Die Bedeutung des Nationenkonzepts im kolonialen und postkolonialen Kontext - Eine Analyse anhand des ehemaligen französischen Protektorats Tunesien


Doktorarbeit / Dissertation, 2008

310 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung.

2 Was ist eine Nation?.
2.1 Die Französische Revolution.
2.1.1 Das Volk als Träger der Nation.
2.1.2 Die Proklamierung der Menschenrechte.
2.2 Die Eigenschaften einer Nation - nach Benedict Anderson.
2.3 Das Nationenkonzept - nach Ernest Gellner
2.4 Das nationale Bewusstsein - Die kollektive Identität
2.5 Nationalismus.
2.6 Standardisierung einer Nationalsprache/Nationalstaat und Nationalsprache.
2.7 Zwei unterschiedliche Konzepte von Nation: Deutschland - Frankreich.
2.7.1 Der Weg zur Bildung der deutschen Nation.
2.7.2 Eine intellektuelle Bewegung zur deutschen Nationenbildung.
2.7.3 Das aktuelle deutsche Grundgesetz.
2.7.4 Die aktuelle französische Verfassung.
2.7.5 Die Französische Revolution: Ursachen und Folgen.
2.7.6 Das französische Konzept der Nation.
2.7.7 Der Gedanke der civilisation française und der Versuch einer Interpretation.
2.7.8 Conclusio des Kapitels „Das deutsche und französischen Nationenkonzept“.
2.8 Die Nationenfrage im kolonialen und postkolonialen Zusammenhang.
2.8.1 Exkurs: Was ist unter Kolonialismus zu verstehen?.
2.8.2 Ein theoretischer Einblick in das postkoloniale Konstrukt von Nation.
2.8.3 Nation, Nationalismus und Nationalstaat in der arabischen Welt

3 Exkurs: Ein Ein-/Überblick in die Kolonialgeschichte Algeriens und Marokkos.
3.1 Algerien.
3.1.1 Das Aufkommen eines algerischen Nationalismus.
3.1.2 Der FLN..
3.1.3 Die Unabhängigkeit und das Danach.
3.1.4 Zusammenfassung.
3.2 Marokko.
3.2.1 Aufkeimender nationaler Widerstand - Der Rifkrieg und seine Folgen.
3.2.2 Zusammenfassung.

4 Tunesien - Ein einleitender Überblick in die Geschichte.
4.1 Tunesien bis ins 19. Jahrhundert
4.1.1 Arabisierung und Islamisierung Tunesiens.
4.1.2 Die gesellschaftliche Zusammensetzung.
4.1.3 Das europäische/französische Eingreifen in Tunesien.
4.1.4 Die französische Einflussnahme in Tunesien - Der Schutzvertrag von Bardo/ Le Traité du Bardo 1881
4.1.5 Tunesien als ein französisches Protektorat - Der Vertrag von La Marsa/ La convention de La Marsa 1883
4.1.6 Exkurs: Was ist ein Protektorat?.
4.1.7 Französischer Einfluss auf die Verwaltung und Gesellschaft
4.1.8 Erste Ansätze einer Reformpolitik durch General Kheredine.
4.1.9 Das Collège Sadiki
4.2 Die Anfänge des tunesischen Nationalismus.
4.2.1 Die Destour-Partei
4.2.2 Die Neo-Destour-Partei
4.2.3 Parteiinterne Differenzen um eine gemeinsame politische Linie.
4.3 Die innere Autonomie Tunesiens.
4.4 Die Unabhängigkeit Tunesiens.

5 Die Bildung eines unabhängigen tunesischen Nationalstaates.
5.1 Habib Bourguibas Vorstellung der tunesischen Nation.
5.1.1 Die Heimat - La patrie.
5.1.2 Die Einheit als notwendige Stütze.
5.1.3 Die gemeinsame Vergangenheit als gemeinsames Bewusstsein.
5.2 Die Neo-Destour-Partei als Pfeiler der tunesischen Nation und Einheit
5.2.1 Gemeinsames Erinnern an die Parteigründung als nationaler Grundpfeiler
5.2.2 Die Parteistruktur vor der Unabhängigkeit
5.2.3 Die Parteistruktur nach der Unabhängigkeit
5.3 Die Modernisierung der Gesellschaft durch ...
5.3.1 die Neudefinition der Rolle des Islams in der Gesellschaft und im Staat und die Auslegung der arabisch-islamischen Identität Tunesiens.
5.3.2 Die „Tunisifizierung“ Tunesiens.
5.3.3 Ein politischer Neuanfang !? - Die tunesische Verfassung aus dem Jahre 1959.
5.4 „Das nationale Symbol“ Habib Bourguiba.
5.4.1 Das Führungsprinzip Bourguibas.
5.4.2 Die tunesische Nation als Familie - Bourguiba in der Vaterrolle.
5.4.3 Habib Bourguiba und die Öffentlichkeitsarbeit
5.4.4 Die Reden Bourguibas als Kommunikations- und Propagandainstrument

6 Stützen und Symbole des Nationalstaates.
6.1 Nationale Organisationen.
6.2 Das Schulwesen Tunesiens.
6.2.1 Der Lehrinhalt
6.3 Die Sprachenthematik in Tunesien.
6.3.1 Habib Bourguiba und die arabische Sprache.
6.3.2 Exkurs: Die Bewegung der Frankophonie.
6.3.3 Habib Bourguiba und die französische Sprache.
6.4 Die tunesische Armee.
6.5 Die tunesische Flagge.
6.6 Die tunesische Hymne und der tunesische Nationalfeiertag.

7 Zusammenfassung/Schlussfolgerung.

8 Bibliographie.

9 Anhang.
9.1 Kurzfassung in deutscher Sprache.
9.2 Kurzfassung in englischer Sprache.

1 Einleitung

Der Begriff der Nation ist sehr vielfältig und eine einzige Begriffdefinition zu finden ist schwierig und auf Grund des Bedeutungsumfangs nicht zielführend. Die Worte Nation, Heimat, Volk und Staat sind eng miteinander verbunden und werden oftmals willkürlich verwendet. „Staat“ tritt an die Stelle von „Nation“, man spricht von „Nation“ wenn das „Volk“ gemeint ist und von der „Heimat“ wenn der „Staat“ bezeichnet wird. Grob gesagt ist die Heimat der Boden, auf dem eine Gruppe von Menschen lebt und dem sie sich verbunden fühlt. Das Volk wiederum ist eine Gruppe, die in einem Land lebt, die einen gemeinsamen historischen Ursprung aufweist und der gleichen politischen Ordnung unterstellt ist. Der Staat bildet die politische Organisation, auf der das Heimatland aufbaut und dessen Name immer vom jeweiligen politischen System abgeleitet wird, siehe österreichische Republik, Vereinigtes englisches Königreich oder tunesische Republik. Die Nation wiederum ist ein weitreichenderes Konzept als das des Staates, des Volkes ebenso wie das der Heimat. Auch wenn eine eindeutige Definition des Begriffs der Nation schwierig ist, gibt es Voraussetzungen, die eine Nation für gewöhnlich erfüllt. Eine Nation benötigt an sich keinen Staat und auch keine Heimat, sie muss also generell nicht territorial festgelegt sein, wobei dies nur in den seltensten Fällen nicht gegeben ist. Für gewöhnlich strebt eine nationale Gemeinschaft die Bildung eines gemeinsamen Territoriums, den Nationalstaat an, der dann als Heimat fungiert. Eine Nation definiert sich ideal-typisch durch eine eigene Sprache, eine gemeinsame Religion, eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Erinnerungen und findet ihren Zusammenhalt sowohl auf kultureller als auch auf politischer und wirtschaftlicher Ebene. Das massgebende Ereignis in Bezug auf die Bildung von Nationen bzw. der Etablierung des Nationengedankens als Kriterium der Einteilung der Völker bildet in Westeuropa die französische Revolution, die das Prinzip der Einheit und der Unteilbarkeit der Nation propagiert. Daraus resultiert die Forderung nach einem linguistischem Unitarismus, der die Einheit des Staates, der Nation und der Sprache fordert. Im kolonialen Kontext gilt das Prinzip der Assimilation, das davon ausgeht, dass die Einheimischen die französische Sprache und Kultur annehmen sollen und dadurch zivilisiert werden, vor allem für eine kleine politische Elite, die stark frankophon und franzisiert ist und die der französischen Sprache zu einem hohen Prestige verhilft. Für die Darstellung der Konzeption von Nation stützt sich diese Arbeit vor allem auf den konstruktivistischen Ansatz, wie ihn unter anderem Benedict Anderson, Ernest Gellner und Eric Hobsbawm vertreten, die, auf unterschiedlichen Wegen und sich zum Teil widersprechend, zum Schluss kommen, dass Nation ebenso wie nationale Identität keine natürlichen Größen sind, sondern vielmehr Konstrukte und Konzepte sind, sowohl im historischen als auch im geistigen Sinne. Es ist, mit einigen Ausnahmen, die geistige Elite eines Landes, die für die Entstehung der Nation eine bedeutende Rolle spielt, übernimmt sie doch die Position des Trägers und Vermittlers der nationalen Konzeption hin zur Masse der Bevölkerung.

Das Konzept der Nation, die sich auf einen starken Staatsapparat stützt, wird vom damaligen Staatspräsidenten Habib Bourguiba bei der Staatsbildung Tunesiens nach dem Erlangen der Unabhängigkeit herangezogen. Die Forschungsfrage lautet nun, auf welche Art und Weise es umgesetzt bzw. auf welchen Stützen es aufgebaut wurde. Die Nation an sich wird von etlichen Forschern als ein Phänomen betrachtet, das sich ab dem 19. Jahrhundert besonders in Europa ausgebreitet und vonm hier aus seinen Siegeszug angetreten hat. Ziel dieser Arbeit ist es, die Anfänge Tunesiens als unabhängigen Nationalstaat zu untersuchen und darzustellen auf welchen Elementen der Staat und die Nation aufgebaut werden. Der Untersuchungsgegenstand bezieht sich auf die Jahre vor und nach der Unabhängigkeit, wobei der zeitliche Rahmen bis ins Jahre 1959 eingeschränkt ist. In diesem Jahr wird die Verfassung verabschiedet, und es kann angenommen werden, dass sich die nationalen Elemente zum Großteil etabliert haben.

Die geschichtlichen Vorkommnisse im Maghreb sind von dem des übrigen arabischen Raums insofern zu unterscheiden, als dass die drei Länder, zuerst Algerien dann Tunesien und Marokko, im 19. Jahrhundert bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts, von der französischen Kolonialmacht erobert und auf diese Weise vom osmanischen Reich abgetrennt wurden. Während die Länder im Maschrek, zu dem Ägypten, Palästina, Jordanien, Syrien, der Libanon und der Irak zählen, gegen die Herrschaft des osmanischen Reichs kämpfen, richtet sich die nationale Bewegung im Maghreb gegen die französische Kolonialmacht, nicht aber gegen ein islamisch legitimiertes Reich. Auf Grund dieses historischen Unterschieds lassen sich die Differenzen der Ideologien zwischen den Ländern im Maghreb und im Maschrek erklären. Diese Thematik bedingt weiters, dass in dieser Arbeit nur im Kapitel „Nation, Nationalismus und Nationalstaat in der arabischen Welt“ ein globaler Blick auf den arabischen Raum, zu dem auch die Länder des Maghrebs zählen, geworfen wird, während sich der Rest der Arbeit allein mit Tunesien beschäftigt. Der Grund, warum gerade Tunesien ausgewählt wurde, liegt daran, dass es sich um das kleinste der drei Länder Nordafrikas handelt, dem in der wissenschaftlichen Forschung bezüglich der Unabhängigkeit und des Danachs weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird. Algerien bietet, auf Grund des jahrelangen Unabhängigkeitskriegs und auf Grund der ethnischen Zusammensetzung der Gesellschaft, ebenso wie Marokko, interessante wissenschaftliche Forschungsfelder. Die Geschichte Tunesiens weist eine gewisse Kontinuität und auf politischer Ebene eine bestimmte Stabilität auf. Gerade diese Tatsache macht das Land für das Forschungsfeld dieser Arbeit interessant, da auf diese Weise eine „natürliche“ Chronologie gegeben ist, was besonders das Finden geeigneten literarischen Materials und authentischer Quellen erleichtert. Bei der Schreibweise wurde in den meisten Fällen, je nach Kontext, auf die französische bzw. deutsche Variante der arabischen Begrifflichkeiten zurückgegriffen, was dazu führt, dass sich die Orthographie im Text und in einzelnen Zitaten unterscheidet.

Der erste Teil dieser Arbeit bildet den Versuch einer Begriffdefinition von Nation. Im Abschnitt, der sich mit den Enstehungsfaktoren und den Eigenschaften von Nation beschäftigt, sollen besonders die Literatur und Erkenntnisse von Benedict Anderson und Ernest Gellner herangezogen werden, die einen modernen, konstruktivistischen Ansatz vertreten. Die französische Revolution gilt als wichtiges Ereignis bei der Defintion eines modernen Nationenbegriffs, werden doch nun Volk und Nation ebenso wie Staat und Nation gleichgesetzt, was die Rolle der Menschen dem Staat gegenüber verändert, die von Untertanen zu freien Bürgern werden. Der unitaristische Charakter des Nationenkonzepts, der das Kennzeichen des französischen Konzepts ist, findet auch in anderen Ländern Anklang und geht davon aus, dass in einem Staat eine Nation zu Hause ist, die sich mit einer Sprache verständigt. Wichtige Kennzeichen, die eine Nation ausmachen bzw. mit sich bringen, sollen dargestellt werden, wie Nationalismus und die kollektive Identität. Es gibt nicht nur ein einziges Nationenkonzept. Vielmehr konzipieren und definieren sich Länder auf Grund unterschiedlicher Faktoren als eine Nation, was durch eine Gegenüberstellung von Frankreich und Deutschland gezeigt werden soll. Das Erste, das einen durch eine lange Geschichte verfestigten einheitlichen Staat aufweist und das Zweite, das sich heute zwar als Nationalstaat und deutsche Nation definiert, aber aus 16 teilsouveränen Gliedstaaten besteht. Diese Darstellung soll zeigen, dass die Bildung einer Nation unter verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen kann und nicht ein einheitlicher Rahmen zur Verfügung steht. Der erste Teil dieser Arbeit dient dazu, das Prinzip der Nation darzustellen und zu erklären, mit dem Zweck, einen Eindruck vom Untersuchungsgegenstand des „nationalstaatlichen Konzepts“ zu bekommen.

Der darauffolgende Teil dieser Arbeit konzentriert sich auf Tunesien, das als Protektorat ein Teil des ehemaligen französischen Kolonialreichs in Afrika war. An Hand von Aufzeichnungen, Schriften und weiterer Literatur des ehemaligen Staatspräsidenten Habib Bourguiba soll dessen Idee eines Nationenkonzepts dargestellt werden. Das Thema Nation wird wiederum aufgeriffen und in den tunesischen Kontext gesetzt, einem Kontext also, in dem dieses Konzept in der vorkolonialen Zeit völlig fremd ist. Bei Tunesien handelt es sich um ein Land, in dem es einen Staatspräsidenten gab, der einerseits eine eigene Idee des zukünftigen Staates hatte, den er regieren sollte, und der andererseits die Macht, an die er nach der Unabhängigkeit gekommen ist, lange Zeit nicht losgelassen hat.[1] Die tunesische Bevölkerung ist zahlenmäßig, auf Grund der Größe des Landes, relativ gering und weist eine weitgehende sprachliche wie auch kulturelle Homogenität auf. Das Hocharabische ist eine bereits verschriftete Sprache, die als wichtiger Teil der tunesischen Identität und als Mittel der Integration angesehen wird. Das Land bildet auch schon vor der Kolonialzeit eine mehr oder weniger etablierte politische Einheit, auf die das kollektive Bewusstsein im Kampf um die Unabhängigkeit aufbauen kann. Identitätsstiftender Faktor ist weiters, dass Tunesien bereits Teil einer Gemeinschaft ist, nämlich der islamischen, der auch seine beiden Nachbarländer angehören. Für diese Arbeit wäre es nicht zielführend gewesen, Länder zu untersuchen, die nach der Unabhängigkeit politisch ebenso wie wirtschaftlich und gesellschaftlich in eine instabile Lage geschlittert sind, während das hier dargestellte Land von einem Politiker geführt wurde, der sich schon vor und besonders nach der Unabhängigkeit hervortat und politisch sehr aktiv war. An dieser Stelle eine kurze Bemerkung zur Wortwahl „Kolonialisierung“ bzw. „Kolonialgeschichte“: Tunesien war nie eine französische Kolonie, sondern wurde als Protektorat in das französische Kolonialreich eingegliedert. Trotz dieser, wie es scheint eher „Proforma-Unterscheidung“, wird in dieser Arbeit sowohl von der „Kolonialisierung Tunesiens“ als auch von der „französischen Kolonialpolitik in Tunesien“ gesprochen. Dies ist dadurch zu argumentieren, dass Tunesien ein Teil des französischen Kolonialreichs war und die Verwaltungsform des Protektorats bei näherer Betrachtung nur eine erweiterte Form der kolonialen Beherrschung darstellt.

Am Beginn dieses Abschnitts steht ein Einblick in das vorkoloniale Tunesien. In den von der französischen Kolonialmacht eroberten und beherrschten Ländern wurden die traditionellen Herrschaftsformen zerstört und durch ein meist zentralistisches System ersetzt. Wie ist die Situation in Tunesien vor der Kolonialisierung? Welche Strukturen und Organisationen gibt es? Darauf folgt ein Einblick in die tunesische Kolonialgeschichte mit Blick auf die innenpolitische Lage und dem Aufkommen und der politischen Formulierung tunesischen Widerstands gegen die französische Kolonialmacht. Hauptaugenmerk ist bei diesen Darstellungen immer auf das eigenständige tunesische Element gerichtet, das durch unterschiedliche Bewegungen immer wieder betont wird. Der Fokus der Arbeit wird sich vor allem auf die Tätigkeit von Habib Bourguiba stützen, der sich zu einem wichtigen Faktor auf dem Weg zur tunesischen Eigenständigkeit herausbildet. Hauptstütze ist hierbei vor allem von ihm herausgegebene Literatur. Zeitungsartikel und Interviews, die zwischen den 30er und 50er Jahren veröffentlicht wurden, bilden ebenso Quellen wie Reden von Bourguiba, die ab der Mitte der 50er Jahre gehalten und in Bänden ab der Mitte der 70er Jahre veröffentlicht wurden. Diese literarischen Quellen sind auf Grund ihres Alters meist verborgen in den diversen Bibliotheken zu finden. Die Bibliothek des Instituts der Afrikanistik an der Universität Wien bildet bei der Suche und dem Finden von Literatur eine ebenso wichtige Quelle wie die österreichische Nationalbibliothek und die Bibliothek des ÖFSE (Österreichisches Forschungsinstitut für Entwicklungshilfe) in der Berggasse 7 in 1090 Wien. Eine weitere Bezugsquelle ist die Médiathèque des MMSH (Maison méditerranéenne des sciences humaines) in Aix-en-Provence ebenso so wie die über Fernleihe von der Universitätsbibliothek Bayreuth bestellten Bände Habib Bourguiba - Discours.

Eventuell ist die geschichtliche und historisch-politische Darstellung an manchen Stellen etwas umfangreich, allerdings dient Geschichte in diesem Fall dazu, bestimmte Entwicklungen besser zu verstehen und Zusammenhänge, die in der Zukunft passieren, begreifen zu können. Habib Bourguiba zeigt früh politisches Engagement. Was sind die Ideen und Vorstellungen des zukünftigen tunesischen Staatspräsidenten? Wie formuliert er die Zugehörigkeit zu dem tunesischen Staat und inwiefern übernimmt er den europäischen Ansatz eines (tunesischen) Nationalstaates? Die in dieser Arbeit angeführten Darstellungen beziehen sich nicht nur auf das Jahr der Unabhängigkeit des Landes, 1956, sondern auch auf den „langen Weg, der dorthin führen sollte“. Die Umwälzung der Macht von den kolonialen Behörden auf die eigenständige tunesische Nation erfolgt mehr oder weniger innerhalb von fünf Jahren - vom Zugeständnis der Franzosen im Jahre 1954 eine tunesische Regierung zu bilden, über die Verhandlungen mit den Franzosen, die eine Selbstverwaltung Tunesiens garantieren sollten, bis hin zur Verabschiedung der ersten Verfassung des unabhängigen Tunesiens am 1. Juni 1959. Um dieser Arbeit eine zeitliche Eingrenzung zu geben, wird sich der Fokus der Darstellungen bis eben zu diesem Jahr 1959 - von einigen Ausnahmen abgesehen - beschränken. Diese Zeitspanne erscheint als geeignet für die Darstellung der Bedeutung des nationalstaatlichen Konzepts in Tunesien, da sich in diesem Zeitraum die politische Lage stabilisiert hat, ein staatliches System aufgebaut wird und die wichtigsten Säulen der Nation etabliert werden.

Welche Vorstellungen hat Bourguiba nun von dem Staat, den er in eine stabile und sichere Zukunft führen soll? Welche Einflüsse sind prägend für Bourguiba auf seinem Weg im Kampf eines unabhängigen Tunesiens und danach? Dieser Blickwinkel ist notwendig, um zu verstehen, wie das Land zukünftig regiert werden sollte und welche (wirtschaftlichen, politischen) Prioritäten gesetzt werden müssen.

2 Was ist eine Nation?

Ist es eigentlich möglich, eine allgemeine Definition des Begriffs der Nation zu geben? Wahrscheinlich ist eher, dass dieser Begriff, auf Grund seiner Vielfältigkeit und der Tatsache, dass es sich um keine eindeutige Größe, sondern vielmehr um eine Konzeption handelt, keine handfeste Definition zulässt und eine begriffliche Festlegung deshalb zumeist nur einen bestimmten Bereich abdecken kann. Besonders die wissenschaftlich fundierte Deutung des Begriffs ist schwierig und führt zuweilen zu umfangreichen Diskussionen. Die kommende Aufzählung der Meinung unterschiedlicher Wissenschaftler soll die Vielfältigkeit des Gegenstandes veranschaulichen und einen Einblick in unterschiedliche Ansatzpunkte geben.

