"Mädchen und Gewalt" im Spiegel jugendliterarischer Neuerscheinungen


Magisterarbeit, 2008

149 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gegenstand der Arbeit und Begriffserklärung

Bei einem Streit zwischen zwei Mädchen wird im Juni 2006 ein 17jähriges Mädchen durch das Klappmesser des anderen verletzt und erliegt zwei Tage später im Krankenhaus ihren Verletzungen.[1] Dies ist nur eine von vielen Meldungen die in den Medien seit einigen Jahren kursieren. Mädchen und Frauen treten, so scheint es, auf einmal häufiger in Bezug auf Gewalt in Erscheinung als noch vor rund zwölf Jahren. Die Anzahl der tatverdächtigen jungen Frauen stieg seit dieser Zeit, laut Bundeskriminalamt, um rund 20 Prozent. Doch aus welchem Grund? Sind der Weg und die Probleme des Erwachsenwerdens heute anderer Natur? Durch die Emanzipation der Frau und den Veränderungen in den kulturellen Normen, besonders in den westlichen Industrienationen, hat sich das Bild der jungen weiblichen Generation verändert. Vorbei ist es mit dem vorrangig für Mädchen reserviertem Lernen von Haushaltspflichten, vorbei mit sittsamem Verhalten und dem anerzogenen Gefühl, dem Mann nicht ebenbürtig zu sein. Hätte Anfang der sechziger Jahre jemand die Frage nach der Aufgabe der Frau gestellt, wäre er wohl einem Kopfschütteln belohnt worden, denn was ein Mädchen ist und von ihm verlangt wird, war eindeutig. Hausfrau und Mutter zu werden, schien das Natürlichste von der Welt zu sein. Niemand stellte dies in Frage, da die Aufteilung der Geschlechterrollen – Frauen übernehmen die „Reproduktionsarbeit und Männer die finanzielle Versorgung“ - als unveränderbar angesehen wurden. Doch ab der zweiten Hälfte der sechziger Jahre kam es zu einer wichtigen Veränderung in Bezug auf die Geschlechterrollen.[2] Bis weit in die sechziger Jahre hinein galten Geschlechtsunterschiede als naturgegeben und selbst im Grundgesetz wurden trotz des Artikels zur Gleichberechtigung von Mann und Frau (Artikel 3 Absatz 2) deutliche Unterschiede hervorgehoben. So wurde eine Ehefrau auch noch im Jahre 1976 gesetzlich zur Hausarbeit verpflichtet, und brauchte die Genehmigung ihres Ehemannes, wenn sie einer Arbeit nachgehen wollte. Eine unverheiratete Mutter erhielt, bis 1970, das Sorgerecht aufgrund der Beteiligung an unsittlichen Handlungen grundsätzlich nicht. Doch in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre wurde in der englischen Psychoanalyse und Soziologie erkannt, dass Geschlechterrollen neben biologischen auch kulturelle- und soziale Anteile besitzen und somit nicht nur körperlich angeboren sondern auch veränderbar sind. Dies war der Beginn der Emanzipation der Frau und besonders der Frauenbewegung und Forschung. Die Sozialisationsforschung in den siebziger und achtziger Jahren stellte heraus wie sehr Mädchen in ihrer Entwicklung unterdrückt und beschnitten wurden, und erkannte die weibliche Sozialisation als zentrales Hemmnis für die Chancengleichheit. Die Mädchen der heutigen Generation, die in den neunziger Jahren geboren wurden, wurden dank der Erkenntnisse der Forschung und Veränderung des Frauenbildes gleichberechtigt erzogen. Sie haben ein neues Selbstbewusstsein und damit eine neue Stärke, die besonders von den Medien aufgegriffen, forciert und unter anderem in aggressiven Mädchenbands, wie beispielsweise in den Neunzigern von der Gruppe „Tic Tac Toe“, widergespiegelt wird. Aggressive Mädchen sind populär geworden.[3] Diese Popularität weiblicher Aggressivität trägt, wie Berichte in den Medien immer wieder zeigen, zu der Offenbarung neuer Probleme bei. Durch zahlreiche Faktoren wie: Frustration, Zukunftsängste, Leistungsdruck und den Problemen der Pubertät (körperliche Veränderung und Hormonschübe) kann es unter ungünstigen Umständen zu starken Aggressionen kommen.

Mädchen schließen sich zu Gruppen zusammen, betrinken sich bis zur Besinnungslosigkeit, beschimpfen sich gegenseitig oder üben physischen und psychischen Druck aus. Ein Bild, das bisher hauptsächlich von jungen Männern dominiert wurde.

Wie, warum und unter welchen Einflüssen sich Gewalt ausgehend von Mädchen äußern kann, ist nicht nur Teil der Medien, sondern auch der Forschung und Literatur geworden und die grundlegende Fragstellung dieser Arbeit. Im Hinblick auf die Forschung finden sich unter anderem kriminologische Theorien die versuchen, auf Grundlage der inneren und äußeren Umstände, soziales Verhalten zu analysieren, um beispielsweise Amokläufe erklärbar zu machen. Drei maßgebende dieser sozialen beziehungsweise kriminologischen Kontrolltheorien werden, neben einem Überblick über die im Laufe der Jahrhunderte entwickelten Theorien und Ansichten zur weiblichen Gewalt, im ersten Kapitel dieser Arbeit erklärt werden und in die in Teil eins und zwei folgende Analyse der ausgewählten Romane, zum näheren Verständnis und möglichen Erklärungen der behandelten Gewaltthemen, einfließen. Ebenso enthält das erste Kapitel einen Punkt zur Normvermittlung und Ausführungen zu der möglichen Entwicklung eines kriminellen Bewusstseins, da die Erziehung und Normgebung eine maßgebliche Rolle in der Ausprägung von kriminellen und aggressiven Eigenschaften spielt, und für das Verständnis der späteren Ausführungen als wichtig erachtet wird.

Die sieben für die Analyse ausgewählten Romane wurden maßgeblich aufgrund ihrer zeitlichen Aktualität ausgewählt. Fünf dieser Romane beschäftigen sich mit dem Hauptthema „Mädchen und Gewalt“, zwei wurden nach dem Thema „Amoklauf“ ausgesucht. Das Thema „Amoklauf“ wird in dieser Arbeit als zweiter und kleinerer Teil des Hauptthemas verstanden, weil es als ein unumgänglicher Bereich auf dem Gebiet der Schülergewalt erscheint, und junge Frauen und Mädchen durchaus Amokgedanken hegen können, wie einer der in der Analyse folgenden Autoren darstellen wird. Zudem werden zu Beginn von Teil zwei tatsächlich durch weibliche Täter geschehen Amokläufe aufgezeigt werden, um die Verknüpfung der Themen zu verdeutlichen. Da die Jugendliteratur sich zwar ausgiebig mit dem Thema des Amoklaufes, besonders nach den Vorfällen in Erfurt und Emsdetten beschäftigt hat, es jedoch keinen Roman mit einer weiblichen Täterfigur gibt, musste auf Romane mit männlichen Täterfiguren zurückgegriffen werden. Da das Thema „Amoklauf“ in der kriminologischen, psychologischen und sozialen Forschung ein sehr komplexes Thema darstellt, werden in Teil zwei die bereits in Teil eins bekannten Kontrolltheorien durch Aspekte der Phantasie- und Medientheorien ergänzt werden.

Die Analyse der Romane in Teil eins und zwei wird sich auf die strukturelle sowie wissensvermittelnde Ebene konzentrieren, und besonders in letzterer die theoretischen Erklärungsmöglichkeiten und behandelten Probleme und Motive analysieren und aufzeigen, um der Beantwortung der Frage nach den Umständen und Auslösern von Gewalt etwas näher zu kommen. Dabei wird sich auch die Frage nach der Authentizität der geschilderten Problemfälle in der Jugendliteratur stellen. Um diese nicht nur aus einem theoretischen oder subjektiven Gesichtspunkt darstellen zu können, wurden an die Autoren Fragen zu ihrer Arbeit gerichtet, die sowohl die Frage nach den Quellen der Arbeit, der Umsetzung, als auch den Intentionen beinhalteten. Antworten wurden jedoch nicht von allen Autoren erhalten, und können aus diesem Grund nur von Harald Tondern, Manfred Theisen und Birgit Schlieper einfließen. Die Arbeit schließt im dritten Teil mit einem Ausblick auf Präventionsmöglichkeiten und der Diskussion der Frage nach Notwendigkeit von sozialen Theorien als Grundlage für Gewalt darstellende Jugendliteratur und der Wirkung eines offenen Endes.

Zur Art der Darstellung bleibt zu erwähnen, dass Zitate, die mehr als zwei Zeilen in Anspruch nehmen, in einzeiligen Abstand dargestellt werden. Zitate unter dieser Angabe werden in den normalen Textverlauf übernommen, um das Textbild nicht zu unruhig zu gestalten.

Begriffserklärung

Da die Probleme und Auswirkungen von Gewalt das Hauptthema dieser Arbeit darstellen, wird im Verlauf Gewalt auch hauptsächlich als Begriff für Mobbing und andere Formen physischen und psychischen Drucks verwendet. Im näheren Kontext wird jedoch zum besseren Verständnis noch einmal darauf hingewiesen werden. Im Zusammenhang mit den sozialen Kontrolltheorien und Erläuterungen zu Jugendbanden wird von der sogenannten „Peergroup“, oder „peer“ gesprochen werden, was mit dem Begriff der „Clique“ gleichzusetzen ist.

