Kinder als Akteure in bewaffneten Konflikten

Soziokulturelle Dimension des Phänomens "Child Soldier" - Kindersoldaten


Diplomarbeit, 2005

90 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Begriffsklärung
1.1. Der kulturell differenzierte Terminus des Kindes
1.2. Der Kindheitsbegriff
1.3. Child soldiers

2. Konflikte in traditionellen Gesellschaften
2.1. Quellenlage und Interpretation
2.2. Abgrenzung der Kindheit
2.3. Motive und Ursachen
2.4. Zusammenfassung

3. Die Rolle des Kindes und seine Erziehung in komplexen Gesellschaften
3.1. Das antike Kind
3.2. Kinderrolle im Mittelalter
3.3. Die Umbruchsepoche der Aufklärung und ihr Kindheitsverständnis
3.4. Zusammenfassung

4. Minderjährige in Diensten bewaffneter Gruppen bis zum 21. Jahrhundert
4.1. Minderjährige in der römischen Berufsarmee der Kaiserzeit
4.2. Die Rolle des Knappen im 11. bis 15. Jahrhundert
4.3. Kinder in Konflikten des 16. und 17. Jahrhunderts
4.4. Kinder im amerikanischen Sezessionskrieg
4.5. Schüler in der deutschen Luftabwehr 1943-1945
4.6. Reflektion der Rekrutierungsbedingungen
4.7. Zusammenfassung

5. Strukturelle Veränderung bewaffneter Konflikte und ihre Auswirkungen bezüglich der militärischen Verwendung von Kindern
5.1. Die Genfer Abkommen
5.2. Entstehung der Kinderrechte
5.2.1. Die Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention
5.2.2. Weitere Abkommen zum Schutz des Kindes
5.3. Konfliktforschung
5.4. Wandel in der Konfliktstruktur und Intensität
5.5. Erfassung der Staaten mit minderjährigen Kombattanten
5.5.1. Allgemeine Ursachen
5.5.1.1. Konfliktdauer
5.5.1.2. Kleinwaffen
5.5.1.3. Fehlende Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten
5.5.1.4. Armut
5.5.2. Spezifische Faktoren
5.5.2.1. Physiologische Faktoren
5.5.2.2. Psychosoziale Faktoren
5.6. Aufgabenbereiche

6. Auswirkungen für die Minderjährigen und gesellschaftliche Relevanz
6.1. Psychosoziale Auswirkungen
6.2. Demobilisierung und Reintegration
6.3. Tendenzen

7. Resümee

8. Schlussbemerkung

9. Quellenangaben

Einleitung

Nach Angaben der Coalition to Stop the use of child soldiers (CSC) sind über eine halbe Million Kinder unter 18 Jahren in über 60 Ländern der Welt als Soldaten rekrutiert. Sie sind in staatlichen Armeen genauso eingebunden wie in bewaffneten Oppositionsgruppen. Etwa 300.000 dieser Kinder kämpfen derzeit in regulären Streitkräften und bewaffneten Milizen aktiv mit (vgl. CSC, Child Soldier Global-Reports 2001-2004).

Das Thema Kindersoldaten bzw. „child soldiers“ ist seit Mitte der 90er Jahre fester Bestandteil der medialen Berichterstattung. Offenbar hat sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ein neues Phänomen der Moderne konstituiert. Bilder von Kindern, die schwer bewaffnet vor den Kameras der Korrespondenten posieren, finden sich mittlerweile regelmäßig in den Kolumnen der Tagespresse. Aus dem Kontext der Berichterstattung geht dann hervor, dass es sich bei den Gezeigten in der Regel um Minderjährige afrikanischer Staaten handelt. Gelegentlich wird auch das Leben bewaffneter Kinder und Jugendlicher in den Krisengebieten Latein- und Südamerikas thematisiert.

Legt man das gesellschaftliche Interesse an volljährigen Gewaltakteuren zu Grunde, besteht offensichtlich ein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass es sich bei minderjährigen Kämpfern um etwas Außergewöhnliches handelt. Um den spezifischen Charakter dieser Erscheinung zu unterstreichen, wurde im Titel der Begriff des Phänomens gewählt.

Seit der Verabschiedung des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (UN- Kinderrechtskonvention) im November 1989, ist der Umgang mit Minderjährigen in bewaffneten Konflikten global reglementiert. Zudem widmen sich unter dem Dach der CSC eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen (NRO) dem Missbrauch Minderjähriger durch reguläres Militär und bewaffnete Oppositionsgruppen.

Vor diesem Hintergrund ist es Ziel der Arbeit, die kulturellen Antagonismen des „Phänomens“ Kindersoldaten zu untersuchen. Mittels einer Literaturrecherche soll geprüft werden, ob und gegebenenfalls welche soziokulturellen Aspekte die Teilnahme Minderjähriger an bewaffneten Konflikten begünstigen. In dieser Recherche steht die Betrachtung relevanter epochaler sowie kultureller Sozialisations- und Wertemuster im Fokus der Erörterung. Die Frage, ob es sich bei minderjährigen Gewaltakteuren tatsächlich um eine neuzeitliche Erscheinung handelt, wird ebenfalls thematisiert. Es soll zudem die Wahrnehmung der Kindheit und ihre kulturelle Wertigkeit untersucht werden, um diese in Relation zum Ausmaß minderjähriger Gewaltakteure zu setzen. Sinn dieser Ausarbeitung ist es, kontextrelevante traditionelle und gegenwärtige Handlungsweisen zu verdeutlichen, welche Aufschluss über die Motive einer Integration junger Menschen in bewaffnete Konflikte geben.

Zunächst werden wichtige Termini für den Diskurs erörtert. Danach gliedert sich die Arbeit in fünf Hauptteile, welche wiederum mehrere Unterabschnitte enthalten. Einführend wird die bewaffnete Konfliktführung der traditionellen Gesellschaften auf die Implementierung von Minderjährigen untersucht. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der allgemeinen Rolle des Kindes in den verschiedenen Epochen der komplexen Gesellschaften. Möglicherweise ist die differenzierte kulturelle Erziehung des Kindes mit verantwortlich für einen Sozialisationsverlauf, der die Einbindung in bewaffnete Auseinandersetzungen begünstigt. Die gewonnen Erkenntnisse werden anschließend zusammengefasst.

Nach erfolgter Klärung der unterschiedlichen kulturellen Bedeutung von Kindern bzw. Kindheit werde ich unter Berücksichtigung der entsprechenden Struktur militärischer Konflikte die epochale Verbreitung bewaffneter Minderjähriger bis zur Moderne aufzeigen. Der fünfte Teil soll einen Überblick über die veränderten Bedingungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geben. Dazu gehört vor allem die Analyse der modernen Konventionen und Kinderrechte. Ob der Strukturwandel militärischer Konflikte und die sich vereinfachende Waffentechnik zu den essenziellen Bedingungen für eine aktive Teilnahme Minderjähriger an Konflikten gezählt werden kann, soll ebenfalls thematisiert werden. Letztlich werde ich die Frage nach der gesellschaftlichen und kulturellen Relevanz thematisieren. Hier soll insbesondere versucht werden, den spezifischen Charakter des Phänomens „Kindersoldaten“ zu erfassen. Inhalt dieses Teils sind zudem die sozialen und psychischen Konsequenzen für die Minderjährigen selbst.

Die Analyse der soziokulturellen Tendenzen leitet den Abschluss der Arbeit ein, an deren Ende die gewonnen Erkenntnisse in einem Resümee evaluiert werden.

1. Begriffsklärung

Vor dem Hintergrund einer ethnologischen Beurteilung der Thematik ist es notwendig, bestimmte Begriffe zu erläutern. So gibt es eine Vielzahl signifikant kultureller Unterschiede bezüglich des Sinngehaltes bestimmter Vokabeln. Gerade die soziokulturelle Bedeutung des Kindes und die Interpretation von Kindheit unterliegen starken räumlichen und zeitlichen Schwankungen. Bevor man die Rolle Minderjähriger in bewaffneten Konflikten analysiert, ist daher vor allem eine Definition des Kinder- bzw. Kindheitsbegriffes nötig. Das Abstrahieren wichtiger Begriffe scheint unangebracht, da es ein objektives Verständnis der Thematik erschwert. Die Differenzierung der Sinngehalte bestimmter kultureller bzw. ethnischer Wortbedeutungen ist für die Bearbeitung der Thematik hingegen von elementarer Bedeutung.

1.1. Der kulturell differenzierte Terminus des Kindes

Anthropologisch betrachtet gibt es kein einheitliches Bild des Kindes. Obwohl es für die globale Diskussion notwendig wäre, existiert kein universales, soziokulturelles Verständnis des Kinderbegriffes. Dementsprechend schwer gestaltet sich auch die Eruierung individueller kulturspezifischer Kindheitsbedürfnisse. Generell kann man sagen, dass mit dem sprachlichen Ausdruck „Kind“ ein Mensch von der Geburt bis zur Geschlechtsreife bezeichnet wird (Ulrich 1999, S. 9). Diese relativ grobe Definition des Kindes lässt sich prinzipiell auf sämtliche Kulturen projizieren. Eine bestimmte Differenzierung nach Entwicklungsabschnitten der Kindheit, wie sie insbesondere im europäischen Raum üblich ist, kann jedoch nicht ohne weiteres globalisiert werden1.