Walter Bagehot[2] meint in seinem Buch „Der Ursprung der Nation“ aus dem Jahre 1874 auf die Frage was eine Nation ist: „Wir wissen, was es ist, solange uns niemand danach fragt, aber wir können es nicht sofort erklären oder definieren.“ Ernest Renan[3] meint zum Abschluss seiner Rede mit dem Titel „Was ist eine Nation?“ aus dem Jahre 1882 auf der Pariser Sorbonne: Une grande agrégation d’hommes, saine d’esprit et chaude de cœur, crée une conscience morale qui s’appelle une nation. Ernest Gellner[4] wiederum meint zu Renans Definition, dass diese nicht umfangreich genug sei, genügt doch der Wille allein nicht, um eine Nation zu bilden bzw. aufzubauen: Even if will were the basis of nation, it is also the basis of so much else, that we cannot possibly define the nation in this manner. Benedict Anderson meint in seinem Buch „Die Erfindung der Nation“ - im englischen Original: Imagined communities - wie es am Klappentext zu lesen ist, dass „es keine Nationen gibt, die „Nation“ ist eine Erfindung, ein Modell, das nur in bestimmten historischen Konstellationen möglich war.“[5] Hugh Seton-Watson[6] kommt überhaupt zum Schluss: Thus I am driven to the conclusion that no „scientific definition“ of a nation can be devised. Allerdings gelangt er immerhin zur Erkenntnis, dass: A nation is a community of people, whose members are bound together by a sense of solidarity, a common culture, and a national consciousness. Im Gegensatz dazu vermerkt er, dass ein Staat is a legal and political organisation, with the power to require obedience and loyalty from its citizens.[7] Der Wiener Sozialdemokrat Otto Bauer[8] kommt, nachdem ihm die Antworten auf die Fragen: „Ist eine Nation eine Gemeinschaft von Menschen gleicher Abstammung?“ „Ist es eine Gemeinschaft der Sprache, die die Menschen zu einer Nation vereint? Und „Ist es das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, das eine Nation zusammenschließt?“ als nicht ausreichend erscheinen, zu dem Schluss, dass Nation nur aus dem Begriff des Nationalcharakters aufgerollt werden kann, den er als „den Komplex der körperlichen und geistigen Merkmale, der eine Nation von einer anderen unterscheidet“ bezeichnet und dem er keine Dauerhaftigkeit, sondern vielmehr eine Veränderlichkeit zuspricht. Ernst Bruckmüller[9] fasst den Begriff der Nation folgendermaßen zusammen: „Wenn Nationen nicht Naturgegebenes sind, dann sind sie in bestimmten, nachvollziehbaren und analysierbaren historischen Prozessen entstanden. In diesen Prozessen muss […] ein Bewusstsein von Einheit entstanden sein, abgesichert vielleicht durch Einheitlichkeit des Staates, vielleicht der Sprache, Tradition, der gemeinsamen Vorstellungen von der Vergangenheit.“ Ulrich Wehler[10] stellt zu Beginn seines Buches „Nationalismus - Geschichte, Formen, Folgen“ klar, dass er Nation als „jene zuerst „gedachte Ordnung“, die sich unter Rückgriff auf die Traditionen eines ethnischen Herrschaftsverbandes entwickelt und allmählich durch den Nationalismus und seine Anhänger als souveräne Handlungseinheit geschaffen wird“, definiert. Es kann davon ausgegangen werden, dass Nationen nichts Unveränderliches und außerdem nichts Ewiges sind. Renan[11] meint schon im Jahre 1882, dass Nationen einmal beginnen und einmal wieder enden werden und dass eine europäische Konföderation die einzelnen Nationalstaaten ablösen wird! „Eine eigene Nation zu werden, sich einen unabhängigen Nationalstaat zu schaffen, galt für jedes europäische Volk als ein, wenn nicht das geschichtliche Hochziel, dessen Verwirklichung politischen Enthusiasmus erzeugte und die politische und historische Phantasie zur Schöpfung zahlreicher nationaler Legenden anregte.“[12]

Der Begriff der Nation kann unter verschiedenen Gesichtspunkten verstanden und interpretiert werden. Mit einer etymologischen Konnotation versehen versteht man darunter „die Gesamtheit der Menschen, die gemeinsame Herkunft, Sprache, Überlieferung und Geschichte haben und die sich dieser Gemeinschaft bewusst sind (=Kulturnation)“. Das Volk bildet sich aus der Gesamtheit der Individuen heraus, die auf Grund von Rechtsverbindlichkeiten den Staat bilden. Das Volk beinhaltet die Gesamtheit der Bürger. Aus dem ethnischen und historischen Bewusstsein heraus kann sich der Wille zu einer gemeinsamen Politik entwickeln, „deren Verwirklichung die Form eines politischen Organismus wie des Staates annehmen kann (=Staatsnation).“[13] Benedict Anderson[14] meint in dem Kapitel The Biography of nations bezüglich der zeitlichen Einordnung der Entstehung einer Nation, kurz und bündig: Nations, however, have no clearly identifiable births, and their death, if they ever happen, are never natural. Durch die Tatsache, dass es sich bei einer Nation nicht um eine handfeste Größe handelt, sondern vielmehr um eine Konzeption, kann kein fixes Datum für die Entstehung festgelegt werden. Es ist lediglich dann möglich eine zeitliche Eingrenzung zu treffen, wenn es um die Entstehung von Nationalstaaten geht, die durch ihre Territorialität fixierbar sind. Da eine Nation eine „vorgestellte Größe“ ist, kann sie nicht verschwinden, sondern wenn, dann können lediglich diejenigen, die sich zu der jeweiligen Nation zughörig fühlen, verschwinden.

Innerhalb der Wissenschaft gibt es unterschiedliche Standpunkte, wie sich letztendlich eine Nation herausbildet. Bei Renan[15] ist ein recht interessanter Punkt angeführt, nämlich der, dass einige théoriciens politiques der Meinung sind, dass sich Nationen aus Dynastien herausgebildet haben. Die Conclusio soll schon an dieser Stelle vorweggenommen werden: Dieser Standpunkt ist nicht zu halten, deckt er doch bei weitem nicht die Existenz aller Nationen ab, was zum Beispiel an der Schweiz oder den Vereinigten Staaten von Amerika belegbar ist. Auf der anderen Seite sind die Grenzen vieler europäischer Staaten, wie zum Beispiel die von Frankreich, sehr wohl Grenzen feudaler Besitzungen von Familien, die sich und ihren Boden miteinander vermählt haben. Theodor Schieder[16] sieht die Nationalisierung des modernen Europas in drei Etappen erreicht. In der ersten Etappe bilden sich aus innerstaatlichen Revolutionen heraus moderne Nationalstaaten, was für England und Frankreich der Fall ist. Es sind die Bürger, die den Staat neu gründen und im Mittelpunkt des zukünftigen politischen Interesses stehen. Für Schieder sind es nicht „Sprache, Volksgeist oder Nationalcharakter“, die das Bekenntnis zur Nation ausmachen, sondern er sieht das „subjektive Bekenntnis zum nationalen Staat als einziges Merkmal einer politischen Nationalität […] Nation ist Staatsbürgergemeinschaft, nicht in erster Linie Sprach- oder Volksgemeinschaft.“[17] Die zweite Etappe bildet die Entstehung von Nationalstaaten aus getrennten Teilen von Nationen, wie sie in Deutschland und Italien angewendet wird. Die dritte Etappe bezieht sich auf „Großmonarchien“ in Osteuropa, in diesem Fall vor allem die habsburgisch-österreichische, die russische und die osmanisch-türkische, die „in die Epoche der nationalitären Bewegungen im 19. Jahrhundert noch unmittelbar hineinragen“[18]. In diesem Fall wendet sich die Gesinnung gegen den Staat, der als der „Zerstörer der nationalen Überlieferungen“ und das Trennende empfunden wird. So bilden sich viele, besonders mitteleuropäische Staaten ehemaliger Reichsgebilde nicht etwa durch Zusammenschluss, sondern durch Abtrennung, also Sezession. Otto Dann[19] merkt an, dass die meisten europäischen Völker um 1800 noch unter Fremdherrschaft stehen oder auf verschiedene Fürstentümer aufgeteilt sind. Um sich zu einer Nation formieren zu können, müssen diese Völker eine neue Art von Kommunikation und Organisation erreichen, um sich zu vereinigen und sich so gegen das herrschende System durchsetzen zu können. Als das letzte und radikalste Mittel gilt der, wie schon von Schieder thematisierte, Befreiungskampf bzw. der Befreiungskrieg, wie er auch noch im 20. Jahrhundert, zum Beispiel in etlichen ehemaligen Kolonien Afrikas, besonders aber in Algerien oder auf dem europäischen Kontinent im Falle des ehemaligen Jugoslawiens, angewendet wurde.

Nation ist, grob zusammengefasst, eine Gemeinschaft, die sich loyal gegenüber bestimmten Paradigmen verhält. Zwar scheint der Terminus der Gemeinschaft passend und zutreffend, allerdings muss angemerkt werden, dass nicht alle Gemeinschaften automatisch zu Nationen werden. Es bedarf also etlicher „Zutaten“ - der oben genannten Paradigmen. Diese sind vielfältig und unterschiedlich, aber eine wichtige Komponente ist das Vorhandensein bzw. das Beleben eines gemeinsamen „Gewissens“, worunter die gemeinsame Vergangenheit bzw. der Aufbau einer gemeinsamen Geschichte zu verstehen sind. Die nationale Identität, die der Grundstein einer jeden Nation ist, benötigt bestimmte Symbole und Riten, die das Zusammengehörigkeitsgefühl darstellen und steigern. Diese werden wiederum von einem wichtigen Pfeiler der Nation vermittelt und aufrechterhalten, nämlich der Schule ebenso wie den Medien. Auffallend für eine Nation ist die Einheitlichkeit des kulturellen Raumes, wobei es sich in den meisten Fällen um eine Kultureinheit handelt, die von der herrschenden Klasse betrieben wird. Ein allgemeiner zusammenfassender Überblick zum Begriff „Nation“ und zu den Kriterien, die eine solche ausmachen, folgt:[20]

- Der Begriff „Nation“ hat nicht nur eine Bedeutung, sondern hat im Laufe der Geschichte etliche Bedeutungswandel durchgemacht. „Erst seit dem 18. Jahrhundert dominiert in seiner (im Begriff der Nation) Verwendung die Vorstellung von einer menschlichen Großgruppe, die sich als „Nation“ weiß und dieses Wissen auch politisch umsetzt.“[21]
- Um eine Nation aufzubauen sind gewisse Faktoren notwendig, die das Gefühl der Zusammengehörigkeit fördern. Diese Faktoren können zum Beispiel eine gemeinsame Religion, Geschichte oder Sprache und Abstammung sein.
- „Diese Vorstellungen bedürfen zu ihrer Verbreitung und Verfestigung ihrerseits wiederum einer symbolischen Verdichtung in mehr oder weniger diffusen mythologischen Vorstellungen, aber auch in nationalen und staatlichen Symbolen (Wappen, Fahnen, Personen, Ereignissen, symbolischen Zentralorten), sowie besonderer gesellschaftlicher Träger (Adel, Bürger, Intellektuelle…) und die nationale Identität verstärkender gesellschaftlicher Institutionen und Agenturen (Schulen, Museen, Bürokratien, Armeen, Vereine, Medien…)“[22]
- Die Bildung einer Nation ist ein Prozess, bei dem die Masse der Bevölkerung von der Loyalität zu der Nation überzeugt werden muss. „Dieser Überzeugungsprozess, die symbolische Eingliederung der „Massen“ in die „Nation“, ist ein gesellschaftlich- politischer Prozess […] der als „Erwachen der Nationen“ beschrieben wurde. […] Diese nationsbildenden Prozesse sind häufig in konflikthafter Konkurrenz abgelaufen und haben im kollektiven Gedächtnis der Nachkommen bis heute nachwirkende, tiefe und häufig kontroversielle Spuren hinterlassen.“[23]
- Die moderne Nation basiert auf dem „Wir“ - Gefühl, auf dem Gefühl der gemeinsamen Heimat. Auch die Gemeinschaften, die vor der nationalen Bewegung existiert haben und die „meist kleinräumige, ethnische Gebilde“ waren, beruhen auf diesem Prinzip und bilden meist die Basis für die modernen Nationen.

Im kommenden Abschnitt soll ein geschichtlicher Einblick in die Bewegung der Entwicklung zur modernen Nation gezeigt werden, wobei diese Darstellung auf Europa bzw. auf Frankreich fokussiert ist, wo, laut wissenschaftlicher Lehre, der Ursprung der nationalen Gesinnung liegt. Die Frage, ob es zielführend ist, ein Kapitel der Entwicklung des modernen Nationenbegriffs zu widmen, kann wie folgt beantwortet werden: Es gibt zwar unterschiedliche Arten von Nationen und auch die wissenschaftlichen Ansätze unterscheiden sich, allerdings gibt es einerseits den historischen Prozess der Nationsbildung und andererseits sind unterschiedliche und eindeutig auszumachende Merkmale vorhanden, die eine nationale Gemeinschaft charakterisieren und ausmachen.

Vom lateinischen Wort natio bzw. nascor abstammend, das so viel heißt wie Geborenwerden, Geschlecht und Volksstamm, kennt der Begriff im Laufe der Geschichte viele verschiedene Bedeutungen. Raschhofer[24] führt an, dass bei den Römern mit dem Begriff natio unterentwickelte Stämme mit geringer Kultur bezeichnet wurden, während von angeseheneren Völkern als gens gesprochen wurde. Bayer und Wende[25] wiederum meinen, dass im Altertum und in der Vulgata[26] der Begriff der Nation ohne Unterschiede zu gens oder populus verwendet wurde, während letzterer Begriff die eigentliche politische Bedeutung innehatte. Natio bezeichnet, laut Bruckmüller[27], im Mittelalter noch „in ganz unbestimmter Weise die Herkunft, den Heimatort, aber auch den sozialen und sprachlichen Herkunftsbereich eines oder mehrerer Menschen. Man konnte natione liber sein oder natione Latinus.“ Der Nationenbegriff dient im Mittelalter, wie zum Beispiel an den Universitäten, vor allem als konkretes Mittel zur Ordnung. Zu Nationen konnten damals Gruppen zusammengefasst werden, die den gleichen „Herkunftshintergrund“ besitzen. „Als Nationen konnten aber auch regionale und sprachliche Gemeinschaften bezeichnet werden, die im Mittelalter im Zuge der Landes- und Territorialbildung entstanden waren. So bestand Frankreich im Spätmittelalter aus zahlreichen nations, jenen von Calais, Gascon, France, aus den nations der Navarroys, der Angloys und der Bretons. […] Der Begriff „Nation“ war also äußerst variabel und konnte ebenso ein Sprachgebiet wie ein Herrschaftsgebiet oder aber auch eine einzelne Stadt bezeichnen.“[28]

Die Bildung von Nationen ist ein Ereignis, das noch relativ jung ist.

Les nations entendues de cette manière, sont quelque chose d’assez nouveau dans l’histoire. L’antiquité de les connut pas. […] L’antiquité classique eut des républiques et des royautés municipales, des confédérations de républiques locales, des empires; elle n’eut guère la nation au sens où nous la comprenons.[29]

Das Römische Reich gilt als eines der ersten „Vaterländer“ und versprüht den Charakter von Ordnung, Friede und Zivilisation in einer Welt voller Chaos. Für Renan[30] bringt die Invasion der Germanen, wegen der Einführung von Dynastien und des Militäradels in großen Teilen des alten Weströmischen Reiches, die Grundlage der Nationalität mit sich. Diese Gebiete tragen die Namen der Invasoren, wie zum Beispiel den der Franken (das heutige Frankreich), der Burgunder, der Lombarden oder der Normanen.[31] Die moderne Forschung setzt das Auftreten der modernen Nation am Ende des 18. Jahrhunderts an. Faktoren, die dafür als ausschlaggebend gelten, sind die amerikanische Unabhängigkeit[32] und vor allem die Französische Revolution und die Revolutionskriege in den Jahren zwischen 1792 und 1802. Die intellektuelle Vorbereitung des nationalen Gedankens findet während der Aufklärung statt. Auch die Veränderungen der Lebensbedingungen durch die Erste Industrielle Revolution[33] spielen in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle. „Es spricht viel dafür, dass durch die Industrialisierung ein Prozess in Gang gesetzt wurde, an dessen Ende keine universelle Kultur, sondern mehrer Kulturen stehen. Dazu trägt vor allem die ungleiche Verteilung von Land und der starke Überlebenswille großer kultureller Gruppen bei (zumal diese oft über eine eigene Schrift sowie die für den Fortbestand ihrer Hochkultur erforderlichen Institutionen verfügen).“[34] Durch die Veränderung des Zugangs zur Geschichte ändert sich auch der Zugang zum Begriff der Menschheit und der Mensch selbst wird in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Die Rolle der Religion, insbesondere des christlichen Glaubens, wird neu definiert und verliert ihre allmächtige Stellung. Durch die Anfänge des Kolonialismus im beginnenden 19. Jahrhundert und den Weltverkehr bzw. Welthandel wird der Horizont der Menschen verändert und eine erweiterte Sicht auf die Dinge, den Menschen und die Menschheit an sich ermöglicht.

„Diese eine Menschheit wird nun bei Voltaire, Rousseau oder Montesquieu, in Nationen gegliedert gedacht. Das ist auch die Folge der Ablehnung der älteren Konzepte von Gottesgnadentum und eingeschränkter politischer Berechtigung: Wenn die Menschen ihre Geschicke selbst bestimmen wollen, müssen die selbst die „Nation“ sein, die früher nur der Adel (stets im Zusammenhang mit dem König) gewesen war. Nicht Tradition, sondern die volonté générale sollte die Mitgliedschaft der Nation begründen […] Nation erscheint als kollektive Persönlichkeit, die zugleich Hauptgegenstand der jetzt ausschließlich für jene geforderten Gruppenloyalität wird.“[35]

Der Standpunkt, dass das Schicksal der Menschen in ihren eigenen Händen liegt und nicht in denen einer überirdischen Macht, gewinnt an Popularität und ebenso der Gedanke der nationalen Einteilung der Menschen. Allerdings zeigen die Geschichte ebenso wie die Gegenwart, dass die Menschheit nicht in friedlich nebeneinander existierende Nationen zerfällt, sondern in Nationen, die das eigene Wohl und Dasein an erste Stelle setzen und oftmals in Konkurrenz zueinander stehen. Die Nation wird durch die Vorgänge im 18. und schließlich im 19. Jahrhundert „die zentrale gesellschaftliche Einheit, (die) erhebliche religiöse Energien auf sich konzentriert, Erlösungsphantasien, Heilserwartungen und Endzeithoffnungen. […] Während an der Spitze der barocken Dreifaltigkeit die Gottheit thront, wird sie nun durch nationale Helden und Heroen ersetzt - oder die Nation selbst setzt sich an die Stelle der Gottheit und nimmt ihre Stelle ein.“[36] Die neuen modernen Nationalstaaten definieren sich nun mit Hilfe eines Territoriums, das gegen die anderen abgeschirmt wird. Bürger erhalten erstmals ein Mitspracherecht, die politische Herrschaft und Verwaltung werden unmittelbar ausgeübt. Das Volk, das über lange Zeit hindurch als eine Masse von Untertanen gesehen wird, das passiv den Regeln und der Ordnung zu folgen hat, entwickelt sich während des 19. Jahrhunderts zu einer aktiven Willensgemeinschaft, die sich als eine Nation definiert. „Der Staat herrschte über ein territorial bestimmtes „Volk“ und tat dies als höchstes „nationales“ Organ der Herrschaft über sein Territorium, wobei seine Stellvertreter mit der Zeit sämtliche Bürger bis hin zum bescheidensten Bewohner der kleinsten seiner Dörfer erreichten.“[37]

Nation wird nicht als eine politische oder gesellschaftliche Einheit dargestellt, sondern vielmehr wird ihr eine Seele, gar eine spirituelle Größe attestiert. Das Gefühl der Gemeinschaft und des Zusammengehörens wiegen somit mehr als staatliche Grenzen. Die Bildung einer Nation ist ein komplexer Prozess, bei dem unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen, deren Bedeutung nur vage gemessen werden kann. Der wichtigste und komplexeste Faktor scheint allerdings die Gemeinschaft des historischen Lebens zu sein. Das beginnt bei der gemeinsamen Sprache, der Kultur und endet beim Wirtschaftsleben. Die Nation ist gleichzeitig ein soziales und ein politisches Phänomen, das sich in den meisten Fällen über ein bestimmtes, räumlich begrenztes Territorium erstreckt, wobei es sich dabei meist um das Staatsgebiet handelt. Es kommt dann zu Konflikten, wenn sich auf diesem Gebiet andere Nationen und/oder (ethnische) Gruppen befinden, die anderen Gruppen nicht weichen möchten und in keinster Weise eine Annäherung zu der/den anderen Gruppe suchen.

In der deutschen Romantik zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertreten Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Hegel den Standpunkt, dass die Grenzen der Nationen durch den gemeinsamen Hintergrund von einander abgegrenzt werden. Das entscheidende Merkmal bildet die Sprache, während die Religion dafür nicht herangezogen wird. „Ohne Gemeinschaft der Sprache, keine Kulturgemeinschaft, also auch keine Nation.“[38]: Verschiedene Bevölkerungen können durch die gleiche Sprache miteinander kommunizieren und eine Nation bilden. Ob sie der gleichen Religion angehören spielt zu Beginn (noch) keine bedeutende Rolle. Die religiösen Traditionen und Riten werden außerdem durch die zunehmende Urbanisierung und Industrialisierung geschwächt. Das Aufkommen eines nationalen Marktes, bedingt durch die Veränderung der Produktionsweise und den gemeinsamen kulturellen Hintergrund, begünstigt das Aufblühen einer nationalen Bewegung. Die Gruppe, von der diese Bewegung getragen wird, ist zum einen die der Intellektuellen und der politischen Elite des Landes. Auf der anderen Seite steht die Bevölkerung des urbanen Raumes. Diese beiden Gruppen sind (theoretisch, im Vergleich zu den Bewohnern des ländlichen Raumes) weniger in den traditionellen Werten der Gesellschaft verankert und suchen eine neue Form der solidarischen Gemeinschaft. Als oberste Forderung gilt der Aufbau eines Nationalstaates, das heißt die Erlangung der Zentralmacht durch Politiker, die die gleiche Sprache und aus einem ähnlichen Kulturkreis stammen wie diejenigen der nationalen Gemeinschaft.

Für etliche Wissenschafter, unter ihnen Bayer und Wende[39], leitet sich der moderne Nationsbegriff, wie schon oben erwähnt, von der Französischen Revolution ab. Durch die Emanzipierung des dritten Standes und die Säkularisierung der Gesellschaft wird die Grundidee jeglichen demokratischen Denkens entworfen. Die Macht im Staat wird also nicht mehr als etwas Gottgegebenes gesehen, sondern sie gehört dem Volk. Dieses soll als Souverän nach den Grundsätzen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gemeinsam den Staat regieren, konstituiert in Form einer Verfassung. Die Etablierung der Nation bringt einerseits die Einheit der Staatsbürger mit sich, die zu einer Nation gehören. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die nicht dazugehören und dementsprechend ausgegrenzt sind. Gerade das während der Französischen Revolution entwickelte Nationenkonzept geht von einem Staat aus, in dem sich eine einstimmige Nation formiert, die von einer Sprache dominiert wird. Etwaige Abweichungen oder Andersartigkeiten werden nicht berücksichtigt.