Im Zusammenhang mit dem Thema „Amoklauf“ wird in dieser Arbeit der in der Wissenschaft gebräuchliche Begriff des „School Shooting“ oder im Falle des Täters des „ School Shooters“ gesprochen werden, wobei sowohl der deutsche als auch der englische Begriff genutzt werden. Da die angewandten Theorien aus dem englischen Stammen und teilweise wörtlich zitiert werden, wird zum besseren Verständnis eine deutsche Übersetzung bei der jeweils ersten Erwähnung in Klammern dahinter gesetzt. Sollte in einem Zusammenhang der Begriff des Lehrers in Bezug auf beide Geschlechter genannt werden, so wird die folgende Schreibweise verwendet werden: LeherInnen.

Da die ausgesuchten Romane in der Analyse in die verschiedenen Strukturen des Adoleszensromans nach den Ausführungen des Kinder- und Jugendliteraturforscher Hans-Heino Ewers eingeordnet werden, sollen an dieser Stelle die markantesten Ausprägungen und verwendeten Formen nun erklärt und benannt werden:

Unter dem Adoleszensroman versteht Ewers generell einen Roman mit einem jugendlichen Helden, wobei das Romangeschehen innerhalb des Jugendalters bleibt, dennoch aber Ausblicke in die Vergangenheit und Zukunft nicht ausschließt.[4] Ewers nennt drei ausgeprägte literarische Strukturen, die sich im Bereich des Adoleszensroman herauskristallisiert haben. Als erste und für diese Arbeit aufgrund ihrer Ausprägung interessante Struktur nennt er den Entwicklungsroman, der die phasenweise Entwicklung seines Helden darstellt. Als zweite nennt er den Pikaro- oder Schelmenroman. Der Pikaro ist ein Außenseiter, der dazu neigt, mehr zu geben als er hat und sich in einer durch Bosheit und Korruption beherrschten Welt, zu behaupten versucht. Durch ein Schlüsselerlebnis am Anfang verliert er seine Naivität und Unschuld, sollte er nicht gleich als Schelm eingeführt worden sein; dann finden jedoch keine Entwicklungen mehr statt. Diese Form des Adoleszensroman ist zwar für diese Arbeit nicht von Bedeutung, sollte aber der Vollständigkeit halber genannt werden. Als drittes Orientierungsmuster beschreibt Ewers den original aus dem amerikanischen kommenden Initiationsroman, welcher für die Analyse ebenfalls interessant ist. Er teilt sich mit dem Entwicklungsroman die Thematik der Identitätsfindung, diese vollzieht sich in ihm aber nicht schrittweise sondern wird durch ein existentielles Schlüsselerlebnis oder eine abrupte Krisenerfahrung herbeigeführt.

Weiterhin wird in der strukturellen Analyse auf die Bezeichnung „Klappentext“ verzichtet und in der Analyse des Peritextes durch „ Text auf der Buchrückseite“ oder ähnliches ersetzt werden, da die vorliegenden Romane ob in Taschenbuch oder hart gebundener Form keinen Klappentext im eigentlichen Sinn aufweisen. Ich werde mich daher im Bereich des Paratextes auf die Einstufungen von Gérard Genette in Ewers Einführung für Kinder- und Jugendliteratur beziehen.[5]

Theoretische Ansätze

Seit dem 19. Jahrhundert beschäftigen sich Forscher mit der Frage: „Warum wird ein Mensch kriminell?“, und erstellten dazu zahlreiche Theorien. Eine der Ersten und Bekanntesten ist die des „geborenen Verbrechers“ des italienischen Psychiaters Cesare Lombroso von 1876. Er vermutete eine „erblich bedingte Geneigtheit oder Empfänglichkeit für Kriminalität“[6], welche zwar nicht unabänderlich vorherbestimmt sei, aber unter Umständen mit einem erhöhten Risiko in Bezug auf kriminelles Verhalten verbunden ist. Selbst physische Indikatoren, wie eine fliehende Stirn oder geringe Körperbehaarung, meinte Lombroso benennen zu können. Lombroso wusste zudem auch psychische Indikatoren zu benennen, so beispielsweise: Hemmungslosigkeit, Grausamkeit und Schmerzunempfindlichkeit.[7] Lombroso könnte mit diesen Vermutungen als der erste „Profiler“ der Geschichte gelten. Als Vorgehensweise gegen den genetisch veranlagten Kriminellen schlägt er eine lebenslängliche Internierung oder die Todesstrafe vor, was eine sehr drastische Lösung und zudem eine genetische Auslese darstellen würde. Für jugendliche Straftäter sah er eine nicht ganz so unerbittliche Lösung vor. So meinte er „mordlustige zum Militär, Athletische zum Zirkus und geschlechtlich allzu erregte Frauen zur Prostitution zu bestimmen.“[8] Lombroso´s Theorie fand im 19. Jahrhundert großen Anklang, da sie die Gesellschaft von ihrer Verantwortung gegenüber der Entstehung von kriminellem Verhalten freisprach.[9] Doch auch heute klingen Vermutungen über genetische Zusammenhänge in Bezug auf kriminelles Verhalten an; beispielsweise bei der Zwillingsforschung, die zeigte, dass der eineiige Zwillingsbruder eher straffällig werden kann, als es bei zweieiigen der Fall war. Die Forschung unterschlug jedoch den Faktor der Erziehung und die Neigung der Umwelt, eineiige Zwillinge uniform zu erziehen und so dieselben Verhaltensmerkmale zu prägen.[10] Genetisch geprägtes kriminelles Verhalten kann dennoch durchaus stattfinden, zum Beispiel durch einen genetisch bedingten Hirndefekt. Doch wann ab ist ein Mensch kriminell? Nach Freud bereits als neugeborenes Kind.

Er bezeichnet Kinder als „asoziale universell-kriminelle Wesen“, allein auf die Erziehung käme es an.[11] Als Grund für Kriminalität benennt Freud eine fehlende soziale Kontrolle. Diese wird im Normalfall durch Familie, Freunde, Schule, Polizei und Justiz garantiert. Diese fehlende soziale Kontrolle wird in den folgenden analysierten Büchern oftmals als Grund für kriminelles Verhalten der Haupt- und Nebenfiguren dargestellt werden.

Nach Freud lernt das ES, der primitivste Teil der Persönlichkeit, durch Einfluss der Außenwelt das zweite Hauptsystem, das ICH, herauszubilden, welches die Vermittlung zwischen dem ES und der Außenwelt übernimmt. Durch das Erlernen von Normen und Werten bildet sich schließlich das dritte Hauptsystem, das ÜBER-ICH als internalisierte Repräsentation vermittelter Normen und Werte.

Nach einer Theorie des Soziologen und Psychologen John S. Dollard, der „Frustrations-Aggressions-Hypothese“, ist jede Aggression eine Folge von vorausgegangener Frustration. „Wird lustsuchendes oder schmerzvermeidendes Verhalten gehemmt, entsteht Frustration, die zur Aggression gegen diejenigen Personen oder Gegenstände wird, die für diese Versagung als (vermeintlich) verantwortlich angesehen werden.“[12] Bei jugendlichen Tätern spielt in besonderem Maße die so genannte „Clique“ oder, wie in Forschungsberichten genannt, „peer-group“ eine Rolle. Aus der eigenen kriminellen Erfahrung heraus und von der Gesellschaft „stigmatisiert“ sucht sich der oder die Jugendliche eine Gruppe von Gleichgesinnten, um aus der von der Gesellschaft auferlegten Isolation zu entkommen und ein neues „Wir-Gefühl“ zu entwickeln.[13]

Zudem kommen natürlich soziale Komponenten in Bezug auf die Lebensverhältnisse der Jugendlichen hinzu. Sprachbarrieren, schlechte Wohnbedingungen, geringe Chancen auf eine Ausbildung oder auch unzureichende Bildung der Eltern können zu kriminellem Verhalten führen. Jedoch ist Kriminalität keine Frage des sozialen Status. Wie die bereits erwähnten Theorien gezeigt haben, spielt vor allem das Verhalten der Eltern im vermitteln von Werten und Normen eine Rolle, ebenso wie die Medien. Doch auch hier gehen einerseits die Meinungen auseinander und andererseits obliegt es den Eltern zu kontrollieren, was ihr Nachwuchs sieht.