Die abendländliche Vorstellung der Kindheit, welche die Pädagogik und damit auch die gesellschaftliche Bedeutung des Kindes in den westlichen Industriegesellschaften bis heute prägen, hat Lassahn (1983) skizziert. Er teilt in seiner „Pädagogischen Anthropologie“ die Epochen in vier relevante Bereiche ein:

1. Das Kind als Noch-nicht-Sein der Vernunft (Antike)
2. Das Kind als ein von der Erbsünde belastetes Wesen (Mittelalter)
3. Die Kindheit als das Goldene Zeitalter des Menschen (Spätaufklärung)
4. Das Kind als Genius und Künstler (19. Jahrhundert und Reformpädagogik) ( vgl. Lassahn 1983 ).

Da die Involvierung von Kindern in militärische Auseinandersetzungen wesentlich von der Destination des Kindes in seiner Epoche abhängt, gilt diese Gliederung im Kontext der Arbeit als Orientierung.

„’Das Kind’ als bloße Natursache gibt es also nicht. Es ist stets auch ein Konstrukt der Erwachsenen in einer Kultur, die eine spezifische Lebensform der Kindheit bereitstellt“ (Ullrich 1999, S. 9). Dies verdeutlicht die Schwierigkeit einer angemessenen universalen Bewertung des Umgangs mit Kindern. Vor dem Hintergrund der Thematik ist das Bild des Kindes „vor allem eine Einheit von (…) ethnischen Gesinnungen, die wir in die Partnerschaft mit dem Kind einbringen“ (Schmidt 1991, S. 34). Zwar gibt es bestimmte Verhaltensdispositionen, welche zweifellos allen Kindern eigen sind, ebenso ist der körperliche und geistige Entwicklungsprozess ein offensichtliches Kriterium, welches Kinder von Erwachsenen abgrenzt. Bezüglich der soziokulturellen Rolle des Kindes gibt es jedoch keine einheitlichen Maßstäbe bzw. Altersgrenzen. Das Kind bleibt ein Konstrukt des jeweiligen Kulturraumes. Begriffe, wie „altersgemäß“ oder „kindgemäß“, sind Termini, welche von der pädagogischen Kindheitsforschung der Verhaltensbiologie bzw. der Entwicklungspsychologie gebraucht werden. Die Wissenschaft lässt dabei außer Acht, „(…) daß ihr Forschungsgegenstand (das Kind, d. Verf.) ein immer schon historisch-gesellschaftlich geprägter Typ von Kindheit in einer bestimmten Kultur ist. Was ihnen also als eine universell notwendige Entwicklung gilt, vollzieht sich auch auf der Grundlage kultureller Form- und Normsysteme, ist daher immer nur eine Möglichkeit innerhalb eines viel weiteren Spielraumes“ (Ullrich 1999, S. 12).

Allein diese Tatsache lässt die vielfältigen internationalen Richtlinien und Bestimmungen zum Wohle des Kindes in einem kritischen Licht erscheinen. Der größte Teil der heutigen Kindersoldaten sind nach westlichem Verständnis klassische Jugendliche, das heißt Personen zwischen dem vollendeten 14. und 18. Lebensjahr (vgl. CSC, Global-Report 2001). Überwiegend kommen diese Kombattanten in Afrika bzw. Asien zum Einsatz. In den betreffenden Regionen existieren unterschiedliche Traditionen und Bräuche, welche den Übergang vom Kind zum Mann bzw. zur Frau definieren.

Erstaunlich ist in Anbetracht der traditionellen kulturellen Gepflogenheiten des afrikanischen Kontinents die Altersdefinition des Kindes in der african Charter on the rights and walfare of the child2, welche sich mit den Rechten des Kindes in Afrika beschäftigt. In dieser Charta heist es in “chapter one: rights and walfare of the child

(…) Article 2: Definition of a child `For tile purposes of this Charter. A child means every human being below the age of 18 years’“. Denn selbst im überwiegend christlich geprägten Süden Afrikas dürfte der Beginn einer selbstständigen Lebensführung, entgegen der Charta, unter dem Alter von 18 Jahren liegen. Die Sozialisationsphasen laufen im Vergleich zur individualisierenden Lebenswelt der entwickelten Gesellschaften nach anderen Mustern ab. In vielen traditionell orientierten Gesellschaften entfällt die Phase der Adoleszenz quasi völlig und nach der Initiation erfolgt die Volljährigkeit (vgl. Krebs 2001, Eibl-Eibesfeldt 1997). Eine einheitliche Definition des Kind-Begriffes, welche allen kulturellen Eigenarten der Kinderrolle gerecht wird, kann es auf Grund dessen nicht geben. Im Kontext der Arbeit werden zur Vereinfachung alle Personen unter 18 als Minderjährige bzw. Kinder determiniert. Dies erscheint zudem sinnvoll, da auch die UN-Kinderrechtskonvention das Alter der Volljährigkeit mit 18 Jahren beziffert. Entsprechend heißt es in Artikel 1 der Konvention: „Im Sinne dieses Übereinkommens ist ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt.“3 Der Einfachheit halber wird bezüglich der Begrifflichkeit auf eine geschlechtliche Differenzierung verzichtet. Im Kontext signifikanter Eigenschaften von Kindersoldaten werden geschlechtsspezifische Unterschiede jedoch berücksichtigt. Selbstverständlich sind mit der Bezeichnung Kindersoldaten auch die weiblichen Kombattanten gemeint, wobei der englische Ausdruck child-soldier sinnvoller Weise geschlechtsneutral ist.

1.2. Der Kindheitsbegriff

Prinzipiell unterscheidet sich die gesellschaftliche Funktion des Kindes in individualistischen Gesellschaften erheblich vom Kindheitsbild traditioneller Stammesgemeinschaften. Die menschliche Kindheit kann daher durchaus als Kulturphänomen betrachtet werden. Im Gegensatz zum Begriff „Kind“, welcher eher den biophysiologischen Entwicklungsprozess betont, eignet sich der Mensch in der Kindheit sämtliche Verhaltensweisen und Fähigkeiten an, die er für seine spezifische kulturelle Lebenswelt benötigt. Diese Fähigkeiten differieren räumlich sehr stark. Schulpflicht und berufliche Spezialisierung haben in den letzten 250 Jahren in den entwickelten Gesellschaften zu einer starken Wandlung bezüglich Inhalt und Form des Lernstoffes geführt. Diese Wandlung ist verbunden mit einem hohen Maß an innergesellschaftlicher Komplexität und Dynamik (vgl. Forster & Krebs 2001, S. 112). Traditionell orientierte Gesellschaften sind hingegen tendenziell eher unflexibel. Grundsätzlich streben beide, sowohl traditionelle wie moderne Gesellschaften, nach einer optimalen Anpassung an ihre ökologischen Bedingungen. Überall nutzen Menschen nach ihren Möglichkeiten die sie umgebende Natur. Der Erwerb der dazu notwendigen kulturspezifischen Fähigkeiten war und ist daher universaler Zweck der Kindheit. In dieser eingeschränkten Form findet Kindheit demnach in allen Kulturen statt (ebd.). Der typisch individuell-emanzipatorische Charakter der heutigen westlichen Gesellschaften hat sich jedoch erst relativ spät entwickelt. Der heutige Kindheitsbegriff, wie wir ihn interpretieren, ist möglicherweise nur ein vorläufiges Ideal, wie es vor allem für den abendländlich-christlichen Raum typisch ist. Kindheit war, das werden spätere Kapitel zeigen, daher auch in den verschieden Epochen nie statisch.