Die Amerikanische Revolution

Im Kontext der Französischen Revolution darf die Bedeutung der Amerikanischen Revolution nicht übersehen werden. Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, der den Höhepunkt der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung bildet, findet in den Jahren 1775 bis 1783 statt. Die 13 nordamerikanischen Kolonien stellen sich der britischen Kolonialmacht entgegen. Offiziell wird der Krieg am 3. September 1783 durch den Frieden von Paris beendet. Im Jahre 1776 kommt es zur Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung, 1777 zur Formulierung der Konföderation, 1787 zur Verabschiedung der amerikanischen Verfassung, die 1789 ratifiziert wird, und schließlich zur erfolgreichen Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika.

Die englischen Kolonien, die sich zumeist lokal und regional selbstverwalten, sehen sich mit einer hohen finanziellen Belastung gegenüber England ebenso wie mit immer wieder auftretenden Rivalitäten mit Indianerstämmen und europäischen, rivalisierenden Mächten, wie Frankreich und Spanien, konfrontiert. Die späteren „Gründerväter“ Nordamerikas, die aus der kleinen intellektuellen Schicht stammen, sind mit den Gedanken der europäischen Aufklärung vertraut. „Als es zum ersten Emanzipationskampf westlicher Kolonien gegen ihre Metropole kam, wurde binnen Kurzem eine staatliche Neugründung auf der Grundlage der Volkssouveränität ins Auge gefasst und in der Republik der Vereinigten Staaten von Amerika verwirklicht, die 1783 völkerrechtlich anerkannt wurden. […] Früher war es der König von Gottes Gnaden, jetzt tauchte die Idee auf, dass die Gewalt von unten aufsteigen müsse.“[40] Ziel der Unabhängigkeitskämpfer ist es, eine neue, unabhängige Republik aufzubauen, die noch dazu eine Musterrepublik sein sollte und als Vorbild für andere dienen sollte. Wehler[41] führt die Vision einer Missionsidee an, die als Weiterentwicklung einer politischen Evolutionstheorie gilt, die besagt, dass der Sitz der Weltreiche vom Nahen Osten über Rom und England immer weiter nach Westen wandert und somit in Nordamerika seinen neuen, ontologischen Ort gefunden habe. Es sind gerade solche Elemente, die den Aufbau eines sehr selbstbewussten amerikanischen Nationalismus fördern, „dem die Vorherrschaft der imperialen Republik in der „Westlichen Hemisphäre“ als ebenso selbstverständlich galt wie die historische Aufgabe, als „Leuchtturm“ republikanischer Demokratie dem gesamten Globus das Bild seiner eigenen Zukunft zu zeigen.“[42]

2.1 Die Französische Revolution

„Die Organisation der (neuen) Nation ist der Staat, er wiederum ist nur Ausdruck und Repräsentant der Nation. […] Die „neue“ Nation wird in zunehmendem Maße auch als kulturell (und damit sprachlich) homogen aufgefasst, während das auch in den bisherigen absolutistischen Staaten kaum der Fall war. Durch die Gleichsetzung von Staat und Nation (und Nation und Volk, die damit parallel geht), wird das Konzept Staat mit kulturellen und sprachlichen Inhalten gefüllt.“[43] Die französische Nation konstituiert sich selbst als souverän, ist Repräsentant in der Nationalversammlung und verkündet die Menschenrechte, die wiederum als Bürgerrechte innerhalb der Nation, in diesem Fall der französischen, wirksam sind. Auf diese Weise werden allerdings auch schon die zwei Seiten der Nation deutlich: Auf der einen Seite bildet sie ab 1789 den Rahmen für die (revolutionären) Menschen- und Bürgerrechte, auf der anderen Seite steht sie für Ausgrenzung und Diskriminierung derjenigen, „der Anderen“, die eben nicht zur (französischen) Nation gehören.

Die neue französische Republik spiegelt die Idee der Integration und Mobilität des französischen Nationalismus wider. Die Nation ist eine Einheit, die sich gegen die Gegner im Inneren des Landes und gegen die konservativen Kräfte schützen muss. Die uneingeschränkte Souveränität des Staates steht an erster Stelle. Anstelle einer Vielzahl von sich einander gegenüberstehenden Kräften, wie dies im Ancien Régime der Fall war, soll nun eine alles und alle beherrschende französische, nationale Identität treten. Ernst Bruckmüller[44] sieht die Französische Revolution als ein Ereignis, das mit allen Mitteln zum Mythos gemacht wird:

„Von der Proklamierung einer neuen Zeitrechnung über die Freiheitsbäume, die Trikolore, die neue Abstammungssage (die „richtigen“ Franzosen stammten von Römern und Trojanern ab, nicht, wie der Adel, von den Franken!), die Inszenierung der republikanischen Feste, der Kult der Göttin der Vernunft bis zur neuen Hymne, der Marseillaise, entstand in kürzester Zeit ein kontingentes System von mythischen Vorstellungen, abgestützt durch besondere Zeichen, Symbole und Rituale.“

Nicht nur die Franzosen, sondern auch viele andere Völker, suchen ihre Ahnen und wollen so ein einheitliches, nationales Bewusstsein aufbauen. Die Geschichte dient so als Basis für die Konstruktion dieser Nation, als hätte sie schon seit jeher existiert. Dies wird noch weiter durch das plötzliche Vorhandensein einer „Volksseele“ und eines „Volksgeistes“, des so genannten ésprit du peuple, betont, „also eines kollektiven Unterbewusstseins, das in jedem Mitglied der Nation sozusagen unabhängig von allen äußeren Einflüssen wirksam sei. Dieses drücke sich in der Sprache, in der Kultur, in der Tracht aus.“[45]

Die führenden Personen der Französischen Revolution übernehmen das Gedankengut von Jean Jacques Rousseau, der Nation und Volk gleichsetzt und Nation und Demokratie in einen direkten Zusammenhang stellt. Die Begriffe der Nation und des Staates gehen ineinander über.

Für Rousseau müssen sich die Menschen „aus der Verstrickung in partikulare Interessen herauslösen und in die Rolle des citoyen schlüpfen , dem es in der politischen Debatte mit den anderen citoyens darum geht, jenseits aller Sonderinteressen den Allgemeinwillen herauszudestillieren. […] Die Bürger, die sich an dem von ihnen selbst mitbegründeten Allgemeinwillen orientieren, (gehorchen) nur sich selbst und behalten deshalb um so mehr die Freiheit, je mehr sie zum citoyen werden […].“[46]

Rousseaus Konzept der Gesellschaft ist das einer Nation von gleichberechtigten Bürgern, die zusammen politische Souveräne sind. Für Otto Dann[47] ist die Bildung der Staatbürgernation der Bruch mit dem damals noch verbreiteten Ständesystem. Von Frankreich ausgehend verbreitet sich der Nationenbegriff der auf zwei Prinzipien beruht, die noch heute die Stützen der demokratischen Gesellschaft bilden:

- der Grundsatz der Volkssouveränität
- die Idee der Menschenrechte

2.1.1 Das Volk als Träger der Nation

„Durch die Französische Revolution werden aus Untertanen des Königs freie Bürger, Teilhaber an einer in einem Staat konstruierten Nation, die sich nicht mehr auf dynastische oder historische Argumente beruft, sondern letztlich auf die Akzeptanz der Veränderungen der Revolution.“[48]

Im 19. Jahrhundert wird das „Volk“, das „eine fast gesichtslose Größe, mehr Objekt als Subjekt der Geschichte [war]; das sie wohl durch seine spezifische Eigenschaften […] aber nur selten durch einen im Sinne eigener „ethnopolitischer“ Ziele eingesetzten Willen gestaltete“[49] zum aktiven Träger der Nation. Bei Kloss[50] wird „Volk“ als eine sprachbezogene Gemeinschaft angesehen, auch wenn sie nicht „nationswillig“[51] ist und nicht auf einem einzigen Erdteil lebt. Ein Volk ist durch diese Definition also eine Einheit, wenn es sich mindestens eine Sprache teilt oder anders gesagt, „von denen eine bestimmte Sprache als ihre Muttersprache bewusst bejaht wird, zuzüglich der Gesamtheit derjenigen Anderssprachigen, die eben diese Sprache als die heutige Bildungssprache und die künftige Haussprache ihrer Nachkommen betrachten und akzeptieren.“[52] Neben dem Faktor Sprache spielt auch das Gefühl dem gleichen Kulturkreis anzugehören eine bestimmende Rolle.

Im modernen (französischen) Nationalstaat gibt es keine Zentralmacht mehr, sondern „das Recht geht vom Volk aus.“ Dies führt zu Veränderungen in der Herrschaftsstruktur. „Herrschaft lässt sich nicht mehr auf Religion (bis dahin war der Herrscher immer auch religiös legitimiert) noch auf Tradition und Erbrecht begründen, sondern nur auf der Zustimmung der Betroffenen, eben der Nation. […] Das bedeutet, dass die Regierenden mit den Regierten in Kontakt treten müssen, Rechenschaft über ihr Handeln ablegen und Zustimmung dafür erheischen.“[53] Aus diesem Grund müssen die gesellschaftlichen Schichten und die ständische Gesellschaftsstruktur, wie sie noch im ancien régime vorherrschen, überwunden werden und „die Individuen, die die Bevölkerung bilden, als gleichberechtigt betrachtet werden, und die Bevölkerung als souveränes Volk deklariert werden. Die Privilegien von Adel und Klerus müssen abgeschafft werden. […] Die Verfassung braucht eine allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Zentrale Figur wird nun der Bürger, der citoyen […].“[54] Die citoyens werden ins Zentrum des politischen und gesellschaftlichen Geschehens gerückt, und werden nun „zu freien und gleichen Gliedern der Nation […] die mit der Erklärung ihrer Souveränität und der Menschen- wie Bürgerrechte (droits de l’homme et du citoyen) die Rechts- und Herrschaftsunterschiede der alten Gesellschaft aufhoben.“[55] Der status politicus, der früher nur einer kleinen, gesellschaftlich elitären Schicht vorbehalten war, wird auf die Masse der männlichen Bevölkerung ausgeweitet. Es gibt keine Untertanen mehr, sondern alle gehen in der Masse der citoyens des französischen Staates auf. Die kulturelle Komponente im Nationenbegriff verliert insofern ihre Bedeutung, als dass nur mehr ausschließlich die französische Sprache und Kultur als einzige auf französischem Boden gültige anerkannt werden. Alle anderen werden sukzessive aus dem öffentlichen Leben, wenn sie es nicht sowieso schon waren, ausgeschlossen.

2.1.2 Die Proklamierung der Menschenrechte

In der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789[56] werden zum ersten Mal die Rechte der Staatsbürger festgehalten. Die wichtigsten Artikel sind hier wiedergegeben, um einen Einblick in die „neue gesellschaftliche Ordnung“ zu bekommen.

Die Präambel lautet:

Les Représentants du Peuple Français, constitués en Assemblée Nationale, considérant que l'ignorance, l'oubli ou le mépris des droits de l'Homme sont les seules causes des malheurs publics et de la corruption des Gouvernements, ont résolu d'exposer, dans une Déclaration solennelle, les droits naturels, inaliénables et sacrés de l'Homme […]

Art. 1er.

Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l'utilité commune.

Art. 2.

Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l'Homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté, et la résistance à l'oppression.

Art. 3.

Le principe de toute Souveraineté réside essentiellement dans la Nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer d'autorité qui n'en émane expressément

In der ersten französischen Verfassung aus dem Jahre 1791 werden Bestimmungen bezüglich der Definition der Staatsbürger gemacht. Die Formulierungen in der Menschenrechtserklärung sind in diesem Punkt eher schwammig. „Als Hauptkriterium gelten meistens die Abstammung (jus sanguinis) oder der Geburtsort (jus soli) des noch nicht mündigen Kindes, während die echt gesellschaftsrelevante Integrierung des Erwachsenen in eine bestimmte Gemeinschaft immer nur von sekundärer Bedeutung ist.“[57] In den Artikeln zwei und drei der französischen Verfassung aus dem Jahre 1791, die Frankreich in eine konstitutionelle Monarchie verwandelt, werden folgende Regelungen für die Zugehörigkeit zur französischen Nation festgelegt:[58]

Article 2.

Sont citoyens français : - Ceux qui sont nés en France d'un père français ;

- Ceux qui, nés en France d'un père étranger, ont fixé leur résidence dans le royaume ;
- Ceux qui, nés en pays étranger d'un père français, sont venus s'établir en France et ont prêté le serment civique ;
- Enfin ceux qui, nés en pays étranger, et descendant, à quelque degré que ce soit, d'un Français ou d'une Française expatriés pour cause de religion, viennent demeurer en France et prêtent le serment civique.

Article 3

Ceux qui, nés hors du royaume de parents étrangers, résident en France, deviennent citoyens français, après cinq ans de domicile continu dans le royaume, s'ils y ont, en outre, acquis des immeubles ou épousé une Française, ou formé un établissement d'agriculture ou de commerce, et s'ils ont prêté le serment civique.

Die derzeit geltenden Bestimmungen bezüglich der französischen Staatsbürgerschaft gehen vom Geburtsort aus, wobei bei ausländischen Staatsbürgern, die in Frankreich leben, bzw. bei deren Kindern eine Kombination aus Bluts- und Bodenrecht zur Anwendung kommt. Die gesetzlichen Bestimmungen sind im Code civil, der dem Bürgerlichen Gesetzbuch entspricht, unter anderem im Artikel 17 bestimmt. Franzose ist grundsätzlich jeder, der einen französischen Elternteil hat. Kinder, deren Eltern keine Franzosen sind, erhalten bei Volljährigkeit, also mit 18 Jahren, automatisch die französische Staatsbürgerschaft, wenn sie bis dahin mindestens fünf Jahre in Frankreich gelebt haben. Ausländische Staatsbürger, die mit einem Franzosen oder einer Französin verheiratet sind, können ein Jahr nach der Heirat um die französische Staatsbürgerschaft ansuchen.

Exkurs: Frankreich als Kolonialmacht innerhalb der eigenen Grenzen

Das französische Territorium stellt heute eine administrative Einheit dar, die wenig bis gar keine regionale Mitsprache und Selbstbestimmung zulässt. Dabei ist Frankreich eigentlich nichts weiter als ein innerstaatliches Kolonialreich, das über Jahrhunderte hindurch aufgebaut wurde: Gebiete wurden erobert, annektiert und zu einem politischen und administrativen Ganzen zusammengefasst. Eine Aufzählung Eugen Webers[59] verdeutlicht die Inbesitznahme verschiedener Länder durch die französische Zentralverwaltung: Im 13. Jahrhundert werden der Languedoc und Teile des Zentrums des Landes eingenommen und im 15. Jahrhundert Aquitanien und die Provence. Im 16. Jahrhundert die Bretagne und im 17. Jahrhundert Navarra, der Béarn (eine historische Landschaft in Südwestfrankreich), das Baskenland, Roussillon und die Cerdagne (eine Landschaft in den Pyrenäen). Außerdem fallen Teile des Elsass, Französisch Flanderns und die Franche-Comté in französische Hand. Im 18. Jahrhundert werden das Herzogtum Lothringen, Korsika und das päpstliche Comtat-Venaissin eingenommen und im 19. Jahrhundert schließlich Savoyen und Nizza.

By 1870 this has produced a political entity called France - kingdom or empire or republic - an entity formed by conquest and by political or administrative decisions formulated in (or near) Paris. The modern view of the nation as a body of people united according to their own will and having certain attributes in common (not least history) was at best dubiously applicable to the France of 1870.[60]

Bis zu der späten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist es fast unmöglich, von einer einheitlichen französischen Nation zu sprechen, sind es doch vielmehr noch immer einzelne Regionen, die durch gemeinsame Administration und Politik eine Einheit bilden. Die Menschen identifizieren und orientieren sich auf regionaler Ebene und nicht auf nationaler. Erst der Bau von Straßen, Eisenbahn, der verpflichtende Schulunterricht, der verpflichtende Militärdienst, der überregionale Güter-, Waren-, und Geldverkehr ebenso wie durch Printmedien wird ein Aufbrechen der regionalen Gesinnung hin zu einer nationalen Sichtweise gefördert. Weber nennt in diesem Zusammenhang den Begriff acculturation: the civilisation of the French by urban France, the disintegration of local cultures by modernity and their absorption into the dominant civilization of Paris and the schools. […] The unassimilated rural masses had been integrated into the dominant culture as they had been integrated into an administrative entity.[61]

In der heutigen Zeit lässt sich in manchen regionalen Kulturen eine Renaissance feststellen. Die Menschen legen Wert auf die Tradition und sprechen sich zum Beispiel für einen Schulunterricht ihrer Kinder in der jeweiligen Regionalsprache aus. Diese Tendenzen sind regional bedingt und sind von Sprache zu Sprache unterschiedlich stark ausgeprägt. Die zögerlichen Lockerungen auf politischer Ebene sind derweilen nur ein Anfang, deren Auswirkungen aus sprach- und kulturpolitischer Sicht die Zukunft zeigen wird. Der Artikel 1 der französischen Verfassung aus dem Jahre 1958 lautet, dass Frankreich eine unteilbare Republik ist. Mit dem Argument einer möglichen Auf- bzw. Abspaltung einzelner Regionen wurden in der Vergangenheit Autonomiebewegungen nicht beachtet und unterdrückt. Wegen des zunehmenden verwaltungstechnischen Aufwands, bedingt durch das zentralisierte Verwaltungssystem, aber auch durch den Willen zur Veränderung im Umgang mit den regionalen Minderheiten, leitet die damalige im Jahre 1981 gewählte sozialistische Regierung eine Reform der staatlichen Verwaltung ein. Durch die Loi Defferre aus dem Jahre 1982 wird der Status der Regionen neu definiert, ebenso wie die gesamte Territorialstruktur des Landes. Die Regionen funktionieren als politische Einheiten, die eine andere Kulturpolitik betreiben können als sie der Zentralstaat vorsieht. Durch verschiedene sprachpolitische Maßnahmen, unter anderem die Loi Deixonne, die den eingeschränkten Unterricht in bestimmten Regionalsprachen erlaubt, gewinnen die Minderheitensprachen Frankreichs an Bedeutung. Durch Maßnahmen, wie die Verfassungsänderung aus dem Jahre 1992, die besagt, dass das Französische die einzige Sprache Frankreichs ist, wird die Rolle des zentralistischen Staates und der französischen Nationalsprache allerdings weiter forciert.

2.2Die Eigenschaften einer Nation - nach Benedict Anderson

Die Aufzählung unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze im ersten Abschnitt soll zeigen, dass keine allgemeine Begriffsbestimmung für den Begriff Nation möglich ist. Eher scheint es deshalb sinnvoll, sich auf einen bestimmten wissenschaftlichen Ansatz zu konzentrieren, diesen herauszuarbeiten und ihn als Basis für die wissenschaftliche Forschung zu machen. In dieser Arbeit liegt der Fokus auf dem konstruktivistischen Ansatz der Nationenbildung. „Ihr Erkenntnisinteresse zielt nicht auf die der Nation als unveränderlich, wenn auch in wechselnder Zusammensetzung zugeschriebenen Merkmale wie Sprache, Geschichte und Religion, sondern auf den Prozess dieser Zuschreibung. In den Mittelpunkt rücken Inhalt, Formen und Vermittlungsweisen der jeweiligen Konstruktionen, die eine spezifisch nationale Sicht auf die Welt ermöglichen. Der Nationalismus hält demzufolge handlungsleitende Denkmuster, Denkfiguren und Argumentationsformen parat, um Erfahrungen und Zukunftsentwürfe im Koordinatensystem des Nationalen sinnvoll einzuordnen.“[62] Auch wenn Benedict Anderson, Ernest Gellner und Ulrich Wehler als Vertreter des konstruktivistischen Ansatzes gelten, sind ihre Haltungen meist nicht miteinander vereinbar.

Benedict Anderson sieht die Entstehung der nationalen Frage, die er als ein „Phänomen jungen Ursprungs“ betrachtet, besonders durch einen technischen bzw. wirtschaftlichen und industriellen Fortschritt bedingt[63]. So bringt die rasche Verbreitung der Druckpressen das Aufkommen nationaler Hochsprachen hervor, was wiederum das Schulwesen vorantreibt, was wiederum die Literaturproduktion beschleunigt, wodurch unter anderem nationales Gedankengut verbreitet werden kann. Anderson definiert vier Eigenschaften, die eine Nation ausmachen und die im Allgemeinen auf alle mehr oder weniger anzuwenden sind. Er geht von der Nation als einer nur imaginären Größe aus, deren Existenz nur in der Vorstellung jedes Mitglieds besteht. Weiters nennt er Nation als eine Gemeinschaft, ohne soziale und gesellschaftliche Abstufungen. Neben der Abgrenzung spielt die Souveränität der Nation eine bedeutende Rolle.

- Eine Nation ist vorgestellt[64] (imagined), da sogar die Mitglieder der kleinsten Nation einander nicht alle kennen, während allerdings in den Köpfen eines jeden Einzelnen die Vorstellung einer Gemeinschaft existiert. All communities larger than primordial villages of face-to-face contact (and perhaps even these) are imagined. Die öffentliche Produktion der Nation führt also dazu, dass sich Menschen als imaginäres Ganzes einer Gruppe verstehen.
- Die Nation wird vorgestellt als eine Gemeinschaft (community), als eine Art von Verbund von Gleichen, unabhängig von sozialen Abstufungen und Differenzierungen. It is his fraternity that makes it possible, over the past two centuries, for so many millions of people, not so much to kill, as willingly to die for such limited imagines. Unter dem Credo der Gemeinschaft und der nationalen Verbundenheit miteinander sind in den letzten Jahrhunderten Millionen von Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen dafür gestorben.
- Eine Nation ist begrenzt (limited), weil eine jede, von welcher Größe auch immer sie sein mag, in Grenzen lebt, hinter denen andere Nationen sind. Keine Nation ist daran interessiert, sich mit der Menschheit an sich gleichzusetzen. Die eigenen Grenzen sollen vielmehr unterstrichen werden, um sich so von den anderen Gemeinschaften zu unterscheiden und abzugrenzen. The most messianic nationalist do not dream of a day when all members of the human race will join their nation in the way that it was possible in certain epochs, for say, Christians to dream of a wholly Christian planet.

