katalognummer
V121649
ISBN (eBook)
9783640258512
ISBN (Buch)
9783640259953
Dateigröße
465 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Scham, Emotion, Kollektivscham, Schafaffekt, Psychoanalyse, Erziehung, Sozialisation, Status, Normen, sozial
Arbeit zitieren
Ulrike Krumbügel (Autor:in), 2006, Scham - eine Emotion in ihren sozialen Bezügen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121649

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