Der Fall WorldCom aus unternehmensethischer Perspektive


Diplomarbeit, 2008

92 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Der Fall WorldCom
2.1 Chronologie eines Skandals
2.1.1 Gründung und Aufstieg des Unternehmens (1983-1999)
2.1.2 Krise und Ergebnisfälschung (1999-2002)
2.1.3 Aufdeckung des Betrugs und Untergang des Unternehmens (2002-2006)
2.2 Bilanzmanipulationen
2.2.1 Verringerung der Line Costs
2.2.2 Erhöhung der Umsätze
2.2.3 Zusammenfassung der Manipulationen

3 Das Konzept der ökonomischen Ethik
3.1 Grundstruktur der ethischen Konzeption
3.2 Ökonomische Ethik und die goldene Regel
3.3 Bedeutung der Handlungsbedingungen
3.3.1 Soziale Ebene: Bedeutung des Eigeninteresses und Dilemmastrukturen
3.3.2 Institutionelle Ebene: Offene Institutionen
3.3.3 Zeitliche Ebene: Dynamik der Handlungsbedingungen
3.4 Freiheit, Verantwortung und Vertrauen
3.5 Unternehmensethik

4 Die Handlungsbedingungen von WorldCom
4.1 Unternehmensexterne Handlungsbedingungen: US-amerikanische Telekommunikationsindustrie
4.2 Unternehmensinterne Handlungsbedingungen: Das Unternehmen WorldCom
4.2.1 Unternehmensstrategie
4.2.2 Management-Vergütung und Investitionen von Ebbers
4.2.3 Corporate Governance
4.2.4 Unternehmenskultur
4.3 Schlussfolgerungen
4.3.1 Struktur der Handlungsbedingungen von WorldCom
4.3.2 Spieltheoretische Analyse des WorldCom-Falles
4.3.3 Analyse aus Sicht der Agenturtheorie

5 Die Bewertung der Manipulationen anhand der goldenen Regel
5.1 Verantwortlichkeit der Manipulationen
5.2 Manipulationen unter dem Gesichtspunkt des Investitionsgedankens

6 Zusammenfassung

Anhang

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Aktienkurs von WorldCom und wichtige Ereignisse (1995-2004)

Abbildung 2: Grundstruktur der ethischen Konzeption

Abbildung 3: Gefangenendilemma in Normalform-Darstellung

Abbildung 4: Dynamik der Handlungsbedingungen

Abbildung 5: Langfristiger Wert eines Unternehmens

Abbildung 6: Aktienkursentwicklung der drei größten Telekommunikationsanbieter (1995-Mitte 1999)

Abbildung 7: Entwicklung des S&P 500 US-Telecoms-Index (1995-2002)

Abbildung 8: Aktienkursentwicklung der drei größten Telekommunikationsanbieter (Mitte 1999-2002)

Abbildung 9: Stufenspiel des WorldCom-Spiels in Extensivform-Darstellung

Abbildung 10: Iteratives WorldCom-Spiel in Extensivform-Darstellung

Abbildung 11: Prinzipal-Agenten-Beziehung im Falle WorldCom

Abbildung 12: Dynamik der Handlungsbedingungen im Manipulationsfall

Abbildung 13: Manipulationen als Strategiepfad im iterativen WorldCom-Spiel

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Verkürzte WorldCom-GuV nach US-GAAP (1999-2001, manipuliert)

Tabelle 2: Verkürzte WorldCom-GuV nach US-GAAP (1999-2001, bereinigt)

Tabelle 3: Zusammenfassung der Bilanz/GuV-Manipulationen (1999-2002)

Tabelle 4: Struktur der Handlungsbedingungen von WorldCom

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Viele Jahre lang galt WorldCom als schillerndes Beispiel amerikanischen Unternehmertums: Nach einem beeindruckenden Aufstieg während der 1990er Jahre war das Unternehmen zum zweitgrößten Telekommunikationsanbieter der USA und zum drittgrößten weltweit avanciert. Das Unternehmen zeichnete sich dabei durch starkes Wachstum und eine hohe Profitabilität aus, stellte sich aber auch immer wieder durch enorme Investitionen in den Standort des Firmensitzes in Clinton, Mississippi, und die wohltätigen Spenden und Aktionen des langjährigen Chief Executive Officers (CEO) Bernard „Bernie“ J. Ebbers in den Kontext der Unternehmensverantwortung.

Doch sollte sich die Wahrnehmung des Unternehmens als Trugbild herausstellen: Im Jahr 2002 gelangten Meldungen an die Öffentlichkeit, die einen der größten Bilanzskandale in der Geschichte entlarvten.1 WorldCom hatte von 1999 bis 2002 Bilanzmanipulationen in Höhe von über neun Milliarden US-Dollar durchgeführt,2 was den bis dahin größten Konkursfall in der Geschichte der US-Wirtschaft nach sich zog. Tausende von Mitarbeitern verloren ihren Arbeitsplatz, Anleger mussten drastische Verluste hinnehmen, die zuständige Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Andersen, welche auch in den vorausgegangenen Enron-Skandal maßgeblich verwickelt war, sah ihrem Ende entgegen und die Hauptverantwortlichen, allen voran Bernard Ebbers, wurden zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den Fall WorldCom einer systematischen Darstellung und Analyse aus der Perspektive der Unternehmensethik, anhand des Konzepts der ökonomischen Ethik, zu unterziehen. Es soll hierbei insbesondere auf die Fragen eingegangen werden, unter welchen Bedingungen ein Skandal dieser Größenordnung eintreten konnte und wie das Verhalten der Verantwortlichen unter ethischen Gesichtspunkten zu bewerten ist. Hieraus abgeleitet ergibt sich auch die Frage, welche Schritte hätten erfolgen können, um diesen Skandal zu vermeiden bzw. was für Lehren für ein „gutes Management“ aus dem Fall gezogen werden können.

Um den Fall der Analyse zugänglich zu machen, wird die Arbeit zunächst im zweiten Kapitel den WorldCom-Skandal in seinem Entstehen, seinem Verlauf und seinen Folgen darstellen und die begangenen Bilanzmanipulationen detailliert beschreiben. Das darauffolgende Kapitel wird die unternehmensethische Konzeption, welche die Arbeit in Form der ökonomischen Ethik verfolgt, einführen. Hierbei werden das methodische Vorgehen der Arbeit, das Prüfkriterium ethischer Bewertung und die Besonderheiten einer unternehmensbezogenen Ethik erläutert und inhaltlich entfaltet. Das vierte Kapitel beinhaltet eine umfassende Darstellung und Analyse der für den Fall relevanten unternehmensexternen und –internen empirischen Bedingungen, aus denen die besondere Situationsstruktur, in der sich das Top-Management des Unternehmens im Vorfeld und während des Zeitraums der Manipulationen befand, herausgearbeitet und auf ihre Problematik hin untersucht wird. Darauf aufbauend wird im fünften Kapitel die goldene Regel als Prüfkriterium der ökonomischen Ethik angelegt, um eine normativ- ethische Bewertung des Verhaltens des Managements in der dargestellten Situation vorzunehmen. Das letzte Kapitel bildet schließlich eine Zusammenfassung der Darstellungen und Kernaussagen der Arbeit.