1.3. Child soldiers

Der Begriff des Kindersoldaten wurde in einer Publikation von Ludwig Schätz4 zum ersten Mal 1972 in der Literatur verwendet. Zu dieser Zeit fand das Wort Kindersoldat allerdings noch keine Verwendung im wissenschaftlichen Diskurs. Bereits 1949 ist im 2. Zusatzprotokoll des Genfer Rotkreuzabkommens festgelegt worden, dass jeder bis zum 15. Lebensjahr als Kind gilt. Die UN-Kinderrechtskonvention vom 5. Dezember 1989 definierte Kinder später als jeden Menschen unter 18 Jahren. Wobei sie sich aber an den jeweiligen staatlichen Regelungen der Volljährigkeit orientierte. Im Kontext der Rekrutierungsgepflogenheiten der einzelnen Staaten wird seit dem Zusatzprotokoll von 2000 Wert darauf gelegt, dass keine Person unter 18 Jahren an Kampfhandlungen teilnimmt bzw. obligatorisch rekrutiert wird5. Auf Grund dieser Klausel können alle Personen, welche das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht haben und in regulären wie irregulären Streitkräften „Dienst tun“, als child soldiers bezeichnet werden. Untermauert wird diese Bestimmung durch die Definition der Cap town principles , welche entsprechend erläutert: “Child soldier' in this document is any person under 18 years of age who is part of any kind of regular or irregular armed force or armed group in any capacity, including but not limited to cooks, porters, messengers and anyone accompanying such groups, other than family members. The definition includes girls recruited for sexual purposes and for forced marriage. It does not, therefore, only refer to a child who is carrying or has carried arms.”6,

In dieser Erklärung wird ausdrücklich betont, dass sowohl die Art der Streitkräfte als auch die ausübende Funktion, in der Kinder eingesetzt werden, unerheblich für die Determinierung sind. Entscheidend ist die Tatsache, dass unter 18-Jährige in irgendeiner Weise innerhalb von „armed groups“ tätig werden. Diese recht großzügige Auslegung des Begriffs child soldiers hat sich vor allem in Publikationen der involvierten NRO durchgesetzt. Obwohl die Cap town principles keine Konvention darstellen und ebenso wenig völkerrechtliche Verbindlichkeit besitzen, kommt ihrer Definition des child-soldier im Diskurs Allgemeingültigkeit zu.

Vor dem ethnologischen Hintergrund ist diese Interpretation nicht unproblematisch. Der Begriff Kindersoldat ist generell in sich widersprüchlich, da er der interkulturellen Disposition von Minderjährigen nicht gerecht wird. Zudem suggeriert die Begrifflichkeit child-soldier, dass die betreffende Person in irgendeiner Weise besoldet wird. Die Unterstellung ausschließlich ökonomischer Motive für eine gewaltsame Auseinandersetzung wird den vielfältigen Beweggründen minderjähriger Akteure aber nur bedingt gerecht und ist insbesondere für einen Großteil der Kinder in traditionellen Gesellschaft unerheblich, wie ich später noch darlegen werde.

Neben dem Ausdruck child-soldier existieren noch eine Reihe anderer Begriffe, die, je nach Region und Epoche, Minderjährige in bewaffneten Konflikten titulieren. Da im öffentlichen Diskurs üblicherweise der Begriff Kindersoldat bzw. child-soldier Verwendung findet, sind andere Bezeichnungen für den Kontext aber nicht relevant. Der Begriff child-soldier ist kein wissenschaftlicher Terminus und findet sich daher nicht in den entsprechenden Konventionen der UN-Kinderrechte.

2. Konflikte in traditionellen Gesellschaften

Nach Erkenntnissen der Ur- und Frühgeschichte der Archäologie und Völkerkunde kann davon ausgegangen werden, dass gewaltsame und mit Waffen ausgetragene Konflikte so alt wie die Menschheit sind (vgl. Eibl-Eibesfeldt 1975). Bewaffnete Auseinandersetzungen bei den so genannten Natur- oder traditionellen Völkern unterscheiden sich jedoch auf Grund sozio-ökonomischer Bedingungen in erheblichem Maße von den Konflikten komplexer Großgesellschaften. Auch wenn die quantitative Dimension traditioneller Gesellschaften heute kaum noch von Bedeutung ist, so sind doch gegenwärtig insbesondere in „ehemaligen“ Stammeskulturen bewaffnete Minderjährige in verschiedenen Konflikten involviert (vgl. CSC, Global- Reports 2001-2004). Die brutale Bekämpfung der meisten indigen Völker führte (und führt) in nicht wenigen Fällen zur Ausrottung ganzer Stämme7. Diejenigen, die die Kolonialisierung überlebten, konnten nur in wenigen Fällen ihre kulturelle Identität bewahren und wurden später zumeist im christlichen oder islamischen Sinne assimiliert. Daher sollte in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, dass die zentral- und südafrikanischen Staaten, mit Ausnahme Liberias und Äthiopiens (dem früheren Abessinien), künstliche Gebilde der europäischen Kolonialisten darstellen, welche diese ohne Rücksicht auf ethnische und kulturelle Identitäten bis Anfang des 19. Jahrhundert konstituierten (vgl. Harding 1999).

Der Staat mit seinen zentralen Gesetzgebungs- und Steuerungsinstanzen und dem Anspruch auf das alleinige Gewaltmonopol ist an die Stelle traditioneller Konfliktlösungsstrategien getreten. Staaten können die gewaltsam ausgetragenen Konflikte von innerstaatlichen Subkulturen oder Ethnien nicht tolerieren, da diese letztlich die staatliche bzw. die jeweilige legislative Autorität in Frage stellen und unter Umständen die Herrschenden beseitigen können. In egalitären Stammesgesellschaften erfüllt der mit Gewalt ausgetragene Konflikt jedoch nicht selten stabilisierende Funktionen oder verhindert größere Eskalationen und trägt so zu einer längerfristigen Befriedung bei (vgl. Eibl-Eibesfeld 1975).

Betrachtet man die Geschichte der Kriege der europäischen Gesellschaften mit ihren Massenheeren und dem spezialisierten sozio-ökonomisch hohen Niveau, fällt es mitunter schwer, die bewaffneten Konflikte traditioneller Gesellschaften ethnologisch zu bewerten. Die Divergenz in der Intensität, Frequenz und Motivation der Konfliktführung zwischen entwickelten und traditionellen Gesellschaften hat häufig dazu geführt, dass der Begriff Krieg nur auf die bewaffneten Auseinandersetzungen angewendet wird, in denen sich auf das Kriegshandwerk spezialisierte Formationen gegenüberstehen8 (vgl. Wahl 1999, S. 13). Daher existieren in der modernen Konfliktforschung zwar eine Reihe von Definitionen des Krieges, welche sich jedoch meist nur auf die gegenwärtigen bzw. neuzeitlichen Konflikte beziehen. Von diesen ist die Interpretation der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) der Hamburger Universität die im deutschsprachigen Raum wohl am häufigsten rezitierte9. Auf die Konfliktstruktur und das Konfliktmotiv traditioneller Gesellschaften lassen sich moderne Definitionen jedoch nur bedingt übertragen, so dass verschiedene Autoren andere Klassifikationen oder überhaupt keine wählen, um der speziellen Signifikanz indiger Gemeinschaften besser gerecht zu werden. So ergänzt Vivelo (1981) den Begriff des Krieges auf Grund des geringeren Maßstabes und der vorherrschenden Sozialstruktur bei autochthonen Stammesgemeinschaften durch den Begriff der Fehde (S. 209).

Berücksichtigt werden muss zudem, dass auch traditionelle Kulturen keiner Statik unterliegen, sondern in ihrer Konfliktbewältigung insbesondere seit den letzten 300 Jahren durch die Europäer mehr oder weniger beeinflusst wurden. So hat nicht zuletzt die Verbreitung moderner Waffen in manchen Ethnien zu einer vollkommenen Deregulierung einer bis dato streng reglementierten und formalisierten

Konfliktführung geführt (vgl. Eibl-Eibesfeldt 1997)10. An den bewaffneten Auseinandersetzungen der Naturvölker waren keine regulären „Streitkräfte“ beteiligt und die Zahl der Krieger erreichte in keinem Fall die der Soldaten der römischen oder napoleonischen Kriege (vgl. Wahl 1999). Ebenso ist die Funktion eines Kriegshäuptlings, welchem sich im Streitfall die jungen Männer freiwillig anschließen, kaum mit den strategischen Aufgaben einer Heeresleitung zu vergleichen. Traditionell organisierte Ethnien verfügen zudem über keine Schichtung und Differenzierung des Gewaltapparates wie er für komplexe Großgesellschaften typisch ist. Institutionen, wie die Polizei, welche die innergesellschaftliche Ordnung regulieren, sind auf Grund der geringen sozialen Schichtung ebenso unbekannt wie andere Gewaltakteure neben denen des Kriegers. Es bedarf daher einer Relativierung der Maßstäbe, welche man bei den konfliktführenden Siedlungsgemeinschaften zu Grunde legt. So belief sich in früheren Stammeskonflikten die Anzahl der Krieger oft nur auf einige Dutzend oder Hundert, die allerdings häufig einen größeren Prozentsatz der Mitglieder im wehrfähigen Alter umfassten als in entwickelten Gesellschaften. Der Grad der Zerstörung und die Anzahl der Opfer waren in nicht wenigen Fällen beträchtlich und übertrafen bisweilen die relativen Verluste in Kriegen höher entwickelter Gesellschaften. So berichtete W. L. Warner (1930), dass bei den Murngin von 700 erwachsenen Männern 200 oder 28 Prozent im Kampf gefallen seien (S. 457-494). Eine ähnlich hohe Todesrate stellte N. A. Chagnon (1988) bei den Yanomami fest.

