Die diskrete Präsenz des abwesend anwesenden Vaters in PERELBERGs Konzept der Core Phantasy


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

36 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsangabe

1. Einleitung und Fragestellung

2. Gewalt und Triangulierung

3. Die Kern-Phantasie Seite
3.1 Der Wortlaut
3.2 Die Implikation: der abwesend anwesende Vater
3.3 Exkurs 1: Mutter-(Vater)Mord/DAS OMEN
3.4 Exkurs 2: Leibfeindschaft

4. Die Spuren des abwesend anwesenden Vaters

5. Gewalt, Triangulierung und der abwesend anwesende Vater

Literaturangabe Seite

Die diskrete Präsenz des abwesend anwesenden Vaters in PERELBERGs Konzept der
Core Phantasy

1. Einleitung und Fragestellung

Die folgenden Gedanken gelten der diskreten Präsenz des Vaters in einer gewaltsamen, aus ödipalen und zugleich prä-ödipalen Elementen beste- henden Urszenen-Phantasie, die ROSINE JOZEF PERELBERG bei gewalttäti- gen Patienten aufgedeckt und im Rahmen einer psychoanalytischen Theo- rie der Gewalt formuliert hat.1 Demnach agieren die Betroffenen als gewalttätiges Verhalten eine „Kern-Phantasie“ (core phantasy) aus, die Pe- relberg für den Ursprung der Gewalttätigkeit hält und die in etwa die ge- waltsame Selbsterzeugung des Betroffenen mit der Mutter zum Inhalt hat, also eine Art prä-ödipal verschärfter Ödipus-Komplex ist.

Mit diesem Konstrukt der Kern-Phantasie untermauert Perelberg GLASSERs Gedanken eines „Kern-Komplexes“2 und erweitert die darin ausgeführte Pa- radoxie (widersprüchliches Verhalten und Empfinden als Ausdruck der Sehnsucht nach und Angst vor der prä-ödipalen Mutter), um die analoge Paradoxie gegenüber dem Vater, der für die Betroffenen zumindest emoti- onell, wenn nicht auch räumlich abwesend (war)3. Denn auf den zweiten Blick bemerkt man die diskrete Präsenz des abwesend anwesenden Vaters in den Aktionen der Patienten und daher auch in der Kern-Phantasie. Die Kern-Phantasie schließt den Vater explizit aus und implizit ein. Das ist nicht Perelbergs explizite Theorie, sondern es wird impliziert, wenn man z.B. an FREUDs Analyse des WOLFSMANNs denkt.4 Diesem Aspekt der Perelberg- schen Theorie soll im folgenden nachgegangen werden.

Freud, Sigmund; Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. In: Freud, Sigmund; Studienausgabe, Bd. VIII. Zwei Kinderneurosen, Frankfurt/Main, Fischer, 1982

2. Gewalt und Triangulierung

Nach Perelberg ist Gewalt das Resultat einer ausgebliebenen Triangulie- rung, einer Nicht-Identifizierung mit dem Vater: „Both these patients feel unable to enter a three-dimensional world …. „5

Gewalt habe dabei eine defensiv-offensive Doppelfunktion. Zum einen schütze sie (als Gegengewalt) vor der (antizipierten) Überwältigung durch ein „kombiniertes Objekt“ bzw. die „phallische Frau“6, zum anderen agiere der Betroffene als Gewalt die, aus der unterbliebenen Triangulierung resul- tierenden Dilemmate von

1. (selbst-)widersprüchlichen Verhaltensweisen,
2. den ihnen zugrundeliegenden emotionellen Einstellungen und
3. den entsprechenden Phantasien aus.