Der wissenschaftliche Beitrag dieser Arbeit ist in der systematischen und strukturierten Darstellung des Falles und der umfassenden Betrachtung und Analyse aus Perspektive der Unternehmensethik zu sehen.3

2 Der Fall WorldCom

Zu Beginn werden die Ereignisse rund um den WorldCom-Skandal chronologisch dargestellt, um den Ausgangspunkt für die weitere Analyse und Bewertung des Falles zu setzen. Es werden hierbei im ersten Abschnitt des Kapitels Vorgeschichte, Verlauf und Folgen des Skandals dargestellt. Der zweite Abschnitt befasst sich mit dem technischen Aspekt des Falles, in Form einer Zusammenfassung der vorgenommenen Bilanzmanipulationen.

2.1 Chronologie eines Skandals

2.1.1 Gründung und Aufstieg des Unternehmens (1983-1999)

Die Geschichte von WorldCom beginnt 1983 mit der Gründung von LDDS (Long Distance Discount Services) Inc. in Hattiesburg, Mississippi, durch die Geschäftsleute Murray Waldron und William Rector als Reaktion auf die Beendigung der Monopolstellung der Telefongesellschaft AT&T durch den Sherman Antitrust Act.4 Das Unternehmen kann sich unter der Führung des Frühinvestors Bernard Ebbers durch fortwährende Akquisitionen von Konkurrenzunternehmen am Markt etablieren und erlebt vor dem Hintergrund der boomenden Telekommunikationsindustrie5 während der 1990er Jahre ein rasantes Wachstum. Das Unternehmen führt in nur 15 Jahren mehr als 60 Akquisitionen durch,6 wodurch es enorme Umsatzwachstumsraten generiert und schnell zu einem der führenden Unternehmen in der Industrie aufsteigt.7

Seinen Höhepunkt erreicht die Akquisitionsstrategie im September 1998, als das Unternehmen, mittlerweile unter dem Namen WorldCom firmierend, den nach Umsatz fast dreimal so großen Telekommunikationsgiganten MCI für ungefähr 42 Milliarden US-Dollar übernimmt – es ist die bis dahin teuerste Unternehmensübernahme in der Geschichte.8 Mit der Übernahme, die wie die meisten vorangegangenen Akquisitionen größtenteils mit WorldCom-Aktien finanziert wird (Aktientausch), avanciert das Unternehmen zum zweitgrößten Telekommunikationsanbieter der USA.9

WorldCom ist auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung angelangt: Das Unternehmen bedient über 20 Millionen Kunden, stellt Verbindungen in 280 Länder her und verbucht Umsätze von mehr als 30 Milliarden US-Dollar pro Jahr.10 Im Juni 1999 erreicht der Aktienkurs seinen historischen Höchststand von 61,89 US-Dollar11 und Bernard Ebbers steigt mit einem geschätzten Vermögen von 1,3 Milliarden US-Dollar in die Forbes- Liste der 400 wohlhabendsten Menschen weltweit auf.12

2.1.2 Krise und Ergebnisfälschung (1999-2002)

Die positiven Bedingungen für WorldCom ändern sich jedoch rapide: Anfang des 21. Jahrhunderts zeichnet sich im Kontext unrealistischer Erwartungen an die Industrie, dem Platzen der spekulativen Blase an den Neuen Märkten und der rezessiven US- Wirtschaft ein deutlicher Abwärtstrend in der Telekommunikationsindustrie ab, was deutliche Umsatzeinbußen bei gleichzeitig hohen Kostenniveaus für die Telefongesellschaften zur Folge hat.13 Und gingen Schätzungen Ende der 1990er Jahre noch von einem Wachstum des Internets in der Größenordnung von 1.000 Prozent pro Jahr aus, muss nun eher von 100 Prozent pro Jahr ausgegangen werden.14 Die rasche Erweiterung der entsprechenden Netzwerke, in die in Antizipation einer immensen Nachfrage während der 1990er Jahre investiert wurde, führt zu signifikanten Überkapazitäten am Markt.15

Für WorldCom setzt die veränderte Situation aufgrund des Marktumfeldes und der eigenen Größe katastrophale Ereignisse in Gang: Das Unternehmen ist ebenfalls von der rückläufigen Umsatzsituation betroffen und muss deutliche Korrekturen bei den Wachstumsprognosen vornehmen, was sich negativ auf den Aktienkurs des Unternehmens auswirkt,16 schließlich hatte sich WorldCom jahrelang als „high-growth company“17 präsentiert. Auch ist der Optimismus der Anleger in der Industrie verflogen. Dies zeigt sich darin, dass das Unternehmen, wie die anderen Gesellschaften der Industrie, deutliche Kurseinbrüche hinnehmen muss, trotz der Tatsache, dass es weiterhin vergleichsweise hohe Wachstumsraten präsentieren kann.

Als Resultat kann das Unternehmen seine bisherige Strategie, hohe Aktienkurse als

„Währung“ für Akquisitionen und Zusammenschlüsse einzusetzen, nicht mehr aufrechterhalten. Gleichzeitig macht das kartellrechtlich bedingte Scheitern der Fusion mit Sprint , der damals drittgrößten Telekommunikationsgesellschaft der USA, deutlich, dass die Zeit der großangelegten M&A-Transaktionen (Mergers & Acquisitions) als Mittel des Wachstums für das Unternehmen vorbei ist.18 In der Rückschau bildet der gescheiterte Sprint-Deal somit eine deutliche Zäsur in der Geschichte des Unternehmens. Das Management erkennt, dass fortan organisches Wachstum und eine Verbesserung der Profitabilität primär den Erfolg von WorldCom bestimmen werden.19

Jedoch existieren auch in Bezug auf die Kostenstrukturen des Unternehmens enorme Probleme, wobei den sog. Line Costs eine besondere Rolle zufällt. Line Costs sind hierbei die Kosten, die bei einer Vermittlung von Telefongesprächen oder einer Übertragung von Daten vom Start- bis zum Zielpunkt entstehen.20 Für WorldCom stellt dieser Posten den größten Einzelkostenpunkt dar – auf ihn fallen zwischen 1999 und 2001 etwa die Hälfte der Gesamtkosten an.21 Aus diesem Grund schenken sowohl Management, als auch Finanzanalysten und Investoren der Höhe und Entwicklung der Line Costs besondere Aufmerksamkeit.22