Die vermeintliche Tatsache, dass sich Stammeskonflikte in der heutigen Zeit offenbar weit abseits der so genannten zivilisierten Welt vollziehen, erweist sich jedoch als Trugschluss. Auch wenn die Konfliktgründe bestimmter Bürgerkriege durchaus vielfältig sind, sind sie doch in einigen Regionen der Erde nach wie vor eng mit der Stammeszugehörigkeit und einer entsprechenden Haltung zu Werten und Moralitäten verbunden. Verwiesen sei hier nicht nur auf Afrika, sondern auch auf die spezifischen ethnischen Konflikte des Kosovo oder des kaukasischen Raumes (vgl. Wahl 1999).

2.1. Quellenlage und Interpretation

Die Untersuchung der Konfliktführung traditioneller Gesellschaften gestaltet sich seit jeher als schwierig, vor allem weil sich kriegerische Auseinandersetzungen nur bedingt zur teilnehmenden Beobachtung eignen. So gibt es zwar über nahezu jeden europäischen Konflikt ausführliche schriftliche Aufzeichnungen, was vordergründig daran liegt dass die Autoren häufig selbst an den Konflikten teilnahmen oder zumindest von ihnen unmittelbar betroffen waren. Für die Kämpfe indiger Völker gegeneinander und gegen europäische Eindringlinge trifft dies aber nur begrenzt zu (vgl. Bräunlein, Lauser 1995). Das Erste, was die Kolonialisten nach der Annexion fremden Territoriums häufig unternahmen, war zudem die Entwaffnung der autochthonen Bevölkerung. Dies geschah einerseits, weil für die Abschröpfung von Ressourcen die Befriedung der Stämme Grundvorrausetzung war, aber auch, weil amerikanische, ozeanische und afrikanische Stämme den Kolonialisten zum Teil erheblichen und langen Widerstand leisteten (vgl. Wahl 1999, Krebs 2001). Die Mitglieder kriegerischer Gesellschaften hatten zudem kein gesteigertes Interesse daran, vor den neugierigen Augen fremder Menschen, meist Angehörige der überlegenen Kolonialmacht, kriegerische Handlungen auszuüben (vgl. Bräunlein, Lauser 1995).

Das Innere Afrikas und der amerikanischen Subkontinente blieb den Europäern bis zum 19. Jahrhundert fast völlig unbekannt. Zudem verfügten die Ethnien dieser Gebiete über keine entwickelte Schrift, so dass die Quellenlage meist aus den Aufzeichnungen der ersten Reisenden, Missionare und Kolonialisten besteht. Hieraus ergibt sich in Hinblick auf die Interpretation eine besondere Problematik. Generell sind die Berichte der ersten Siedler, die den außereuropäischen Raum betraten und Erfahrungen mit fremden Kulturen machten, im Kontext des christlich-europäischen gesellschaftlichen Werte- und Normensystems zu beurteilen. Dementsprechend sind diese Ausführungen der Konquestatoren durchsetzt von xenophobischen Stereotypen und von Hinweisen auf bizarre Grausamkeiten der "Anderen" (vgl. Vivelo 1981). Ungeachtet der brutal geführten europäischen Religionskriege im 15. und 16. Jahrhundert wurde unter Verweis auf die heidnische Unkultur amerikanischer und afrikanischer Stämme versucht, in den Kolonialstaaten Mittel für die Missionierung zu mobilisieren. Die ersten Berichte der Missionare, welche das europäische Festland erreichten, waren nicht nur nicht wertfrei, sondern auch zweckgebunden. So waren die französischen Jesuiten, die den Norden Amerikas missionierten, verpflichtet, jährlich einen ausführlichen Bericht an ihren Provinzial nach Paris zu schicken (vgl. Schormann 2001, S.14). Begünstigt wurde das zumeist sehr negativ gezeichnete Bild autochthoner Gesellschaften durch die matrilineale Organisation vieler Stämme und einer weitestgehenden Egalität (vgl. Eibl-Eibesfeld 1970, 1997; Wahl 1999). Beides passte nicht zur christlichen Vorstellung von der gläubigen, patrilinearen und hierarchisch aufgebauten Idealgesellschaft. Mit Beginn der Aufklärung verklärte sich das Bild des blutrünstigen unterentwickelten Wilden zunehmend ins Gegenteil. Zwei Grundannahmen bestimmten ab dem 17. Jahrhundert die biologischen

Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften der europäischen Philosophen und inspirierten auch die Völkerkunde bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts; Der Mensch als Bestie, dessen aggressives Verhalten nur durch gesellschaftliche Instrumente im Zaum gehalten werden kann, und der Mensch als im Naturzustand friedfertiges Wesen, welcher plakativ formuliert eine gewisse negative gesellschaftliche Implementierung erfahren muss, um Aggressivität11 zu entwickelten (vgl. Bräunlein, Lauser 1995). Vor allem die französischen Denker Michel de Montaigne (1533-1592) und Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) wollten bei den neu entdeckten Menschen größere Freiheiten, Ungezwungenheit und Unschuld im Gegensatz zu ihren eigenen Gesellschaftsstrukturen erkannt haben (vgl. Montaigne 1989, Rousseau 1993). Es entwickelte sich daraus eine beachtliche Tradition, die in gesellschaftskritischer Absicht den "Naturzustand" der Wilden zum positiven Gegenbild der eigenen Gesellschaftsordnung verklärte (ebd).

Im Spannungsfeld zwischen Ethnologie, Behaviorismus, Psychoanalyse und der Soziologie lassen sich kaum Modelle herausarbeiten, die es erlauben, ein abstrahierbares Konstrukt zu entwickeln, welches die Entstehung kriegerischer Konflikte in allen Ethnien formelhaft erklären kann. Gerade die Vielfalt wissenschaftlicher Erklärungsversuche führt nach Meinung von Bräunlein & Lauser (1995) zu einem besonderen Paradox, nämlich, dass trotz wachsender wissenschaftlicher Erkenntnisse Generalisierungen immer unmöglicher werden, sogar für relativ kleine Räume. Die besondere Schwierigkeit, Ursachen für den bewaffneten Konflikt und das Verhalten ihrer Protagonisten ausreichend zu erklären, liegt daher einerseits in der „Objektivität“ der Quellen und andererseits in den unterschiedlichen und zum Teil konträren wissenschaftlichen Theorieansätzen und Hypothesen.

Außereuropäische Völker wurden niemals unvermittelt wahrgenommen. Stets wurde diese Wahrnehmung gefiltert durch abendländische Bedürfnisse, Idealvorstellungen und Eigeninteressen (ebd). Seit den 50er Jahren ist eine intensivere, theoriegeleitete ethnologische Erforschung von Kriegen nichtstaatlicher Gesellschaften festzustellen. Die Frage nach den Ursachen von Stammeskriegen stand und steht dabei im Mittelpunkt des Interesses, in welchem sich nach Meinung von Bräunlein & Lauser (1995) nicht zuletzt auch aktuelle Weltkonflikte, insbesondere der Kalte Krieg und der Vietnamkrieg, widerspiegeln (S. 18). Eine vollkommen wertfreie ethnologische Forschung kann es nicht geben, da die Interpretationen derer, die sich mit dem Verhalten von Menschen beschäftigen, immer auch im Kontext des „Zeitgeistes“ und der gesellschaftlichen Bedingungen ihrer eigenen Kultur gesehen werden müssen.

2.2. Abgrenzung der Kindheit

Anders als bei komplexen entwickelten Gesellschaften, welche die soziale Reife und die damit verbundenen Rechte und Pflichten wie auch den Militärdienst quasi per Verwaltungsbeschluss einleiten und sie zwingend an ein bestimmtes Alter knüpfen, wird diese in vielen Gesellschaften des subsaharischen Afrikas, Melanesiens, Australiens und Amerikas traditionell durch die Initiation veranlasst. Die Initiation ist eine Reifefeier, in der die Jungen, seltener die Mädchen, auf die Aufnahme in die Erwachsenengruppe vorbereitet werden (vgl. Popp 1969, S. 8). Mit dem Statuswandel wird den Neophyten die Kleidung der Erwachsenen zugestanden, und sie gelten als

„volljährig“ und heiratsfähig. Nach Eibl-Eibesfeldt (1997) spielen vor allem in den Initiationsritualen der Männer Isolation, Einschränkungen und Infantilisierung als Mittel des Gefügigmachens eine große Rolle, wobei die Jungen dabei oft grausam behandelt werden (S. 818). Begründet wird diese Prozedur mit der notwendigen Schaffung eines Gruppengeistes, die dem Initianten ein die Familie übergreifendes Gruppenethos aufprägt.

Männer müssen über die natürliche Loyalität gegenüber ihrer Familie hinaus eine Loyalität zur Gruppe entwickeln, für die sie sich im Ernstfall aufopfern; das erfordert eine besondere Indoktrination mit den Werten der Gruppe (ebd). Hat man die Initiation überstanden, stiftet dies ein starkes Band der Zusammengehörigkeit (S. 819).