Auf letztere, die Kern-Phantasie nach Perelberg, ist der Betroffene zurück- geworfen, wenn es ihm wegen der fehlenden Identifizierung mit dem Vater nicht gelingt, einer fortan als obsessiv erfahrene Bindung an die Mutter zu entkommen. Die Dyade selbst erscheint dem Betroffenen dann als von Se- xualität und Gewalt durchmischt, als ein Sadomaso-Szenario, der zugleich des Betroffenen eigenen Ursprungsmythos repräsentiert, seine Selbster- zeugung durch Gewalt. Die verfehlte Triade, also die Nicht-Identifikation- mit-dem-Vater und die daraus resultierende Unmöglichkeit, sich selbst und die Mutter aus der (imaginär eingenommenen) Position eines Dritten zu beobachten, läßt dann auch die Dyade, die Identifikation-mit-der-Mutter scheitern. Die Mutter wird nicht entsexualisiert, sondern bleibt libidonöses Objekt im prä-ödipalen Sinne, welches allerdings zugleich mit destruktiven Anteilen aufgeladen wird. Das Ergebnis ist ein Objekt der unendlichen Liebe und des abgrundtiefen Hasses, mit dem der Betroffene verbunden bleibt, weil es für ihn kein Unterscheidungskriterium, sozusagen kein „Außerhalb“ gibt, das in allen möglichen Situationen durch die Objekte der Außenwelt repräsentiert wird. Das heißt: die prä-ödipale, libidinös-destruktive Mutter steht für den Betroffenen „hinter“ der Außenwelt, will ihn, anläßlich positi- ver Kontakte mit beliebigen Objekten, verschlingen und, anläßlich negativer Kontakte, vernichten. In beiden Fällen reagiert der Betroffene mit Gewalt um sich zum einen gegen Angriffe durch Gegenangriffe zu wehren, und um sich zum anderen gegen positive Kontakte, die er selbst herbeigeführt hat, die er aber sodann als Drohung, verschlungen und vernichtet zu werden auffasst, zu verteidigen, obgleich er sich nach Verschmelzung sehnt. Letzt- lich, meint Perelberg, ist es die Kern-Phantasie, die sich jene paradoxen und selbstwidersprüchlichen Verhaltensweisen bis zur Gewaltaktion hinauf- schrauben läßt. Insofern schließt sich Perelbergs Argumentation, wie sie ausdrücklich betont, an GLASSER an, der genau diese Paradoxien des Ver- haltens und Empfindens als „Kern-Komplex“ (core complex) konzipiert hat- te7.

Nach Glasser agiert der vom Kern-Komplex Belastete beides: die Sehnsucht nach Vereinigung und die Angst vor Auslöschung und Vernichtung. Perver- sion und Gewalt sind nach Glasser Versuche, sich der prä-ödipalen Mutter zu nähern und sich zugleich von ihr zu distanzieren. Perelberg geht aber nun insofern über Glasser hinaus, als sie zum einen analoge, wenn auch nicht so offensichtliche, paradoxe Verhaltensweisen und Phantasien auf den (vom Betroffenen als abwesend anwesend erfahrenen) Vater bezieht und indem sie weiterhin Glassers „Kern-Komplex“ mit ihrer Theorie der „Kern-Phantasie“ unterlegt.

Mit Perelbergs „Kern-Phantasie“ haben wir es also zugleich mit einem dop- pelten Glasserschen „Kern-Komplex“, einer doppelten Paradoxie zu tun, nämlich dem selbstwidersprüchlichen Verhalten zum einen gegenüber der über-präsenten Mutter und zum anderen gegenüber dem unter-präsenten (als abwesend anwesenden) Vater. Beide Elternteile und potentiellen Über- Ich-Anteile sind demnach durch die Paradoxie von Sehnsucht und Angst verseucht, einem Dilemma, aus dem der Betroffene letztlich nur gewaltsam herauszukommen meint.

Für den Therapeuten stellt sich dann die schier unlösbare Aufgabe, an kei- nerlei elterliche bzw. Über-Ich-Funktionen anknüpfen zu können. Faktisch zeigte sich dies in den analytischen Sitzungen als eine Vielfalt von Abwehr- und Verleugnungsstrategien, denen nur mit der speziellen Technik der kur- zen, sofortigen und häufigen Situations- Affekt- und Phantasiedeutung bei- zukommen war.