Als wichtigste Kennzahl der Line Cost-Entwicklung und Profitabilität wird dabei sowohl intern als auch extern die sog. Line Cost E/R Ratio (Line Cost Expenses to Revenues Ratio) herangezogen, welche die Line Costs in Verhältnis zum Umsatz setzt. Eine steigende Ratio zeigt also entweder eine zu geringe Auslastung der gemieteten

Netzwerkkapazitäten oder zu hohe Gebühren für die Nutzung letzterer auf.23 Finanzanalysten setzen die Line Cost E/R Ratio als Bewertungsmaßstab für die Industrie ein, um die Leistung von Unternehmen untereinander zu vergleichen, wobei die Ratio von WorldCom bis 1999 wettbewerbsüblich bei etwa 42% liegt.24

Neben dem hohen jährlichen Umsatzwachstum, betont das Unternehmen immer wieder den Fokus auf ein effektives Management von Verbindungskosten. Dies belegt das folgende Zitat aus dem Jahresabschluss von 2001: „The WorldCom group‘s goal is to manage transport costs through effective utilization of our networks, favorable contracts with carriers and network efficiencies made possible as a result of expansion of our customer base.”25

Zu diesem Zeitpunkt ist dem Management jedoch längst bekannt, dass die Überkapazitäten und die falsch eingeschätzte Marktentwicklung das Line Cost- Verhältnis deutlich negativ beeinflussen werden. Schnell wird deutlich, dass Einsparungen und Optimierung der Netzwerkkapazitäten nicht in ausreichender Weise realisierbar sind, um weiterhin ein angestrebtes Line Cost-Verhältnis von historischen 42% halten zu können. Vielmehr muss in Zukunft von mehr als 50% ausgegangen werden,26 was negative Auswirkungen auf die Profitabilität, die Wettbewerbsfähigkeit und letztendlich den Aktienkurs des Unternehmens haben wird. In den regelmäßigen Line Cost-Meetings bei WorldCom geht es daher bald nicht mehr darum, was auf operativer Ebene getan werden kann, um die Line Costs zu senken, sondern wie diese in ihrer auszuweisenden Höhe reduziert werden können.27

In der Konsequenz sieht sich die Unternehmensführung in einer Situation, in der die hohen Erwartungen des Marktes und der Investoren an Umsatzwachstum und ein kosteneffizientes Management von Vermittlungskosten auf absehbare Zeit nicht mehr erfüllt werden können. Die Zukunft und der Aktienkurs des Unternehmens, welcher auch Grundlage für die jährlichen Bonusvergütungen ist, werden somit als massiv bedroht angesehen.

Gleichzeitig stellt sich die besondere Situation ein, dass WorldCom über mehrere Tranchen ein Darlehen von insgesamt bis zu 400 Millionen US-Dollar an Bernard Ebbers gewährt, um eine finanzielle Notlage des CEOs abzuwenden, die sich aus zahlreichen Projekten und Firmen, die Ebbers neben seiner Tätigkeit als CEO betreibt, und Termingeschäften an Nutzholzmärkten ergeben haben.28 Ebbers hat insbesondere die Termingeschäfte (Forwards) durch WorldCom-Aktien gesichert und muss aufgrund der fallenden Kurse mit hohen Nachschussforderungen (margin calls) rechnen. Ziel des Darlehens ist die Vermeidung eines drohenden Verkaufs von WorldCom-Aktien durch Ebbers und die damit verbundene negative Signalwirkung am Kapitalmarkt. Damit wird deutlich, dass sich für Ebbers ein hohes Risiko einstellt, herbe Verluste seines Privatvermögens hinnehmen zu müssen, sollte der Aktienkurs seines Unternehmens weiter fallen.29

In der Folge dieser Ereignisse werden über den Zeitraum des zweiten Quartals 1999 bis zum ersten Quartal 2002 systematisch Manipulationen an Umsatz und Kosten vorgenommen, um den Bilanzadressaten weiterhin ein überaus positives, aber substantiell falsches Bild der Unternehmensentwicklung zu zeichnen.30 Organisiert wird dies unter der Regie des langjährigen Chief Financial Officers (CFO) Scott D. Sullivan und mit der Hilfe einiger weniger Schlüsselfiguren aus dem Buchhaltungswesen und dem Controlling des Unternehmens, sowie nicht zuletzt auf Einwilligung und durch den Einfluss Ebbers.31

Die vorgenommenen Buchungen involvieren zahlreiche Bereiche und Mitarbeiter der Buchhaltung. Obwohl regelmäßig Zweifel und Bedenken an der Rechtmäßigkeit der Vorgänge aufkommen, werden diese zu keiner Zeit dem Prüfungsausschuss des Boards32, der Internen Revision oder der seinerzeit zuständigen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Andersen vorgetragen.33 Stattdessen ziehen es viele Mitarbeiter vor, ihren Arbeitgeber zu wechseln.34

Zu diesem Zeitpunkt lässt sich jedoch längst nicht mehr verbergen, dass das Unternehmen enorme Probleme hat: Die Erwartungen für Umsatzwachstum und Profitabilität an die Gesamtindustrie und an WorldCom werden immer weiter zurückgestuft. Der Kurs der WorldCom-Aktie fällt beständig. Unfähig eine überzeugende strategische Neuorientierung in der veränderten Marktsituation zu geben, muss Ebbers im April 2002 als CEO zurücktreten und wird durch John Sigdmore, zuvor langjähriger Vice President des Gesamtunternehmens, ersetzt. Kurz darauf stufen die Ratingagenturen Moody’s und Standard & Poor’s ihre Ratings für kurz- und langfristige WorldCom-Kredite auf „Junk“-Status ab,35 womit das Unternehmen aufgrund seiner als schlecht eingestuften Bonität nur noch unter sehr schwierigen Bedingungen Neukredite aufnehmen kann.