Es ist gerade die Eigenschaft der „Begrenzung”, die die Nation von etlichen Religionsgemeinschaften unterscheidet. Der große Traum der Christen, wie auch der Muslimen, ist es und wird es wohl immer sein, dass alle Menschen einer einzigen Religion angehören.

- Eine Nation ist souverän (sovereign). Der Begriff der Nation gewinnt an Aktualität, als die Macht der hierarchisch-dynamischen Reiche, die auf „von Gottes Gnaden“ aufbauen, durch Aufklärung und Revolution ihre Legitimität verlieren. Nations dream of being free, and, if under God, directly so. The gage and emblem of this freedom is the sovereign state. Das Symbol der neu gewonnen Freiheit ist der souveräne Staat, der das höchste Ziel einer Nation darstellt.

Innerhalb der Menschen besteht ein „bemerkenswertes Vertrauen in eine anonyme Gemeinschaft, welches das untrügliche Kennzeichen moderner Nationen ist.“[65] Durch die Definition der Nation als eine „imaginäre Gemeinschaft“ ist dieses Gefühl nicht auf ein bestimmtes Gebiet begrenzt, sondern kann vielmehr von den Menschen, die schon vorher in einem Nationalstaat gelebt haben, in jedes beliebige Land mitgenommen werden, was Konflikte innerhalb der unterschiedlichen Mitglieder der Gesellschaft hervorbringt. Andersons Definition einer Nation lautet also: „Räume und Menschen werden kontingent, etwa durch koloniale Grenzen oder dynastische Händel, zusammengeworfen, wirtschaftlicher Austausch und Kommunikationsnetze entstehen, die Gemeinsamkeit der Sprache wird gefördert oder erzwungen, und irgendwann erfindet man sich eine gemeinsame Geschichte - denn bei so viel Gemeinsamkeit muss es doch einen Ursprung geben! - und will einen Staat.“[66]

Nicht im absoluten Gegensatz aber von einem anderen Blickwinkel geht Ernest Gellner an die Diskussion um die Bedeutung des Begriffs der Nation heran, wenn er sie als eine Erfindung Intellektueller bezeichnet, die diese weiterverbreiten und woraus abgeleitet werden kann, dass erst Nationalisten eine Nation schaffen.

2.3 Das Nationenkonzept - nach Ernest Gellner

Für Gellner beruhen Nationen auf dem Prinzip der Eventualität und sind durchaus keine universelle Notwendigkeit. Weder Nationen noch Staaten bestehen bzw. entstehen zu jeder Zeit und unter allen Umständen. Um die Diskussion, worum es sich bei einer Nation nun wirklich handelt zu vereinfachen, stellt Gellner in seinem Buch Nations and Nationalism zwei provisorische Kategorien auf, die das Aufstellen einer Definition erleichtern sollen. Bei der ersten handelt es sich um einen eher kulturellen, während es sich bei der zweiten um einen voluntaristischen, beinahe willkürlichen, Ansatz handelt:[67]

- Zwei Menschen gehören dann derselben Nation an, wenn, und nur wenn sie die gleiche Kultur teilen. In diesem Fall bezieht sich der Begriff Kultur auf das gleiche System von Ideen, Zeichen und Assoziationen ebenso wie auf die Art des Benehmens und der Kommunikation.
- Zwei Menschen gehören dann derselben Nation an, wenn sie anerkennen, dass der andere derselben Nation angehört wie er selbst. In anderen Worten: Nations maketh man; nations are the artefacts of men’s convictions and loyalties and solidarities.[68] Eine gewisse Anzahl an Menschen (wie zum Beispiel die Bewohner eines bestimmten Gebiets oder Sprecher einer gemeinsamen Sprache) werden zu einer nationalen Gemeinschaft, wenn sie sich auf das Einhalten gewisser Regeln und Verpflichtungen einigen, um damit die Gemeinschaft aufrecht zu erhalten. Es ist die Anerkennung eines jeden Einzelnen, auf der sich die Gemeinschaft als Nation aufbaut, und nicht die anderen Attribute, wie zum Beispiel die gemeinsame Sprache oder Kultur.

Für Gellner selbst sind diese beiden Definitionen nicht aus- bzw. weitreichend genug, da jeweils wichtige Ansätze nicht berücksichtigt werden. Weder der Faktor des „Wollens“ noch der Faktor der „gemeinsamen Kultur“ alleine sind für ihn ausreichend, um eine Gruppe als eine Nation anzusehen. Durch die komplexe Größe von Nation und vielschichtige Notwendigkeit einer gemeinsamen Basis (general social conditions) und die Tatsache, dass weder eine gemeinsame Kultur noch der Wille alleine genügen, kommt Gellner zum Schluss, dass der Nationalismus, also das Bekenntnis zur nationalen Gemeinschaft, die Basis einer Nation bildet.

When general social conditions make for standardized, homogenous, centrally sustained high cultures, pervading entire populations and not just elite minorities, a situation arises in which well-defined educationally sanctioned and unified cultures constitute very nearly the only kind of unit with which men willingly and often ardently identify. […] Under these conditions only, nations can indeed be defined in terms both of will and of culture. […] Men will be politically united with all those who share their culture. […] The fusion of will, culture und polity becomes the norm, and one not easily or frequently defied.[69]

Anderson[70] zitiert Gellner („Nationalismus ist keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewusstsein: man erfindet Nationen, wo es sie vorher nicht gab“) und kritisiert, dass dieser die „Erfindung der Nation“ mit einer negativen Konnotation besetzt, anstatt „Erfinden“ mit „Kreieren“ oder „Vorstellen“ gleichzusetzen. „Auf diese Weise legt er (Gellner) nahe, dass es „wahre“ Gemeinschaften gebe, die sich von Nationen vorteilhaft absetzen. […] Gemeinschaften sollten nicht durch ihre Authentizität voneinander unterschieden werden, sondern durch die Art und Weise, in der sie vorgestellt werden.“[71] Im Sinne Benedict Andersons ist Nation eben nicht von Intellektuellen erfunden und weiterverbreitet, so dass man zur Schlussfolgerung kommt, dass Nationalisten die Nation erst schaffen, wie Ernest Gellner es sieht. Ein Kritikpunkt, den Eric Hobsbawm an Gellners „Nationen-Theorie“ hat, ist, dass dieser zu sehr den Blick von oben benutzt und keinen Blick von unten hinauf wirft. Was soviel bedeutet, als dass die Sache nicht nur aus der Sicht der Regierungen und nationalistischen Anführern betrachtet werden sollte, sondern auch aus der Sicht der normalen Menschen, die im Endeffekt die Konsequenzen zu tragen haben. Allerdings schränkt sich Hobsbawm[72] selbst ein, wenn er meint, dass solch ein Blick äußerst schwierig zu rekonstruieren wäre, da nicht in die Köpfe der Menschen geschaut werden kann um zu sehen, ob bzw. inwiefern die offizielle Ideologie übernommen wurde. Weitere Hindernisse bilden die Unmöglichkeit der Kontrolle der Menschen bezüglich des Identifikationsgrades mit der Nation, bedingt durch die Veränderbarkeit und die Messbarkeit eben dieser.

2.4Das nationale Bewusstsein - Die kollektive Identität

Im Zusammenhang mit Nation und der Zugehörigkeit zu einer Nation muss auch ein Blick auf die kollektive Identität geworfen werden, auf der eine Nation basiert.

Otto Bauer meint: „Erst das Nationalbewusstsein macht also die Nationalität zur bewussten Triebkraft menschlichen, insbesonders auch politischen Handelns.“[73] Michael Metzeltin schreibt in seinem Buch „Nationalstaatlichkeit und Identität“[74], dass Identität, vom lateinischen Wort idem abstammt, das soviel wie derselbe, der gleiche bedeutet, und „den Zustand des Gleichseins, des Zugehörigkeitseins, die Existenz von Gemeinsamkeiten“ beschreibt. Assmann[75] meint, dass unter „einer kollektiven oder Wir-Identität ein Bild (zu) verstehen (ist), das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen.“ Kremnitz[76] definiert kollektive Identität wie folgt:

„Kollektive Identität - darin unterscheidet sie sich auch teilweise von der individuellen - macht sich notwendig an bestimmten Merkmalen fest. […] Die Gruppenwahrnehmung (von innen und von außen) muss sich indes noch viel exklusiver auf bestimmte Merkmale stützen, ihnen andere unterordnen und darf wieder andere überhaupt nicht in Betracht ziehen.“

Daraus lässt sich schließen, dass kollektive Identität auf dem Bekenntnis eines jeden Mitglieds beruht. Ihre Stärke oder Schwäche hängt vom Bewusstsein der Mitglieder der Gruppe ab und motiviert deren Handeln und Denken.

Das Ziel der nationalen Bewegung ist die Übernahme des Staates und dessen Souveränität. Auf der anderen Seite ist die nationale Ideologie insofern diskriminierend, als dass sie eine auswählende Ideologie ist, die bestimmte Merkmale auswählt und andere verstößt. Während des 19. Jahrhunderts entwickelt sich die Ideologie, dass jede Nation einen Staat bilden muss, der nur eine Nation umfassen darf und der in Folge möglichst homogen sein sollte.

„Bürger/innen müssen ein lebendiges Gefühl dafür haben, dass sie zusammengehören. […] Worauf auch immer sich dieses Gefühl für ein gemeinsames Schicksal und eine Bestimmung gründet, es muss vorhanden sein, zusammen mit dem lebendigen Vertrauen darauf, dass dieses Gefühl geteilt wird.“[77]

Daraus entsteht das für eine Gemeinschaft typische „Wir“-Gefühl, woraus das Gefühl des Gegensatzes bzw. der Unterscheidung zwischen dem „Wir“ und „den Anderen“ resultiert. „Identität stellt sich her als Resultante aus Eigen- und Außenwahrnehmung, beide beeinflussen sich gegenseitig.“[78] Kremnitz meint weiter, dass kollektive Identität immer etwas mit Abgrenzung zu tun hat, wie zum Beispiel der Abgrenzung gegen eine andere Gruppe. Das Empfinden des Gleich- bzw. Andersseins betrifft einerseits Einzelpersonen und/oder die Gruppe, weshalb man von individueller und kollektiver Identität spricht bzw. zwischen diesen beiden Komponenten unterscheidet. Diese Identitäten, im Grund nur mentale Konstrukte, sind „für dasselbe Identifizierte je nach Perspektive und gewähltem Zeitmoment“[79] variabel.

Das nationale Solidaritätsgefühl basiert in den meisten Fällen auf dem Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte, der Tatsache, bestimmte Herausforderungen gemeinsam erfolgreich gemeistert zu haben und/oder dem Gegenüberstehen einer gemeinsamen Gefahr. Der nationale Rahmen ist relativ instabil und Veränderungen unterworfen. Auch alte, territorialstabile Nationen wie Frankreich sind von einer eventuellen Auflösung bedroht, einerseits von Außen durch die Bildung einer großen europäischen Nation und andererseits von Innen durch eventuelle autonome Bewegungen, die eine eigenständige nationale Existenz fordern. Im Zusammenhang mit der Eroberung und Kolonialisierung fremder Gebiete verändert sich die Wahrnehmung der kollektiven Identität deren Bewohner. „Die Unterwerfung fremder Gebiete ging immer Hand in Hand mit der Leugnung bzw. Abwertung von deren kulturellen und materiellen Werten (um deren Aneignung es ja schließlich ging), damit letztlich immer auch um einen traumatischen Bruch in der kollektiven Identität der Unterworfenen, der die betroffenen Gesellschaften stark verändert und vielfach zerstört hat.“[80]

Bernhard Giesen widmet sich in seinem Buch „Kollektive Identität“ intensiv diesem Thema und stellt schon zu Beginn die These auf, dass der Zweifel an der Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit einer Gemeinschaft Auslöser für Beschäftigung mit diesem Thema sei. „Identität ist eine Frage des Bewusstseins, sie existiert nur insoweit, als sie dem Einzelnen oder der Gruppe bewusst ist. […] Wenn man „Nation“ als ein mentales Konstrukt sieht, kommt diesem Konstrukt insoweit Realität zu, als es von den Betroffenen akzeptiert und geglaubt wird und wie stark sie sich emotional damit identifizieren.“[81] Das, was eine kollektive Identität ausmacht, ist die Notwendigkeit einer Gruppe, die sich als ein „Wir“ sieht. „Der Teil hängt vom Ganzen ab und gewinnt seine Identität erst durch die Rolle, die er im Ganzen spielt, das Ganze entsteht allerdings erst durch das Zusammenwirken der Teile.“[82] Identität kann nicht unabhängig von gesellschaftlichen Zusammenhängen funktionieren. Jede Gruppe weist Differenzierungen nach Innen und Außen auf, womit man sich von den Anderen unterscheidet. Je mehr Differenzierungen es gibt, desto mehr grenzt sich die Gruppe ab, und desto intensiver erscheint der Außen- und Innenraum der Gruppe. Giesen nennt diese Verschiedenheiten, die eine Vielzahl von Differenzen in sich vereinen, Codes[83] und unterscheidet zwischen drei Codierungen:[84]

- Primordiale Codierung: Dabei beruht die Unterscheidung auf Geschlecht, Generation, Verwandtschaft, Herkunft, Ethnizität oder Rasse.
- Traditionale Codes: Diese Formen kollektiver Identität „ergeben sich aus der Grundlage der Vertrautheit mit impliziten Regeln des Verhaltens, mit Traditionen und sozialen Routinen.“
- Universalistische Codes: Diese Art von Code baut nicht auf Erinnerungen oder Traditionen auf, sondern auf der Idee der Erlösung bzw. Parusie.

Ernst Bruckmüller zählt unter dem Kapitel „Die Mythologie der modernen Nation: Sprache, Kultur, Abstammung als geglaubte Gemeinschaftsstifter“ Faktoren und Einflüsse auf, die (scheinbar) zur Bildung einer Nation von Bedeutung sind. Zu Beginn bleibt festzuhalten, dass „Nationalbewusstsein als Grundkonsens einer bestimmten neuzeitlichen Population ist nicht von objektiven Kriterien bestimmt, sondern eine subjektive Kategorie, die durchaus Ähnlichkeit mit religiösen Empfindungen besitzt, in der historischen Perspektive, auch als säkularisierte Ablösung religiöser Verstellungen gelten kann.“[85] Welche Faktoren das Nationalbewusstsein ausmachen, soll anhand einer Aufzählung veranschaulicht werden:[86]

- Es liegt im Interesse der modernen Nationalstaaten, ihre Existenz „legitimiert“ zu sehen, weshalb sie „möglichste Nähe zu einer letztlich göttlichen Herkunft - daher das Betonen des hohen Alters und der Autochthonie (=je älter desto sicherer von göttlicher Herkunft)“ suchen.
- Es werden Orte geschaffen, die als „heilig“ angesehen werden und so die religiöse Dimension des Nationalbewusstseins verdeutlichen. „Die moderne Nation konnte bewusst ältere heilige Orte entsakralisieren und dafür neue stiften. So wurden in der Französischen Revolution die Königsgräber in St. Denis geplündert; an ihre Stelle trat das Pariser Pantheon als Begräbnisstätte der nationalen Heroen.“
- Sprache und Kultur werden zu wichtigen, wenn nicht sogar zu den wichtigsten nationalen Identifikationsträgern. „Im Medium der („Hoch“-) Kultur verständigen sich die gebildeten Schichten über die nationale Identität. Zumeist steht im Hintergrund eines solchen „Kultur“-Gebietes ein Sprachgebiet. Die „heilige“ Muttersprache erhält eine hervorragende Bedeutung und wird auch jetzt erst allgemein als Hochsprache durchgesetzt. Daher die große - auch symbolische - Bedeutung der Dichter für die neuen Nationen!“ Benedict Anderson[87] fasst die Bedeutung der Sprache bzw. der Muttersprache für den Einzelnen und gleichzeitig für die Gemeinschaft, in ziemlich pathetischen aber gleichzeitig treffenden Worten aus: „Was den Liebenden das Auge ist - jenes besondere und doch gewöhnliche Auge, mit dem er oder sie geboren ist - , das ist dem Patrioten die Sprache, welche Muttersprache auch immer ihm oder ihr die Geschichte hat zukommen lassen. In dieser Sprache, der man zum ersten Mal an Mutters Rockzipfel begegnet und von der man erst im Grab scheidet, wird die Vergangenheit wieder herbeibeschworen, werden Gemeinschaften vorgestellt und die Zukunft erträumt.“
- Es bedarf bestimmter Symbole, die das Nationalbewusstsein einerseits darstellen und unterstützen und auf der anderen Seite „wenn wirklich massenhafte, (auch pseudo-) demokratische nationale Partizipation inszeniert wird, als Mobilisierungs- und Identifikationsfiguren für große Menschenmassen“: Unter solchen Symbolen versteht man Flaggen, Fahnen, Hymnen aber auch nationale Feiertage.
- Die modernen Nationalstaaten suchen Ahnen, Vorfahren, auf die sie sich stützen können. „Bei der zunehmenden Säkularisierung ist die Tendenz spürbar, die nationalen Ahnen über die christlichen Staatsgründer hinaus ins Heidnische zurückzuverlegen.“ Diese Rolle kann aber auch von Dichtern übernommen werden, wie Dante im Zusammenhang mit dem italienischen risorgimento und Walther v. d. Vogelweide und Schiller in Deutschland und bei den Deutsch-Österreichern beweisen. Das Hervorheben bestimmter Figuren verläuft durch „Akte und Institutionen der Erinnerung“ wie zum Beispiel Feste, Feiern, Denkmäler und Schule. „Man kann daher in gewissen Gebäuden, in Denkmälern, Bildsäulen etc. eine gewisse Generationenabfolge identitätsstiftender Figuren erkennen: Von den Heiligen über die Herrscher zu den Heroen politischer, militärischer oder kultureller Großleistungen.“ In diesem Zusammenhang müssen auch Mythen erwähnt werden, „die zum Leben der Menschen gehören, ohne Mythen kann der Mensch ebenso wenig leben wie eine Pflanze ohne Wurzeln. Sie erst ermöglichen das Verknüpfen der Gegenwart mit einer, als sinnvoll angesehenen Vergangenheit, und wirken damit sinnstiftend für diese. […] Mythen lassen sich benutzen.“ Durch Rituale wiederum kommt es zur Aufhebung der Zeit, wird dadurch doch die Vergangenheit wieder lebendig. Sie bewirken beim Beteiligten das Gefühl des „Dazugehörens“ und vermitteln Halt und Sicherheit, sowohl dem Individuum als auch der ganzen Gruppe.

Einen ähnlichen Standpunkt vertritt auch Metzeltin, wenn er in einer Aufzählung bezüglich der Systematisierung der Staatenbildung auf die Historisierung eingeht und meint: Es geht nun um die Aufstellung der eigenen nationalen Geschichte. Auf Grund bzw. mit Hilfe historischer Fakten soll diese (re-)konstruiert werden. „Es wird betont, dass man eine eigenständige, einheitliche, organisierte und selbständige Nation bildet, dass man eine gemeinsame, große und alte Geschichte hat, dass die Nation wieder erwacht ist und wieder vereint werden muss, dass man für die nationale Freiheit und Einheit gekämpft hat und kämpft. […] Sind die Freiheitskämpfe negativ ausgegangen stellt man sich als Opfer dar. Man schreibt und komponiert dementsprechende Werke, die Freiheit und das Wiedererwachen thematisierende Texte. […] Die Nationalgeschichte lässt man häufig anachronistisch lange vor der Gründung des jeweiligen Nationalstaates beginnen.“[88]

- Als letzten Punkt führt Bruckmüller junge, aufstrebende Nationen an, die von alten Systemen in ihrer Entfaltung behindert werden und nennt in diesem Zusammenhang die ehemalige Sowjetunion und das ehemalige Jugoslawien. In diesen Ländern hätte „Demokratie nur realisiert werden können, wenn die Dominanz eines angeblich übernationalen (in Wahrheit aber mit den Interessen einer mehr oder weniger dominanten Nation) Systems beseitigt und den Nationen tatsächlich die volle Souveränität eingeräumt worden wäre. […] Ist der Nationalismus als die herrschende Idee einmal anerkannt, dann wird ein neuer Vielvölkerstaat nur mehr in Ausnahmefällen auf allgemeine Akzeptanz stoßen können.“ Der Zusammenbruch der großen Reiche ist also Voraussetzung für neue demokratische Bewegungen, wie zum Beispiel der Tschechen, Slowaken, Slowenen etc.

Identität an sich ist ein soziales Phänomen und kann somit nicht alleine mit sich selbst ausgemacht werden. Durch Erfahrungen und Selbsterfahrungen durch Interaktion erfährt sie ihre eigene Entwicklung. Identität ist weder statisch noch unveränderlich, sondern vielmehr beständig, ist aber immer wieder einem Wandel und Veränderungen unterzogen, die durch den Kontakt mit anderen bedingt werden. Metzeltin[89] sieht die nationale Identität als Voraussetzung zur verfassungsmäßigen Staatsbürgerschaft, die Zugang zu den staatlichen (nationalen) Ressourcen verschafft. Daraus kann nun also abgeleitet werden, dass „die Schaffung von Nationalstaaten auf der Konzeption gründet, wie Ressourcen unter größeren Massen verteilbar sind. Semiotisch drückt sich dies grundsätzlich abstrakt in den liberalen, demokratischen Verfassungen aus.“

2.5 Nationalismus

Immer mit dem Begriff der Nation einhergehend, bietet die Auseinandersetzung mit Nationalismus ein weites Feld an Begriffen und Interpretationen. Ebenso wie Nation oder anderen umfangreichen Konzepten, die eine politische Idee beschreiben, ist auch Nationalismus eine Größe, die keine einheitliche, allgemeingültige Definition und Begriffsdeutung zulässt. Die Interpretation von Nationalismus kann als Begrifflichkeit geschehen oder als historischer Abriss einer Bewegung. An dieser Stelle soll der Fokus auf Grund der Thematik auf der ersten Variante liegen.

Ausgehend von einem Zitat aus dem Buch „Radetzkymarsch“ soll nun allerdings trotzdem der Frage nachgegangen werden: Was ist unter Nationalismus zu verstehen?