3. Die Kern-Phantasie

Etwas zugespitzt und pointiert formuliert lautet Perelbergs Hypothese, dass die Kern-Phantasie ganz offensichtlich auf die Mutter, aber versteckterwei- se eben auch auf den abwesend anwesenden Vater bezogen ist. Um das jedoch deutlicher zu sehen, müssen der genaue Wortlaut und das psychi- sche Umfeld, d.h. der Status, die Indizien (Symptome) und der Sinn (Funk- tion) von Kern-Phantasie und Gewalt ermittelt werden.

3.1 Der Wortlaut

Nun ergeben sich bei der Formulierung des Kern-Komplexes nicht bloß bei ihrem Patienten KARL, sondern bei Perelberg selbst einige Unklarheiten. Denn Perelberg sagt wörtlich, dass Karls Phantasie dergestalt wäre, „dass er aus einem gewalttätigen Geschlechtsakt seiner Mutter mit ihm selbst ge- boren sei“ („that he was born of a violent intercourse between his mother and himself“)8. Zwei Seiten davor lässt Perelberg Karl dasselbe sagen9. A- ber das allein genügt als Beweis eigentlich noch nicht. Denn es mag wohl eine skurille Vorstellung sein, aber falsch ist sie ganz sicher nicht. Die Ge- burt kann man sich durchaus mit etwas Sinn für abseitigen Humor als ge- walttätigen Geschlechtsakt von Mutter und Kind, das gerade als Penis-in- Person die Vagina passiert, vorstellen. Manche Frauen behaupten, sie hät- ten die Geburt ihres Kindes so erlebt. MACCIAVELLI behauptete, sich an die Reise durch den Geburtskanal erinnern zu können und daran, dass sein Pe- nis seinerzeit die Vagina der Mutter berührt hätte10. Erst Perelbergs dritter Anlauf, Karls Phantasie zu formulieren, bringt uns der Kern-Phantasie nä- her :“Mein Stiefvater hat das Problem, dass er den Gedanken nicht ertragen kann, dass er nicht da war, als ich empfangen wurde. Da waren nur meine Mutter und ich, er war nicht da.“ („The problem with my stepfather is that he cannot bear the thought that he was not present when I was conceived. There were only me and my mother, he was not there.“) 11

Das ist es also! Die Verwechslung von Empfängnis und Geburt, die, nach Perelberg, für Karls Kern-Phantasie symptomatisch ist. Aber wir sehen schon an diesem Beispiel, dass selbst versierte Psychoanalytiker hier aufs Glatteis geraten können. Aber Karl betont hier überdies sein „enges“ und „spezielles“ Verhältnis zu seiner Mutter, auf der anderen Seite aber auch die Aversion seiner Mutter gegen seine Sexualität. Nach seiner Meinung wünschte sie sich einen schwulen Sohn, der seine Mutter nie verläßt12. Ü- ber den Widerspruch zwischen „sehr speziellem“ Mutter-Sohn-Verhältnis ei- nerseits und Ablehnung der männlichen Sexualität des Sohnes andererseits mag Perelberg zur endgültigen Fassung der Kern-Phantasie gekommen sein. Denn erst jetzt haben wir alle Bestandteile der Kern-Phantasie zu- sammen:

- den gewaltsamen Geschlechtsverkehr, der aber in Karls Zitaten mit der Geburt verbunden ist,
- die Empfängnis, die aber ohne Gewalt wie auch ohne Stiefvater er- scheint,
- das „sehr spezielle“ Verhältnis zwischen Mutter und Sohn, wobei die Mutter die Sexualität des Sohnes ablehnt.

Erst wenn man diese drei Bausteine miteinander kombiniert, erhält man die Perelbergsche Kern-Phantasie. Für sich allein genommen besagen die ein- zelnen Vorstellungen wenig.

