Über Heinrich von Kleists "Das Erdbeben in Chili" und die zeitgenössische Theodizeediskussion


Hausarbeit, 2007

21 Seiten, Note: 1.5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Das Erdbeben von Lissabon und die „beste aller möglichen Welten“ - zur Chronologie der Theodizeediskussion im 18. Jahrhundert
2.1 Leibniz, Wolf und Pope
2.2 Das Erdbeben von Lissabon 1755 und die anschließende Theodizeediskussion durch Voltaire, Rousseau und Kant

3. Heinrich von Kleist „ Das Erdbeben in Chili“ als später Beitrag zur Theodizeediskussion im 18. Jahrhundert
3.1 Lissabon oder Santiago?
3.2 Handlungsverlauf und Personenkonstellation im Kontext der von Kleist verwendeten Theodizeeentwürfe
3.2.1 Jeronimo, Josephe und die „ prästabilierte Harmonie“
3.2.2 Die Rousseaussche Idylle
3.2.3 Das Autodafe´
3.3 „Das Erdbeben in Chili“ als Abrechnung mit der Theodizee?

4. Abschließende Bemerkungen

5. Literaturverzeichnis

1. Einführung

„Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht: es ist ein bloß unbegriffener“(Kleist: Werke Band 4, S.768), schrieb Kleist 1806 an seinen Freund Otto August von Rühle. Diese Erkenntnis markiert einen Punkt in Kleists Entwicklung, dem die Stufen der optimistische Lebensplanphase bis 1801 und der so genannten Kantkrise im Frühjahr 1801 vorausgingen. In den folgenden Jahren irrte er mehr oder weniger durch Europa, auf der Suche nach dem tieferen Sinn seines Daseins. Während eines Aufenthalts in Königsberg, im Jahre 1806, schrieb er unter anderem die Erzählung „Das Erdbeben in Chili“.

In dieser Erzählung setzt sich Kleist intensiv mit der fundamentalen Frage der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt auseinander und greift, immerhin fünf Jahrzehnte nach dem Erdbeben von Lissabon 1755, die Theodizeediskussion wieder auf.

Hierbei arbeitete er die wichtigsten Deutungsmuster der vergangenen Jahrzehnte in den Erzähltext ein und stellte diese Entwürfe seinem Konzept von der Unerkennbarkeit einer objektiven Weltordnung durch die menschliche Erkenntnis und der besonderen Rolle des Zufalls entgegen.

Diese Hausarbeit will untersuchen, in welchem Kontext die wichtigsten Deutungsmuster der Theodizeediskussion zu Kleists Positionen stehen und mit welchen Mitteln er diese Argumentationsmuster in seinen Erzähltext eingearbeitet hat.

Im ersten Teil werden die wichtigen Vertreter der Theodizeediskussion Leibnitz, Voltaire, Rousseau und Kant mit ihren expliziten Deutungsversuchen vorgestellt.

Im zweiten Teil soll, in einer Art Spurensuche, untersucht werden, wie und welche der verschiedenen Theodizeeentwürfe Kleist in seine Erzählung eingearbeitet hat und ob sich das „Erdbeben in Chili“ als Kleists Abrechnung mit der Theodizee bezeichnen lässt.

2. Das Erdbeben von Lissabon und die „ beste aller möglichen Welten“
- zur Chronologie der Theodizeediskussion im 18. Jahrhundert

Schon seit der Antike wird über die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Welt diskutiert. Bei dieser Diskussion handelt es sich um ein klassisches Dilemma, das von dem antiken Philosophen Epikur (341- 270) folgendermaßen formuliert wurde:

Wenn er es will und nicht kann, ist er unfähig, was für Gott nicht zutrifft;

wenn er kann und nicht will, ist er bösartig, was Gott auch fern liegt;

wenn er weder will, noch kann, ist er sowohl bösartig als auch unfähig und deshalb nicht Gott;

wenn er es aber will und kann, was allein Gott zukommt, woher kommt dann das Übel?

Oder warum behebt er es nicht?“ (zitiert nach Günter 1994, S.30).

Das christliche Gottesbild, das von einem guten und allmächtigen Gott ausgeht, hatte sich ebenfalls mit dieser Fragestellung beschäftigt und gerade im Mittelalter alles Übel der Welt in den sündigen Mensch verlagert.