Nach Siegmund Freud besitzt das Betrachten von dargestellter Gewalt eine „psychohygienische Ventilfunktion“.[14] Man erhält gewissermaßen eine Art Ersatzbefriedigung für den eigenen Aggressionstrieb. Eine solche Theorie ist in den heutigen Zeiten sehr umstritten, da die meisten von Jugendlichen begangenen Gewalttaten auf Fernsehen und brutale Computerspiele zurückgeführt werden. In diesem Zusammenhang sollte die „Habitualisierungstheorie“ oder so genannte „Erregungstheorie“ genannt werden.[15] Sie besagt, dass durch die hohe Anzahl von Gewaltakten im Fernsehen eine Überreizung und somit eine Abstumpfung des Zuschauers gegenüber seines Verhältnisses von Gewalt entstehe. Besonders Kinder und Jugendliche würden Gewalt als eine „legitime Normalität“ erfahren und somit eventuell eine eigene wachsende Gewaltbereitschaft aufgrund fehlender Sensibilität entwickeln. Zudem werde die Wahrscheinlichkeit von aggressivem Verhalten erhöht, wenn die dargestellten Gewaltszenen zu einem gewünschten Ergebnis führen und so gerechtfertigt erscheinen. Aber auch in diesem Fall existieren zahlreiche Auslösereize, die bisher kaum entschlüsselt werden konnten. Festzuhalten bleibt somit, dass es für diese Theorien bisher wenige gesicherte empirische Ergebnisse gibt.

Frauenkriminalität

Im Jahr 2006 wurden vom Bundeskriminalamt insgesamt 6.304.223 Straftaten festgehalten. Davon wurden 550.049 (24,6%) von Frauen begangen. Von diesen 550.049 Straftaten wurden wiederum 28,6% von Mädchen unter 14 Jahren verübt und 25,1 % von Mädchen unter 21 Jahren. In Zusammenhang mit Tötungsdelikten sind Frauen hauptsächlich im Bereich der Tötungen naher Verwandert aufgrund von Missbrauch oder Kindstötungen zu finden. [16] Wenn man davon ausgeht, dass der Frauenanteil in Deutschland bei etwa 51% liegt, erscheint der Anteil schwindend gering, zeigt jedoch nicht das Dunkelfeld. Auch zu diesem Thema entwickelte Psychiater Cesare Lombroso eine Theorie. Nach seiner Auffassung bestand das weibliche Äquivalent zur männlichen Kriminalität in der Prostitution; eine sehr gewagte und wenig belegte These, die zudem alle anderen Möglichkeiten kriminellen Handelns außer Acht lässt und kriminelle Frauen zu rein sexuell handelnden Objekten degradiert. Lombrosos These, so gewagt sie erscheint, ist jedoch im Hinblick auf den Bereich des heutigen Drogenmilieus kaum zu umgehen, da männliche Junkies eher Straftaten begehen, weibliche sich jedoch meist in die Prostitution flüchten.[17] Nach der sogenannten „Schwächetheorie“ des Neurologen und Psychiaters Paul Julius Möbius begeht eine Frau deswegen weniger Straftaten als ein Mann, weil ihr die dazu notwendige Körperkraft und Intelligenz fehlt.[18] Die „Stabilitätstheorie“ von des Kriminologen Carl Gustav Cremer geht wiederum davon aus, dass das weibliche Geschlechtschromosom XX Frauen mehr Stabilität und Widerstandskraft gegen kriminelle oder aggressive Verhaltensweisen gebe als das XY-Chromosom bei Männern.[19] Aus den sozialwissenschaftlichen Studien gehe zudem hervor, dass Frauen ein gewisser Bonus zugesprochen wird. Aus diesem Grund sei ein hohes Dunkelfeld der Fall, so dass man gar nicht genau wisse, wie viele Verbrechen von Frauen begangen werden, so der Soziologe Rainer Geißler.[20] Seine so genannte Kavalierstheorie geht davon aus, dass Frauen seltener angezeigt werden und Männer sich schämen zuzugeben, von einer Frau beispielsweise überfallen worden zu sein. Zudem würden Frauen seltener und geringer bestraft werden.[21]

Neuere Forschungen nehmen an, dass sich die weibliche Kriminalitätsrate in dem Maße der des Mannes angleicht, wie sich das weibliche Rollenverhalten dem männlichen annähert.[22]

Normvermittlung

Das Erlernen von Normen ist die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Verinnerlichung von Normen wird durch deren Vermittlung erzielt. Doch was ist der beste Weg und wie sieht er aus?

1. Normen können argumentativ vermittelt werden.[23]
2. Normen können durch Beobachtung vermittelt werden.
3. Normen können durch Belohnung und Bestrafung von Handlungsweisen oder Unterlassung vermittelt werden.

Doch in welcher Art Erziehungsmodell sollte eine solche Normvermittlung stattfinden? Wo ist sie am effizientesten? Wichtige Normen können einerseits durch Vorbilder erlernt werden. Doch wer sollten diese Vorbilder sein? Und was wird durch deren Beobachtung erlernt? In den folgenden Romanen wird es häufig an Vorbildern auf elterlicher Ebene fehlen, ebenso an der Vermittlung von Normen, was zu kriminellen und gewalttätigen Handlungen führen kann, wie die Autoren in ihren Erzählungen zeigen, ebenso wie die Realität.

Der größte Teil der Normvermittlung findet durch die familiäre Sozialisation statt. Je nach Erziehungsstil ist diese erfolgreich. Der Jura-Professor, Dieter Rössner, zeigt hierzu drei Erziehungsstile auf:

1. machtausübender Stil ( gewaltsame Durchsetzung von Forderungen)
2. Liebesentzug ( Abweisung des Wunsches nach Kontakt um Forderungen
durchzusetzen)
3. induktiver Erziehungsstil (unterstützender, nicht strenger Stil)[24]

Als Ideal gilt nach Rössner Stil drei, da Stil eins die Verinnerlichung von Normen verhindert und Stil zwei zu Verhaltensproblemen führt. Durch Stil drei ist es dem Kind möglich ein freies moralisches Handeln zu entwickeln und sich mit den Normen auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang sollte die „Peer“ genannt werden. Diese Übernimmt besonders im Jugendalter die Vermittlung von Normen der Subkultur, welche oftmals von den allgemeinen sozialen Normen abweichen.[25] Der starke Einfluss der Peer führt häufig zu Wertekonflikten und gewinnt besonders im Alter der Pubertät stark an Bedeutung in Bezug auf die Normvermittlung. Trotzdem erklärt Rössner, dass die frühe und in sozialer Nähe erfolgende Normvermittlung den stärksten Einfluss auf das Individuum hat und nur schwer verändert werden kann. So entstehe vor allem durch die familiäre Erziehung eine Basispersönlichkeit mit stabilen Grundmerkmalen. Aber nicht nur die Familie hinterlässt ihre Spuren in der Persönlichkeit des Kindes; während der Kindheit und Jugend sind Familie, Nachbarn, Schule und Freizeit sowie die Gemeinde, der Staat und die Gesellschaft zentrale Institutionen der Sozialisation.

Als Leitsatz g gilt demnach nach Rössner:

1. Je früher das soziale Normlernen erfolgt, desto wirksamer schlägt es sich in der Ausbildung der Basispersönlichkeit (primäre Sozialisation) nieder.
2. Je intensiver der Personenbezug und die Zuwendung bei Normlernenden sind, desto erfolgreicher sind die Bemühungen (relative Unwirksamkeit bei bloß institutionaler Einwirkung).[26]

Im Folgenden werden nun drei verschiedene Kontrolltheorien dargestellt, die in die Analyse der ausgesuchten Bücher einfließen werden, um eventuelle Erklärungen und Hintergründe für die Gewalt unter Mädchen, sowie, im zweiten Teil, für die Entscheidung für einen Amoklauf zu finden.

I. Kriminologische und soziale Kontrolltheorien

1. Travis Hirschis „Soziale Kontrolltheorie“

Das Verletzen festgelegter gesellschaftlicher Normen ist für Kontrolltheoretiker keine Abweichung, sondern der Normalzustand.[27]

Travis Hirschi, der zwei der einflussreichsten Ansätze der Kontrolltheorie formulierte, legte die „soziale Kontrolltheorie“ 1969 unter dem Titel „ Causes of Delinquenzy“ (Gründe für Kriminalität) vor und konzentrierte sich dabei auf die äußere Kontrolle und damit auf die Einwirkungen, Bindungen und Verpflichtungen der direkten Umwelt und der Gesellschaft. 21 Jahre später überarbeitete er mit Michael Gottfredson seinen Ansatz und brachte mit der Fokussierung auf die Selbstkontrolle die General Theory of Crime (Theorie der Kriminalität) heraus, welche große Beachtung fand. Hirschi sieht die Abweichung des Normzustandes in der Gesellschaft folgendermaßen: Menschen werden nicht zur Abweichung von der Normtreue gedrängt, die Abweichung an sich herrscht vor. Hirschi legt dabei seinen Betrachtungsschwerpunkt auf soziale Beziehungen. Vier Kernfaktoren bilden bei ihm das so genannte „ social bond“ (soziales Band), welches Menschen an die Ordnung der Gesellschaft bindet.

Diese vier Variablen werden, wie folgt, erklärt:

1. attachment (Deutsch: Anschluss, hier: emotionale Bindung an andere Menschen)
2. commitment (Deutsch: Einsatz, hier: Gefühl der Verpflichtung)
3. involvement (Deutsch: Einbindung, hier: Einbindung in konventionelle Tätigkeiten)
4. belief (Deutsch: Glaube, hier: Glaube an bestimmte Werte)

Je stärker die jeweiligen Punkte ausgeprägt sind, umso wahrscheinlicher ist es, dass sich ein Mensch an Normen hält. Ein christlich orientierter Jugendlicher, der vehement an die zehn Gebote glaubt, wird diese folglich eher einhalten, als ein nicht christlich orientierter. Je stärker also diese vier Variablen bei einem Menschen ausgeprägt sind, umso effektiver wirkt das soziale Band der instrumentellen Devianz der Gesellschaft entgegen.