3.2 Die Implikation: der abwesend anwesende Vater

Bezüglich dem letzten Baustein, der Ablehnung der Sexualität des Sohnes durch die Mutter, trotz „besonderem“ Verhältnis zu ihr, könnte man durch- aus jenem verdeckten Einfluß der von Karl nicht erreichten Triade vermu- ten, also den Einfluß des abwesend anwesenden Vaters. Dann würde die Mutter die Sexualität des Sohnes ablehnen, weil da eben schon ein anderer Mann ist. Karls asexuelle bzw. anti-heterosexuelle Unterstellung, dass „spe- zielle“ Mütter schwule Söhne wollen, ist also auch ein geschickter Schach- zug Karls. Denn damit hat er auf den abwesend anwesenden Vater verwie- sen und zugleich davon ablenkt: die Mutter will ja, dass sie niemals von ihm verlassen werde, und weil das schwule Männer eben nicht tun, wünscht sie sich einen solchen Sohn. Tatsächlich ist der Hinweis auf die Homosexualität ein versteckter Hinweis auf den abwesend anwesenden Va- ter und zugleich, worauf Kernberg13 hingewiesen hat, auf die Sehnsucht nach dem Vater selbst, die eben, nachdem sich die Erotik des Kindes beim Erwachsenen auf die Geschlechtsorgane konzentriert hat, nur noch als ho- mosexuelles Verhältnis vorgestellt werden kann14.

Insofern haben wir hier ein Indiz für den versteckten Bezug auf den Vater, der in die Kern-Phantasie insofern miteinbezogen ist, als diese ein aus Mann und Frau kombiniertes Objekt meint. Die prä-ödipale Mutter ist durchaus die phallische Frau15, ein Wesen, dem, wie Freud betont, das männliche Kind ein Penis unterstellt bzw. das, wie Analytiker der MELANIE- KLEIN-Tradition betonen, vereinigte Elternpaar16.

[...]


1 Perelberg, Rosine Jozef: A core phantasy in violence; in Psychoanalytic Under- standing of Violence and Suicide, edited by Rosine Jozef Perelberg; London, Rout- ledge 1999

2 Perelberg, Rosine Jozef; Seite 104

3 Ebd.

4 Über die analoge Phantasie beim WOLFSMANN bemerkt FREUD:“Er wünschte sich in den Mutterleib zurück, nicht um dann einfach wiedergeboren zu werden, son- dern um dort beim Koitus vom Vater getroffen zu werden, von ihm die Befriedi- gung zu bekommen, ihm ein Kind zu gebären.“

5 Perelberg, Rosine Jozef, Seite 107

6 Ebd. S. 99, Fußnote

7 Ebd. S. 104

8 Ebd. S. 89

9 Ebd. S. 87

10 Schulte, Günter; Die grausame Wahrheit der Bibel. New York, 1996 Campus, Seite 65

11 Perelberg, Rosine Jozef; Seite 101-102

12 Das ist auch FREUDs Meinung über die Homosexualität: der Wunsch, der Mutter nicht „untreu“ zu werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

13 Kernberg, Otto; Normaler und pathologischer Narzißmus im Wandel. In: Psycho- analyse im Wandel; Hg. Peter Kutter; Frankfurt/M, 1977

14 In der Wolfsmann-Analyse spricht Freud vom „nachträglichen Sexualisieren“ durch „Zurückphantasieren“; Freud, Sigmund; Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. In: Freud, Sigmund; Seite 215, Studienausgabe. Bd. VIII. Zwei Kinder- neurosen, Frankfurt/M, 1982

15 Perelberg, Rosine Jozef; Seite 99

16 Leslie Sohn etwa zählt die phantasierte Vereinigung „mit einem vereinigten El- ternpaar …, zu den gefährlichsten, psychisch verführerischsten und zerstörerischen

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Die diskrete Präsenz des abwesend anwesenden Vaters in PERELBERGs Konzept der Core Phantasy
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Psychoanalyse/Frankfurt am Main)
Veranstaltung
Hauptseminar. Persönlichkeitsstörungen/Insitut für Psychoanalyse/Frankfurt am Main/ SS 2000
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
36
Katalognummer
V12090
ISBN (eBook)
9783638180740
Dateigröße
1759 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychoanalyse, Borderline, Gewalt, Persönlichkeitsstörung
Arbeit zitieren
Jose Franco-Pereira (Autor:in), 2000, Die diskrete Präsenz des abwesend anwesenden Vaters in PERELBERGs Konzept der Core Phantasy, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12090

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