Durch die Religionskriege im 17. Jahrhundert verlor das christliche Dogma immer mehr an Boden und mit Beginn des 18. Jahrhunderts wurde in der Epoche der „Aufklärung“ die menschliche Vernunft Grundlage für richtiges oder falsches Handeln. Dieser Rationalismus versuchte nun, durch die Beseitigung des religiösen „Aberglaubens“, zu einer rationaleren Frömmigkeit zu gelangen (vergl. Kunzmann et al. 1991, S.103).

Die Philosophie musste nun Gott und die Vernunft unter einen Hut bringen. Dafür bot sie unterschiedliche Modelle an. Ein Modell ist die so genannte „Monadenlehre“ von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646- 1716).

2.1 Leibniz, Wolf und Pope

Der Grundgedanke der Leibnizschen Philosophie ist die Harmonie. Diese wird hergestellt durch die Synthese von unendlich vielen und kleinen „Kraftpunkten“, den so genannten Monaden. „Die Monaden sind also die wahrhaften Atome der Natur und mit einem Worte, die Elemente der Dinge“ (Leibniz: Monadologie 1714, zitiert nach ebd., S.113).

Monaden sind einzigartig, unteilbar, unzerstörbar und fensterlos. Obwohl sie in sich geschlossen sind, wollen sie sich ständig ausdehnen und vervollkommnen. Leibniz glaubt, „dass jede Monade ein lebendiger, der inneren Tätigkeit fähiger Spiegel ist, der das Universum aus seinem Gesichtspunkt darstellt“ (ebd., S.113). Das Bewusstsein über den Zustand der anderen Monaden hängt von der jeweiligen Entwicklungsstufe der einzelnen Monade ab, deren höchste Stufe die „Vernunftmonade“ ist. „Das Zusammenspiel aller Monaden erklärt Leibniz aus der „prästabilierten Harmonie.“ (ebd., S.113), und er benutzt zur Verdeutlichung das bekannte Bild der zwei Uhren, die von Anfang an perfekt synchronisiert sind. Monaden- und Harmonieschaffer ist Gott. Er hat alle Monaden von Anfang an so programmiert, dass sie sich auf einen Idealzustand hin entwickeln. Aus diesem System leitet sich dann der berühmte Satz der „besten aller möglichen Welten“ ab, der auf den 1710 von Leibniz geschriebenen Essay „Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels“ zurückgeht. „Die beste aller möglichen Welten“ bedeutet demnach, dass der Entwicklungsstand der Welt aufgrund der von Gott initiiert „prästabilierten Harmonie“ immer der bestmöglichste ist- immer gesehen in der Entwicklung auf einen perfekten Endpunkt hin, der ja Gott selbst ist. Die Rechtfertigung des Übels in der Welt sieht Leibniz als von Gott gewollt, denn da Gott außer sich keine vollkommenen Wesen schaffen wollte- er wäre ja dann nicht mehr der einzige Gott- hat er unvollkommene Wesen geschaffen. Diese sollen sich durch die „prästabilierte Harmonie“ der Monaden auf einen perfekten Endpunkt hin entwickeln, den sie aber aufgrund der drei Formen des Übels, dem natürlichen Übel (Schmerz und Leiden) , dem moralischen Übel (der von Gott zugelassenen Sünde) und dem metaphysischem Übel (der Endlichkeit und Unvollkommenheit) , nie erreichen können. Der Sinn des Übels in der Welt ist es nach Leibniz, das Gute hervorzubringen.

Popularisiert und weiterverbreitet wurde das Leibnizsche System mit der Herausbildung einer deutschsprachigen philosophischen Terminologie, in dem so genannten „Leibniz-Wolfschen System“ durch den Philosophen Christian Wolf (1679- 1754) und 1732 in der Dichtung „ An Essay on Man“ durch Alexander Pope. „In diesem „Versuch über den Menschen“ propagiert er (Pope, M.L.) ebenfalls eine unbestreitbare universale Harmonie und betrachtet alles Übel in der Welt als partiell, im Gesamtzusammenhang der Schöpfung müsse es als Gutes angesehen werden:

„All partial Evil, universal Good“. Popes metaphysischer Optimismus gipfelt in der Formulierung: „Whatever is, is right“ (Kircher 1992, S.12).