Es verändert dabei nicht die Motivation zur Abweichung sondern die Wahrscheinlichkeit dieser Motivation nachzugehen.[28]

Untersuchungen zu Hirschis Theorie fanden eindeutige starke Belege in Bezug auf Delinquenzverhalten bei attachments zu Familie und Schule. Involvement und belief konnten hingegen weniger bestätigt werden.[29]

2. Michael Gottfredsons und Travis Hirschis „Soziale Kontrolltheorie“

Die von Gottfredson und Hirschi 1990 publizierte Theorie geht davon aus, dass Menschen ohne externe und interne Kontrolle auf eine Weise handeln, die ihnen mit möglichst wenig Aufwand ihre Bedürfnisse befriedigt. Eine gesunde Selbstkontrolle würde diesem Verhalten beispielsweise mit dem Bedenken langfristiger Auswirkungen (z.B. Sanktionen) entgegenwirken. Verantwortliches Verhalten würde danach von der unterschiedlichen Fähigkeit zur Selbstkontrolle abhängen.[30]

Diese wiederum entsteht durch ein Zusammenspiel von angelegten Persönlichkeitsmerkmalen, wie beispielsweise Impulsivität, dem Hang zu riskanten Taten, geringe Empathie oder Gewalttätigkeit, die eine schlechte Ausgangsbasis bilden können. Ebenso wichtig ist dabei die Erziehung, die in einem ungünstigen Ausgangsfall, eine negative Ausgangsbasis der Persönlichkeitsmerkmale kompensieren muss.

Als Schwerpunkt der Ausbildung zur Selbstkontrolle wird die Sozialisation gesehen. Demnach spielt die Erziehung, wie bei den meisten Theorien, die wichtigste Rolle und würde bei einer erschwerten Ausgangslage verstärkte Erziehungsanforderungen an die Eltern stellen, um den Mangel auszugleichen. Eltern sollten in der Lage sein, deviantes Verhalten frühzeitig zu erkennen und zu beaufsichtigen und dieses effektiv zu bestrafen. Gelingt das nicht, kann sich die Selbstkontrolle des Kleinkindes nicht ausreichend entwickeln, welches fatale folgen für den späteren Lebensverlauf haben kann.

Leider fehlt es bei schlechten Ausgangsbedingungen häufig an verstärkten erzieherischen Maßnahmen. Die kriminologische Forschung belegt hierbei einen fatalen Kreislauf des Aufschaukelns von gegebenen, am Anfang noch kleinen Störungen kindlichen Verhaltens, zu großen sozialen Auffälligkeiten. Diese nehmen Einfluss auf viele Lebensbereiche. Schnelle Bedürfnisbefriedigung zeige sich besonders im Rauchen, Drogen- und Alkoholmissbrauch und dem Zeugen unehelicher Kinder. Zudem schlage sich der Mangel an Selbstkontrolle in Schulversagen, dem Verlust der Arbeitsstelle und der Unfähigkeit eine hoffnungsvolle Beziehung aufrecht zu erhalten nieder.

Kriminelle Taten sind nach Gottfredson und Hirschi eine direkte Bedürfnisbefriedung für Menschen mit den weiter oben genannten Eigenschaften.

Sie bieten eine direkte Befriedigung ohne die vorherige Ausübung von Arbeit oder, bei Rachehandlungen, dem Warten auf einen Gerichtsprozess. Gedanken an die Opfer werden aufgrund einer egozentrischen Grundhaltung und der bereits erwähnten geringen Empathie gar nicht oder kaum verschwendet:

„Als wesentlich stellt sich neben der schnellen Bedürfnisbefriedigung ebenfalls die schnelle Beseitigung eines störenden Reizes heraus. Einhergehend mit einer charakteristischen geringen Frustrationstoleranz und niedrigen verbalen Problemlösungsfähigkeiten, führt die geringe Selbstkontrolle etwa dazu, schreiende Kinder zu misshandeln oder subjektiv störende Fremde tätlich anzugreifen. Damit werden neben instrumentellen Taten auch emotionale Gewaltanwendungen in die Theorie integriert.“[31]

Demnach reduziert eine hohe Selbstkontrolle die Möglichkeit eine Straftat zu begehen. Diese Theorie ist natürlich nicht unumstritten, auch wenn sie bereits fünf Jahre nach ihrem Erscheinen durch zahlreiche Studien belegt wurde. So beispielsweise eine Metastudie der beiden amerikanischen Kriminologie-Professoren Travis Pratt und Francis Cullen die belegte, dass geringe Selbstkontrolle, unabhängig von Unterschieden der Messinstrumente, ein wichtiger Faktor für die Vorhersage von Straftaten und analogem Verhalten sei.[32]

3. Charles Tittle „Kontrollbalance-Theorie“

Charles Tittle’s zentrale These nimmt einen anderen Zugang zu den Kontrolltheorien als Gottfredson und Hirschi.[33] Er behauptet, dass das Verhältnis zwischen der Kontrolle, die eine Person selbst ausüben kann und der Kontrolle der sie unterworfen ist, einen großen Einfluss auf die Entstehung von Delinquenz hat. Bei einem ausgeglichenem Kontrollverhältnis, dem „control ratio“, wären demnach konforme Verhaltensweisen anzunehmen. Im Umkehrschluss hieße das: je größer das Ungleichgewicht umso extremer die Abweichung von sozialen Normen. Tittle schlüsselt die Abweichungen die vom Verhältnis der Kontrollbalance abhängen folgendermaßen auf:

Bei einem zunehmenden Kontrolldefizit, der sogenannten Repression, nimmt das Ausmaß der Abweichung von predation (Raub) über defiance (Trotz) bis submission (Unterwerfung) zu.

Bei einem vorliegenden Kontrollüberschuss, der Autonomie, tritt im entgegengesetzten Sinn eine Abweichung ein. Diese benennt Tittle folgendermaßen: exploitation (Ausnutzung), plunder (plündern) und decadence (Dekadenz).

In der Realität würden Menschen mit einer Repression auf der Stufe des predation versuchen, diese zu überspielen, indem sie beispielsweise Dritten ihren Willen aufzwingen oder Gewalt anwenden. Dies kann Diebstahl bis hin zu Tötungsversuchen umfassen. Auf der Stufe von defiance ist die Kontrolle anderer so hoch, dass sich die unterdrückte Person nur durch Proteste oder Überanpassung zu helfen weiß. Im Falle von submission ist die Macht der Kontrollierenden so groß, dass das unterdrückte Individuum aus Angst keine abwehrende Haltung zeigen kann und will und sich deswegen sklavisch unterordnet.

Umgekehrt drücken Menschen mit einem Kontrollüberschuss sich folgendermaßen aus:

Auf einem Niveau des exploitation werden unliebsame Gegner ausgeschaltet und beispielsweise Kartelle gebildet. Individuen auf der plunder - Ebene weisen selbstsüchtige Verhaltensweisen auf. Sie zerstören die Umwelt aus Profitgründen oder führen progromartige Völkermorde durch. Auf der in der Praxis seltenen, letzten und höchsten Stufe der maximalen Kontrollüberschussebene findet sich die decadence die zum Teil der plunder - Ebene ähnelt.

Diese Menschen erleben die Normalität als langweilig und ihre Mitmenschen als irrelevant. Sie begehen absonderliche Taten und können andere zu reinem Unterhaltungszweck missbrauchen.

Tittle führt weiter aus, dass ein Kontrollungleichgewicht im Kern das Potential eines Menschen für Devianz darstellt. Dass tatsächlich eine Devianz auftritt, wird dabei zusätzlich von Motivationen zur Abweichung sowie Zwängen und Gelegenheiten bestimmt.[34] Diese grundlegenden Prinzipien speisen einander und interagieren und ergeben auf diese Weise eine enorme Kombination an Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Tittles Theorie regte zu Diskussionen an, welche er auch selbst unterstützte, die wiederum zu neuen Verknüpfungsmöglichkeiten führten und für die dargestellten Fälle von Gewalt, in der für diese Arbeit ausgesuchten Jugendliteratur interessant sind.

Diese neuen Verknüpfungen ergaben miteinander mehr Erklärungsmöglichkeiten als einzeln. John Braithwaite findet beispielsweise besonders die Schnittstelle von Kontrollbalance und dem sozialen Band interessant und überzeugend. Wäre das soziale Band stark genug und effektiv, könne die Wirkung eines Kontrollungleichgewichts zumindest teilweise aufgehoben werden.[35] Ein starkes soziales Band bewirkt nach Braithwaite eine respektvolle Machtausübung der Menschen mit Kontrollüberschüssen und eine Machtakzeptanz bei Menschen mit Kontrolldefiziten. Eine solche prosoziale Akzeptanz würde eine Anerkennung der bestehenden Machtverhältnisse bewirken und somit zu einer subjektiven Reduktion des Kontrollungleichgewichts führen. Wird aggressives Verhalten geduldet, kann das vom Kind oder Jugendlichen als stillschweigende Zustimmung angesehen werden. Die Aggressionen werden zunehmen, wenn es sieht, dass es damit Ziele erreichen kann. Verhaltensmuster sind erlernt, auch die aggressiven.[36] Gewalt ist ein Hilfeschrei der Täter.[37] Diese Aussagen der Pädagogin Gundula Wöbken-Eckert treffen auf alle nun folgenden Hauptfiguren zu.