„Natürlich […] wörtlich genommen, besteht sie (die Monarchie) noch. Wir haben noch eine Armee […] und Beamte […] aber sie zerfällt bei lebendigem Leibe. Sie zerfällt, sie ist schon verfallen! […] Die Zeit will uns nicht mehr! Diese Zeit will sich erst selbständige Nationalstaaten schaffen! Man glaubt nicht mehr an Gott. Die neue Religion ist der Nationalismus.“[90]

Unter dem Begriff des Nationalismus kann allgemein folgendes verstanden werden:

„Ideologie, die auf der Grundlage eines bestimmten Nationalbewusstseins den Gedanken der Nation und des Nationalstaates nach außen und innen vertritt. [Nationalismus] Sieht in der eigenen Nation den höchsten Wert. Nationales Interesse wird zum allgemeinen Maßstab des politischen Handelns. Höchste Steigerung: Chauvinismus.“[91]

Etwas genauer definiert Ernest Gellner[92] Nationalismus, der von ihm aus der kulturellen Sicht betrachtet wird:

„Nationalismus ist eine Form des politischen Denkens, die auf der Annahme beruht, dass soziale Bindung von kultureller Übereinstimmung abhängt. Welche Herrschaftsprinzipien ein Gemeinwesen auch immer bestimmen mögen, ihre Legitimität liegt in der Tatsache begründet, dass die betroffenen Gruppenmitglieder dieselbe Kultur teilen (oder wie der Nationalist sich ausdrücken würde: Sie müssen derselben „Nation“ entstammen).“

Die Grundlage des Nationalismus ist automatisch das Bekenntnis zu einer bestimmten Nation, wobei laut Gellner die kulturelle Zusammengehörigkeit zum obersten Kriterium wird, die auch zur einzigen Bedingung der Aufnahme und Akzeptanz zu einer Gruppe erkoren wird. Welche Bereiche der Kultur, die ja ein vielschichtiger Gegenstand ist, herangezogen werden, ist unterschiedlich, wobei in den meisten Fällen die Religion, die Vergangenheit und/oder die Sprache eine ausschlaggebende Rolle spielen. In der Wissenschaft, unter anderem von Ernest Gellner[93], wird der Standpunkt vertreten, dass Nationalismus unter bestimmten, nicht universellen Bedingungen, natürlich und notwendig ist. Er beruht auf der Anschauung, dass ein legitimer, politischer Verband durch kulturelle Homogenität gekennzeichnet ist, und dass die Beherrschung einer allgemein akzeptierten Hochkultur, die von der Bürokratie festgelegt wurde, die notwendige Voraussetzung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Staatsbürgerschaft bildet. Das bedeutet zusammengefasst, dass eine politische Einheitslinie dominiert, der man sich anschließen muss, um nicht ins Abseits zu geraten. Wer sich nicht anpassen und fügen möchte, muss entweder in ein anderes Land ziehen oder muss ein politisches Gegengewicht bilden, mit dem Ziel und der Aufgabe, das bestehende System in Frage zu stellen und eine Alternative dazu zu bilden. „Nationalismus ist weder universell noch notwendig noch willkürlich und zufällig, noch gar die Frucht wertlosen Gekritzels und leichtgläubiger Leser. Er ist die notwendige Folge beziehungsweise Implikation bestimmter sozialer Verhältnisse, unserer Verhältnisse. Sie sind weit verbreitet, tiefverwurzelt und dominierend. Folglich ist Nationalismus kein Zufall.“[94] Der Nationalismus ist als eine Bewegung zu verstehen, die sich aus einer Gemeinschaft zusammensetzt, die sich sprachlich, historisch und/oder auch politisch zusammengehörig fühlt und die staatliche Selbstbestimmung fordert: Die Bildung eines Nationalstaates ist das oberste Ziel. Nationalismus ist zumeist mit einem negativen Beigeschmack konnotiert, da er allein das nationale Interesse in den Mittelpunkt stellt und als Maßstab des politischen Handelns ausgewählt wird. Als Nationalismus kann, neutral betrachtet, das Wohlwollen für die nationale, politische Gemeinschaft gesehen werden, in der jeder Mensch ein komplexes kulturelles Erbe erlebt, annimmt und weitergibt. Die Steigerung dieses Gefühls nennt sich radikaler Nationalismus oder auch Chauvinismus, der sich durch Gewalt und das dezidierte Ablehnen und Bekämpfen anderer Gruppen auszeichnet. Charakteristisch für diese Form der Ausuferung ist, dass sich ein Angehöriger einer Nation allein auf Grund seiner Zugehörigkeit, Mitgliedern anderer Nationalitäten überlegen fühlt und diese gleichzeitig abwertet. „Dass alle Nationen und Nationalitäten anfällig sind für die Versuchung, ihren Nationalismus zu steigern zu einem die Interessen aller Nachbarvölker und den Eigenwert aller anderen Emanzipationsbewegungen negierenden Sektierertum, liegt in der Natur des Menschen, der dazu neigt, jede positive Eigenschaft so zu übersteigern, dass sie zu einer negativen wird.“[95] Der Konstruktivist Ulrich Wehler wiederum meint, dass der Nationalismus erst den Grundstein für die Bildung einer Nation bildet. Unter Nationalismus versteht Ulrich Wehler „das Ideensystem, die Doktrin, das Weltbild, das der Schaffung, Mobilisierung und Integration eines größeren Solidarverbandes (Nation genannt), vor allem aber der Legitimation neuzeitlicher politischer Herrschaft dient.“ Von dieser Auffassung ausgehend, führe die „Auffassung, dass die Nation den Nationalismus hervorbringe“ in die Irre: „Umgekehrt ist vielmehr der Nationalismus der Demiurg der neuen Wirklichkeit.“[96] Auf derselben Linie argumentiert Ernest Gellner[97] wenn er meint: „[…] Kulturen definieren und schaffen Nationen. […] Nationen sind nicht von vornherein gegeben, noch sind sie von vornherein in der Lage etwas zu tun oder zu besitzen.“

Exkurs: Ein Lied als Ausdruck der Verbundenheit zu Österreich

Ein subtiles Beispiel für das Gefühl des Zugehörens zu einer Nation können unter anderem auch Lieder sein. In Österreich gibt es ein Lied, das noch gar nicht so alt ist, das allerdings anscheinend den Geschmack der breiten Masse trifft und das deshalb bei keinem Fest und keiner Veranstaltung, bei der mehr oder weniger viele Menschen versammelt sind, fehlen darf und das, wegen des sehr patriotischen ebenso wie einfachen Textes, zum Mitgrölen anregt bzw. anregen soll: Es handelt sich bei diesem Lied um „I am from Austria“ vom Wiener Liedermacher und Sänger Reinhard Fendrich. Der Titel ist auf Englisch, der Text auf Deutsch und der Sänger singt mit einem typischen ostösterreichischen Dialekt. Ob all diejenigen, die bei dem Lied mitsingen, wirklich eingefleischte Patrioten sind, bleibt ungeklärt, allerdings wird beim Refrain für gewöhnlich immer fleißig mitgesungen, spricht er doch die Schönheit des Landes an und gleichzeitig die Gefühle des Sängers, der den Stolz auf und die Verbundenheit zu seiner Heimat nicht verbergen kann. Interessant ist, dass eben dieses Heimatgefühl immer nur umschrieben, nie allerdings direkt angesprochen wird. Ein Grund dafür kann die in Österreich weitverbreitete Einstellung zur österreichischen Heimat sein, zu der man sich zwar bekennt, wobei allerdings gleichzeitig jeglicher patriotischer Überschwang vermieden werden soll. Das kann der Grund sein, warum der Titel und die wichtigste Stelle im Text, „I am from Austria“, auf Englisch gesungen werden.

Das Land Österreich wird in personifizierter Form dargestellt und in gewisser Weise verherrlicht bzw. gepriesen. Die Vergangenheit des Landes, ebenso wie die Schönheit der Landschaft in der Gegenwart werden vom Sänger in der ersten Person Einzahl angesprochen. Dies lässt zu, dass sich der Zuhörer mit dem Refrain identifiziert, wenn es zum Beispiel heißt: „Da kann man machen was man will, da gehöre ich her, da gehöre ich hin […] Ich bin dein Apfel du mein Stamm […].“[98] Die Wortwahl ist einfach, weshalb der Sinn des Textes schnell verstanden wird und das Mitsingen als ein patriotischer Akt angesehen wird. In der ersten Strophe wird die glorreiche Vergangenheit, die zeitlich allerdings nicht näher definiert wird, thematisiert, wobei das Resümee eher negativ ausfällt. Allerdings folgt in der nächsten Zeile schon die Bekundung, dass der Sänger trotzdem oder gerade deshalb stolz ist und dies mit den Worten „Da kann man machen was man will, da komme ich her, da gehöre ich hin“ veranschaulicht. Besser hätte die Wortwahl nicht ausfallen können, wird dadurch doch impliziert, dass die Liebe zur Heimat so stark ist, dass sie auch in schlechten Zeiten nicht vergeht. Nicht umsonst wird dieser musikalische Beitrag oftmals die „inoffizielle Hymne Österreichs“ genannt und darf bei kaum einem Großereignis, sei es sportlicher, gesellschaftlicher oder politischer Art, fehlen.

Dei hohe Zeit, is lang vorüber, Deine hohe Zeit ist längst vorüber

und a die Höll host hinter dir, und auch die Hölle hast du hinter dir

von Ruhm und Glanz ist wenig über, von Ruhm und Glanz ist wenig über

sog ma wer zieht noch den Hut vor dir, sag mir wer, zieht noch den Hut vor dir

außer mir? außer mir?

I kenn die Leit, i kenn die Ratten, Ich kenne die Leute, ich kenne die Ratten

die Dummheit, die zum Himmel schreit, die Dummheit, die zum Himmel schreit

i steh zu dir, bei Licht und Schatten, ich stehe zu dir, bei Licht und Schatten,

jederzeit. jederzeit.

Da kann ma mochn wos ma wü, Da kann man machen was man will

da bin i her, da ghör i hin, da gehöre ich her, da gehöre ich hin

da schmilzt das Eis von meiner Sö, da schmilzt das Eis auf meiner Seele

wie von am Gletscher im April, wie von einem Gletscher im April

a wenn mas schon vergessen ham, auch wenn wirs schon vergessen haben

i bin dei Apfel du mein Stamm, ich bin dein Apfel, du mein Stamm

so wia dei Wasser talwärts rinnt, so wie dein Wasser talwärts rinnt

unwiderstehlich und so hell, unwiderstehlich und so hell

fost wie die Tränen von am Kind fast wie die Tränen von einem Kind

wird auch mei Bluat auf einmal schnell wird auch mein Blut auf einmal schnell

sog i am End der Wöt voi Stolz sage ich am Ende der Welt voller Stolz

und wenn ihr wollts a ganz allan, und wenn ihr wollt auch ganz alleine

I am from Austria (2x) I am from Austria

Es worn die Störche oft zu beneiden, Es waren die Störche oft zu beneiden

heit fliag i no vü weiter furt, heute fliege ich noch weiter fort

i siech di meist nur von da Weitn, ich sehe dich meistens nur von der Weite

wer kann vastehn wia weh des manchmoi tuat wer kann verstehen, wie weh das manchmal tut

Da kann ma mochn wos ma wü... Da kann man machen was man will…

2.6 Standardisierung einer Nationalsprache/Nationalstaat und Nationalsprache

Es ist nicht zwingend, dass sich eine Nation durch Sprache definiert, allerdings spielt im modernen Nationenbegriff, und gerade in Frankreich, die Sprache eine vorrangige Rolle. „Das Prinzip der Nationalsprachen möchte allen Bürgern eines Staates dieselben sprachlichen Möglichkeiten geben; es ist in diesem Ansatz ein demokratisches Prinzip. Es soll ein einheitlicher, gesamtstaatlicher Kommunikationsraum entstehen. Dahinter steht die moderne Konzeption der Nation als einer Gemeinschaft von Bürgern.“[99] Was aber nicht übersehen werden darf ist, dass nicht alle Bürger eines Landes den gleichen Zugang zu dieser einen Sprache haben. Aus sprachlichen Barrieren und innersprachlichen Problematiken werden drastische Konsequenzen gezogen, wie es am Beispiel Frankreich deutlich wird: „Dort werden alle nicht-französischen Sprachformen nicht anerkannt, und der Staat versucht, möglichst rasch alle französischen Bürger zu Sprechern des Französischen zu machen.“[100]

Für Schieder[101] ist die Vorstellung, dass der nationale Charakter eines Staates sich zuerst in einer einheitlichen nationalen Sprache manifestiert erst charakteristisch für das „Jahrhundert des militanten Nationalismus“, also im 19. und 20. Jahrhundert. Der steigende Einfluss des Staates und die zugleich steigenden Anforderungen an alle Staatsbürger erforderten eine intensive Schriftlichkeit im bzw. des öffentlichen Lebens, ebenso wie eine weit reichende Alphabetisierung der Menschen. „Nationalsprache beruht auf der Voraussetzung, dass sich die Nation als große und beständige sozial-ethnische Gemeinschaft von Menschen durch größere innere und äußere Geschlossenheit (Organisation als Nationalstaat) von der ethnischen Gemeinschaft einer Nationalität unterscheidet.“[102] Unter dem Begriff der Nationalsprache versteht man nun laut Ising[103]:

- Die Standard-, Literatur-, Hoch- oder Schriftsprache einer nationalen Sprach- oder Kommunikationsgemeinschaft. Wobei an dieser Stelle Dialekte und Soziolekte ausgeschlossen werden.

- Die Gesamtheit der historischen, regionalen, sozialen und funktionalen Varietäten einer Sprache, die bei der Herausbildung der Nation von der Sprach- bzw. Kommunikationsgemeinschaft verwendet werden.

Kremnitz[104] meint, dass eine Definition des Begriffs Nationalsprache insofern schwierig ist, als dass darin eine politische und eine linguistische Komponente verwoben sind. Die moderne Bedeutung des Begriffs, der ab der Französischen Revolution seine Gültigkeit hat, setzt die „Sprache des politischen und gesellschaftlichen Zentrums als Symbol für die Identität und Einheit der jeweiligen Nation ein und macht sie somit zum konstitutiven Merkmal der Nation: Die europäischen Nationen definieren sich (in ihrer Mehrzahl) über ihre Sprache.“ Die meisten europäischen Länder weisen eine Vielzahl an Regional- und Minderheitensprachen auf, die in dem Konzept der dominierenden Nationalsprache nicht berücksichtigt werden. Gleichzeitig überschreiten die einzelnen Sprachen die jeweiligen Staatsgrenzen, womit das „Konzept der Nationalsprache“ zu einem wichtigen Kriterium für internationale Auseinandersetzungen ab dem 19. Jahrhundert geworden ist.

In den neugegründeten Nationen Europas, vor allem des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, besteht (noch) keine staatsbürgerliche Gemeinschaft, haben sich doch viele Staaten durch Herauslösung von einem Ganzen gebildet oder aus vielen kleinen Teilen zu einem Ganzen gefunden. An dieser Stelle tritt der ethnisch-sprachliche Aspekt in den Vordergrund. „Sprache wird eine Macht, die über die reine Verwirklichung des Nationalstaates entscheidet.“[105] Allerdings ist dies noch nicht im Sinn des militanten Nationalismus zu verstehen, sondern eher im Sinne eines Sprachenthusiasmus der Romantik. Für Gottfried Herder, der den romantischen Volksbegriff des 19. Jahrhunderts bestimmt, kann es ein Volk ohne eigene Nationalsprache nicht geben. „Ein Volk hat keine Idee, zu der es kein Wort hat, die lebhafteste Anschauung bleibt dunkles Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedächtnis, der Rückerinnerung, dem Verstande, je endlich dem Verstande der Menschen, der Tradition einverleibt; eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land.“[106] Sprache wird von Herder als die Ausdrucksmöglichkeit des Erkenntnisvermögens angesehen, was bedeutet, dass ein Volk nur das kennt, was es auch benennen und mit der Sprache ausdrücken kann. Sprache wird zu einem Machtfaktor und einem Mittel politischer Herrschaft, da durch die sprachliche Unterdrückung und Bekämpfung eines Volkes durch ein anderes, die Identität des schwächeren Volkes verloren geht. Demzufolge funktioniert die Emanzipation eines unterdrückten Volkes, zum Beispiel durch Kolonialismus, am besten, wenn es seine Nationalsprache wieder aufleben lässt, um sich damit eindeutig zu positionieren. In seinen philosophischen Theorien bezieht sich Herder auf die Geschichte, die er als unpolitisch ansieht. Sprache soll frei verwendet werden ohne Rücksicht auf politische Grenzen. Bald wird das Konzept der Einheit von Nationalstaat und Nationalsprache die Oberhand gewinnen und sprachliche Einheit durch Zwang durchsetzen. „In den Verfassungen des 19. Jahrhunderts sind Sprachbestimmungen in der Regel nur bei Staaten zu finden, in denen keine sprachliche Einheit besteht, und zwar konnten es Bestimmungen sein, die eine einheitliche offizielle Sprache fixieren […] und solche, die gerade mehrerer Staatssprachen zuließen.“[107] Ist ein Nationalstaat „sprachlich rein“ wird sich kaum eine Bemerkung in der Verfassung über die Nationalsprache finden. Ob dies der sprachlichen Realität entspricht ist fraglich, werden doch durch das Nichterwähnen andere Sprachen auf nationalem Boden einfach nicht berücksichtigt. Die Verfassungen in den neu gegründeten Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg „enthalten schon regelrechte Bestimmungen über die nationale Staatssprache, oder es wurden wenigsten sprachliche Grundentscheidungen in enger Verbindung mit der Verfassungspolitik getroffen.“[108]

2.7Zwei unterschiedliche Konzepte von Nation: Deutschland - Frankreich

Die deutsche und die französische Nation bilden und bildeten in Europa zwei wichtige Pole, die sich in ihrer Grundidee deutlich unterscheiden. Das heutige Deutschland besteht bis ins 19. Jahrhundert hinein nur aus einem Mosaik souveräner Staaten und hat Schwierigkeiten, sich selbst als einheitlichen Staat zu definieren. Zwar kann das deutsche Reich auf eine lange Tradition zurückblicken während allerdings noch keine Rede von einer deutschen Nation sein kann. In Frankreich überlagert das Konzept der Nation einen Staat, der sich schon länger territorial gefestigt hat. Im kommenden Kapitel sollen einander die beiden unterschiedlichen Konzepte von Nation gegenübergestellt werden, um Unterschiede besser herausarbeiten und verstehen zu können.

2.7.1 Der Weg zur Bildung der deutschen Nation

In den deutschen Gebieten liegt die Macht lange in den Händen von Territorialherren. „Der König war ohne militärische Gewalt; die Treuepflicht galt nach dem deutschen Lehnswesen dem jeweiligen Fürsten, nicht einer königlichen Zentralinstanz. […] Ein einheitliches Staatswesen konnte sich angesichts der fürstlichen Souveränität nicht entwickeln.“[109] Im Vergleich dazu wird in Frankreich schon früh in der Geschichte die Macht an einem Ort zentralisiert und jegliche Tendenzen der Dezentralisierung von den politischen Machthabern abgewehrt.

Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation des 17./18. Jahrhunderts sind die Monarchien stark in ihren eigenen nationalen Identitäten verwurzelt und versuchen eine konstitutionelle Monarchie zu etablieren. Angesichts der vielen deutschen Teile kann man sich aber nicht auf einen „Nationalkönig“ einigen bzw. mit nur einem begnügen. Der Name „Heiliges Römisches Reich“, der ab dem 15. Jahrhundert den Zusatz „deutscher Nation“ erhält, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich nicht um eine Nation im modernen Sinne handelt. Durch die monarchische Gliederung und die ständische Aufgliederung handelt es sich vielmehr um souveräne Fürstentümer mit einem gemeinsamen Kaiser, die sich kaum bis gar keine gemeinschaftlichen Institutionen teilen. Die Deutschen waren zwar ein Volk mit gemeinsamer Sprache und Kultur, aber die territoriale Zersplitterung macht die Identifizierung als nationale Einheit schwierig. Während Louis XIV. als absoluter Monarch die Vormacht Frankreichs in Europa sichert, besteht das deutsche Reich zu dieser Zeit lediglich aus souveränen Staaten, die allein durch die kaiserliche Krone „zusammengehalten“ werden. Schon in den 1770/80er Jahren ergeben sich immer wieder Debatten um eine nationale, deutsche Literatur, um ein deutsches Nationaltheater und um die Pflege einer einheitlichen, deutschen Nationalsprache. „Der Personenkult um Friedrich den Großen hatte in Norddeutschland protonationale Züge gewonnen. Die nationalrevolutionären Vorgänge in Nordamerika und Frankreich waren von der politischen Öffentlichkeit der Gebildeten mit höchst angespannter Anteilnahme verfolgt worden.“[110]

Johann Gottfried Herder und seine Werke haben großen Einfluss auf das Nationenbild im deutschen Reich. „Herder erkannte und verdeutlichte die besondere Bedeutung der Sprache, der Literatur und der Geschichte für den Charakter und das Selbstbewusstsein eines Volkes. Er betrachtete eine Nation nicht nur von ihren politischen Repräsentanten, sondern auch vom Volke her: als eine Sprach- und Kulturgemeinschaft, die sich aus ihrer Geschichte erschließt.“[111] Diese Geschichte ist nicht nur auf politischer Ebene zu betrachten, sondern schließt „auch eine Geschichte der Wirtschaft, der Innovation, des Alltags, aber auch der Feste, der Überlieferungen, der Literatur, der Märchen und Sagen“[112] ein. Nationale Souveränität kann durch gesellschaftlich-politische sowie sprachlich-kulturelle Selbstentfaltung erzielt werden. Dieser Standpunkt eröffnet besonders Völkern, die keinen eigenen Nationalstaat besitzen, eine neue Perspektive zur „Selbstbefreiung aus eigener Kraft“[113]. Herder sieht die Möglichkeit eine neue deutsche Nation zu bilden beim Volk selbst. Die Gemeinschaft und Gesamtheit des Volkes soll sich durch Besinnung auf die Geschichte und Kultur und das Aufleben der Traditionen zu einer Nation formen. Durch Herders Wirken kommt es erstmals zu einer intensiven Beschäftigung mit den Sprach- und Kulturwissenschaften. In seinem Nationenkonzept „spielte weniger die Volkssouveränität die erste Rolle, als die Suche nach dominanten kollektiven Charakterzügen, die es sozusagen erlauben würden, die Funktion der jeweiligen Nation im Konzert der gesamten Menschheit zu identifizieren. […] Die Nation besteht aus allen Individuen einer bestimmten Gruppe, alle sind davon betroffen, alle haben daher auch wohl das Recht, ihre eigenen Schicksale mitzubestimmen - auch wenn diese Phasen vorsichtigerweise erst in Zukunft kommen werden.“[114] Herders Grundidee weist demokratische Züge auf, die „von einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Völker und Nationen (ausgeht). Betrachtet man die Völker von ihrer muttersprachlichen Kultur her, dann könne man nicht mehr von „führenden“ oder gar von höher stehenden Völkern sprechen; es gäbe keinen Grund, einem Volk sein Recht auf eine eigene kulturelle und nationale Entwicklung zu bestreiten.“[115]