2.2 Das Erdbeben von Lissabon 1755 und die anschließende
Theodizeediskussion durch Voltaire, Rousseau und Kant

Am 1. November 1755, dem Allerheiligentag, vormittags- zur Zeit der Meßfeiern- wurde Lissabon durch drei schwere Erdstöße fast vollständig verwüstet. Die Stärke der Erdstöße lies unzählige Gebäude zusammenstürzen. Durch die, anlässlich des Allerheiligentages angezündeten Kerzen, wurde eine Feuersbrunst ausgelöst und am Ende wurden große Teile der Stadt durch eine gewaltige Flutwelle des Flusses Tejo überflutet. Die Zahl der Todesopfer schwankte zwischen 10000 und 60000. An vielen Orten Mittel- und sogar Nordeuropas waren leichte Erschütterungen zu spüren.

Dieses geologische Beben erschütterte nicht nur die Erde, sondern auch die Theologie und Philosophie. Viele Menschen stellten die Fragen, die vielerorts gestellt werden, wenn eine unfassbare Katastrophe die Menschheit erschüttert: Warum hat Gott das zugelassen? Warum mussten so viele unschuldige Kinder sterben? Wo ist denn da noch der Sinn? Johann Wolfgang von Goethe, der zum Zeitpunkts des Bebens sechs Jahre alt war, setzte sich noch 56 Jahre später in seinen Lebenserinnerungen „Dichtung und Wahrheit“ mit dem Lissabonner Beben auseinander:

Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert. Am 1. November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. [...] Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. [...] Ja vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet (Goethe: Werke, Band 9 1974, S.29).

Allerdings ist zu beachten, dass das, was „Goethe als Erinnerungen eines Sechsjährigen beschreibt, […] freilich mehr eine abgeklärte Zusammenfassung (ist, M.L.), geschrieben aus der geschichtlichen Distanz und mit Rücksicht auf die nachfolgende Diskussion“ (Appelt/Grathoff 2004, S.53).

Noch im Jahre 1755 stellte die Berliner Akademie der Wissenschaften“ unter dem Eindruck des Lissabonner Bebens und im Hinblick auf Popes optimistische These des „Whatever is, is right“ folgende Preisfrage:

„Gefordert wird eine Untersuchung des Popeschen Systems, wie es in dem Lehrsatz „Alles ist gut“ enthalten ist“(vergl. Kirchner 1991, S.13).

Einer, der sich aus Antipathie gegen den Akademiepräsidenten Maupertius zwar nicht an dem Wettbewerb beteiligte, sich aber trotzdem sehr intensiv mit dieser Frage beschäftigte, war Voltaire. 1756 wurde sein „Gedicht über die Katastrophe von Lissabon“(Poème sur le Désastre de Lisbonne ) veröffentlicht. Durch den Untertitel Untersuchung des Axioms > Alles ist gut <“, nimmt er indirekt Bezug auf die Preisfrage der Akademie. In diesem, aus ca. 250 paarweisen Alexandrinern bestehenden Gedicht, schildert Voltaire das Grauen und die Zerstörung des Erdbebens in allen Einzelheiten. Durch die Form der direkten Ansprachen- zum Beispiel

„Getäuschte Philosophen, die rufen alles ist gut.

Kommt her, seht die furchtbaren Ruinen,

Die das Elend bezeugende Trümmer, Überreste und Aschehaufen

(zitiert nach Appelt/Grathoff 2004, S.58)-

ist es direkt an die optimistischen Philosophen gerichtet. Als Fazit macht Voltaire deutlich, dass das Übel hingenommen werden müsse und es zwecklos sei, nach einem tieferen Sinn zu suchen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Über Heinrich von Kleists "Das Erdbeben in Chili" und die zeitgenössische Theodizeediskussion
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für neuere deutsche und europäische Literatur)
Note
1.5
Autor
Jahr
2007
Seiten
21
Katalognummer
V121123
ISBN (eBook)
9783640250998
ISBN (Buch)
9783640251032
Dateigröße
489 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heinrich, Kleists, Erdbeben, Chili, Theodizeediskussion
Arbeit zitieren
M.A. Martin Lacher (Autor:in), 2007, Über Heinrich von Kleists "Das Erdbeben in Chili" und die zeitgenössische Theodizeediskussion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121123

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