Um jedoch nicht nur die verhaltenstheoretischen Aspekte zu beleuchten, wird zusätzlich auch die strukturelle Ebene aufgezeigt werden.

TEIL EINS:

Analyse der jugendliterarischen Neuerscheinungen

zum Schwerpunkt „Mädchen und Gewalt“

I. Harald Tondern, Wehe, du sagst was!

Die Mädchengang von St. Pauli, 2000

Bereits im April 2000 erschien Harald Tonderns Buch: Wehe du sagst was! Die Mädchengang von St. Pauli, bei Rowohlt. Ein Buch, das nicht nur radikal die Gewalt unter Mädchen anspricht, sondern auch das Problem vom „Wegesehen“ der anderen. Tonderns Roman wird in dieser Arbeit als Entwicklungsroman eingestuft, da seine Hauptfigur Manuel, wenn auch kleine, phasenweise Veränderungen durchlebt.[38] Wie der Autor auf Fragen nach den Quellen für seine Arbeit antwortete, recherchierte er in einer Hamburger Beratungsstelle für gewalttätige Mädchen und ließ sein Manuskript zudem von einer Expertin korrigieren, um möglichst authentisch zu wirken. Um seine Authentizität zu erhöhen, wählte er in der Darstellung die vorrangige Sichtweise eines Jungen und gestaltete Manuel als „Projektionsfigur“ für Daniela, da er sich als Mann besser in einen Jungen hineinversetzen könne. Jedoch habe er sich in Danielas Tagebucheinträgen bemüht, wie ein Mädchen zu denken.[39]

Für ein besseres Verständnis der im Roman dargestellten Mädchenbande wird im Folgenden der Begriff der Jugendbande näher erklärt:

1. Jugendbanden als Ort jugendlichen Verständnisses

Die so genannte peer-group wurde bereits weiter oben in ihrer Wichtigkeit für Heranwachsende erwähnt. Da in Tonderns Buch jedoch eine verstärkte Form der peer mit anderen Maßstäben auftritt, soll diese nun im Folgenden erklärt werden:

Eine Definition von „Jugendbande“ lautet:

„Eine Jugendbande ist eine Gruppe von drei oder mehr Jugendlichen, deren Mitgliedschaft, obwohl fließend, doch aus einem stabilen Kern an Mitgliedern besteht, die von anderen oder sich selbst als „Bande“ betrachtet werden. Diese Jugendlichen sind Mitglieder der „Bande“ aus sozialen, kulturellen oder anderen Gründen, planen und begehen impulsiv oder absichtlich antisoziale, delinquente oder illegale Handlungen.“[40]

Wie bereits in dieser Arbeit erwähnt, ist die Gruppe für Jugendliche insoweit von

zentraler Bedeutung, als dass sie Halt und Verständnis bietet in der für Jugendliche sehr verwirrenden Pubertät.[41]

Sie hilft bei der Identitätsfindung und bei der Abnabelung von den Eltern, gibt Sicherheit und versorgt mit Intimität und Freundschaft. Es bilden sich Normen heraus und auch Sanktionen werden bei einem Nicht-Einhalten verhängt, wie beispielsweise das „Schneiden“. Auch eine Hierarchie ist schnell gefunden mit einem oder mehreren Anführern. Dies kann in ähnlicher, wenn auch in abgeschwächter Form für die so genannte „Clique“ bzw. „Peer“ gelten. Bei Jugendbanden wird zudem häufig eine Art Initiationsritus durchgeführt, beispielsweise durch eine Mutprobe.

Dies erhöht das Gefühl der Zusammengehörigkeit, da nicht jeder Mitglied sein darf. Diese Gruppen oder Banden treten häufig aggressiv auf, da ihnen das gemeinsame Auftreten Schutz gegenüber anderen garantiert. Zudem fällt es, im Falle einer aggressiven Gruppe, Mitgliedern schwer auszusteigen, da sie mit schweren Sanktionen seitens der Gruppe zu rechnen haben. Klassisch für Jugendbanden ist ebenso, sich von anderen durch spezielle Kleidung zu unterscheiden, um Zusammengehörigkeit zu demonstrieren.

Ansätze zur Erklärung von Gewalt und Bandenbildung unter Frauen finden sich noch selten in der wissenschaftlichen Literatur. Christian Büttner ist folgender Ansicht:

„Auffällig ist außerdem, dass Frauen vornehmlich andere Frauen angreifen. […] Frauen werden u.a. aus Eifersucht oder Rache (z.B. für Misshandlungen) gewalttätig […].“[42]

Büttner argumentiert weiterhin, dass sich die kulturellen Normen, besonders in den Industrienationen, geändert hätten und Frauen, auch durch den Einfluss der Medien, welcher teilweise eine aggressive Mädchenkultur vermittelt, mehr Selbstvertrauen und Stärke entwickelt hätten:

„So konnten einige Studien bereits zeigen, dass aggressive Mädchen bei ihresgleichen populär sind, als weniger aggressive, und z.T. sogar gewalttätige Mädchenbanden entstanden sind.“[43]

Inwiefern sich diese Aussagen bestätigen, wird die nun folgende Buchanalyse von „Wehe du sagst was!“ zeigen.

2. Analyse der strukturellen Ebene

Der Peritext

Der Peritext weist bereits im Besonderen auf das Problem des „Wegsehens“ hin, indem das Titelbild in kühlem Blau-Türkis einen schwarz gekleideten Jungen zeigt, der sich selbst scheinbar aus Kälte oder aus Furcht vor etwas angstvoll umklammert. Seine Schultern sind hochgezogen. Eine Hand hält er dabei vor seinen Mund, als würde er sie mit seinem Atem wärmen, während er fast angstvoll neugierig etwas in seiner Nähe beobachtet. Er scheint zu versuchen, möglichst unbeteiligt zu wirken, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der in Gelb gehaltene Titel „Wehe, du sagst was“, gibt dem Bild noch seine zusätzliche Note und vermittelt dem Leser einen Eindruck von dem was ihn erwartet. Der Untertitel „Die Mädchengang von St. Pauli“ trägt zu einer näheren Beschreibung des Inhalts bei. Der auf der Rückseite des Buches stehende Text führt bereits ins Detail. Er beschreibt wie die beiden Hauptfiguren, Manuel und Daniela, aufeinander treffen und was sie von da an verbindet. Es wird bereits eine kurze Zusammenfassung des gesamten Inhaltes gegeben, ebenso wie ein zusammenfassender Satz, der das Thema des Romans darstellt und vermutlich die Neugier des Lesers wecken soll:

„Ein brisanter Roman über Gewalt und Zivilcourage […]“

Im Vorwort werden Informationen über den Autor Harald Tondern gegeben, einen freiberuflichen Schriftsteller der unter anderem mit Frederik Hetmann zusammen gearbeitet hat und bereits während seines Studiums begann Kriminalromane zu verfassen. Nachdem der Verlag noch Informationen zu Lehrermaterialen gibt, findet sich vor dem Einstieg in den Text ein Zitat von Alessandro Baricco aus „Land aus Glas“. Da das Zitat die Intentionen des Autors zu diesem Buch zu beschreiben scheint, soll hier ein kurzer Ausschnitt gegeben werden:

„`Es gibt zu viel Welt`, dachte er. Und suchte nach einer Lösung.“

Das Zitat trifft allem Anschein nach auf die Probleme der Hauptfigur Manuel zu, der selbst, verwirrt von der Welt, nach einer Lösung sucht, wie die folgende Analyse zeigen wird.

Nach einer Widmung beginnt schließlich der Haupttext.[44]

Die Textebene

Der Text beinhaltet eine Erzählzeit von 153 Seiten, sowie eine erzählte Zeit von etwa zwei bis drei Wochen. Die Erzählsituation ist eine Mischung aus personaler und Ich-Erzählung, da die Erzählung zwischen den Ebenen springt und aus der Sicht der beiden Hauptfiguren, Manuel und Daniela, dargestellt wird. Auf diese Weise ergibt sich eine Opposition der Perspektiven. Dieses geschieht aufgrund der Einflechtung von Danielas Tagebucheinträgen, die, neben der Tatsache, dass sie fett gedruckt sind, zudem im Präsens und der Ich-Form verfasst sind. Eben ganz wie ein persönlicher Tagebucheintrag, den der Leser zufällig lesen darf. Dadurch erhält der intendierte Leser Informationen über Danielas Gefühlsleben, die auf personaler Ebene nicht möglich gewesen wären. Die Einblicke in ihre Lebensumstände und ihre Vergangenheit ermöglichen es, Gründe für ihr Verhalten zu finden.

Der Inhalt

Hauptfiguren: Manuel, Daniela

Wichtige Nebenfiguren: Oma Icky, Elif, Samantha,

Frau Dr. Röggelein, Danielas Eltern: Benno Sander und

Frau (die Mutter bleibt namenlos)

Weitere Nebenfiguren: Manuels Eltern: Hannes und Petra Schlüter, Pia, die Clique

Steckbriefe der wichtigsten Figuren

Manuel:

Manuel ist ein unscheinbarer, schüchterner und unsicherer Junge. Er trägt „uncoole Klamotten“ und entdeckt seine Leidenschaft für das Gitarre-Spielen.