2.1.3 Aufdeckung des Betrugs und Untergang des Unternehmens (2002-2006)

Anfang Juni 2002 entdeckt die Interne Revision Unregelmäßigkeiten bei den Investitionsausgaben von WorldCom, nachdem ihre Leiterin Cynthia Cooper eigenmächtig ihre Prüfungen über das vom CFO definierte Pensum ausweitet. Trotz Einwänden und Rückweisungen von CFO Sullivan und David Myers, Leiter des Unternehmenscontrollings, sowie direkter Untergebener Sullivans, werden die Ermittlungen fortgesetzt. Schließlich räumt Myers nach mehrfachen kritischen Nachfragen ein, dass er die angesprochenen Unregelmäßigkeiten nicht rechtfertigen könne.36 Die Angelegenheit wird an den Prüfungsausschuss des Boards weitergegeben, der von Sullivan eine Erklärung fordert. Dieser reicht am nächsten Tag eine schriftliche Erklärung in Form des sog. „ White Papers“ ein, in der er in elaborierter, aber bilanztheoretisch unhaltbarer Weise die Gründe für die vorgenommenen Buchungen erörtert.37 Myers gibt unmittelbar darauf seinen Rücktritt bekannt. Sullivan wird nach Weigerung selbst zurückzutreten vom Board entlassen.38

Inzwischen sind Informationen und kritische Berichterstattungen über die Vorgänge bei WorldCom an die Öffentlichkeit gelangt.39 Analysten ändern ihre Empfehlungen auf „Sell“; die WorldCom-Aktie gerät in freien Fall. Die Securities and Exchange Commission (SEC), die amerikanische Börsenaufsichtsbehörde, nimmt ihre Ermittlungen auf.

Am 25. Juni 2002 gibt WorldCom bekannt, dass das Unternehmen beabsichtigt, seine Jahres- und Quartalsabschlüsse für 2001 und das erste Quartal 2002 zu revidieren. Am nächsten Tag reicht die SEC Klage ein.40 Die Prüfungen der Jahresabschlüsse werden ausgeweitet und schließlich werden Bilanzmanipulationen in Milliardenhöhe entdeckt – wurden anfangs 3,8 Milliarden angegeben, sind es am Ende über neun Milliarden US- Dollar an manipulierten Beträgen.41 Weiterhin werden nach eingehender Überprüfung über 80 Milliarden US-Dollar an Sachanlagen, Goodwill und weiteren immateriellen Vermögenswerten abgeschrieben.42

Am 21. Juli, weniger als einen Monat nach Bekanntgabe der Manipulationen, gibt WorldCom seinen Konkurs bekannt und meldet Gläubigerschutz nach „Chapter 11“ des amerikanischen Konkursrechts an.43 Mit einer Bilanzsumme von 107 Milliarden US- Dollar und Schulden von über 30 Milliarden US-Dollar gilt der Konkursfall über Jahre hinweg als der größte in der US-Wirtschaftsgeschichte.44 Im Zuge der Restrukturierung des Unternehmens verlieren 17.000 der ungefähr 75.000 Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz.45 Das Unternehmen leistet eine Strafzahlung von 750 Millionen US-Dollar an die SEC .46

Im Verlauf der Restrukturierung geben fast alle Board-Mitglieder von WorldCom ihren Rücktritt bekannt. Der erst kürzlich ernannte CEO Sigdmore wird noch im November 2002 durch Michael Capellas, ehemaliger CEO von Hewlett-Packard und Compaq Computer Corporation, ersetzt.47 Capellas betont als Ziele der Restrukturierung die zeitnahe Wiederherstellung des Vertrauens in WorldCom seitens der Mitarbeiter und der Öffentlichkeit, sowie die zukünftige Sicherung von Integritätsstandards im Unternehmen.48 Unter der Aufsicht und Empfehlung des gerichtlich bestellten Richard C. Breeden, ehemaliger Vorsitzender der SEC, werden Initiativen durchgeführt, um die Corporate Governance von WorldCom zu stärken.49

Die Gerichtsverhandlungen der Hauptverantwortlichen des Betrugs dauern fast drei Jahre. Anhang A enthält eine Organisationsübersicht von WorldCom, in der die Haupt- verantwortlichen hervorgehoben sind. Als ehemaliger CFO wird Scott D. Sullivan, der seine Schuld unmittelbar eingesteht, als technischer Urheber und Koordinator hinter dem Betrug für schuldig befunden und zu einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren verurteilt.50 Im Rahmen einer Schadensersatzklage der Aktionäre muss er sein 11- Millionen-US-Dollar-Anwesen in Florida veräußern und transferiert darüber hinaus sämtliche Rentenansprüche seitens WorldCom an einen Entschädigungsfond.51 David Myers, Leiter des Controllings, und Buford Yates, Leiter der Gesamtbuchhaltung, werden jeweils zu Gefängnisstrafen von einem Jahr und einem Tag verurteilt.52 Betty Vinson und Troy Normand, beide Untergebene von Yates, werden zu fünf Monaten Gefängnis und fünf Monaten Hausarrest bzw. drei Jahren auf Bewährung verurteilt.53

Weiterhin wird der Salomon Smith Barney-Analyst Jack Grubman, der WorldCom jahrelang in M&A-Aktivitäten beraten hat und für die Aktienberichte über das Unternehmen verantwortlich war, mit einer Geldstrafe von 15 Millionen US-Dollar für die Veröffentlichung fehlerhafter Kaufempfehlungen für WorldCom-Aktien belegt.54 Im Rechtsstreit mit geschädigten Aktionären zahlen Salomon Smith Barney und die Citigroup, als Muttergesellschaft der Bank, 400 Millionen US-Dollar bzw. 2,7 Milliarden US-Dollar als Entschädigung.55

Bernard J. Ebbers plädiert als einziger der Angeklagten auf nicht schuldig.56 Nach einer umfassenden Aussage von Sullivan, wird eine besondere Schwere der Schuld festgestellt und Ebbers in allen Punkten der Anklage für schuldig befunden. Der Mann, der zeigte „how an entrepreneur with an idea could change the structure of an industry”57, wird am 13. Juli 2005 zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt – de facto eine lebenslängliche Haftstrafe für den damals 63-jährigen. Er leistet eine Entschädigungszahlung über 5,5 Millionen US-Dollar an geschädigte Aktionäre. Darüber hinaus wird sein verbleibendes Vermögen von über 40 Millionen US-Dollar an den Entschädigungsfond transferiert.

Der börsliche Handel des Unternehmens wird im Jahr 2004, nachdem das Unternehmen in MCI umfirmiert wurde, eingestellt. Das Unternehmen wird im Januar 2006 durch die Verizon-Gruppe akquiriert und geht vollständig in diese über.58 Abbildung 1 illustriert die Entwicklung der WorldCom-Aktie für den Zeitraum von 1995 bis zum Aussetzen des börslichen Handels und fasst die wichtigsten Ereignisse der Unternehmensgeschichte zusammen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Aktienkurs von WorldCom und wichtige Ereignisse (1995-2004)

Quelle: Eigene Darstellung, Datenquellen: FactSet (Stand: 21. Oktober 2008), CNN (2002). Hinweis: Aktienkurs angepasst an Aktiensplits.

2.2 Bilanzmanipulationen

Über den Zeitraum vom zweiten Quartal 1999 bis zum ersten Quartal 2002 wurden systematisch Manipulationen an Jahres- und Quartalsabschlüssen durchgeführt, um die Erwartungen von Investoren, Finanzanalysten und der Konkurrenz zu erfüllen. Dies wurde primär auf zwei Wegen erreicht: Zum einen durch eine manipulative Verringerung der Line Costs und zum anderen durch eine künstliche Erhöhung der Umsätze.