Die Rolle der Frau ist hingegen klarer definiert. Da sie nach der Heirat in der Regel ihre Familie verlässt, darf sie ideologisch nicht allzu sehr auf eine bestimmte Gemeinschaft fixiert werden. Frauen haben damit eine natürliche Machtposition, während der Mann sich in der Auseinandersetzung mit anderen erst bewähren muss, sei es als Jäger, Krieger, Pflanzer oder Anführer (ebd.). Popp (1969) unterscheidet bei der Initiation zwischen Altersklassen- und Bünde-Initiation. Erstere wird beispielsweise vom ostafrikanischen Volk der Massai zelebriert. Bei ihnen werden alle innerhalb von mehreren Jahren beschnittenen Knaben in einer Altersklasse zusammengefasst. Alle männlichen Massai durchlaufen in ihrem Leben die Stufen des Rekruten, Kriegers und Alten, wobei der Vater jeweils synchron zu seinem Sohn eine Stufe höher initiiert wird (vgl. Popp 1969, S. 10). Wichtig ist im Kontext, dass die Initiation nicht automatisch mit der physiologischen Pubertät zusammenfallen muss, da diese eine Komponente darstellt, welche sich in allen Ethnien in höchst unterschiedlichem Alter vollzieht12. Die physiologische Pubertät spielt für die Initiation nur eine sehr geringe Rolle. Alle Initiationszeremonien richten sich im Wesentlichen nach der Beschäftigung, die der Erwachsene später ausführen möchte (Jäger, Krieger, etc.). So kann sich die Initiationspraktik eines zukünftigen Schamanen über einige Jahre erstrecken (S. 12). Den eklatanten Bezug zur physiologischen Reife, wie er für die entwickelten Gesellschaften offenbar elementar ist, kennen traditionelle Gesellschaften nicht. Dies führt dazu, dass zum Beispiel die indischen Toda ihre Mädchen mit drei Jahren verloben. Ausdrücklich vor der physiologischen Pupertät sollte die Defloration erfolgen13, geschieht dies nicht, könnten sich die Männer später weigern, das Mädchen zu heiraten. Die Heiratszeremonie selbst erfolgt hingegen nicht vor dem 15. oder 16. Lebensjahr (vgl. Popp 1969, S. 17). Erste sexuelle Beziehungen sind in der Regel an die einsetzende physiologische Pubertät von Jungen wie Mädchen geknüpft und bedürfen nur selten einer besonderen Reglementierung. Die Heirat dagegen erfordert ein bestimmtes soziales und materielles Niveau des Mannes, daher ist sie auf Grund der Subsistenzgewährleistung selten vor dem 17. Lebensjahr des Mannes zu erreichen. Es gibt jedoch durchaus Ethnien, bei denen das Heiratsalter extrem höher bzw. um einiges niedriger liegen kann14. Die Heirat markiert in fast allen traditionellen Kulturen den vollendeten Übergang in das Erwachsenenalter (vgl. Eibl-Eibesfeld 1997, Krebs 2001).

Bei der Initiationshandlung des Beschneidens15 wird die fehlende Kopplung an ein bestimmtes Alter besonders deutlich.

„Bei vielen Völkern wird die Operation nur in ziemlich großen Zwischenräumen (…) vorgenommen, so daß Kinder verschiedenen Alters zur gleichen Zeit beschnitten werden. (…) So stellt man fest, daß in den von Doutte (1904) erforschten Gebieten Marrokos das Alter bei der Beschneidung in Dukalla zwischen dem siebten oder achten Tag nach der Geburt bis zum zwölften oder dreizehnten Lebensjahr schwankt ; daß es bei den Rahuna zwischen den zweiten und fünften Jahr liegt; in Fez zwischen dem zweiten und zehnten, in Tanger um das achte Lebensjahr, bei den Djabala zwischen dem fünften und zehnten, um Mogadir zwischen dem zweiten und vierten, in Algerien zwischen dem siebten und achten“ (Popp, 1969, S. 17).

Bei dem bereits erwähnten Stamm der Massai tritt die physiologische Pubertät etwa im Alter von zwölf Jahren ein. Die Beschneidung wird dann baldmöglichst durchgeführt, kann jedoch noch bis zum Alter von etwa16 Jahren erfolgen. Die Wahl des richtigen Zeitpunktes ist dabei von mehreren Faktoren abhängig. Der Junge sollte vor allem ausreichend kräftig sein, damit er den Eingriff gut verkraftet. Entscheidend ist jedoch insbesondere die materielle Situation der Familie. Wenn die Eltern reich sind und für die Kosten aufkommen können, wird die Beschneidung so früh als möglich durchgeführt, sind sie ärmer, wartet man etwas länger (vgl. Popp 1969, S. 27). Dies verdeutlicht den hohen sozialen Status der Initiation und zeigt seine Unabhängigkeit zur physiologischen Pubertät. Wird die Initiation eines Jungen mit zwölf Jahren vollzogen, gehört er zusammen mit den älteren Beschnittenen der ersten

Altersklasse an und wird murrani, Krieger, genannt (ebd.). Es ist daher nicht ungewöhnlich, wenn bereits Zwölf und Dreizehnjährige auf Jagd- und Kriegszüge gehen, Kinder sind sie innerhalb ihres Sozialraumes keinesfalls mehr. Bei den zentralafrikanischen Bambuti (sog. Pygmäen) setzt die Phase des Erwachsenenalters mit der Pubertät ein; wenn der junge Mann ein größeres Stück Wild erlegt hat, erhält er von seinem Vater den Jägerschlag und ist ein erwachsener Mann (vgl. Krebs 2001, S. 107). Die Beschneidung ist mit Abstand das am weitesten verbreitete Ritual, das meist jedoch nicht immer die Phase des Erwachsenenalters einleitet. So erfolgt auch bei den Herero, die sich weitestgehende kulturelle Identität bewahren konnten, der Übergang im Alter zwischen sieben und zehn Jahren durch die Beschneidung.

„Wenn die Wunden verheilt sind, gelten die Knaben als Männer und sind diesen in allen Dingen ebenbürtig“ (S. 133). Die erwähnte starke Varianz des Zeitpunktes der Beschneidung verdeutlicht die sehr unterschiedliche ethnische Auffassung über den geeigneten Moment des Eintritts in die Erwachsenenphase. Eine verbindliche, determinierte Volljährigkeit ab 18 Jahren, wie sie beispielsweise die UN- Kinderrechtskonvention vorsieht, sollte daher vor dem Hintergrund traditioneller Lebensentwürfe relativiert werden. Berücksichtigt werden muss zudem die allgemein niedrige Lebenserwartung in den meisten traditionellen Kulturen und die geringe soziale Schichtung. Beide Faktoren erfordern schon frühzeitig Subsistenzbeiträge der Kinder. Die Subsumierung traditioneller Bräuche unter völkerrechtlich sinnvolle Schutzrechte für Kinder erweist sich vor dem Hintergrund jahrhundertealter Gepflogenheiten daher als äußerst schwierig. Die Massai stehen mit diesem Altersklassenmodell hier nur stellvertretend für eine Vielzahl der traditionellen Gesellschaften, welche die soziale Reife nur in latente Beziehung zu einem bestimmten Alter setzen. Nicht überall vollzieht sich die Aufnahme der Kinder in die Erwachsengemeinschaft im Alter zwischen zwölf und 16 Jahren wie bei den Massai. So bleiben die Jungen der Khoi (sog. Hottentotten) bis zum Alter von etwa 18 Jahren in der Gemeinschaft der Frauen. Die Kinder der Elema in Papua Neuguinea erfahren ihre erste Initiation bereits mit fünf Jahren, die zweite mit zehn und die dritte erst viel später (vgl. Popp 1969, S. 16). Es kann jedoch herausgestellt werden, dass der Aufstieg in eine höhere Klasse in den meisten Stammesgesellschaften, welche die Gliederung in Altersklassen kennen, entscheidend von der Tapferkeit des Kriegers abhängig ist, das Alter allein ist hingegen von geringer Bedeutung (vgl. Popp 1969, S. 29). Verwiesen sei in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Tatsache, dass insbesondere in den afrikanischen Kulturen nach wie vor die Stammessozialisation mit ihren Initiationsriten großen Einfluss auf die Entwicklung des Nachwuchses hat. Besonders bei Ethnien mit einer ausgeprägten Kriegerkaste, wie bei den Massai oder Zulu, warten die Jungen auf ihre durch die Initiation eingeleitete Aufnahme in das Kriegerquartier. Krebs (2001) betont, dass vor allem bei den Massai mit zunehmendem Alter der Wunsch, Krieger zu werden, größer wird. Dieses Verlangen wird durch das geringere soziale Ansehen als Hirte, aber vor allem mit den eingeschränkten Rechten begründet; so darf man z.B. nur einen einfachen Umhang tragen, keinen Ohrläppchenschmuck, keinen Kriegerspeer und keine sexuellen Kontakte haben (vgl. Krebs, 2001, S. 185).