2.7.2Eine intellektuelle Bewegung zur deutschen Nationenbildung

Die Gedanken der französischen Revolution greifen auch nach und nach in den deutschen Ländern, wobei besonders innerhalb der intellektuellen Kreise der Ruf nach einer einheitlichen deutschen Staatsnation laut wird. Die Frage nach den Grenzen des zukünftigen, einheitlichen nationalen Staates wird aufgeworfen. Die Mehrheit spricht sich für einen Staat im Herzen Europas aus, der alle Deutschsprechenden umfasst, also auch die Österreicher. Da dies mit dem Verzicht bestimmter Länder, im Falle von Preußen auf Polen, im Falle der Wiener Großmacht auf den Großteil ihres Imperiums, einherginge, wird die Meinung in dem Maße ausgeweitet, als dass „das konsolidierte nationale Reich auch fremdsprachige Territorien umfassen sollte, die seinen Gliedstaaten bereits gehörten.“[116] Die Bewegung der Aufklärung bringt eine neue gesellschaftliche Schicht hervor, die der bürgerlichen Gesellschaft, die sich nicht mehr an den Grenzen der einzelnen Teilmonarchien orientiert, sondern nach den weiter entfernten Grenzen strebt, um ein einheitliches Ganzes aufzubauen. „Von daher war diese bürgerlich geprägte Kulturgesellschaft der Boden für eine neue Nationenbildung in Deutschland.“[117] War auf kultureller Ebene ein nationaler Gedanke immer mehr in den Vordergrund gerückt, sind auf politischer Ebene die territorialen Grenzen noch immer aufrecht. So stehen „einzelstaatliches Reformengagement und kulturnationale Orientierung nebeneinander. […] Oder sollte es in den Fürstenstaaten nach deren erfolgreicher Staatsbildung auch zu einer eigenen Nationsbildung kommen? Man sprach bereits vom bayrischen Volk, vom sächsischen Volk.“[118]

Das neue Nationalgefühl bringt einen Wandel des (deutschen) Nationenbegriffs mit sich, der sich in der kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik widerspiegelt. Als direkter Nachbar von Frankreich bleiben die Ideen der Revolution 1789 auch in den deutschen Landen nicht ungehört. Allerdings wandelt sich durch außen- und innenpolitische Ereignisse - 1792 erklärt Frankreich den führenden deutschen Staaten den Krieg; der König wird abgesetzt und das Land unter französische Herrschaft gestellt - die Gesinnung, und es kommt zur Abkehr von der (französischen) nationalen Idee. „Er (der deutsche Nationalismus, Anm.) verwarf die Aufklärung und verurteilte ihre Ideale als importierte. Er flüchtete in die Vergangenheit, glorifizierte sie und verklärte sie. Dieser Konternationalismus ist der ideologische Ausdruck der damaligen sozio-ökonomischen und politischen Rückständigkeit Deutschlands. […] Unter den gegebenen Verhältnissen konnte in Deutschland eine Synthese aus Nationalismus, Liberalismus und Demokratie auf ideologischer Ebene, wie sie in der Französischen Revolution zustande gekommen ist, nicht entstehen.“[119] Die junge deutsche Nationalbewegung hat während der Zeit zwischen 1792 und 1815 ihre eigenen Vorstellungen von Nation, Nationalismus und dem deutschen Nationalstaat geschaffen. Die Nation wird zum Inbegriff der Legitimation des Staates durch das Volk. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte hält in den Jahren 1807 und 1808 „Reden an die deutsche Nation“, worin er das Volk aufruft, sich zu seinem „Deutschsein“ zu besinnen. Eine neue Identität sollte geschaffen werden, die sich aus den Mangeln einer dominanten Fremdherrschaft emanzipiert. Das „Deutschtum“ wird über das Sein aller anderen Völker gestellt, wobei sich die Haltung insbesonders gegen Frankreich stellt.

„Indem sie Traditionen ethnischer deutscher Herrschaftsverbände großzügig für sich in Anspruch nahm und als nationale Vergangenheit instrumentalisierte, indem sie heroische Leitfiguren wie Hermann den Cherusker, Karl den Großen, Martin Luther, Friedrich den Großen in das nationale Pantheon erhob, indem sie die Zukunftsvision einer glorreichen Regeneration der Nation und ihres Reiches entfaltete, begegnete sie der revolutionsähnlichen Modernisierungskrise ihrer Gegenwart mit der Faszination eines neuen Weltbildes, in dessen Mittelpunkt der Nationalismus als Säkularreligion stand.“[120]

Die deutsche Kulturgesellschaft erfährt zunächst einen Aufschwung, zerbricht aber allmählich an ihren Idealen: Die Ideen der Aufklärung werden beiseite gelegt und ein „konservativer Reichspatriotismus, der bereits auch nationalistische Tendenzen zeitigte und später zu einer Tradition werden sollte: antimodernistisch, antirevolutionär, religiös-fundamentalistisch, antifranzösisch“[121] baut sich auf. Die gesamtdeutsche Gesinnung geht zurück, und es entwickelt sich eine stark einzelstaatliche, die besonders durch den Kaiser der Franzosen, Napoleon Bonaparte gefördert wird.[122] „Eine gewaltige „Flurbereinigung“ im Verein mit einem beispiellosen staatlichen Konzentrationsprozess reduzierte von 1802 bis 1815 die Anzahl der politischen Einheiten von jenen rd. 1789 (sic!), die man noch im Jahre 1789 gezählt hatte, auf rd. Vierzig!“[123]. Als der österreichisch-deutsche „Doppelkaiser“ Franz II. auf Druck Napoleons die Kaiserkrone niederlegt und sich 16 süd- und westdeutsche Reichsstände im Jahre 1806 vom Reich lossagen, um sich zum von Napoleon protegierten deutschen Rheinbund zu formieren, ist das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zerfallen. Franz II. bleibt als Franz I. Kaiser des von ihm 1804 gegründeten Kaisertums Österreich. Die Existenz des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation wird durch Niederlegung der Reichskrone durch Franz II. am 6. August 1806 beendet. Ab diesem Zeitpunkt beginnt die Formulierung der „Deutschen Frage“[124] im eigentlichen Sinne. Frankreich, das als Feind gilt, den es aus dem Land zu treiben gilt, die Franzosen und bestimmte französische Gesinnungen werden verschmäht, von Intellektuellen in ihren Schriften und Publikationen angeprangert und schlecht gemacht. „Wie in die anderen Nationalismen war auch von Anbeginn an in den deutschen Nationalismus, der sich dank seiner engen Verschwisterung mit dem Frühliberalismus auch schon mit nationaldemokratischen Ideen als menschenfreundliche Reformbewegung empfand, das Element einer fundamentalistischen Feindseligkeit gegenüber einem vermeintlichen „Erzfeind“ konstitutiv eingesenkt.“[125]

Durch die Alleinherrschaft Napoleons über das deutsche Gebiet wird die Bildungsebene wachgerüttelt und regt zu einer Nationenbildung an, die nicht von den schwachen Landesfürsten, sondern vom Volk ausgehen sollte.

„Mit der tiefen Modernisierungskrise, in der sich staatliche, sozialstrukturelle und kulturelle Transformationsprozesse mit manchmal bedrückender Gewalt überlagerten, entstand jene „Herausforderung“, auf die der junge deutsche Nationalismus seine „Antwort“ gab, indem er nach dem Vorbild der bereits nationalisierten westlichen Pionierländer seine Legitimations-, Integrations- und Mobilisierungsideologie entwickelte.“[126]

Die Bewegungen, die sich gegen Napoleon und für eine nationale Gesinnung stellen, zeichnen sich nicht durch ein bestimmtes Muster aus, das einem bestimmten Bild entspricht, sondern vielmehr sind die Ziele meist gegensätzlich und überlagern einander. Von einer gesamtdeutschnationalen Gesinnung kann 1813 noch keine Rede sein, gilt doch der jeweilige Landesfürst noch immer als höchste politische Instanz. Unter dem Motto „Für König und Vaterland“ ziehen die deutschen Armeen 1813 in den Befreiungskampf gegen die napoleonischen Truppen. Sie bildet allerdings keine Einheit, ist sie doch vielmehr von Truppen aus den verschiedenen Teilen des deutschen Reichs zusammengesetzt. Otto Dann sieht durch den vereinten Kampf gegen den gemeinsamen Feind, der zur Befreiung der einzelnen Länder, und grob zusammengefasst des Vaterlandes, führen sollte, ein für das deutsche Reich nationsbildendes Ereignis.

„Das Erlebnis, zu einer gemeinsamen Nation zu gehören, war eine vielfach bezeugte Erfahrung. Auch eine bisher so abseits stehende Bevölkerungsgruppe wie die Juden wurden von ihr erfasst. […] Gleichwohl war die aktive Beteiligung an dieser Bewegung für jede Person und jede Gruppe ein persönlicher Akt der Emanzipation von bisherigen Bindungen, der Eröffnung eines neuen Horizontes von Erfahrungen und der Bildung eines neuen Selbstverständnisses.“[127]

Im Jahre 1815 kommt es nach dem Wiener Kongress zur Gründung des Deutschen Bundes, mit dem die Diskussion um die „Deutsche Frage“ nach außen hin auf politischer Ebene abgeschlossen wird. Das Ziel der Errichtung eines einheitlichen Staates kann nicht erreicht werden, da keiner der Staaten auf die eigene Souveränität verzichten will. Als Sieger gehen die verbündeten Regierungen hervor, deren vorrangiges Ziel es ist, die Macht ihrer „gekrönten Häupter“ zu erhalten. Es kommt zu keiner bundesstaatlichen Lösung. Anstelle tritt die Bildung eines Staatenbundes, sehr zur Enttäuschung der Patrioten, die sich schon in der Nähe ihres Zieles gesehen haben. Beim nationalliberal gesinnten Bürgertum besteht die Forderung nach einem einheitlichen deutschen Reich weiter, da das Weiterbestehen des losen Bundes der deutschen Fürstenhäuser abgelehnt wird. Im Revolutionsjahr 1848 wird von der Frankfurter Nationalversammlung ein Modell, die so genannte „Kleindeutsche Lösung“, zur Vereinigung der Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes unter dem preußischen König und unter dem Ausschluss des österreichischen Kaiserreichs beschlossen.

Nach dem Ende des deutsch-österreichischen Krieges durch die Schlacht von Königgrätz im Jahre 1866, wird der Deutsche Bund aufgelöst und durch den Norddeutschen Bund ersetzt. Österreich scheidet aus der gesamtdeutschen Politik aus und der bis dahin bestehende Dualismus zwischen Österreich und Preußen wird zu Gunsten von Letzterem entschieden. Von den restlichen Staaten des Deutschen Bundes werden 22 unter Bundeskanzler Otto von Bismarck im, von Preußen dominierten, Norddeutschen Bund vereinigt, der im Jahre 1867 eine eigene Verfassung erhält, die ihn zum Bundesstaat macht. Nach einer weiteren erfolgreichen kriegerischen Auseinandersetzung gegen Frankreich, dem Deutsch-Französischen Krieg, gipfeln Bismarcks Bemühungen um eine nationale Einigung am 18. Januar 1871 im Schloss Versailles in der Ernennung des preußischen Königs Wilhelms I. zum ersten deutschen Kaiser, der so genannten Kaiserproklamation, und damit in der Gründung des Deutschen Kaiserreichs.

Die Konstituierung der deutschen Nation erfolgt nicht nach den während der Französischen Revolution geförderten Ideen der Demokratie und der Nation, die allerdings auch in Frankreich selbst erst allmählich umgesetzt wurden. Es sind Fürsten, gruppiert um Bismarck, und nicht ein freies Volk, die den deutschen Nationalstaat proklamieren. Erst durch das Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 bildet sich zum ersten Mal eine deutsche Gesinnung, die die kleinstaatlichen Grenzen überschreitet. Deutlich später als viele andere Staaten wird Deutschland zu einem Staat mit einer Nation. „Zwar war das Bismarck’sche Reich nur ein über Verträge mit den süddeutschen Staaten zustande gekommener „bundesstaatlicher Oberstaat“, der über keine eigentliche Landeshoheit verfügte, doch drängten zunehmendes Nationalbewusstsein und wilhelminischer Reichsgedanke die Sonderinteressen der Gliederstaaten allmählich zurück. Das Deutsche Reich entwickelte sich […] zu einem relativ geschlossenen Nationalstaat. Die Grundlage blieb jedoch das föderative Prinzip […].“[128]

In Deutschland hat sich, im Vergleich mit Frankreich, eine andere Form der Nationswerdung durchgesetzt: Man wählt nicht eine Revolution, sondern vielmehr Reformen und Vereinbarungen, während der Charakter des deutschen Nationalismus radikale Züge aufweist.

„Der deutsche Nationalismus verkörpert von Anfang an eine Mischung von „Partizipation und Aggression“, indem er das Ideal der Gleichberechtigung aller Nationsgenossen im nationalen Herrschaftsverband mit dem Ausgreifen nach fremdem Land und bösartigen Feindstereotypen verband.“[129]

Anstelle eines zentralistischen spricht man sich für einen föderalen Nationalstaat aus. Die Modernisierungskrise, die das deutschsprachige Mitteleuropa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts heimsucht, kann mit den „innerstaatlichen Nationalisierungsrevolutionen in England und Frankreich sowie mit der revolutionären Nationalstaatsgründung im transatlantischen Neuland strukturell verglichen werden.“[130] Der traditionellen Herrschaft wird allmählich die Legitimierung abgesprochen, die soziale Hierarchie zerbröckelt. Die Aufklärung und Säkularisierungsströme stellen das traditionelle, christliche Weltbild in Frage.

„Alte Loyalitätsbande hatten sich mithin schon gelockert, als der Vorstoß der Revolutionsheere unter Napoleons Führung zur Zerstörung des traditionellen pluralistischen Systems deutscher Staaten und Herrschaftsverbände, nicht zuletzt zur Auflösung des traditionsgeheiligten, fast tausendjährigen „Heiligen Römischen Reiches“ (1806) führte.“[131]

2.7.3Das aktuelle deutsche Grundgesetz

Die Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) aus dem Jahre 1949 lautet:

„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk […] um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. […] Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“[132]

Deutschland besteht aus 16 teilsouveränen Gliedstaaten, die über eigene (Landes-) Verfassungen verfügen. Der Artikel 28 des deutschen Grundgesetzes besagt diesbezüglich: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.“[133] Die Präambel des Grundgesetzes besagt, dass das Volk, das als vorstaatliche kulturelle Einheit angesehen wird, den Staat schafft. Dies spricht wiederum für die Einteilung Deutschlands unter den Begriff der Kulturnation. Die Zugehörigkeit zum deutschen Volk definiert sich unter anderem an der Abstammung, aber nicht ausschließlich. Vielmehr gewinnt die Rolle der Kultur an Bedeutung, als all die Dinge, die sich im Laufe der Zeit innerhalb der Gesellschaft entwickelt haben, und die unter anderem Sprache und Gebräuche als ein wichtiges Kriterium beinhalten. Deutschland folgt nach seinem ethnisch- kulturellen Nationenverständnis dem Konzept des Jus Sanguinis. Für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit bei der Geburt muss mindestens ein Elternteil deutscher Abstammung sein.

2.7.4Die aktuelle französische Verfassung

Der Artikel 1 der französischen Verfassung aus dem Jahre 1958 lautet:[134]

La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale. Elle assure l'égalité devant la loi de tous les citoyens sans distinction d'origine, de race ou de religion. Elle respecte toutes les croyances. Son organisation est décentralisée.

Der Begriff der Nation wird also nicht verwendet, allerdings wird von der Zusammengehörigkeit Aller gesprochen, die sich wiederum an die Regeln der französischen Gemeinschaft halten müssen. In Frankreich gilt das Prinzip des Jus Soli.[135] Das Gesetz sieht vor, dass der in Frankreich Geborene Lebensgewohnheiten und die französische Art des Denkens und vor allem die Sprache des Landes erlernt. Er wächst (soll) also in die Nationalität Frankreichs hinein (-wachsen).

2.7.5Die Französische Revolution: Ursachen und Folgen

Geschichtlich spielt die Französische Revolution - C’est la gloire de la France d’avoir, par la Révolution française, proclamé qu’une nation existe par elle-même[136] - für die Bildung des französischen Nationenbegriffes eine bedeutende Rolle.

Schubert[137] sieht in der Epoche der Französischen Revolution den Zeitpunkt, in dem die moderne französische Nation sich ihrer selbst bewusst wird, und deren Vorboten eine wichtige Rolle bei der Bildung der französischen Nation spielen: „Die Herausbildung einer auf Bürgerrechten beruhenden Nation, die Erfahrung des Spannungsfeldes von Revolution und Reform und die Wirkungen des Vorganges der Säkularisierung bilden wichtige Eckpfeiler.“[138] Die Französische Revolution gilt als in der Geschichte Frankreichs und Europas wichtiges Ereignis, deren Auswirkungen die gesellschaftliche, politische und soziale Ordnung bis heute prägen. Die Revolutionäre stellen sich gegen die bestehende Ordnung, während gleichzeitig die französische Sprache ohne Übergang von der Sprache des absolutistischen Königs zur Sprache der Revolution und zur Sprache der französischen Nation übernommen wird. Auf den revolutionären Idealen „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ aufbauend, bildet sich im französischen Staat die französische Nation heraus. Im Grunde ist Frankreich bis zur Revolution zwar ein stark zentralistisch geführter Staat, allerdings bestehen in diesem unterschiedliche regionale Gruppen mit stark ausgeprägtem Bewusstsein nebeneinander. Symbolisch gesprochen wird mit dem „Revolutionsjahre 1789“ ein System etabliert, das von einer Kultur und einer Sprache für das gesamte französische Staatsgebiet ausgeht. Als Konsequenz wird die Zugehörigkeit zur französischen Nation an den Zwang zur Assimilation und dem Verzicht auf regionale Emanzipation geknüpft.

„Das französische Bestehen auf sprachlicher Einheitlichkeit seit der Revolution war in der Tat sehr ausgeprägt und zur damaligen Zeit etwas sehr Ungewöhnliches. […] Es war der Theorie nach nicht der Gebrauch des Französischen als Muttersprache, der jemanden zu einem Franzosen machte, […] sondern die Bereitschaft, die französische Sprache (neben den übrigen Freiheiten, Gesetzen und gemeinsamen Merkmalen des freien französischen Volkes) zu erwerben. In gewisser Hinsicht war dies eine der Voraussetzungen für eine volle französische Staatsbürgerschaft (und damit der Nationalität) […].“[139]

Anders als in anderen europäischen Staaten, wie zum Beispiel Deutschland, passiert die Revolution in einem Staat, der schon seit dem Spätmittelalter stark national-zentralistische Züge zeigt. Es musste also kein Nationalstaat neu gegründet werden, sondern er konnte auf den Traditionen der königlichen Politik aufbauen.

In einem Flugblatt mit dem Titel Qu’est- ce que le Tiers Etat? aus dem Jahre 1789 hebt Emmanuel-Joseph Sieyès hervor, dass nur der dritte Stand, also das Gros der Bevölkerung, die eigentliche Stütze der Gesellschaft ist und diese aufrecht erhält. Dies legitimiert das Volk dazu, die Führung des Staates und die völlige Souveränität einzufordern. Der erste Stand, der Klerus, umfasst etwa 0,5% der Bevölkerung. Er besitzt allerdings 10% des Bodens und ist von der Steuerpflicht befreit. In den Adel, den zweiten Stand, wird man hineingeboren. Er umfasst etwa 1,3% der Bevölkerung und besitzt 30% des Bodens. Der Adel hat zwar seit dem Mittelalter einige Rechte verloren, ist jedoch immer noch ein privilegierter Stand. Er braucht keine Steuern zu zahlen und hat Anspruch auf die wichtigsten Ämter in Staat, Kirche und Armee. Innerhalb dieser Schicht gibt es etliche Abstufungen und „Kategorien“. Die Adligen auf dem Lande leben von den Feudalabgaben ihrer Bauern. Der Hofadel erhält vom König Renten. Während der Dritte Stand 98% der Bevölkerung umfasst und durch die hohen Steuerabgaben einen redlichen Anteil an der Finanzierung des französischen Staates trägt, ist er vom politischen Geschehen ausgeschlossen. Der Großteil der französischen Bevölkerung setzt sich aus dem Kleinbürgertum - Einzelhändler und Handwerker - ebenso wie aus Lohnempfängern - hier vor allem Arbeitern - zusammen. In den großen städtischen Zentren kommt zu dieser Gruppe noch die Vielzahl an Tagelöhnern. Der Großteil der französischen Bevölkerung, etwa 85%, lebt beim Ausbruch der Französischen Revolution als Bauern auf dem Land. Sie können ihr Land zwar selbst nutzen, müssen aber Abgaben an die adeligen, feudalen Grundherren leisten. Durch die zunehmende Arbeitsteilung in der Wirtschaft gewinnt innerhalb des Dritten Standes eine neue Gruppe an Bedeutung, nämlich die der Bourgeoisie, dem Bürgertum, das zwischen dem Adel und den Handwerken und Bauern anzusiedeln ist. Ihr Anteil liegt bei etwa zwei bis drei Prozent. In diese Gruppe, die später als der Wortführer der Revolution und als Verfechter des revolutionären Gedankengutes gilt, fallen unter anderem Anwälte, Notare, Ärzte, Journalisten und Schriftsteller. Die Ideen der Aufklärung werden übernommen was zu einem Bruch mit der bis dahin bestehenden Auffassung Ordnung führt. Der Mensch wird in den Mittelpunkt gestellt und der Standpunkt propagiert wird, dass durch aktives Verteidigen des eigenen Standpunkts und durch den bewussten Einsatz seiner Persönlichkeit, ebendieser an Geltung gewinnt. „Wenn die Aufklärung ein rationales und hartes Gesicht hat, nämlich den Vernunftglauben und die Empirie in der Medizin, der Mathematik, der Physik und Astronomie, dann hat sie auch ein weiches, nämlich Aufklärung als Gedankenfreiheit, Toleranz und Freiheit.“[140] In der rasant anwachsenden Flut von Zeitschriften, Pamphlets und Flugblättern finden die neuen Ideen und das Gedankengut von Diderot, Montesquieu, Rousseau und Voltaire ihre Verbreitung.

Auf Grund diverser politischer und wirtschaftlicher Notlagen kommt es am 14. Juli 1789 in Paris zum Sturm auf die Bastille. Die Revolutionsführer setzen den König ab und rufen die Republik aus. Anstelle der Aristokratie tritt das wohlhabende Bürgertum als führende Gesellschaftsschicht. Die französische Sprache wird zur Sprache der nun alle mündigen Bürger vereinenden französischen Nation. Wird zu Beginn noch das Konzept der Übersetzung der neuen, revolutionären Ideen in die, auf französischem Boden gesprochenen Sprachen, propagiert, wird bald, durch die Machtergreifung der Jakobiner, ein anderer Weg eingeschlagen: Die französische Sprache sollte durchgesetzt werden und alle anderen Sprachen, die zu dieser Zeit in Frankreich sehr verbreitet sind und die vielen Bürgern als Muttersprachen gelten, sollten zurückgedrängt und verboten werden.