Desweiteren wurden später einige Eingriffe an den Allgemeinen Vertriebs- und Verwaltungskosten (Selling, General and Administrative Expenses), an Abschreibungen und bei steuerlichen Ergebniskennzahlen vorgenommen. Allgemeine Rückstellungen wurden gebildet, um spätere nicht auf sie bezogene Ausgaben ausgleichen zu können. Weiterhin wurde die Trennung von WorldCom und MCI in zwei unterschiedliche Aktien dazu genutzt, um Kosten in unzulässiger Weise umzuschichten. Der Effekt dieser Eingriffe auf das Unternehmensergebnis ist jedoch im Vergleich zu den anderen Manipulationen als eher gering einzuschätzen.59

2.2.1 Verringerung der Line Costs

Die Manipulationen der Line Costs wurden zunächst von 1999 bis 2000 durch die unsachgemäße Auflösung von Rückstellungen, zumeist an den jeweiligen Quartalsenden erreicht. Die resultierenden Erträge wurden mit den Line Costs aufgerechnet und verminderten diese folglich.

Die Manipulationen in der genannten Periode lassen sich in drei verschiedene Arten unterteilen:60

(1) Willkürliche Auflösung von Rückstellungen.
(2) Einsatz von Rückstellungen als sog. „rainy day funds“. D.h. überhöhte Rückstellungen wurden nicht sofort aufgelöst, sondern erst, wenn dies bilanzpolitisch „sinnvoll“ war, beispielsweise um die Analystenerwartungen für ein Quartal zu erreichen.
(3) Auflösung von Rückstellungen für andere Zwecke zugunsten der Line Costs.

Der Umfang der zumeist nicht angemessen dokumentierten und begründeten Buchungen betrug von 1999 bis 2000 insgesamt 3,3 Milliarden US-Dollar.61

Als keine materiellen Rückstellungen – zumindest in der benötigten Größenordnung – mehr existierten, ging das WorldCom-Management ab Ende 2000 dazu über, Line Costs im Anlagevermögen zu aktivieren . Die aktivierten Kosten wurden somit nicht als Aufwand in der Gewinn- und Verlustrechnung gebucht, sondern betragsmäßig in die Unternehmensbilanz verschoben, was das Vorsteuerergebnis und den Gewinn pro Aktie beträchtlich steigerte. Es handelte sich hierbei um „ongoing, operating expenses that accounting rules required WorldCom to recognize immediately”62. Als Nebeneffekt dieser Umbuchungen ergibt sich eine Erhöhung von buchhalterischem Anlagevermögen und Eigenkapital; außerdem wird eine stärkere Investitionstätigkeit suggeriert.63 Durch

Abschreibung der aktivierten Kosten in zukünftigen Perioden wurde es WorldCom ermöglicht, die entstandenen Kosten zeitlich zu verteilen.

Der Effekt dieser manipulativen Bilanzpolitik, die bis Anfang 2002 fortgeführt wurde, betrug weitere 3,8 Milliarden US-Dollar. Wären Line Costs nicht in der beschriebenen Weise aktiviert worden, hätte das Unternehmen in drei von fünf Quartalen ein Verlust vor Steuern ausweisen müssen.64

2.2.2 Erhöhung der Umsätze

Gleichzeitig begann das Unternehmen ab 1999 seine Umsätze zumeist zum Quartalsende künstlich zu erhöhen. Hierbei wurden zwei Vorgehensweisen angewandt:65 Zum einen wurden die Differenzen zwischen den tatsächlich erzielten monatlichen Umsatzergebnissen und den „anvisierten“ Ergebnissen oftmals einfach, ohne jegliche Dokumentation oder Begründung, gebucht. Zum anderen wurden sog.

„Close the Gap“-Prozesse66 durchgeführt. Hier ging es darum, systematisch nach

Umsatz- und buchhalterischen „Chancen“ zu suchen und diese selektiv einzusetzen, um die propagierten Umsatzwachstumsraten erzielen zu können.67 Dass die beeindruckenden Ergebnisse Folge einmaliger und nicht auf die Geschäftstätigkeit zurückzuführende Vorgänge waren, die sich vielfach aus „accounting fluff and junk“68 zusammensetzten, wurde in den Finanzberichten verschleiert. Insgesamt wird der Umfang der umsatzbezogenen Manipulationen auf 958 Millionen US-Dollar beziffert. Ohne diese Eingriffe hätten ab 1999 in sechs von zwölf Quartalen keine zweistelligen Umsatzwachstumsraten erzielt werden können.69

2.2.3 Zusammenfassung der Manipulationen

Die gezeigten Eingriffe an den Unternehmensergebnissen stellen allesamt Verstöße gegen die Rechnungslegungsvorschriften der United States Generally Accepted Accounting Principles (US-GAAP) und die Bilanzierungsgrundsätze von WorldCom dar.70 Investoren wurden Veränderungen der zugrundegelegten Bilanzierungsgrundsätze zu keiner Zeit angezeigt.71

Im Resultat konnte WorldCom während der gesamten Dauer des Betruges zweistellige Umsatzwachstumsraten ausweisen und eine Line Cost E/R Ratio von unternehmens- und wettbewerbsüblichen 42% beibehalten. Dadurch wurde dem Markt klar signalisiert, dass das Unternehmen trotz des schwierigen Industrieumfeldes und im Gegensatz zu den Wettbewerbern sein Wachstum und seine Profitabilität aufrechterhalten und seine Kostenstruktur effektiv kontrollieren konnte. Es ist festzustellen, dass die Bilanzmanipulationen eine starke Bindungswirkung hatten, da der Druck von der Marktseite mit unrealistischen Versprechen beantwortet wurde und WorldCom letztendlich permanent gezwungen war, die immer größer werdende Diskrepanz zur tatsächlichen Situation im Unternehmen weiter durch Manipulationen zu verschleiern. Evidenz liefert hierzu die Aussage des Chefcontrollers David Myers, welcher einräumte: „[…] once the entries started it was difficult to stop making them.”72 Von Seiten des CFOs wurde jedoch davon ausgegangen, durch Ausweisung „höherer“ Restrukturierungsaufwendungen die vorangegangen Manipulationen später wieder ausgleichen zu können,73 nachdem die schwierige Situation in der Telekommunikationsindustrie überwunden war.

Tabelle 1 stellt die manipulierte verkürzte Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) des Unternehmens für die Jahre 1999 bis 2001 zusammen mit den prozentualen Anteilen der Einzelpositionen am Umsatz dar.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten74

Tabelle 1: Verkürzte WorldCom-GuV nach US-GAAP (1999-2001, manipuliert) Quelle: Eigene Darstellung, Datenquelle: WorldCom Inc. (2002a).