Oma Icky:

Oma Icky ist Manuels Großmutter und seine engste Vertraute. Die ehemalige Stripperin und Kiezgröße ist öfter betrunken und besitzt eine eigene Kneipe. Ihre uneheliche Tochter (Manuels Mutter) ist das Kind des ehemals bekannten Sängers Andy Dunn.

Elif:

Die Türkin Elif verdient heimlich Geld mit der Arbeit an der Tankstelle von Manuels Eltern.

Daniela:

Daniela ist attraktiv, schlank, blond und hat sehr weiße Zähne. Dabei läuft sie fast wie ein Junge und trägt trotz großer Hitze immer eine Lederjacke mit einem grinsenden weißen Totenkopf und der Aufschrift St. Pauli.[45] Sie ist eine aggressive Anführerin und neigt zu extremer Eifersucht, Gewalttätigkeit und Diebstahl

Danielas Eltern:

Benno Sander ist früher Kapitän und arbeitet nun als Fernsehreporter. Er versucht das „große Geld“ mit Luxuswohnungen zu machen und verhält sich dabei nicht nur pedantisch sonder verwanzt die Familienwohnung mit Mikrofonen und Kameras, um potentielle Interessenten zu beschatten.

Danielas Mutter ist eine namenlose Person, die früher eine selbstbewusste Lehrerin war. Heute sie eine depressive Frau. Sie wird von Daniela als schwach dargestellt: „Früher war Mama mal meine beste Freundin. Jetzt hört sie mir gar nicht mehr richtig zu. Manchmal glaube ich sie nimmt Tabletten oder so was.“[46]

Samantha:

Samantha ist die Klassensprecherin und wird von Daniela erpresst. Sie versucht sich zu wehren, hat aber Angst, dass ihr keiner glauben könnte.

Frau Dr. Röggelein:

Frau Dr. Röggelein ist die Klassenlehrerin. Sie ist immer in Eile und scheint die Dinge die in ihrer Klasse geschehen, kaum wahrzunehmen

Inhaltsangabe

Manuel geht in einem Supermarkt auf dem Hamburger Kiez für seine Großmutter einkaufen, wo er die Mädchenbande um seine Klassenkameradin Daniela beobachtet, die den Laden „aufmischen“. Als diese vom Leiter des Supermarktes verdächtigt werden etwas gestohlen zu haben, hilft Manuel der Anführerin Daniela, indem er unbemerkt eine Flasche geklauten Schnaps hinter ihrem Rücken verschwinden lässt. Wieso er Daniela hilft, weiß Manuel selbst nicht, doch diese Tat scheint die zwei von da an zu verbinden. Daniela sucht Kontakt zu ihm. Auch sie weiß nicht genau warum. Manuel ist für sie ein Langweiler, aber auf einmal doch ganz interessant und sie fühlt sich in seiner Schuld. Eines Nachmittags nimmt sie Manuel mit zu ihrem Lieblingsplatz am Hafen. Sie küsst ihn, ist davon aber selbst so überrascht und überfordert, dass sie ihn von sich weg stößt und davon rennt. Als sie jedoch das Gefühl bekommt, ihre Freundin Pia interessiere sich auch für Manuel, bricht bei Daniela eine blinde Eifersucht durch. Um sich zu rächen locken Daniela und ihre Clique Pia in ein abgelegenes Fabrikgebäude und foltern das Mädchen. Sie ziehen sie aus, drücken Zigaretten auf ihr aus und schlagen sie bewusstlos. Schließlich lassen sie Pia allein in dem Fabrikgebäude zurück. Als Manuel erfährt, dass Pia verschwunden ist, ahnt er was passiert sein könnte. Er findet Pia und alarmiert die Polizei. Doch sagen und wissen wer es war, kann und will er nicht.

3. Einblicke, deren Darstellung und theoretische Erklärungsmöglichkeiten

Wie Schüler zu Opfern werden und Lehrer wegsehen

Bei heutigen Klassengrößen von rund 30 Schülern ist es einem Lehrer kaum zu verdenken, dass er nicht mehr auf den Einzelnen speziell eingehen kann. Doch ist dies wirklich notwendig, wenn der Schüler das Gefühl vermittelt bekommt, sich jederzeit und mit allen Problemen anvertrauen zu können? Der Erziehungswissenschaftler und Hochschullehrer Freerk Huisken ist da folgender Ansicht:

„Es muss also an Schule in unseren Landen recht prinzipiell etwas nicht in Ordnung sein, wenn Schüler ihre „Sorgen“ vor Lehrern verbergen und umgekehrt Lehrer darin allein eine Behinderung oder (Kopf) Kontrolltätigkeit sehen.“[47]

In Harald Tonderns Roman wird genau diese Problematik beschrieben, denn neben den einschneidenden Ereignissen zwischen Manuel und Daniela gibt es die Klassensprecherin Samantha, die die Einzige zu sein scheint, die den Mut aufzubringen versucht, sich gegen Danielas Tyrannei zu wehren. Sie wird, wie wahrscheinlich viele andere in ihrer Klasse, von Daniela erpresst und auf hinterhältige Weise um ihr Geld gebracht, teilweise sogar vor den Augen ihrer Lehrerin Frau Dr. Röggelein. Doch aufgrund ihrer Angst vor Danielas Clique und Danielas Kunst sich vor anderen in das rechte Licht zu rücken, schafft Samantha es nicht die Situation aufzuklären. Sie glaubt zudem selbst nicht alles, was an Gerüchten über Daniela im Umlauf ist.[48] Sie wägt die Möglichkeiten ab, die es gäbe, wenn sie sich an die Lehrer und ihre Eltern wenden würde. Nichts davon erscheint ihr als wirklich sinnvolle Lösung. Vor allem weiß sie nicht, ob man ihr glauben schenken würde. In einer Konfrontation mit Daniela vor Eltern und Lehrern würde sie sicher den Kürzeren ziehen und die Konsequenzen für sie wären erheblich schlimmer, als das, was sie bereits jetzt erdulden muss.[49] Der Autor zeigt hier ein klassisches Dilemma von Schülern auf, die aus Angst vor den Konsequenzen lieber gar nichts sagen. Wie bei Wöbken-Eckert in Bezug auf Opfer erwähnt, durchlebt die Figur Samantha die klassischen psychosomatischen Erscheinungen eines psychisch belasteten Schülers.

Sie wird stiller. Auch zu Hause wird ihre Veränderung bemerkt. Sie verweigert das Essen und vertraut sich aber ihrer besorgten Mutter nicht an.[50] Ihre zaghaften Versuche mit ihrer Klassenlehrerin in Kontakt zu treten, scheitern an deren Rastlosigkeit. Frau Dr. Röggelein wirkt stets zu beschäftigt, etwas genervt und ist immer in Eile. Sie hat keine Zeit einmal wirklich nachzufragen. Sie scheint nicht in der Lage zu sein, deviantes Verhalten, wie das Danielas, zu erkennen. Samanthas Sorgen um letztendlich nur negative Konsequenzen für sich selbst, sind demnach berechtigt, da selbst der Leser nicht das Gefühl bekommt, dass es eine Möglichkeit zu einer offenen Aussprache geben könnte. Ein Problem das letztlich durch die im Buch indirekt erwähnte Aussage des Schulleiters unterstützt wird:„Herr Oltmann mochte keine negativen Schlagzeilen über seine Schule.“[51] Nicht gesprächsbereite Lehrer und eine wegblickende Schule schaffen in diesem Buch den optimalen Nährboden für stillschweigende Gewalt unter den Schülern. Um die weiteren Indikatoren der Gewalt in Harald Tonderns Buch zu klären, wird nun das Verhalten Manuels und Danielas individuell sowie zueinander analysiert und dargestellt werden.