2.7.6 Das französische Konzept der Nation

Das Ergebnis der Französischen Revolution ist ein zentralistisch-unitaristischer Nationalstaat, der auf einem militaristisch geprägten Nationalismus aufbaut, der charakterisiert ist durch expansive und annektionistische Züge. Dies zeigt sich sowohl innenpolitisch, siehe Elsass-Lothringen, als auch außenpolitisch im Aufbau des Kolonialreichs während des 19. Jahrhunderts.[141]

Das auf der französischen Revolution beruhende Nationenkonzept begründet sich auf einer demokratisch-konstruierten aber zugleich zentralistisch organisierten Staatsnation, deren Hauptkriterium auf der sprachlich-kulturellen Komponente liegt. War die Revolution zu Beginn ein Ereignis, das vom Volk getragen wird, ist es in den späteren Jahren nur mehr auf eine Person fokussiert, nämlich auf Napoleon Bonaparte. Er weiß die Idee der Nation für die Durchführung seiner eigenen Herrschaftsinteressen durchzusetzen. „Das geschah sowohl innenpolitisch, um die Souveränität der Nation zu usurpieren, als auch außenpolitisch, um die eroberten Völker an sich zu binden.“[142] Es bedarf demnach einiger Zeit und politischer Vorgänge, um die Errungenschaften der französischen Revolution auch endgültig in der Gesellschaft zu verankern.

„Napoleon I., der sich als der Haupterbe der Revolution ironischerweise auch zum ersten Kaiser der Nation krönen ließ, steigerte nicht nur seinen eigenen, sondern auch deren Ruhm, indem er letztere zur „Großen“ (la Grande Nation) verklärte, während Napoleon III. den Wert des Konzepts der Nation - und auch sozialpolitischer Maßnahmen - zugunsten der Integration des ansonsten immer orientierungs- bzw. heimatloseren Proletariats in das zweite empire klug zu nutzen verstand.“[143]

Es dauert bis zur Errichtung der Dritten Republik (1870 - 1940) bis die Grundfesten der Nation innerhalb der Gesellschaft verankert werden. Durch Modifikationen und Abänderungen wird das Konzept der Nation, das während der Revolution entstand, zu einem massentauglichen Phänomen. Bereits die jakobinische Geschichtsschreibung sieht die französische Nation als eine nation préexistante[144] an, worauf auch der spätere Staatspräsident Charles de Gaulle zurückgreifen wird. Ein neuer Nationengedanken wird formuliert, der nicht mehr nur auf politischen und kulturellen Boden, sondern auch auf kulturellen und natürlichen Gegebenheiten beruht. „Zur französischen Nation gehörte nunmehr jeder, der sich nicht nur willens(!) sah, die politischen Ziele des französischen Etat-nation aktiv zu vertreten, sondern der zudem noch als befähigt(!) gelten konnte, die Werte der civilisation française zu seinen eigenen zu machen.“[145]

2.7.7 Der Gedanke der civilisation française und der Versuch einer Interpretation

Die civilisation française sieht sich als „ein gesellschaftlicher, alle Lebensbereiche umfassender Begriff, nicht trennscharf abgegrenzt gegenüber dem der Politik.“[146] Im Gegensatz dazu ist der deutsche Begriff von Kultur ein Bereich, der von der Politik und vor allem dem Staat abgegrenzt ist. Kultur war für den deutschen Mittelstand im 18. und 19. Jahrhundert „ein Raum des Rückzugs und der Freiheit von den drückenden Zwängen eines Staates, der sie, im Vergleich zu dem privilegierten Adel, als Bürger zweiten Ranges behandelte und ihnen den Zugang zu den meisten seiner Führungspositionen… verweigerte.“[147] Ernst Robert Curtius[148] sieht in Deutschland die Kultur vor die Zivilisation[149] gestellt, während in Frankreich die Situation genau umgekehrt sei. „Das Wort Zivilisation ist für den Franzosen das Palladium seiner nationalen Idee und zugleich die Bürgschaft allmenschlicher Solidarität […] Unser (das deutsche) Volk versteht dieses Wort nicht. Und wir können es auch nicht verdeutschen.“[150]

Was in Frankreich unter dem Begriff der civilisation verstanden wird, kann nicht mit einem Wort übersetzt werden, beinhaltet dieses eine Wort doch viele verschiedene Bedeutungen. Es ist das Ganze des französischen Seins und steht für die französische Kulturidee: Beginnend mit der cuisine française und dem Essen, über die Mode, die Floskeln des täglichen Miteinanders, aber auch die Grundlagen der Republik, der Demokratie, der Gedanke der Aufklärung, der Normen und Konventionen gehören dazu. Das Alles und Vieles mehr versteht man in Frankreich unter dem kleinen Wort civilisation. Laut dem französischen Wörterbuch Le petit Robert[151] kann das Wort civilisation unter verschiedenen Gesichtspunkten definiert werden:

- Galt es zu Beginn als acte de justice kann darunter auch ein: ensemble des caractères communs aux vastes sociétés considérées comme avancées; ensemble des acquisitions des sociétés humaines (opposé à nature, barbarie) verstanden werden.
- Eine weitere Bedeutung lautet: ensemble de phénomènes sociaux (religieux, moraux, esthétiques, scientifiques, techniques) communs à une grande société ou à un groupe de sociétés.
- Der Begriff civilisation kann im französischen auch allgemein als Synonym für Kultur und Gesellschaft verwendet werden.

Der Definition des Begriffs der civilisation kann noch weiter geführt werden: „Zivilisation bedeutet Glättung der rauen Natur, Verfeinerung der Sitten, Humanisierung der Barbaren. […] Sie ist das von einer ganzen Zivilisation erreichte Gesamtniveau gefälliger Lebensformen. Kurzum: Qui n’est pas assez poli, n’est pas humain.[152] Der französische Politiker François Guizot definiert civilisation im 19. Jahrhundert wie folgt: „Weltgeschichte ist Geschichte der Zivilisation; Zivilisation ist Entwicklung der Freiheit; den Primat der Zivilisation besitzt Frankreich.“[153] Gemeinsam mit dem Begriff civilisation kommt noch ein anderer, nämlich les manières, worunter sowohl das Benehmen an sich aber auch die Höflichkeit zählen. Die Reichweite dieser Ausdrücke bezieht sich auf alle möglichen Lebenslagen und beginnt „typisch französisch“ bei Tisch und geht weiter über das Miteinander im Alltag bis hin zum Gebrauch der Sprache. En gros sind alle Bereiche „betroffen“, die einer Ordnung unterworfen sind, die - im Normalfall - alle Mitwirkenden einzuhalten haben. Ausdruck der civilisation française ist die französische Sprache. Wie in kaum einem anderen europäischen Land ist in Frankreich die Sprache, und zwar ausschließlich die französische, eine der wichtigsten Grundlagen des Nationskonzepts. Um der Übermacht des Englischen in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben entgegenzuwirken und um etwaige Emanzipationsbestrebungen von Seiten der Regionalisten abzuwehren, wird 1992 in der Verfassung festgeschrieben, dass Französisch die einzige Nationalsprache Frankreichs ist.[154] Franzosen sehen die französische Sprache, laut Kloss[155], nicht als eine unter vielen, sondern als „die führende und vollkommenste lebende Sprache schlechthin“ an, die für die Übermittlung der Gedanken der civilisation gilt und ohne die diese überhaupt nicht erreicht werden konnte. Das Empfinden der Franzosen über anderen Völkern zu stehen und das Bedürfnis zu haben die civilisation zu diesen „übrigen“ Völkern bringen zu müssen, beruht eventuell auf den Worten liberté, égalité, fraternité, die als die Parole der Französischen Revolution gelten. Kloss[156] sieht in diesen Worten den Ursprung des „Einmaligkeitsbewusstseins“ der Franzosen: „Sie (die Parole) bezieht sich nämlich im Empfinden der Franzosen vornehmlich auf die Individuen und schließt nicht aus, dass die Völker als Gruppen und dass besonders die Kulturen als Schöpfungen der Völker als höchst ungleichwertig empfunden werden.“

2.7.8Conclusio des Kapitels „Das deutsche und französischen Nationenkonzept“

Deutschland und Frankreich zeichnen sich durch Nationenkonzepte aus, die in ihren Grundfesten verschieden sind und somit zwei Typen von Nation, ebenso wie von Nationalismus darstellen. Im französischen Konzept kam zuerst der Staat, dann bildet sich eine nationale Gesinnung und erst als nächster Schritt bildet sich die Nation heraus. In Deutschland ist der Weg zur Nationswerdung ein anderer, beinahe gegensätzlicher: Zuerst bildet sich eine nationale Gesinnung, woraus sich eine Nation formiert, die sich dann territorial an einen Staat bindet. In der Wissenschaft wird das Konzept der französischen Nation „politische“ oder auch „staatsbürgerliche Nation“ genannt, während bei Deutschland von einer „kulturellen“ oder „ethnischen Nation“ gesprochen wird. Der Unterschied zwischen einem politischen und einem kulturellen Nationalismus ist, wie die Beispiele Frankreich und Deutschland zeigen, der, dass in Frankreich die Nation als assimilatorisch und staatszentriert verstanden wird. Im Gegensatz dazu geht es in Deutschland eher um einen Differenzierung, weshalb die nationale Einheit dort auch als die Basis des Staates angesehen wird, während sie in Frankreich als die Schaffung ihres Staates verstanden wird.

„Die Einheit des französischen Volkstums ist nicht die der Rasse, sondern die der Nation.“[157] Da die Einteilung der Menschen in bestimmte Rassen unpassend erscheint, soll an dieser Stelle nur eine kurze Bemerkung darüber gemacht werden. Ein, wie es scheint, grundlegender Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich ist unter anderem geographischer Natur. Spricht man von Deutschland, vom deutschen Volk, kann eigentlich nur Eines gemeint sein, nämlich das, das im Land Deutschland, einem Staat in der nördlichen Mitte Europas, zu finden ist. Spricht man aber von Franzosen und vom französischen Volk sieht die Sache anders aus. Franzosen können heute aus La Réunion, St. Pierre oder Korsika kommen. In der Schule wird die französische Sprache als einzige Unterrichtssprache, außer im Fremdsprachenunterricht, verwendet. Es macht also theoretisch keine Schwierigkeiten jeden Franzosen zu verstehen, der die französische Schule, egal an welchem Ort, in welchem Kontinent, durchlaufen hat, da alle die gleiche Sprache sprechen und verstehen, egal welche ihre eigentliche Muttersprache ist oder war. Gerade das stark nationalistisch eingestellte Frankreich weist eine Gesellschaft auf, die international geprägt ist, weshalb der Schluss gezogen werden kann, dass „eine Nation mehr als nur ein Volk sei […] (so) dass Franzosen in der Regel weniger Hemmungen als Deutsche haben, Einwanderer aus anderen Ländern in die eigene nationale Gemeinschaft aufzunehmen und einzubürgern.“[158] Diesem Zitat muss allerdings, soll es an Richtigkeit nicht verlieren, ein großes „vorausgesetzt, dass“ angehängt werden: Vorausgesetzt, dass der Einwanderer sich an die französische Nation assimiliert und ihre republikanischen Prinzipien in sich aufnimmt. Münch[159] sieht diese Haltung der Franzosen aus historischer Sicht, da „die Franzosen selbst aus unterschiedlicher Herkunft durch den Staatsbildungsprozess zur Nation geworden sind.“ Im Gegensatz dazu gründe sich die deutsche Nation durch das Hervorheben von Gemeinsamkeiten im Gegensatz zu den Anderen. Die Richtigkeit der beiden Zitate wird nicht angezweifelt, allerdings bedarf es weiterführender Ergänzungen, zeigt sich doch in Frankreich eine explizite Bereitschaft sich gegen Menschen bzw. Gruppen zu wenden, denen man das „Französischsein“ bzw. die Akzeptanz der französischen Nation abspricht. Als historisches Beispiel ist an dieser Stelle die Affaire Dreyfus[160] zu nennen, einem besonders drastischen Beispiel von antisemitischer Hetze. Als weiteres Beispiel gilt die weitgehende Ausgliederung von Maghrebinern und anderen ethnischen Gruppen als vollwertige Mitglieder aus der französischen Gesellschaft. An dieser Stelle scheint es auch angebracht, die Ausgliederung jeder anderen Sprachgruppe als der französischen aus dem öffentlichen Leben zu nennen. Es geht hier nämlich nicht etwa um Migrationsprachen, sondern ganz schlicht und einfach um Sprachen, die ursprünglich auf französischem Boden gesprochen wurden und die durch die alleinige Akzeptanz der französischen Sprache immer mehr an Wert und Boden verloren gehen.

Frankreich weist seit dem Mittelalter nationale und zentralistische Tendenzen auf. Eine einheitliche Kulturgemeinschaft bildet sich aber erst, als schon der Staat und die Nation etabliert waren. Neben einem stark universellen Anspruch ist die französische Nation stark unitaristisch aufgebaut: Die einzig zu verwendende Sprache ist die französische. Schon ein Dekret aus dem Jahre 1539 sieht Französisch als einzig zugelassene Sprache der Verwaltung vor. Ein weiteres Merkmal im französischen Nationenkonzept ist der Gedanke der civilisation française, den gerade Napoleon benützt, hat der Begriff doch „den unschätzbaren Vorzug, den geistigen Impuls der Revolutionszeit zu verkörpern, ohne an ihre politischen Ziele zu erinnern. […] Er (Der Begriff, Anm.) war umfassend genug, um die ganze Ideenbewegung des 19. Jahrhunderts in Frankreich aufnehmen zu können.“[161] Gepaart mit dem Gedankengut des Humanismus und der Aufklärung sollen in Zukunft auch andere Völker an die Vollkommenheit der französischen Kultur geführt werden. Einziges Mittel dafür ist die französische Sprache. Unter dem Motto der Mission civilisatrice gehen die französischen Kolonialherren vor, wenn sie meinen, dass in den kolonialen Gebieten ihre Idee von Zivilisation und Kultur verbreitet werden müsse. Vorweg soll ein Beitrag von Victor Hugo zitiert werden, der verdeutlicht, welche Einstellung die französischen Kolonialisatoren den kolonisierten Ländern und sich selbst gegenüber hatten. „Ich glaube, dass unsere neue Eroberung ein glückliches und ruhmreiches Unternehmen ist. Es ist eine Zivilisation, die über die Barbarei siegt. Ein von (der Vernunft) erleuchtetes Volk trifft auf eines im Dunkel. Wir sind heute die Griechen des Erdkreises; unsere Aufgabe ist es, die Welt zu erleuchten. Unsere Mission geht in Erfüllung. Ich singe Hosiana.“[162] Die „zivilisatorische Mission“ Frankreichs bildet einen der Basispunkte des französischen Kolonialismus. Als Grundlage für diese Denkweise gelten die französische Idee der Aufklärung und die zivilisatorischen Errungenschaften der französischen Revolution: „[…] Frankreich sah seine zivilisatorische Mission darin, andere Völker auf das Niveau französischer Größe und Exzeptionalität zu heben und gleichzeitig der französischen Zivilisation universelle Geltung zu verschaffen.“[163] Die mission civilisatrice sollte durch Assimilation einerseits und durch l’administration directe andererseits erreicht werden. Unter dieser „direkten Verwaltung“ versteht man „die Einbindung der Kolonien in ein von Frankreich zentralistisch gesteuertes, hierarchisch strukturiertes Verwaltungssystem.“[164] Die so genannte „Zivilisierung“ der afrikanischen Bevölkerung soll nur „zu ihrem Besten“ sein. „Darunter verstanden die Kolonialmächte die Verbreitung von Ruhe und Ordnung, von medizinischer Versorgung und besserer Bildung, unter Umständen auch der höher stehenden Religion des Christentums, von europäischem Fortschritt in mancherlei Gestalt. […] Zwei Grundforderungen zivilisierten Verhaltens sollte er erlernen […] nämlich Steuern zahlen und arbeiten.“[165]

Zu Beginn des deutschen Nationalstaates steht nicht, wie in Frankreich oder auch England, eine Revolution, sondern vielmehr ein fortschreitender Prozess, der die Gesellschaft immer wieder in Krisen fallen lässt. Das, was den deutschen Nationalismus von Anfang an ausmacht, ist, laut Wehler[166], „eine Mischung aus „Partizipation und Aggression“, indem (der Nationalismus) das Ideal der Gleichberechtigung aller Nationsgenossen im nationalen Herrschaftsverband mit dem Ausgreifen nach fremdem Land und bösartigen Feindstereotypen verband.“ Der Staat spielt bei der Bildung einer Bevölkerung zu einer Nation eine bedeutende Rolle, wie das die Beispiele Frankreich, England oder auch die Schweiz zeigen. Es gibt auf der anderen Seite Beispiele wie in Italien oder Deutschland, wo sich zuerst eine Nation bildet, die dann zu einem Staat ausgebaut wird. Im Gegensatz zu fast allen (europäischen) Staaten wird der französische Staat in der Landessprache nur in juristischem Zusammenhang als Staat also als Etat français bezeichnet. Sonst spricht man eigentlich immer von der Nation - la grande nation. Grund dafür ist die Gleichheit von Nationalidee und Kulturidee. „Der Unterschied zwischen Staatsnation und Kulturnation besteht für Frankreich nicht. Staat, Nation und Kultur sind für das französische Bewusstsein im Erlebnis nicht trennbar. […] Nation bedeutet für den Franzosen nicht nur die durch die Geschichte, Sprache und Staat geformte Lebensgemeinschaft, sondern zugleich die Verbundenheit in der Kulturidee.“[167]

2.8 Die Nationenfrage im kolonialen und postkolonialen Zusammenhang

2.8.1 Exkurs: Was ist unter Kolonialismus zu verstehen?

Das Wort Kolonialismus bzw. Kolonialmacht wird in dieser Arbeit noch häufig verwendet werden, weshalb dieser „Exkurs“ dazu genutzt werden soll, diesem Wort eine Erklärung bzw. Begriffsbestimmung zu geben. Der tunesische Staatspräsident Habib Bourguiba[168] zitiert Maurice Violette, einen französischen Gouverneur Algeriens, der Kolonialismus folgendermaßen definiert:

La colonisation, nous dit-il, est le mouvement par lequel une nation plus évoluée, qui veut assurer des débouchés à son commerce ou à son industrie qui souci…de s’assurer une plus grande force politique dans le concert des nations…s’annexe des pays inorganisés et, en tout cas, des pays qui ne sont pas en mesure de faire respecter leur indépendance. Un peuple fort jette les yeux sur un peuple qui ne l’est pas; il estime qu’en s’annexant ce dernier, il «s’assure une plus grande force politique» vis-à-vis de ses concurrents, il se jette dessus, son bien et tout est dit. Voilà ce que la colonisation est.

Eine starke Kolonialmacht übernimmt in einem Land die Kontrolle, wobei in diesem Zitat als Motiv vorrangig wirtschaftliche und politische Gründe angeführt sind. Die Kolonialisierung eines Landes fällt umso leichter, wenn die politischen Verhältnisse instabil sind und deshalb kein nennenswerter Widerstand gegen die Kolonialmacht zu erwarten ist. Neben der Bildung eines neuen wirtschaftlichen Absatzmarkts und dem Ausbau des politischen Einflusses, soll das Prestige der Kolonialmacht aufpoliert werden. Kurz zusammengefasst ist unter Kolonialismus immer die Beherrschung eines Volkes durch ein anderes, das meist aus einem anderen, höher konnotierten Kulturkreis stammt, zu verstehen. Um den modernen Kolonialismus zu beschreiben, bedarf es drei weiterer Punkte[169]:

- Die europäische Expansion wird seit dem 16. Jahrhundert wegen der kulturellen Höherwertigkeit als die Erfüllung eines universellen, humanen Auftrags gesehen: „Als Beitrag zu einem göttlichen Heilsplan der Heidenmission, als weltliches Mandat zur „Zivilisierung“ der „Barbaren“ oder „Wilden“, als privilegiert zu tragende „Bürde des weißen Mannes.“ Viele werden von wenigen Kolonialherren „unter ein geistiges Joch gespannt.“
- Der Kolonisierte ist dem Kolonialherrn fremd. Auf die einheimische Kultur wird nicht eingegangen, vielmehr wird vom Kolonisierten eine Hinwendung zur Kultur der Kolonisierer erwartet.
- Kolonialismus ist ein Verhältnis, bei dem eine ganze Gesellschaft ihrer Eigenentwicklung beraubt wird und die Interessen des Kolonialherrn als oberste Priorität gesetzt werden. Die kolonisierte Gesellschaft wird fremdgesteuert. „Der moderne Kolonialismus beruht auf dem Willen „periphere“ Gesellschaften den „Metropolen“ dienstbar zu machen.“

Der Punkt bezüglich der Erfüllung eines humanen Auftrags und der Unterjochung der Kolonisierten trifft nicht auf alle europäischen Kolonialmächte in gleichem Maß zu. Vor allem die französische Kolonialpolitik ist von dieser „zivilisatorischen Mission“ getragen, während sich etwa die britische Kolonialmacht eher zurückhält und auf die einheimischen Bräuche und Gegebenheiten in einem gewissen Maße eingeht. Frankreichs Mission kann von Beginn an als eine Lüge bezeichnet werden, da das Interesse allein auf den Profit und den wirtschaftlichen ebenso wie außenpolitischen Erfolg ausgerichtet ist und die ursprünglich in den Ländern vorhandenen Strukturen, sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen und gesellschaftlichen zerstört wurden um sie nur unzureichend durch neue zu ersetzen.

Damit Kolonialismus stattfinden kann braucht es also folgendes: Eine Kolonialmacht, die sich meist selbst als solche definiert und die genügend Macht, sei es nun politische wie auch wirtschaftliche, hat, um ein anderes Volk oder Land zu erobern. Die kolonisierende Macht reißt die Macht an sich und unterwirft die Kolonisierten. Diese werden nun „fremdgesteuert“. Von Seiten der Kolonialherren gibt es meist kein Interesse an der einheimischen Bevölkerung und Kultur.

„Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.“[170]

Kolonialismus verändert nicht nur das kolonisierte Land, sondern auch die Haltungen und Anschauungen im Land der Kolonialherren selbst.