Zum Vergleich zeigt Tabelle 2 die ceteris paribus bereinigte GuV für denselben Zeitraum, woraus insbesondere die wachsende Kostenproblematik im Zeitverlauf ersichtlich wird.75

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Verkürzte WorldCom-GuV nach US-GAAP (1999-2001, bereinigt)

Quelle: Eigene Darstellung, Datenquellen: WorldCom Inc. (2002a) und Beresford et al. (2003).

Tabelle 3 fasst die beschriebenen Manipulationen, aufgeteilt nach Jahr und Bezugsgröße, in ihrer Höhe zusammen. Anhang B enthält einen detaillierten Vergleich zwischen den ausgewiesenen und den tatsächlichen Line Cost- und Umsatz-Ergebnissen und der sich daraus ergebenden Line Cost Ratio.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten76 77

Tabelle 3: Zusammenfassung der Bilanz/GuV-Manipulationen (1999-2002)

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Beresford et al. (2003), S. 17.

3 Das Konzept der ökonomischen Ethik

Es ist zunächst notwendig, einen theoretischen Überbau zu schaffen, der eine systematische Analyse und fundierte Bewertung des Falles WorldCom aus ethischer Sicht ermöglicht. Die Arbeit wird hierbei einem wirtschafts- und unternehmensethischen Ansatz auf Grundlage der ökonomischen Ethik folgen.78 Dieser Ansatz ist aufgrund seiner Grundfragestellung, wie Moral und Eigeninteresse (bzw. Gewinnstreben bei Unternehmen) miteinander vereinbar gemacht werden können, besonders gut für die Problemstellung geeignet. Es wird zunächst die Grundstruktur des Ansatzes erläutert, bevor die Konzeption in ihrem Kern eingeführt wird. Hierauf aufbauend wird die Bedeutung von Handlungsbedingungen inhaltlich vertieft und die Implikationen für Freiheit, Verantwortung und Vertrauen dargestellt. Das Kapitel schließt mit der Anwendung der Überlegungen auf den Bereich der Unternehmung.

3.1 Grundstruktur der ethischen Konzeption

Es wäre allzu früh gegriffen und wenig zweckmäßig, eine Bewertung des Falles WorldCom einzig auf moralische Werte und Ideale bzw. deren Nichtvorhandensein zu fußen. Dies wäre „ein unreflektierter Rückgriff auf moralische Orientierungspunkte, [der] den Bedingungen in der globalisierten Welt nicht angemessen Rechnung [trägt]“79. Ein reflektierter Gebrauch ethisch-normativer Konzepte muss also auch den Bedingungen der modernen Welt Rechnung tragen. Die systematische Bedeutung dieser Bedingungen ist primär auf zwei grundlegende Entwicklungen zurückzuführen:

Individualisierung und institutionelle Funktionalisierung.

Unter dem Begriff der Individualisierung ist hierbei zu verstehen, dass in der modernen Gesellschaft – spätestens seit den Religionskriegen – kein allgemein anerkanntes Konzept des „guten Handelns“ mehr unter den Menschen existiert, welches sich religiös, philosophisch oder moralisch fundieren ließe.80 Anders ausgedrückt: „In einer aufgeklärten Moralkonzeption scheidet etwa der Rückgriff auf göttliche und naturrechtlich gegebene Instanzen aus.“81 Hierbei lässt sich auch vom Faktum des Pluralismus82 an Meinungen und Vorstellungen sprechen. Die Stabilität der modernen Gesellschaft muss also ohne eine umfassende Übereinstimmung an Wertvorstellungen unter den Mitgliedern gewährleistet werden, was zur Folge hat, dass die moderne Gesellschaft nicht mehr wert-, sondern regelintegriert ist.83

Dieser Übergang zeigt sich auch darin, dass die moderne Gesellschaft nicht mehr durch strikte (Wert-)Bindungen, Abhängigkeiten und soziale Zugehörigkeiten charakterisiert ist. Der Einzelne ist also nicht mehr in seinem Handeln einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht verpflichtet, sondern kann höchst unterschiedliche Ziele verfolgen und sein Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten. Bindungen jedweder Art84 und ihre Auflösung sind zu einer „Wahlmöglichkeit“85 geworden. Jedoch bedeutet dies nicht, dass das Individuum unabhängig vom sozialen Kontext geworden ist, denn „Individualisierung bedeutet nicht Entsozialisierung“86. Vielmehr ergibt sich das paradox anmutende Bild, das mit der Zahl der gestiegenen Handlungsmöglichkeiten (der „Freiheit“) auch der Grad an wechselseitigen Abhängigkeiten zugenommen hat, da der Einzelne zur Realisierung seiner Ziele stets auf die Mitarbeit anderer angewiesen ist.87

Individualisierung drückt sich also in der Freisetzung des Eigeninteresses und einer enormen Steigerung individueller Handlungsspielräume aus88 – im Kontext des Faktums des Pluralismus. Diese Freiheit führt gleichzeitig aber auch zu einem Abstimmungsproblem zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft, da Handlungen zur Erreichung der Ziele untereinander koordiniert werden müssen. Das Problem kann jedoch dadurch gelöst werden, dass sich die Menschen auf (explizite oder implizite) Regeln des Zusammenlebens einigen.89 Dies führt zum Begriff der funktionalen Institutionalisierung.

Funktionale Institutionalisierung bedeutet, dass Regelsysteme (nichts anderes sind Institutionen) von Menschen geschaffen werden, um ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft, die unterschiedlichste Ziele und Wertvorstellungen haben können, zu ermöglichen.90 Aus genau diesem Grunde sind diese Regeln, die sich die Menschen selbst geben, funktional.

Eine reflektierte ethische Konzeption darf also nicht nur von moralischen Idealen ausgehen, sondern muss auch die Bedingungen, unter denen die Ergebnisse moralischer Forderungen entstehen können, systematisch miteinbeziehen. Hieraus ergibt sich das folgende Beurteilungsschema der ethischen Konzeption:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Grundstruktur der ethischen Konzeption

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Suchanek (2007), S. 30.

Normative Forderungen bzw. Beurteilungen (das „Sollen“) sind also stets aus (1) (dem „Wollen“) und (2) (dem „Können“) abzuleiten. Geschieht dies nicht, drohen Fehlschlüsse, die überaus problematische Implikationen haben können, da sie entscheidende Aspekte des betrachteten Sachverhalts nicht einbeziehen.

[...]