Manuel – Kind einer heilen Familie und stiller Mitwisser

Manuel kommt aus einer nahezu heilen Familie. Sein Vater ist Tankstellenbesitzer auf der Reeperbahn und sehr verantwortungsbewusst: „Ganze Großstädte konnte man auf Hannes Schlüter bauen.“[52] Seine Mutter sorgt für ihn, bleibt aber immer im Hintergrund, da sie viel an der Tankstelle arbeitet. Manuels engste Vertrauensperson ist seine Großmutter Icky. Manuel hat demzufolge gefestigte Familienverhältnisse. Seine Familie ist wegen der Tankstelle des Vaters zwar bekannt auf der Reeperbahn, doch werden sie als gutbürgerliche, schwer arbeitende, ehrliche und einfache Menschen dargestellt, die sich nicht in den Vordergrund drängen. Enge Freunde scheint Manuel keine zu haben. Er wirkt wie ein Träumer der seinen Gedanken nachhängt, aber nicht wirklich tatkräftig ist. Als er die Gitarre seines Großvaters in einem Musikgeschäft entdeckt, wird Manuel zum ersten Mal zielstrebig. Er will Gitarre spielen lernen, das ist ihm zum Teil sogar wichtiger, als sein Verhältnis zu Daniela. Die Gitarre und Daniela haben neue Gefühle in ihm geweckt, die er bisher nicht gekannt hat. Und so lässt ihn auch mehrfach das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt: „[…] war dann mit einem Mal dieses merkwürdige Unbehagen bei ihm aufgekommen.“[53]

Manuel steht am Anfang einer leichten Verliebtheit zu Daniela, aber aufgrund ihres zwiespältigen Verhaltens kann er die Zeichen nicht deuten. Er ahnt jedoch, dass ihr seine gemeinsame Schularbeit mit Pia nicht gefallen hat, und entwickelt Schuldgefühle: „Er hatte das unsinnige Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben, als er sich mit Pia beim Schreiben vergnügt hatte.“[54] Als er schließlich auf einen Verdacht hin Pia in einem Abrisshaus schwer verletzt findet, ist Manuel schockiert und würde den Polizisten am liebsten alles erzählen, doch er traut sich nicht: „Aber kein Wort kam über seine Lippen.“[55] Da auch Pia über das Geschehene schweigt, beschließt Manuel dies auch weiterhin zu tun, bis er auf die Türkin Elif trifft. Sie trägt immer noch das ihr aufgezwungene Kopftuch und Manuel wird bewusst, dass, wenn er nichts unternimmt, die brutale Schikane von Danielas Gang ewig weiter gehen wird. Ob er sich traut etwas zu sagen, lässt der Autor offen und beschließt den Roman mit Manuels Gedanken: „Scheiße, dachte er. Scheiße, Scheiße, Scheiße.“[56]

Daniela – Motiv der starken Anführerin und des verletzlichen Mädchens

Daniela zeigt sich stark und unangreifbar. Sie ist eine Anführerin und hasst es Angst zu haben oder Schwäche zu zeigen. Durch Manuel erfährt sie neue und irritierende Gefühle, die sie nicht zulassen will. Sie fühlt sich in seiner Schuld und will, dass er sie mag. Sie unterwirft sich Manuels Wünschen, doch nicht ohne dieses Gefühl des Kontrollverlustes an ihre alten Opfer, oder auch ihre Gangmitglieder weiter zu geben. So erhält beispielsweise Elif ihre Jacke zurück, wird aber von Daniela gleichzeitig dazu gezwungen, ein Kopftuch zu tragen. Daniela hofft auf diese Weise, dass Manuel sich mit einem solchen Mädchen wie Elif nie einlassen würde.[57] Ihre Rechnung geht auf, denn Manuel glaubt Elif nicht, dass ihr das Kopftuch von Daniela und ihren Freundinnen aufgezwungen wurde, und wird sogar wütend auf sie.[58]

Wie der Tagebucheintrag von dem Tag des „Kusses“ zeigt, ist Daniela mit einer intimen Situation und ihren daraus resultierenden Gefühlen überfordert. Sie fühlt sich erdrückt und gerät in Panik, als Manuel sich auf sie legt, um ihren Kuss zu erwidern.[59] Sie besitzt weder die Kontrolle über die Situation noch über ihre Gefühle. Dass macht ihr Angst. Ihre Reaktion heißt: Wegrennen. Sie stößt Manuel von sich, hofft aber gleichzeitig, dass er sie trotz ihrer Reaktion noch gern hat.

Sie will seine Zuneigung nicht verlieren. Der Schlüssel für ihr Verhalten ist ihre Familie, die eine hauptsächlich psychische und teilweise physische Gewalt auf sie auszuüben scheint.

Daniela – Kind einer zerstörten Familie

Daniela ist das Opfer ihrer familiären Verhältnisse und wehrt sich gegen dieses Gefühl des Kontrolldefizits, indem sie selbst zum Täter wird. Ihr Ausbruch von unkontrollierten Aggressionen ist nach dem Soziologen Klaus Hurrelmann ein Zeichen dafür, dass die schulischen, sozialen, familiären und kulturellen Muster der Zivilisierung und Normgebung nicht gelungen sind. Extreme Gewaltausübung, so wie Danielas Gewaltverbrechen an Pia, ist nach Hurrelmann ein Signal dafür, dass sie in einer unerträglichen Situation lebt, wie die Schilderung ihrer Lebensumstände durchaus zeigt. Zudem können ihre Taten mit einem stark angeschlagenen Selbstwertgefühl zu tun haben, welches sicherlich durch das dominante Verhalten des Vaters herbeigeführt wurde.[60] In ihren Tagebucheinträgen berichtet Daniela über ihre Familiensituation und schildert ihre Erinnerungen. So beschreibt sie ab Seite 43 des Romans die Selbstbezogenheit ihres Vaters, der seiner Familie einen Urlaub verspricht, diesen aber nur für Arbeitszwecke missbraucht.

Benno Sander ist ein Mann der sich vom Kapitän zu einem bekannten Journalisten entwickelt hat und zudem versucht teure Luxuswohnungen im Hafenviertel zu verkaufen. Seine Familie hat er für dieses Unterfangen ohne Vorankündigung aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen, seiner Tochter gewaltsam das geliebte Haustier genommen, sie dabei geschlagen und die Familie in eine der Luxuswohnungen einquartiert, die nun zu Besichtigungszwecken dient. Niemals darf etwas dreckig oder unordentlich sein, geschweige denn verändert werden:

„Oder die Scheißordnung hier in der Wohnung, dieses Geleckte und Gelackte, dass einem ganz schlecht wird, wenn man nur rein kommt.“[61] Daniela hat folglich keinerlei Rückzugsmöglichkeit, da ihr Zimmer nicht wirklich ihr gehört, nicht einmal die Einrichtung:

„Mein Zimmer muss ständig tipptopp aufgeräumt sein, damit Benno es seinen Gästen vorführen kann. Freunde darf ich natürlich auch nicht einladen. Die könnte Benno schließlich nicht so anschreien wie Mama und mich, wenn ihm was nicht passt.“[62]

Sogar als Manuel Daniela einmal besuchen kommt, wird Daniela von ihrem Vater in ihr Zimmer eingeschlossen.[63]

Benno Sander kontrolliert seine ganze Familie, hat in der gesamten Wohnung Kameras und Mikrofone installiert, um mögliche Wohnungskäufer zu belauschen und seine Frau zu einer depressiven und teilnahmslosen Person werden lassen:

„Sie ist Lehrerin. Damals war sie es jedenfalls noch. Inzwischen hat sie aufgehört in der Schule. Inzwischen ist alles anders geworden. Sogar Hannes ist weg. Aber darüber kann ich nichts schreiben. Noch nicht. Jedenfalls nicht, ohne zu heulen. Aber ich will nicht heulen. Ich will nie mehr heulen. Heulen macht einen schwach. Ich hasse Schwäche. […] Hab ich ja bei Mama gesehen, was dabei rauskommt, wenn man schwach ist. […] Manchmal glaub ich, sie nimmt Tabletten oder so was.“[64]

Durch die dominante Kaltblütigkeit und Hinterlistigkeit des Vaters und die Teilnahmslosigkeit der Mutter hat Daniela keinerlei Halt und Regeln und schafft sich nun ihre eigenen. Ihre Schmerzen, Gefühle und Wut über das so drastisch veränderte und nun gefühllose Familienleben äußert sie in der Gewalt, die sie anderen angedeihen lässt. Dabei nimmt sie sich ein Beispiel an ihrem Vater, denn dieser scheint mit seiner Art bestens durchs Leben zu kommen:

„Und diese Heuchelei von Benno. Wie er die Leute einwickelt nur weil er an ihre Brieftasche will. Find ich zum Kotzen. Obgleich ich da inzwischen auch ganz gut drin bin. Im Einwickeln, mein ich.“[65]

Die nach Hurrelmann bereits weiter oben genannten unerträglichen Lebensumstände sind bei Daniela mehr als gegeben. Durch die Geschehnisse in ihrer Vergangenheit hat sie sich zu einer devianten Persönlichkeit entwickelt, die durch das Beispiel ihres Vaters keine Normen und sozialen Grenzen zu kennen scheint. In der Welt, die sie sich geschaffen hat, ist sie selbst diejenige, die bestimmt, wem es gut geht und wem nicht.

Danielas Verhaltensweise aus theoretischer Sicht

Aufgrund der von Daniela ausgehenden Gewalt in Tonderns Roman, wird im Rahmen dieser Arbeit auf eine genaue Analyse und somit ein extra Kapitel von Manuels Verhalten verzichtet, da es fruchtbarer erscheint Danielas gewalttätiges Verhalten zu analysieren und Manuels Haltung in den Schlüsselmomenten, wie beispielsweise die Gewalttat an Pia, in diesen Punkt mit einzubeziehen.

Danielas Bindung zu anderen Menschen ist zerrüttet, besonders zu ihren Eltern. Sie hat, im Sinne von Hirschi, keine Verpflichtungen oder Hobbies (involvement) und glaubt an keine bestimmten Werte (belief), da ihr Vater ihr das beste Beispiel für den Erfolg von Intrigen und Arglist bietet. Diese mangelnde Verwurzelung in ein soziales Gefüge schafft, neben ihrer nicht vorhandenen Selbstkontrolle, ein weiteres Standbein für ihr delinquentes Verhalten.