„Kolonialismus bedeutete immer auch eine Multiplizierung und Pluralisierung außereuropäischer Kulturkontakte, aus denen heraus bestimmte kulturelle Referenzen in Frankreich entstanden. […] Den Gelehrten, Intellektuellen, politischen Eliten, Theologen und Juristen wuchsen neue Kategorien des Denkens zu. Die geographische Erforschung des eigenen Landes, der eigenen Provinzen und Regionen erhielt neue Impulse aus der Erforschung Asiens, Afrikas und Amerikas. Die im Zuge der Expansion gewonnenen neuen Erkenntnisse und die bestrittenen neuen Erkenntniswege führten vor allem auch zu einer verfeinerten Selbstdefinition.“[171]

Aus diesen „neuen Erkenntnissen“ setzt sich auch der aufkeimende Rassismus zusammen, der auf dem Vergleich des „Wir“ gegen „Die Anderen“ beruht. Kurz zusammengefasst lässt sich innerhalb der französischen Forscher und Intellektuellen einerseits die Tendenz des Interesses an den neuen erforschten Stämmen erkennen. Andererseits eine Tendenz zur Barbarisierung und damit zur Rechtfertigung der Notwendigkeit, diese Stämme zu zivilisieren und europäischen Werten und Normen näher zu bringen.

„Die Führer und Ideologen kolonialer und halbkolonialer Befreiungsbewegungen (sprachen) aufrichtig die Sprache des europäischen Nationalismus, die sie in so vielen Fällen im oder vom Westen gelernt haben, auch wenn dieser auf ihrer Situation gar nicht passte.“[172] Befreiungsbewegungen bilden sich, um zusammen gegen die Kolonialmacht zu protestieren, von der sich das Volk, angeführt zumeist von einem starken Anführer, losreißen möchte und von der man sich, unter Zurufen und Anfeuerungen der politischen Elite, unabhängig machen möchte, um so einen selbständigen, souveränen, freien Staat gründen zu können. Dass dabei eine Bewegung entsteht, die als nationalistisch eingestuft werden kann, ist für das Volk als dessen Träger wohl eher Nebensache.

Hobsbawm[173] sieht die „territorialen Einheiten“, die durch nationalistische Bewegungen ihre Unabhängigkeit erlangen, „in der überwiegenden Mehrzahl als das Produkt imperialer Eroberungen, häufig nicht älter als einige Jahrzehnte, oder sie repräsentieren bestenfalls religiös-kulturelle Zonen, aber nichts von dem, was man in Europa als „Nationen“ bezeichnet hätte. Die Vorkämpfer für eine Befreiung waren nur deshalb „Nationalisten“, weil sie eine westliche Ideologie übernahmen, die sich hervorragend für den Sturz fremder Regime eignete, und selbst dann handelte es sich um eine verschwindend kleine Minderheit einheimischer évolués.“ Was passiert also nach der Unabhängigkeit in diesen nun jungen, freien Ländern? Werden all die kolonialen Einrichtungen von den Staatspräsidenten zerstört, durch traditionelle, neue oder andere ersetzt oder werden sie übernommen? Wird am Konzept des (nationalen) Staates festgehalten, wenn ja, in welcher Weise? Die von den einstigen Kolonialherren am grünen Tisch gezogenen Grenzen - die keinerlei ethnische oder historische Gegebenheiten beachten - werden von den unabhängigen Staaten übernommen. Die jungen Staaten werden mit einem kompletten Apparat von Parlament, Regierung, politischen Parteien, Gewerkschaften manchmal sogar politischen Zeitungen in die Unabhängigkeit entlassen. Auf welche Weise sie diese nützen sollten wird nicht erklärt. „Der Zwang, lebensfähige moderne Staaten zu bilden, die in der Welt bestehen können, ist stärker als jeder Partikularismus. Der Staat schafft sich die neue Nation. Wichtigste Faktoren der Integration sind dabei:

- Grenzen und moderne Verwaltung als Erbe der Kolonialmacht
- Einheitliches Erziehungs- und Bildungswesen
- Wirtschaftliche Entwicklung und Verflechtung greifbar deutlich im rapiden Wachstum der neuen Hauptstädte
- Führerpersönlichkeiten
- Das moderne Informationswesen (Rundfunk, stellenweise auch schon Presse und Fernsehen). Meistens in englischer bzw. französischer Sprache.
- Nationale Symbole (Flagge, Hymne, Armee…).“[174]

Der Weg von der Kolonie zum unabhängigen Nationalstaat

Die Nationenfrage spielt in der Geschichte der Dekolonialisation und des Postkolonialismus eine wichtige politische und gesellschaftspolitische Rolle. Die Ansätze und Herangehensweisen sind unterschiedlich. Für die eine Gruppe handelt es sich darum, den Raum ein-/abzugrenzen, wo sich die eigenen Aktivitäten, Werte etc. entwickeln und verbreiten sollen, um so in diesem Bereich eine eigene Persönlichkeit und eine eigene Nationalität und nationale Zusammengehörigkeit entwickeln zu können. Was aber tun, wenn sich in einem nun unabhängigen, dekolonialisierten Land verschiedene Stämme und Völker aufhalten, die sich nicht als eine Einheit sehen und die von selbst nicht danach streben, sich unter den Begriff der nationalen Zusammengehörigkeit zu stellen? Besteht innerhalb des kolonisierten Volkes ein Nationengefühl bzw. ist es ein Antrieb für den Kampf gegen die Kolonialmacht und für einen neuen, unabhängigen Staat? Wenn nun der Staat unabhängig ist: Wird der Staat auf Basis des europäischen Modells eines Nationalstaates aufgebaut? Werden also Ideen und Vorstellungen von den ehemaligen Kolonialherren übernommen und für das Land adaptiert? In vielen Gebieten Afrikas und Asiens, die vormals Kolonien waren, wird das Prinzip der Nation als ein staatstragender Begriff übernommen und verliert seinen antikolonialistischen Beigeschmack. Unter dem Schlagwort der Nation wird versucht, über historische Sprach-, Kultur- und gesellschaftliche Grenzen hinweg, einen Staat aufzubauen, der in den meisten Fällen allerdings keine historische Tradition noch sonst eine kontinuierliche Grundlage bietet. Auf diese Weise wird der nationale Befreiungskampf, der gegen die einstige Kolonialmacht geführt wurde, zum wichtigen Grundstein bei der Bildung der nationalen Gemeinschaft. „Beobachter in den Kolonialländern gewannen den Eindruck, dass der Begriff (des nationalen Konzepts, Anm.) in den abhängigen Ländern häufig ein geistiger Import war, aufgegriffen von der Minderheit der évolués, deren Vorstellungen von Gemeinschaft und politischer Loyalität sich mit denen der Massen ihrer Landsleute, zu denen sie keinerlei Kontakt hatten, nicht vereinbaren ließen.“[175]

[...]


[1] Habib Bourguiba hatte die Macht im Staate 30 Jahre (1957 - 1987) inne.

[2] Zitiert nach Hobsbawm, 2005, S.7

[3] Renan, 1992, S.56

[4] Gellner, 1983, S.54

[5] Anderson, 2005, Klappentext

[6] Seton-Watson, 1977, S.5

[7] Seton-Watson, 1977, S.1

[8] Vgl. Bauer, 1907, S.2f./S.111f.

[9] Bruckmüller, 1996, S.31

[10] Wehler, 2007, S.13

[11] Renan, 1992, S.55: Les nations ne sont pas quelque chose d’éternel. Elles ont commencé, elles finiront. La confédération européenne, probablement, les remplacera.

[12] Schieder, 1964, S.13

[13] Metzeltin, 2000, S.116f.

[14] Anderson, 1991, S.205

[15] Renan, 1992, S.43

[16] Schieder, 1964, S.15

[17] Schieder, 1964, S.15

[18] Schieder, 1964, S.16

[19] Dann, 1994, S.11

[20] Diese Aufzählung ist übernommen von Bruckmüller, 1996, S.30ff., da sie sehr übersichtlich und umfassend erscheint. Es mag verwundern, dass etliche Zitate zur Gänze übernommen wurden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Aussagen so treffend sind, dass sie am besten im Original wiedergegeben sind.

[21] Bruckmüller, 1996, S.33

[22] Bruckmüller, 1996, S.33

[23] Bruckmüller, 1996, S.33

[24] Vgl. Raschhofer, 1930, S.9

[25] Vgl. Bayer, Wende, 1995, S.387

[26] Unter dem Begriff der Vulgata versteht man „Lat. „die verbreitete“ Überlieferung; allgem. der Hauptstamm einer Überlieferung; bes. der um 400 von Hieronymus (etwa 345 - 420) geschaffene lat. Bibeltext, seit etwa 600 (Gregor der Gr.) gültig, seit 1545 (Tridentinum) verbindlich.“ Unter dem Tridentinum versteht man wiederum, „in der wissenschaftlichen Fachsprache (die) Bezeichnung für das, sich mit der Reformation auseinandersetzende Konzil von Trient 1545 - 63“. Bayer, Wende, 1995, S.573, 545

[27] Bruckmüller, 1996, S.24

[28] Bruckmüller, 1996, S.25

[29] Renan, 1992, S.38

[30] Renan, 1992, S.39

[31] Während des 9. Jahrhunderts zerfällt das große Reich. Le traité de Verdun trace des divisions immuables en principe, et dès lors la France, l’Allemagne, l’Angleterre, l’Italie, l’Espagne s’acheminent, par des voies souvent détournées et à travers mille aventures, à leur pleine existence nationale, telle que nous la voyons s’épanouir aujourd’hui. Renan, 1992, S.43

[32] In der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika (Declaration of Independence; offiziell: The Unanimous Declaration of The Thirteen United States of America) vom 4. Juli 1776 proklamieren die dreizehn britischen Kolonien in Nordamerika ihre Loslösung von Großbritannien und ihr Recht, einen eigenen souveränen Staatenbund zu bilden. Zum endgültigen amerikanischen Erfolg über die englischen Truppen, mit Hilfe von Frankreich, kommt es am 19. Oktober 1781 bei der Schlacht von Yorktown. Ein Friedensschluss mit den Engländern kommt schließlich erst 1783 zustande. Sie erklären sich endgültig bereit, die Unabhängigkeit der Amerikaner zu akzeptieren: Das war die Geburtsstunde der Vereinigten Staaten: 1787 tritt die amerikanische Verfassung in Kraft.

[33] Unter der Begrifflichkeit der (ersten) Industriellen Revolution wird die Neugestaltung der Arbeitsbedingungen und in deren Folge der wirtschaftlichen Verhältnisse und sozialen Lebensumständen verstanden, deren Ursprung in England liegt und deren Konsequenz der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft darstellt. Zeitlich kann sie ins späte 18. (für England gilt hier das Jahr um 1760) bzw. in vollem Ausmaß ins beginnende 19. Jahrhundert, als sich die Umwälzungen auf den europäischen Kontinent übergreifen eingeordnet werden. Für die zweite Industrielle Revolution, die im ausgehenden 19. Jahrhundert angesiedelt wird, sind die Erfindung des Verbrennungsmotors und die Erfahrung mit Elektrizität, Strom und Chemie charakteristisch.

[34] Gellner, 1999, S.66f.

[35] Bruckmüller, 1994, S.32

[36] Bruckmüller, 1996, S.30

[37] Hobsbawm, 2005, S.98

[38] Bauer, 1907, S.132

[39] Vgl. Bayer, Wende, 1995, S.388

[40] Wehler, 2007, S.21

[41] Wehler, 2007, S.21

[42] Wehler, 2007, S.21

[43] Kremnitz, 1991, S.62

[44] Bruckmüller, 1996, S.27: Früher galt der Adel als trojanisch und die Masse der Bevölkerung als gallisch. Während und nach der Revolution wird dieses Bild verdreht, wenn nämlich der Adel fränkisch wird und die neue Nation, der dritte Stand, eine römische Abstammung erhält. Vgl. Bruckmüller, 1994, S.33

[45] Bruckmüller, 1994, S.33

[46] Münch, 1999, S.19

[47] Dann, 1994, S.10

[48] Kremnitz, 1991, S.62

[49] Kloss, 1987, S.103

[50] Vgl. Kloss, 1969, S.70

[51] Dies bezieht sich auf die Definition von Nation als „die Gesamtheit derjenigen Angehörigen eines Sprachtums, die den Wunsch haben, in staatlicher Gemeinschaft zu leben. […]“. Unter „Sprachtum“ versteht Kloss wiederum „die Gemeinschaft derer, die eine bestimmte Sprache als einziges oder auch hauptsächliches Ausdrucksmittel für alle höheren Bereiche geistigen Lebens verwenden, insbesondere als einzige oder fast einzige Schriftsprache.“ Vgl. Kloss, 1969, S.70

[52] Kloss, 1987, S.103

[53] Kremnitz, 1991, S.62

[54] Metzeltin, 2000, S.89

[55] Glaser, 1993, S.31

[56] Die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789 ist übernommen aus dem Internet auf der Seite http://www.legifrance.gouv.fr/html/constitution/const01.htm, 27. November 2006

[57] Metzeltin, 2000, S. 91

[58] Der Text der Constitution française de 1789 ist übernommen aus dem Internet auf der Seite

http://mjp.univ-perp.fr/france/co1791.htm, 18. Juni 2007

[59] Vgl. Weber, 1979, S.485

[60] Weber, 1979, S.485

[61] Weber, 1979, S.486

[62] Echternkamp, Müller, 2002, S.6

[63] Vgl. Anderson, 2005, S.44ff.

[64] Vgl. Anderson, 2005, S.15ff; Anderson, 2002, S.5ff.

[65] Anderson, 2005, S.42

[66] Thomas Mergel (Nachwort) in Anderson, 2005, S.285

[67] Vgl. Gellner, 1983, S.7

[68] Gellner, 1983, S.7

[69] Gellner, 1983, S.55

[70] Anderson, 2005, S.16

[71] Anderson, 2005, S.16

[72] Vgl. Hobsbawm, 2005, S.22

[73] Bauer, 1907, S.139

[74] Metzeltin, 2000, S.29

[75] Assmann, 1992, S.132

[76] Kremnitz, 1995, S.4f.

[77] Taylor, 2007, S.5

[78] Kremnitz, 1995, S.3

[79] Metzeltin, 2000, S.34

[80] Kremnitz, 1996, S.6

[81] Wolfram-Hanisch, 2007, S.36

[82] Assmann, 1999, S.131

[83] Vgl. Giesen, 1999, S.26

[84] Giesen, 1999, S.32 - 64

[85] Bruckmüller, 1994, S.39

[86] Vgl. Bruckmüller, 1994, S.38 - 40

[87] Anderson. 2005, S.154; Im englischen Original: What the eye is to the lover - that particular, ordinary eye her or she was born with - language - whatever language history has made his or her mother-tongue - is to the patriot. Through that language, encountered at mother’s knee and parted with only at the grave, pasts are restored, fellowships are imagined, and futures dreamed. Anderson, 2002, S.154

[88] Metzeltin, 2000, S.99f.

[89] Vgl. Metzeltin, 2000, S.110

[90] Roth, 2002, S.182

[91] Bruckmüller, Linhart, Mährdel, 1994, S.48

[92] Gellner, 1999, S.17

[93] Vgl. Gellner, 1999, S.56

[94] Gellner, 1999, S.28

[95] Kloss, 1969, S.53

[96] Wehler, 2007, S.13; Unter dem Begriff des Demiurgs versteht man Schöpfer bzw. Baumeister.

[97] Gellner, 1999, S.116f.

[98] Die Autorin dieser Arbeit nimmt sich nicht heraus und gibt zu, den Text dieses Liedes auswendig zu kennen. Was allerdings nichts mit der Vorliebe für das Lied zu tun hat, sondern vielmehr damit, dass das Lied sehr häufig zu hören ist und auch schon im Gymnasium fleißig für diverse Veranstaltungen eingeübt wurde.

[99] Kremnitz, 1991, S.20

[100] Kremnitz, 1991, S.21

[101] Schieder, 1964, S.21

[102] Ising, 1987, S.336

[103] Ising, 1987, S.335

[104] Vgl. Kremnitz, 1991, S.32

[105] Schieder, 1964, S.21

[106] Herder, 1964, S.246f.

[107] Schieder, 1964, S.22

[108] Schieder, 1964, S.23

[109] Grosse, Lüger, 1996, S.22

[110] Wehler, 2007, S.64

[111] Dann, 1996, S.53

[112] Bruckmüller, 1996, S.28

[113] Dann, 1996, S.53

[114] Bruckmüller, 1996, S.29

[115] Dann, 1996, S.53

[116] Wehler, 2007, S.67

[117] Dann. 1994, S.12

[118] Dann, 1994, S.12

[119] Tibi, 1991, S.22

[120] Wehler, 2007, S.70

[121] Dann, 1994, S.14

[122] „Der Nordwesten Deutschlands wurde vollständig dem französischen Staatsgebiet angeschlossen, das mittlere Reichsgebiet zu einem „Rheinbund“ von Satellitenstädten zusammengefasst, und die beiden deutschen Führungsstaaten wurden aus der Mitte Deutschlands völlig in eine östliche Randlage abgedrängt.“ Dann, 1994, S.14; Nach militärischen Erfolgen macht sich Napo1eon im Jahre 1804 endgültig zum Herr über das deutsche Gebiet.

[123] Wehler, 2007, S.63

[124] Als „Deutsche Frage“ gilt in der europäischen Geschichte das zwischen den Jahren 1806 und 1990 ungelöste und vielschichtige Problem der Einheit bzw. der Grenzen und des Umfangs Deutschlands.

[125] Wehler, 2007, S.68

[126] Wehler, 2007, S.63

[127] Dann, 1994, S.19

[128] Grosse, Lüger, 1996, S.24

[129] Wehler, 2007, S.76

[130] Wehler, 2007, S.63

[131] Wehler, 2007, S.63

[132] Der Verfassungstext Deutschlands, mit dem hier gearbeitet wird, ist übernommen aus dem Internet auf der Seite: http://www.documentarchiv.de/brd/1949/grundgesetz.html, 27. November 2006

[133] http://www.documentarchiv.de/brd/1949/grundgesetz.html, 27. November 2006

[134] Der Verfassungstext Frankreichs, mit dem hier gearbeitet wird, ist übernommen aus dem Internet auf der Seite: http://www.legifrance.gouv.fr/html/constitution/constitution2.htm, 27. November 2006

[135] Jus soli bedeutet, dass bei der Geburt nicht die Herkunft eines Menschen ausschlaggebend ist, sondern der Geburtsort. Wird ein Kind in Frankreich geboren, erhält es automatisch das Recht auf die französische Staatsangehörigkeit, wenn es dort sess- und wohnhaft bleibt.

[136] Renan, 1992, S.43

[137] Vgl. Schubert, 1994, S.174

[138] Giesen, 1996, S.503

[139] Hobsbawm, 2005, S.33

[140] Enquist, 1999, S.115

[141] Vgl. Dann, 1996, S.60

[142] Dann, 1996, S.61; Das Wort „usurpieren“ heißt soviel wie „gesetzwidrige Machtergreifung; Thronraub.“ Österreichisches Wörterbuch, 1990, 445

[143] Schubert, 1994, S.179

[144] Vgl. Schubert, 1994, S.179

[145] Schubert, 1994, S.180

[146] von Thadden, 1991, S.508

[147] zitiert nach von Thadden, 1991, S.509

[148] Vgl. Curtius, 1975, S.4

[149] Zivilisation bedeutet laut österreichischem Wörterbuch, 1990, S.492: „Gesamtheit der (technischen) Errungenschaften, die das Leben bequemer und angenehmer machen.“

[150] Curtius, 1975, S.4/5

[151] Le petit Robert, 2002, S.447

[152] Curtius, 1975, S.25

[153] zitiert nach Curtius, 1975, S.14

[154] Am 25. Juni 1992 wird im Artikel 2 der französischen Verfassung festgeschrieben La langue de la République est le français: http://www.languefrancaise.net/dossiers/dossiers.php?id_dossier=50, 30. Juni 2006

[155] Vgl. Kloss, 1969, S.516

[156] Kloss, 1969, S.516

[157] Curtius, 1975, S.47

[158] von Thadden, 1991, S.499

[159] Münch, 1999, S.20

[160] Als Dreyfus-Affäre wurde der Fall des aus dem Elsass stammenden jüdischen Artilleriehauptmanns im französischen Generalstab Alfred Dreyfus (1859 - 1935) bekannt, der in der III. Französischen Republik Ende des 19. Jahrhunderts wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslanger Verbannung und Haft verurteilt wurde. Die heftigen Debatten um seine Schuld oder Unschuld, die von antisemitischen Argumenten getragen werden, hatten weitreichende Auswirkungen auf die französische Innenpolitik und polarisierten mehrere Jahre lang die gesamte Gesellschaft und die junge französische Republik. Die Affäre hat für die französische Gesellschaft erhebliche Auswirkungen. So wird die Rolle der katholischen Kirche, deren antisemitische Haltung in der Öffentlichkeit stark kritisiert wurde, stark eingeschränkt und bewirkt die endgültige Trennung zwischen Kirche und Staat, durch die Lois Combes im Jahre 1905. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Dreyfus-Aff%C3%A4re, 14. April 2008

[161] Curtius, 1975, S.13

[162] zitiert nach Riesz, 1998, S.115

[163] Erfurt, 2005, S.99

[164] von Krosigk, 1999, S.489

[165] Reinhard, 1990, S. 98

[166] Vgl. Wehler, 2007, S.76

[167] Curtius, 1975, S.21

[168] Bourguiba, 1967, S.41

[169] Vgl. Osterhammel, 2003, S.19

[170] Osterhammel, 2003, S.21

[171] Schmale, 2000, S.301

[172] Hobsbawm, 2005, S.161

[173] Vgl. Hobsbawm, 2005, S.162

[174] Vgl. Ansprenger, 1962, S.31

[175] Hobsbawm, 2005, S.179

Ende der Leseprobe aus 310 Seiten

Details

Titel
Die Bedeutung des Nationenkonzepts im kolonialen und postkolonialen Kontext - Eine Analyse anhand des ehemaligen französischen Protektorats Tunesien
Hochschule
Universität Wien
Note
2
Autor
Jahr
2008
Seiten
310
Katalognummer
V121573
ISBN (eBook)
9783640255092
ISBN (Buch)
9783640255252
Dateigröße
1638 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nation, Nationenkonzept, Nation in Frankreich, Nation in Deutschland, Kolonialismus, Tunesien, Kolonialgeschichte Tunesien, Habib Bourguiba, Nation in Tunesien
Arbeit zitieren
Dr. Claudia Nowotny (Autor:in), 2008, Die Bedeutung des Nationenkonzepts im kolonialen und postkolonialen Kontext - Eine Analyse anhand des ehemaligen französischen Protektorats Tunesien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121573

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