1 Vgl. Beresford et al. (2003), S. 1.

2 Vgl. ebd. (2003), S. 1.

3 Bis dato stellt sich die Bearbeitung des Falles in der wissenschaftlichen Literatur als sehr gering dar, was sowohl für die systematische und strukturierte Darstellung des Falles im Allgemeinen, als auch für die Betrachtung und Analyse aus unternehmensethischer Sicht im Speziellen gilt. Die Arbeit speist ihre Aussagen und Schlussfolgerungen deshalb v.a. aus journalistischen Quellen und Finanzberichten des Unternehmens, aber auch aus behördlichen Dokumenten und unabhängigen Untersuchungsberichten. Einschlägig ist hier der Untersuchungsbericht von Beresford et al. , der im Jahr 2002 von der damaligen Unternehmensführung in Auftrag gegeben wurde, um die begangenen Manipulationen in ihrer Höhe und Entstehung aufzudecken und die Gründe für das Fehlverhalten im Unternehmen zu untersuchen.

4 Vgl. Jeter (2003), S. IV.

5 Unter dem Begriff Telekommunikationsindustrie sollen für die folgende Arbeit die Märkte für elektronische, technikgestützte Sprach- und Datenübertragung sowie deren Ausrüster, zusammengefasst werden, sowohl für lokale (regionale), als auch für Langstrecken- (Fernmelde) und/oder drahtlose Kommunikation. Telekommunikationsanbieter bieten in diesem Sinne eine Kombination der genannten Dienste an.

6 Vgl. Brody/Dunstan (2002), S. 13.

7 Vgl. Beresford et al. (2003), S. 48.

8 Vgl. Jeter (2003), S. 80.

9 Vgl. Beresford et al. (2003), S. 47.

10 Vgl. WorldCom Inc. (2001), S. 25, 2 und 38.

11 Datenquelle: FactSet (2008).

12 Vgl. Forbes Magazine (1999) und Beresford et al. (2003), S. 271.

13 Für eine detaillierte Betrachtung der Entwicklung der US-amerikanischen Telekommunikations- industrie und ihrer Anbieter vgl. 4.1.

14 Vgl. Jeter (2003), S. 116.

15 Vgl. Beresford et al. (2003), S. 51.

16 Vgl. ebd. (2003), S. 50.

17 Ebd. (2003), S. 13.

18 Vgl. ebd. (2003), S. 49.

19 Vgl. ebd. (2003), S. 44.

20 Vgl. ebd. (2003), S. 9, 58. Ein Beispiel: Möchte ein WorldCom-Kunde von New York nach Berlin telefonieren, kann es sein, dass der Anruf zunächst von einer lokalen Telefongesellschaft in New York in das WorldCom-Netzwerk gespeist wird, bevor er dann von dem jeweiligen deutschen Anbieter zum Zielteilnehmer geleitet wird. Durch das Gespräch ergeben sich für WorldCom Line Costs sowohl für die Benutzung des New Yorker, als auch des Berliner Telefonnetzes.

21 Vgl. ebd. (2003), S. 9.

22 Vgl. ebd. (2003), S. 10.

23 Vgl. Zekany et al. (2004), S. 104. Damit ist in der Kennzahl reflektiert, dass eine Verbesserung der Situation durch eine Verringerung der Line Costs und/oder einer Erhöhung der Umsätze erzielt werden kann.

24 Vgl. Beresford et al. (2003), S. 9.

25 WorldCom Inc. (2001), S. 58.

26 Vgl. Beresford et al. (2003), S. 97.

27 Vgl. ebd. (2003), S. 94.

28 Hierzu zählen eine Reisfarm in Louisiana, ein Hersteller von Luxusjachten, ein Jachthafen, ein Sägewerk, ein Country Club, ein Fuhrunternehmen, ein Geschäftsgebäude in der Innenstadt von Chicago und ein lokales Hockeyteam. Vgl. ebd. (2003), S. 32f.

29 Vgl. ebd. (2003), S. 6. Zu den persönlichen finanziellen Verbindungen von Ebbers mit Worldcom vgl. 4.2.2.

30 Vgl. ebd. (2003), S. 1. Eine detaillierte Zusammenfassung der vorgenommenen Bilanzmanipulationen folgt im nächsten Abschnitt.

31 Vgl. ebd. (2003), S. 1.

32 Es ist darauf hinzuweisen, dass in amerikanischen Corporate Governance-Systemen ein One-Tier- Modell vorliegt. D.h. die Unternehmensführung wird, im Gegensatz zum deutschen Two-Tier-System, in ihren Tätigkeitsbereichen nicht explizit in Vorstand und Aufsichtsrat getrennt. Diese Arbeit verwendet deshalb für die Unternehmensführung die etwas unschärferen Begriffe des Boards und der Board- Mitglieder. Für eine Übersicht und Klassifizierung internationaler Corporate-Governance-Systeme vgl. Van den Berghe (2002).

33 Vgl. Beresford et al. (2003), S. 13, 65, 117.

34 Vgl. ebd. (2003), S. 13.

35 Vgl. Brody/Dunstan (2003), S. 17.

36 Vgl. Beresford et al. (2003), S. 8, 125.

37 Zusammengefasst erklärt Sullivan, dass die Line Costs durch ungenutzte Kapazitäten in die Höhe getrieben werden. Diese Kapazitäten tragen jedoch das Potenzial für künftige Erträge in sich, weswegen ihnen die Qualität eines Aktivpostens zukommen sollte und von einer unmittelbaren Kostenerfassung abzusehen ist. Vgl. Sullivan (2002), S. 2.

38 Vgl. Beresford et al. (2003), S. 129.

39 Hier ist beispielhaft der Artikel „Accounting for Anguish“ zu nennen, der im Mai 2002 von Fort Worth Weekly basierend auf den Schilderungen des ehemaligen WorldCom-Mitarbeiters Kim Emigh veröffentlicht wurde. Vgl. Reaves (2002).

40 Vgl. Beresford et al. (2003), S. 2.

41 Vgl. ebd. (2003), S. 1f.

42 Vgl. Pandey/Verma (2006), S. 145.

43 Das Gesetz ermöglicht einem Konkurs gegangenen Unternehmen seinen Geschäftsbetrieb zunächst fortzuführen und unter gerichtlicher Aufsicht Restrukturierungsmaßnahmen durchzuführen, mit dem Ziel die bestehenden Schulden, nach erfolgreicher Restrukturierung, bedienen zu können. Vgl. USC (2007), 11 USC Chapter 11.

44 Vgl. Brody/Dunstan (2003), S. 27. Erst der Konkurs der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 sollte diesen Negativrekord einstellen, bei einer Bilanzsumme von etwa 643 Mrd. US- Dollar und Schulden von etwa 613 Mrd. US-Dollar.