Mit der Zunahme komplexer gesellschaftlicher Verwaltungsstrukturen, der Spezialisierung von Tätigkeiten und des technischen Fortschrittes in Europa, trat die Initiation als soziale Instanz zunehmend in den Hintergrund und ihre Aufgaben wurden durch Bestimmungen der Verwaltung übernommen bzw. institutionalisiert. In vorindustriellen Gesellschaften wachsen Kinder nach dem Abstillen in der Kinderspielgruppe heran, welche aus Kindern verschieden Alters und Geschlechts besteht. In ihr vollzieht sich nach Eibl-Eibesfeld (1997) der wesentliche Anteil der Sozialisation des Kindes. In einer Kinderspielgruppe unterweisen und führen die älteren Kinder und sie tradieren ihr reichhaltiges Spielwissen. Über den Zeitpunkt, ab dem von den Kindern oder Jugendlichen eine gewisse Wehrhaftigkeit erwartet wird, lässt sich diesbezüglich feststellen, dass nur sehr wenige Ethnien über eine ausgeprägte Kriegerkaste verfügen, dazu gehören in Afrika im Prinzip nur noch die Massai. Insbesondere bei den Zulu, welche noch bis vor ca. 150 Jahren einen enormen militärischen Faktor in der Region darstellten, wurde nach der Zerschlagung des Königreiches Chaka jegliches militärisches Training und die Aufstellung von Kriegerregimentern durch die Kolonialmacht England unter Strafe gestellt (vgl. Krebs 2001, S. 174). Neben den traditionellen Kriegerkasten der Massai und Zulu üben in Afrika noch die Jungen der Khoi ab einem Alter von ca. acht Jahren und der Ama Xosa ab ca. zwölf Jahren den Umgang mit traditionellen Waffen (vgl. Krebs, 2001). Kampfspiele und die spielerische Waffenübung sind unter den männlichen Mitgliedern traditioneller Gesellschaften fast überall verbreitet, wenngleich der fachliche und organisatorische Umfang dieser Übungen nur selten so ausgeprägt ist wie beispielsweise bei den Massai.

Kindheit und Volljährigkeit autochthoner Völker sind im Gegensatz zu entwickelten Gesellschaften Variablen ohne direkten Altersbezug16. Der Zeitpunkt für den Übergang in eine neue Phase oder die Wiedergeburt als Erwachsener ist von einer Vielzahl sozialer, ökonomischer Faktoren abhängig, von denen nicht zuletzt die Wünsche und die Eignung des Individuums eine große Rolle spielen. Die periodische

Altersklasseninitiation führt dazu, dass Minderjährige unterschiedlichen Alters gemeinsam die Stufe der Volljährigkeit erreichen. Unter Umständen werden so 12- Jährige und 16-Jährige gleichzeitig erwachsen. Bei minderjährigen Kriegern in traditionell organisierter Gesellschaften von Kindersoldaten oder Kinderkriegern zu sprechen scheint daher unangebracht, da sie nach erfolgtem Übergang in eine neue Altersklasse weder von ihrem sozialen Nahraum als Kinder behandelt werden noch sich selbst als solche wahrnehmen.

2.3. Motive und Ursachen

Jeder Konflikt wird von einer bestimmten Klientel der sich bekämpfenden Parteien ausgeführt. Diese unterscheidet sich in den einzelnen Gesellschaften auf Grund des verschiedenen sozio-ökologischen aber auch bestimmten religiösen Potentials erheblich. Die speziellen Konfliktmotive lassen sich zum Teil an Hand der gesellschaftlichen Organisation verifizieren, so sind die Motive von Wildbeutergesellschaften andere als in Bodenbaukulturen oder bei Hirtennomaden (vgl. Eibl-Eibesfeld 1975; Wahl 1999; Vivelo 1981). Die sehr viel weniger ausgeprägte soziale Schichtung egalitärer Stammesgesellschaften und ein relativ flaches Rollengefüge führen außerdem dazu, dass der Einzelne weniger auf seine subsozialen Präferenzen reduziert wird, sondern prinzipiell vollwertiger Teil der Gemeinschaft ist, relativ unabhängig von Alter, Geschlecht und Fähigkeiten (ebd.). Im Konfliktfall bedeutet dies in der Regel auch eine Exponierung der gesamten Gruppe, ohne besondere Rücksicht auf die soziale Stellung des Einzelnen (Eibl-Eibesfeldt 1997; Wahl 1999). Dieser Umstand, in Verbindung mit bestimmten Konfliktlösungsstrategien, wie der Blutrache, zwingt die (traditionell männlichen) Mitglieder eines Clans um des eigenen Überlebens willen schon frühzeitig zum Erlernen des Waffengebrauches17. Wobei auch unter vielen autochthonen Gesellschaften Deeskalations- und Ritualisierungsregeln existieren, die das Konfliktgeschehen reglementieren (vgl. Fried, M., Harris, M., Murphy, R. (Hrsg.), (1971); Eibl-Eibesfelldt 1997, S. 580-582 ).

Die Wahrung der territorialen Integrität und das Bedürfnis zum Abstandhalten ist in allen Gesellschaften mit der Notwendigkeit verbunden, ein gewisses Maß an Wehrhaftigkeit zu entwickeln. Unabhängig von der Gesellschaftsform kennen nahezu alle traditionellen Kulturen Waffen, mit denen sie ihr Territorium verteidigen, dies gilt für Wildbeuter ebenso wie für Bodenbauer und Hirtennomaden. Eibelsfeld (1997) ist der Ansicht, dass auf Grund des ambivalenten Umgangs von Nähe und Distanz, von einer Ordnung schaffenden Raumaufteilung pazifierende Wirkung ausgeht. Das Bestreben nach Raumaufteilung und Sicherung ist demnach universell und betrifft das menschliche Individuum ebenso wie die Gruppe (S. 475-481). Die Konfliktmotive sind vielfältig und in Abhängigkeit der Gesellschaftsstruktur (Wildbeuter, Bodenbaukulturen, Hirtenvölker) und der damit verbunden Lebensführung unterschiedlich verbreitet.

Die Blutrache bildet in einigen Ethnien in Ermangelung fehlender Konflikt regelnder Instanzen und vertraglich abgesicherter Formen des Zusammenlebens ein Konfliktmotiv. Sie wird in der Regel in Form von Überfällen ausgeführt und ist beispielsweise von südamerikanischen Urwaldindianern, afrikanischen Hirtenkriegern und bestimmten polynesischen Gruppen überliefert (vgl. Eibl-Eibesfeld 1975; Wahl 1999). Vor der Staatenkonstitution war sie auch im europäischen Raum weit verbreitet, wo sie auch heute noch unter Korsen, Sarden, kaukasischen Ethnien und Albanern nicht unüblich ist (Wahl 1999, S.34).

Die Trophäenjagd, welche in der Regel die Erbeutung gegnerischer Körperteile zum Ziel hat, ist ein weiteres Motiv. Die meisten Trophäenjäger sind auf die Köpfe ihrer Feinde aus, deren Eroberung ihnen zu hohem gesellschaftlichen Ansehen verhilft und ihre Position in der Gruppe sichert (vgl. Wahl 1999). Für manche Kulturen war die Trophähen- bzw. Kopfjagd das einzige Konfliktmotiv, so konnten die brasilianischen Mundurucu auf die Frage nach den Kriegsursachen keine weiteren Gründe nennen, außer, dass jeder Nicht-Mundurucu ihr Feind war (vgl. Eibl-Eibesfeld 1997 S. 584).

Überall, wo Krieger hohes soziales Ansehen genießen, ist das Streben nach Prestigegewinn ein weiterer Beweggrund des Einzelnen, sich kriegerisch zu exponieren. Für die Massai-Kultur ist der Krieger ein wichtiges Element. Krieger verschmähen jede Art von Arbeit, da nur das Kriegführen eines Mannes würdig ist (vgl. Krebs 2001, S. 186). Angst vor sozialer Kritik (als Feigling zu gelten), Gewinnsucht, Hass und Rauflust sind nach Eibl-Eibesfeldt (1997) ebenfalls Motive.

Landnahmen und territoriale Abgrenzung zur Sicherung der Existenzgrundlage sind historisch in allen Kulturen nachgewiesen und bilden bis heute ein wesentliches Motiv für bewaffnete Konflikte. Die Rinderhirtenvölker Afrikas kämpften gezielt um den Zugang zu Wasserlöchern und Weide (S. 585). Kriege um kultivierbares Land führten z.B. die nord- und südamerikanischen Flachlandindianer. Es kann sich bei der Ressourcensicherung jedoch auch um bewegliche Güter handeln. So befehdeten sich beispielsweise die Beduinen wegen Kamelen und Pferden, die ostafrikanischen Viehhirten wegen Rindern, die Irokesen und Wyandot (sog. Huronen) wegen Fellen und einige, z.B. die Yanomami, kämpften um Frauen (Eibl-Eibesfeld 1975; Chagnon 1996 ). Die Konfliktgründe sind demnach vielfältig, sie können ebenso wechseln oder, wenn die ökologischen Bedingungen vorhanden sind, überlappen und den Anlass für eine gewaltsame Auseinandersetzung bilden. Egal, welches kriegerische Motiv der Einzelne hat, im Ergebnis führt die kriegerische Gruppenaggression zur Dominanz einer Gruppe über eine andere (vgl. Eibl-Eibesfeldt 1997, S. 585). Es handelt sich bei bewaffneten Konflikten um eine kulturelle Erfindung, die sich unglücklicherweise in der Zwischengruppenauseinandersetzung selektionistisch bewährte, indem sie dem Sieger eindeutige Vorteile verschaffte (S. 588).

Zweifellos tragen die kulturspezifischen Sozialisationspraktiken einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung kindlichen Verhaltens, dieses wird demnach in allen Ethnien durch Vorleben und Erziehung kultiviert. Will man die Frage beantworten, wie es zu einer kriegerischen Disponierung im Kindesalter kommt, so liegt die Antwort im Wesentlichen von der Steuerung durch die Erwachsenengruppe ab. Dass sich der Übergang in die Erwachsenengruppe in traditionellen Gesellschaften sehr früh vollziehen kann, wurde bereits erwähnt, darüber, wie aus diesen Kindern letztlich Krieger werden, gibt es unterschiedliche Theorieansätze. Mead (1971) führte das kriegerische Verhalten der Mundugumur auf die lieblose Behandlung durch die Eltern zurück, welche ihre Säuglinge in rauen Tragekörben herumtragen, diese oft abstellen und die Kinder nur beim Stillen Körperkontakt erhielten. Im Gegensatz dazu würden die Säuglinge der friedfertigen Arapesh Neuguineas viel Liebe und Zuwendung erfahren. Dass abweisende Eltern aggressive Persönlichkeiten bewirken, Zuneigung gewährende dagegen freundlich pazifistische, ist eine These, die in der Folge viel kolportiert wurde. Durch die Psychoanalyse scheint diese Annahmen bestätigt zu werden, da auch die Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller behauptet:

„Menschen, deren Integrität in der Kindheit nicht verletzt wurde, die bei ihnen Schutz, Respekt und Ehrlichkeit erfahren durften, werden in ihrer Jugend und auch später intelligent, sensibel, einfühlsam und hoch und empfindungsfähig sein. Sie werden Freude am Leben haben und kein Bedürfnis verspüren, jemanden oder sich selbst zu schädigen oder gar umzubringen. […] Sie werden gar nicht anders können, als schwächere […] zu achten und zu beschützen, weil sie dies einst selbst erfahren haben und weil dieses Wissen und nicht die Grausamkeit in ihnen von Anfang an gespeichert wurde“ (vgl. Miller 1983, S.15).

Diese Ansicht ist jedoch umstritten, da sie wesentliche ethnologische Beobachtungen ausblendet. Schon sehr frühzeitig bemerkten Missionare und Völkerkundler, dass in vielen autochthonen Kulturen gerade ein auffällig liberaler und herzlichen Umgang mit dem Nachwuchs gepflegt wurde, und zwar bei friedlichen Ethnien ebenso wie auch bei extrem kriegerischen Völkern (vgl. Eibl-Eibesfeldt 1997). Die französischen Jesuiten, die den Norden Amerikas im ausgehenden 19. Jahrhundert kolonialisierten, waren geradezu entsetz darüber, dass die Huronen zur Disziplinierung ihrer Kinder jede physische Bestrafung und öffentliche Demütigungen ablehnten, besonders vor dem Hintergrund, dass gerade dieser Stamm für seinen äußerst grausamen Umgang gegenüber seinen Feinden bekannt war (vgl. Schormann 2001, S. 30-33). Nach Eibl- Eibsfeldt (1997) kann fehlende Zuneigung zwar aggressives Verhalten begünstigen, allerdings so, dass das Individuum im Hinblick auf die Gruppenintegration asoziales Verhalten zeigt. Kriegerische Attribute erfordern hingegen gerade Gruppenidentifikation und -loyalität, Einsatzbereitschaft, Selbstüberwindung und Mut, diese Eigenschaften erwirbt man aber anders (S. 559). So ist es insbesondere die gewährte Liebe, die die Bereitschaft fördert, sich mit den Eltern und daraus folgend den Zielen der Gruppe zu identifizieren. Je nachdem, wie sich die Eltern verhalten, eifern die Kinder einem friedfertigen oder kriegerischen Vorbild nach (ebd.). Dieses Verhalten ist in entwickelten Gesellschaften grundsätzlich genauso vorhanden, wobei die Verhaltenssteurung und Werteübermittlung in der heutigen anonymen

Massengesellschaft zusehends durch dezentrale Institutionen substituiert werden18.

Zusammenfassung

Die Organisation bewaffneter Kräfte in traditionellen Kulturen und die Abgrenzung der Kindheit ist mit denen entwickelter Gesellschaften in mehrerlei Hinsicht nicht zu vergleichen. Im Gegensatz zu entwickelten Kulturen ist die Identifikation mit dem Kriegsmotiv in traditionell organisierte Gruppen sehr hoch. Der Krieger steht mit seinem Verhalten in unmittelbarem Bezug zur Gruppe, da Sieg oder Niederlage sich direkt auf die Gemeinschaft auswirken. Er muss daher genaue Kenntnisse über den Konfliktgrund besitzen, bevor er seine Vitalität aufs Spiel setzt. Seine Aktivierung ist in der Regel von der Gruppe gewollt und wird protegiert. Zudem verfügen traditionelle Kulturen über keine Schichtung innerhalb des Gewaltapperates, es existiert entweder nur der Status des Kriegers oder überhaupt keine abgrenzbare Gewaltinstitution. Die Position des Kriegers wird in allen traditionellen Kulturen mit der Abwehr oder dem Angriff von Fremdgruppen definiert. Die Bewaffneten erfüllen damit einen existentiellen Zweck, der ihnen selbst oder der Gruppe als homogener Einheit Vorteile verschaffen soll. Institutionen, wie die Polizei oder andere paramilitärische Gruppen, welche in entwickelten Gesellschaften Gewalt gegen die eigene Gruppe einsetzten können, sind in traditionellen Gesellschaften unbekannt. Die Assoziation mit den Zielen und Werten der Gruppe erfolgt sehr früh und steht in keinem Widerspruch zu persönlichen Bedürfnissen. Es gibt keinen legislativ verordneten Zwang, sich kriegerisch zu exponieren. Die Wahl des Kindes, Krieger zu werden, ist eine freiwillige Entscheidung, die durch kulturelle Charakteristika unterstützt werden kann. In diesem Zusammenhang von einem Missbrauch Minderjähriger zu sprechen, wie es bei gegenwärtigen Konflikten möglicherweise berechtigt erscheint, ist bei traditionellen Gesellschaften unangebracht. Das Lebensalter als isolierte Größe ist kein ausschlaggebendes Kennzeichen sozialer Reife und mit ihm sind keine besonderen Rechte verknüpft. Die zukünftige Lebensgestaltung des Kindes ist daher im Wesentlichen von den individuellen Fähigkeiten des Einzelnen abhängig. Nach diesen Fähigkeiten richten sich der Zeitpunkt und die Art des Übergangs in das Erwachsenalter.

3. Die Rolle des Kindes und seine Erziehung in komplexen Gesellschaften

Wenn das Phänomen Kindersoldat in der heutigen Zeit medial aufbereitet wird, entsteht oft der Eindruck, es handle sich um eine Erscheinung, die vor allem in Gesellschaften verbreitet ist, welche im Sinne der aufgeklärten westlichen Welt nur eine diffuse Beziehung zur besonderen Rolle des Kindes bzw. der Phase der Kindheit entwickeln, so beispielsweise in den erwähnten ehemaligen oder noch verbliebenen Stammesgemeinschaften Afrikas oder Amerikas. Den hoch entwickelten und spezialisierten Industrienationen scheint diese Art des Umgangs mit dem Kind gänzlich unbekannt. Dass die eigenständige Kindheit und Jugend auch im europäischen Raum lange Zeit nur bedingt als schützenswerte Phase wahrgenommen wurde, zeigen die vielfältigen Erziehungsmodelle der Epochen. Die Wertepositionierung gegenüber dem Kind innerhalb der Jahrhunderte variiert zudem sehr stark.

Der Einsatz von Kindern in bewaffneten Konflikten hängt wesentlich von der Kindheitswahrnehmung innerhalb einer Gesellschaft ab, das heißt, erst wenn die Phase der Kindheit als eigenständiger Entwicklungsabschnitt begriffen und diesem eine Bedeutung zugemessen wird, kann auch von Kindern als Akteuren gesprochen werden. Kindheit zeigt sich daher vor allem in der Divergenz zum Erwachsenen. Die heutige Positionierung der entwickelten Gesellschaften zum Thema Kindersoldaten ist letztlich Ergebnis eines Kindheits- bzw. Erziehungsideals, welches sich über Jahrhunderte entwickelte. Die Vorstellungen über dieses Ideal und die Rolle des Kindes haben sich in interkulturellen Umwandlungsprozessen entwickelt und unterlagen einer ständigen Veränderung. Inwieweit dem Kind über die Epochen eine eigene Rolle zugewiesen wurde, soll im Folgenden geklärt werden. Wie wichtig Erziehung war, ob diese überhaupt stattfand und womöglich gerade militärische Aspekte beinhaltete, interessiert dabei besonders.

3.1. Das antike Kind

Das gesellschaftliche Bild des Kindes in der Antike ist in erster Linie griechisch- römisch geprägt. Die griechische Welt kennt dabei vor allem zwei Erziehungssysteme, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Zum einen das Erziehungsideal in Sparta, zum anderen das der polis Athen. Interessant ist vor allem das Kinderbild nach der Blütezeit Spartas etwa 550 v. Chr., da es sich essentiell vom anderen Griechenland unterschied. Auf Grund verschiedener Kriege im 7. und 8. Jahrhundert entwickelten die Spartaner eine eigene Sozialstruktur, in der quasi jeder unter 60 ein aktiver Soldat war. „Man verachtete jede weichliche Lebensführung, undder Lebensstandart war der eines Soldaten im Felde, denn der Spartaner war sich immer und überall seiner Unsicherheit bewußt“ (Castle 1965, S. 17). Alle psychischen und physischen Anstrengungen waren auf den Erhalt des Staates ausgerichtet. Diese Verordnung, welche auf Lykurg zurückgeht, wirkte sich nirgends unbarmherziger und verhärtender als in der Erziehung der Jugend aus (ebd.). Die Kinder der Spartaner waren demnach weniger Söhne und Töchter der Eltern, sondern gehorsame Diener des Staates. Nach Castle (1965) wurde schon das Neugeborene einer Art staatlichem Gesundheitsausschuss vorgestellt, und wenn es kränklich oder schwächlich war, musste es in der Apothetai19 ausgesetzt werden. Ab dem siebten Lebensjahr begann die staatliche Ausbildung, welche dreizehn Jahre dauerte. Von sieben bis elf le bten die Jungen noch zu Hause und nahmen lediglich am Sportunterricht teil. Danach verließen sie das Elternhaus und verbrachten ihr Leben bis zum Alter von fünfzehn Jahren in einer Art Jugendkaserne. Im Anschluss folgte eine vierjährige Militärausbildung (Castle 1965, S. 19). Das spartanische Erziehungssystem war auf Härte und Entbehrung ausgerichtet. Wer körperlicher Bedrohung auswich, galt als unehrenhaft. Kleinste Vergehen wurden mit Prügel bestraft. Doch auch außerhalb Spartas fand eine Erziehung, welche fast ausnahmslos auf die körperliche Ertüchtigung für Kriegszwecke ausgerichtet war, Bewunderer. Castle (1965), welcher sich in seinen Ausführungen in der Regel auf Plutarch beruft, führt die folgenden Aufgaben in gleicher Reihenfolge als wesentliche Erziehungsziele an: „Militärische Übungen, Jagen, Schwimmen, Reiten, Auskundschaften, Spionieren und harte Arbeit unter Aufsicht“ (S. 21). Die spartanische Erziehung unterdrückte jede Individualität des Kindes und formte erbarmungslos ein ausschließlich militärisches Ideal. Eine spezielle gesellschaftliche Trennung bezüglich des Geschlechts existierte im Menschenbild der Spartaner im Übrigen kaum. Zwar galt die institutionalisierte Kasernenausbildung nur für Jungen. Doch in der militärisch betonten Welt Spartas warfen die Schwestern ebenso „(…) Diskus und den Speer wie ihre hartgeschulten Brüder“ (Castle 1965, S. 22).

[...]


1 Ullrich unterscheidet zwischen Neugeborenem, Säugling, Kleinkind, Schulkind und Pubertät (vgl. Ullrich 1999, S. 9)

2 “The African Charter on the Rights and Welfare of the Child” wurde 1990 von den Organisationen der African Unity (OAU) beschlossen.

3 Vgl. UN-Kinderrechtskonvention, angenommen durch Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 44/25 am 5. Dezember 1989.

4 Schätz, L. (1972), Schüler-Soldaten. Die Geschichte der Luftwaffenhelfer im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt: Thesen Verlag

5 Vgl. Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten vom 25.05.2000.

6 “Cape town principles and best practices” Ausgearbeitet auf einem Symposium zur, Prävention, Demobilisierung und sozialen Integration von Kindern in bewaffneten Gruppen, Africa / 27.-30. April 1997 Cape Town, South Africa.

7 Beispielsweise die Feuerland-Indianer, die Tasmanier oder die argentinischen Pampa-Indianer, vgl. Wahl 1999.

8 Soldaten, Armeen etc.

9 Die Definition des Krieges nach Ansicht der AKUF wird in Kapitel 5.3. dargelegt.

10 Vor allem im Hinblick auf die weit verbreitete Ritualisierung von Kämpfen, die sich nicht selten auf Drohgebärden beschränkte, ist dieser Hinweis angebracht, da diese Form der „Konfliktführung“ in der Regel keine oder nur wenige Tote mit sich brachte. Verbote traditioneller Riten und die Entwaffnungen der indigen Bevölkerung einerseits und die Aufrüstung mit modernen Waffen, um bestimmte autochthone Gruppen für europäische Interessen zu mobilisieren andererseits, veränderten die Konfliktführung mancher Ethnien grundlegend (vgl. Wahl 1999). Da in der Arbeit aber vordergründig der Konflikt und die Rolle von nicht erwachsenen Personen in ihm betrachtet werden, bleiben Konfliktvermeidungsstrategien und nicht gewaltsam ausgetragene Konflikte ausgeblendet.

11 Im wissenschaftlichen Diskurs besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass eine wie auch immer geartete Form von Aggression (ethologische Aggressionstheorie) als Faktor für kriegerische Auseinandersetzungen vorausgesetzt werden kann (vgl. Eibl-Eibesfeld 1970, 1997).

12 Die physiologische Pubertät ist bei den Mädchen durch das Anschwellen der Brüste, Entwicklung der Schambehaarung und die erste Menstruation gekennzeichnet. Bei den Jungen ist der physiologische Reifeprozess schwieriger zu determinieren, da bis auf die Gesichts- und Schambehaarung kaum innere Veränderungen stattfinden. „Die Unsicherheit wird hier noch durch den Umstand gesteigert, daß dem ersten Samenerguß eine Schleimabsonderung vorangehen kann, (…) und daß er schließlich bei den meisten Individuen Folge einer äußeren Einwirkung ist, die aus Umständen resultiert, die nicht vorherzusehen oder zu steuern sind“ (vgl. Popp 1969, S. 14).

13 Zweifellos würde dieser Umstand in vielen entwickelten Gesellschaften einen Straftatbestand erfüllen.

14 Die männlichen Massai heiraten auf Grund einer langjährigen Kriegerphase selten vor dem 30. Lebensjahr, die Ngadha manchmal erst mit 40 Jahren, die Tindiga hingegen bereits zwischen dem und 14. Jahr (vgl. Krebs 2001, S. 525).

15 Die Beschneidung ist nicht Bestanteil jeder Initiation und auch nicht mit ihr gleichzusetzen, jedoch ist sie unter den meisten traditionellen Ethnien Afrikas verbreitet (vgl. Popp 1969, Krebs 2001).

16 Eine genaue Altersdeterminierung ist oft auf Grund fehlender Geburtenregister und mangelnder Alphabetisierung gar nicht möglich.

17 Von wenigen Ausnahmen abgesehen scheint die bewaffnete Konfliktführung eine männliche Domäne zu sein (vgl Eibl-Eibesfeldt 1975;1997).

18 Kindergarten, Schule, Medien etc.

19 Eine Schlucht in den Bergen des Taygetos.

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
Kinder als Akteure in bewaffneten Konflikten
Untertitel
Soziokulturelle Dimension des Phänomens "Child Soldier" - Kindersoldaten
Hochschule
Hochschule Zittau/Görlitz; Standort Zittau
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
90
Katalognummer
V120633
ISBN (eBook)
9783640293230
ISBN (Buch)
9783640293117
Dateigröße
1473 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kinder, Akteure, Konflikten
Arbeit zitieren
Daniel Putzger (Autor:in), 2005, Kinder als Akteure in bewaffneten Konflikten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120633

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