Daniela ist die Anführerin einer Gruppe und bestimmt darüber was richtig und was falsch ist. Im Falle des commitment schadet sie ihrem Ruf durch ihre Taten nicht, sie bestätigt und stärkt ihn durch ihr kriminelles und dominantes Verhalten, was durchaus in ihrem Sinne ist. Im Falle des attachements, welches sich als besonders wichtig in Hirschis Theorie darstellt[66], ist die bereits erwähnte zerrüttete Bindung zu anderen Menschen ein zentraler Punkt in Danielas Leben. Ihre Freunde sind keine Menschen denen sie sich wirklich anvertrauen kann, bei ihnen muss sie die starke Anführerin sein. Bei ihren Eltern scheint sie dagegen kaum existent. Durch die offensichtliche Schwäche, beziehungsweise die psychischen Probleme ihrer Mutter, und das rücksichtslose Verhalten ihres Vaters hat sie das Gerüst einer intakten Familie verloren, und versucht nun durch demonstrierte Stärke Halt zu finden. Doch der Hass in ihr - auf ihre Umwelt und auf ihr Leben - ist so groß, dass sie ihn nicht mehr kontrollieren kann. Ihr fehlen die sozialen Barrieren. Psychischen und physischen Druck auszuüben, scheinen ihr eine direkte Bedürfnisbefriedigung zu sein, da sie ihrem eigenen Druck auf diese Weise hofft, minimieren zu können. Um wirklich zu einer delinquenten Tat zu schreiten, muss, nach Charles Tittle, dem Jugendlichen jedoch ein subjektiv wahrgenommenes Kontrollungleichgewicht vorliegen. Danielas Gedanken an einen Amoklauf zeigen, dass sie sich einem Kontrolldefizit gegenüber sieht. Nach Tittle befindet sie sich auf dem Grad des predation.[67]

[...]


[1] Vgl. hier und im Folgenden, http://www.eva- stuttgart.de/fileadmin/redaktion/pdf/download_material/Dokumentation_Fachtag.pdf, 10.2.2008.

[2] Vgl. hier und im Folgenden, Wallner, Claudia, Opfer, Gewinnerinnen oder Gestalterinnen ihrer Lebenswelt?, Über die Auswirkungen weiblicher Sozialisation auf Mädchen und junge Frauen, in: www.eva- stuttgart.de/fileadmin/redaktion/pdf/download_material/Dokumentation_Fachtag.pdf, 10.02.2008.

[3] Vgl. Büttner, Christian/Koschate, Miriam, Westliche Psychologie gegen Jugendgewalt weltweit, Plädoyer für eine kultursensitive Anwendung, Frankfurt, HSFK Report Ausgabe 5/2003, S. 18- 19.

[4] Vgl. hier und im Folgenden, Ewers, Hans-Heino, Zwischen Problemliteratur und Adoleszensroman, Aktuelle Tendenzen der Belletristik für Jugendliche und junge Erwachsene, in: Informationen des Arbeitskreises für Jugendliteratur, 2/1989, S. 10 – 12.

[5] Ewers, Hans-Heino, Literatur für Kinder und Jugendliche, Eine Einführung, München 2000, S. 106.

[6] Krauß, Thorsten, Grundlagenskript Kriminologie, JGG, Strafvollzug, 2005, S. 2.

[7] Vgl. Ebd., S.2.

[8] Ebd.,

[9] Ebd.,

[10] Ebd., S. 3.

[11] Vgl. hier und im Folgenden, Freud, Siegmund, das Ich und das Es, Metapsychologische Schriften, Frankfurt, 1992, S.273-330.

[12] Krauß, Thorsten, Reader Kriminologie, Marburg 2005, S.3.

[13] Vgl. Ebd., S. 5.

[14] Vgl. Freud, Siegmund, „Jenseits des Lustprinzips“, in: Gesammelte Werke, Bd. 13, 1920, S.1-

69

[15] Vgl. hier und im Folgenden, Krauß, Thorsten, 2005, S.7.

[16] Vgl. Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, S. 285 und 320.

[17] Vgl. Lombroso, .Cesare, Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte, 1846.

[18] Vgl. Möbius, ,Paul Julius, Über den psychologischen Schwachsinn des Weibes, 1902.

[19] Vgl. Cremer, Carl Gustav, Untersuchungen zur Kriminalität der Frau, 1974.

[20] Vgl. Geißler/Marißen, Kavalierstheorie, KZfSS 1988, 504 ff.

[21] Vgl. Schneider, Hans Joachim, Kriminologie, 1987, 364 f.

[22] Vgl. Krauß, Thorsten, 2005, S. 14.

[23] Vgl. Hier und im Folgenden, Rössner, Dieter, Die Erkenntnisse der Kriminologie zur
Kriminalitätsentstehung, 2006, S.2.

[24] Rössner, Dieter, 2006, S. 3.

[25] Vgl. Ebd.,

[26] Ebd., S. 4.

[27] Vgl. hier und im Folgenden, Robertz, Frank, 2004, S. 126-127.

[28] Vgl. Hirschi, Travis, Causes of Delinquency, Berkeley, 1969, S. 16-27.

[29] Vgl. Robertz, 2004, S. 129.

[30] Vgl. ebd., S. 131 ff.

[31] Robertz, 2004, S. 132.

[32] Pratt, Travis C., Cullen, Francis, T., The Empirical Status of Gottfredsons and Hirschi`s
General Theory of Crime, A Meta-Analysis, in: Criminology 38, 3, 2000, S. 931-932.

[33] Ebd., vergleiche hier und im Folgenden, S. 139.

[34] Ebd., vergleiche hier und um Folgenden, S. 141.

[35] Vgl. Braithwaite, John, Charles Tittle’s Control Balance and Criminological Theory, in:
Theoretical Criminology 1, 77-97, S. 93 f.

[36] Vgl. Wöbken-Ekert, Gunda, „Vor der Pause hab ich richtig Angst“, Gewalt und Mobbing unter
Jugendlichen. Was man dagegen tun kann, Frankfurt am Main 1998, S. 72.

[37] Ebd., S. 115

[38] Vgl S. 9 in dieser Arbeit.

[39] Siehe Anhang

[40] Vgl. Mathwes, Frederik, youth gangs: http://www.ctys.org/publications/documents/YGch1-2.pdf,
22.01.2008

[41] Vgl. hier und im Folgenden ,Büttner, Christian/Koschate, Miriam, Westliche Psychologie gegen
Jugendgewalt weltweit, Plädoyer für eine kultursensitive Anwendung, Frankfurt, HSFK Report,
Ausgabe 5/2003, S. 19-20.

[42] Büttner, Christian, HSFK Report, 5/2003, S. 18.

[43] Ebd., S. 19.

[44]Für Anneliese, mit der alles begann“

[45] Tondern, Harald, Wehe, du sagst was! Die Mädchengang von St. Pauli, 2000, S. 9-15.

[46] Ebd., S. 78.

[47] Huisken, Freerk, z.B. Erfurt, Was das bürgerliche Bildungs- und Einbildungswesen so alles

anrichtet, Hamburg 2002, S. 18.

[48] Vgl. Tondern, 2000, S.76.

[49] Ebd., Vgl. S.75.

[50] Vgl. Wöbken-Ekert, 1998, S. 118.

[51] Vgl. Tondern, 2000, S.75.

[52] Tondern, 2000, S. 56.

[53] Ebd., S. 113.

[54] Ebd., S.113.

[55] Ebd., S. 151.

[56] Ebd., S. 153.

[57] Vgl. Ebd., S.93.

[58] Vgl. Ebd., S. 117.

[59] Vgl. Ebd., S.94-95.

[60] Vgl. Hurrelmann, Klaus, Wie kommt es zu Gewalttaten an Schulen?, in: Rhue, Morton, Ich

knall euch ab!, Ravensburg, 2002, S.146-147.

[61] Tondern, 2000, S. 46.

[62] Ebd., S. 81.

[63] Vgl. Ebd., S. 83.

[64] Ebd., S. 77-78.

[65] Ebd., S. 46-47.

[66] Vgl., S. 15 in dieser Arbeit.

[67] Vgl. S. 18 in dieser Arbeit.

Ende der Leseprobe aus 149 Seiten

Details

Titel
"Mädchen und Gewalt" im Spiegel jugendliterarischer Neuerscheinungen
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Kinder und Jugendbuchforschung )
Veranstaltung
Examen
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
149
Katalognummer
V120634
ISBN (eBook)
9783640248209
ISBN (Buch)
9783640248087
Dateigröße
957 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mädchen und Gewalt, Maedchen und Gewalt, Jugendliteratur, Kontrolltheorien, weibliche Amokläufer, Tondern, Theisen, Amok, Schlieper, Kinder-und Jugenbuchforschung, Gewalt in Jugendbüchern, Gewalt in Jugendbuechern, Gewaltprävention, gewalttätige Frauen, aggressive Mädchen, soziale Kontrolltheorien, Gewalt und Jugendliteratur, Gewaltpraevention bei Jugendlichen, Gewaltpraevention durch Literatur, Germanistik, erhoehte Gewalt unter Frauen und Maedchen, Claudia Gottschalk, Gottschalk, Claudia
Arbeit zitieren
M.A. Claudia Gottschalk (Autor:in), 2008, "Mädchen und Gewalt" im Spiegel jugendliterarischer Neuerscheinungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120634

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