45 Vgl. Pandey/Verma (2006), S. 141.

46 Vgl. ebd. (2006), S. 148.

47 Vgl. ebd. (2006), S. 142.

48 Vgl. ebd. (2006), S. 142f.

49 Vgl. ebd. (2006), S. 146.

50 Vgl. MSNBC (2005b).

51 Vgl. Chicago Tribune (2005).

52 Für Myers vgl. CBS News (2005). Für Yates vgl. MSNBC (2005a).

53 Vgl. New York Times (2005).

54 Vgl. Scharff (2005b), S. 2.

55 Vgl. Pandey/Verma (2006), S. 150.

56 Für die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders aufgeführt, vgl. Washington Post (2005).

57 David Neil (Gartner Group) zit. bei Jeter (2003), S. 81.

58 Vgl. Heise (2006).

59 Vgl. Beresford et al. (2003), S. 16.

60 Für die folgenden Darstellungen vgl. ebd. (2003), S. 10.

61 Vgl. ebd. (2003), S. 10.

62 Ebd. (2003), S. 11. Vgl. auch SEC (2002).

63 Die vorgenommenen Buchungen hatten damit auch zahlreiche und signifikante Implikationen für andere Bereiche der Buchhaltung, gerade bei Anlagen ( Property Accounting ) und Investitionen ( Capital Reporting ). Bedenken seitens der Mitarbeiter in den tangierten Bereichen wurden entweder nicht weitergegeben oder -verfolgt. Um keine Aufmerksamkeit im Unternehmen zu erwecken, wurden zwei verschiedene Versionen der Capital Reports erstellt, wobei nur die nicht-manipulierten Berichte allgemein einsehbar und verfügbar waren. Vgl. Beresford et al. (2003), S. 102, 104.

64 Vgl. ebd. (2003), S. 11.

65 Für die folgenden Darstellungen, sofern nicht anders aufgeführt, vgl. ebd. (2003), S. 13f.

66 Vgl. ebd. (2003), S. 14.

67 So wurde zum Beispiel eine mögliche Vertragsstrafe mit einem großen Firmenkunden, die sich im kommenden Jahr ergeben könnte, als Umsatz antizipiert und kurz darauf verbucht, obwohl weder das Eintreten des Ereignisses geschweige denn ein Zahlungseingang zu verzeichnen gewesen wäre. Vgl. Zekany et al. (2004), S. 113f.

68 CFO Scott Sullivan zit. bei Beresford et al. (2003), S. 15.

69 Vgl. ebd. (2003), S. 15. Die Umsatzerhöhungen wurden zumeist in ein nicht-operatives Sammelkonto (Corporate Unallocated Schedule) verbucht, um der Zusammenarbeit mit anderen Bereichen weitestgehend zu umgehen. Ähnlich wie bei den Capital Reports wurde auch bei den monatlichen Umsatzberichten („MonRevs“) nur einer exklusiven Gruppe im Unternehmen vollständigen Zugriff auf die kompletten Bericht gewährt. Vgl. ebd. (2003), S. 136f.

70 Vgl. SEC (2002). Es gilt grundsätzlich, dass Abschlüsse die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage sowie die Cashflows eines Unternehmens den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend darzustellen haben. Siehe hierzu auch aktuell IASB (2007), IAS 1.13. Vgl. auch Beresford et al. (2003), S. 101.

71 Vgl. SEC (2002).

72 Beresford et al. (2003), S. 125.

73 Vgl. ebd. (2003), S. 11.

74 Allgemeine Vertriebs- und Verwaltungskosten.

75 Hinweis: In der vergleichenden Darstellung ist das Jahr 2002 nicht enthalten, da in diesem Jahr die Bilanzmanipulationen entdeckt und der Jahresabschluss 2002 bereits entsprechend korrigiert wurde. Ein Vergleich zwischen manipulierten und bereinigten GuV-Ergebnissen hat deshalb keine Aussagekraft.

76 Allgemeine Vertriebs- und Verwaltungskosten.

77 Hinweis: In der Darstellung sind Umbuchungen von allgemeinen Vertriebs- und Verwaltungskosten von insgesamt 1,9 Milliarden US-Dollar nicht enthalten, da hier lediglich Umbuchungen zu Line Costs intern getätigt wurden, um entsprechende Kennzahlen zu schönen. Es liegt also keine Manipulation am Vorsteuerergebnis vor. Vgl. hierzu Beresford et al. (2003), S. 17, 57. Dennoch gehen zahlreiche Quellen von insgesamt über 11 Milliarden US-Dollar an getätigten Manipulationen aus.

78 Die Darstellungen und Erläuterungen beziehen sich hierbei primär auf zwei Basistexte zu dieser Konzeption: Zum einen „Ökonomik – Eine Einführung“, zum anderen „Ökonomische Ethik“. Vgl. hierzu Homann/Suchanek (2005) und Suchanek (2007). Die wissenschaftliche Literatur umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze zum Thema Wirtschafts- und Unternehmensethik. So ist für den deutschsprachigen Raum beispielsweise die Integrative Ethik, die Governanceethik oder die Republikanische Ethik zu nennen. Für eine Übersicht zu den Ansätzen vgl. Lin-Hi (2005), S. 15ff.

79 Lin-Hi (2007), S. 3.

80 Vgl. Suchanek (2007), S. 22.

81 Lenz (2003), S. 16.

82 Vgl. Rawls (1998), S. 81.

83 Vgl. Suchanek (2007), S. 22.

84 Hierunter kann u.a. die Wahl der Familiengründung, Partnerschaften, Zugehörigkeit zu Vereinen, Parteien, Online-Communities oder auch des Arbeitsplatzes fallen.

85 Ebd. (2007), S. 21.

86 Ebd. (2007), S. 21.

87 Vgl. ebd. (2007), S. 21. Um dies mit einem extremen Beispiel zu verdeutlichen: Selbst in Ruhe gelassen zu werden, muss durch die Mitarbeit anderer „unterstützt“ werden.

88 Vgl. ebd. (2007). S. 20.

89 Vgl. ebd. (2007). S. 22.

90 Vgl. ebd. (2007), S. 23.

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Der Fall WorldCom aus unternehmensethischer Perspektive
Hochschule
HHL Leipzig Graduate School of Management
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
92
Katalognummer
V120898
ISBN (eBook)
9783640251391
ISBN (Buch)
9783640251353
Dateigröße
1066 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
WorldCom, Unternehmensethik, Ökonomische Ethik, Bernard Ebbers, Bernie Ebbers, Dilemmastrukturen, Investition, Vertrauen, individuelle Selbstbindung, Spieltheorie
Arbeit zitieren
Dipl.-Kfm. Matthias Falk (Autor:in), 2008, Der Fall WorldCom aus unternehmensethischer Perspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120898

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Der Fall WorldCom aus unternehmensethischer Perspektive



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden