Richard Oswalds "Dreyfus" - ein Film als zeitgenössische Warnung vor Antisemitismus und Faschismus


Seminararbeit, 2007

45 Seiten, Note: Sehr Gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Prolog

2. „Die Affäre Dreyfus“
2.1. Politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen
2.2. Vom Justizirrtum zur Affäre: Versuch einer Definition
2.3. Herkunft und beruflicher Werdegang von Alfred Dreyfus
2.4. Der Prozess
2.5. Die Rolle des Antisemitismus am Beispiel der Affäre Alfred Dreyfus
2.6. Die Rolle der Medienberichterstattung: Presse und Film
2.7. Die Geburt der Dreyfusards Emile Zola
2.8. Die Revision

3. Die Affäre Dreyfus als filmische Reflexion
3.1. Georges Méliès – Impressionen eines Dreyfusard
3.2. Pathé und die Affäre Dreyfus
3.3. Die Dreyfus Affäre bleibt auch nach dem offiziellen Abschluss interessant:

4. Die politisch, gesellschaftlichen Auswirkungen der Affäre Dreyfus

5. Richard Oswalds „Dreyfus“ (1930): Die Gegenwart und Zukunft im Spiegel der Geschichte
5.1. Allgemeine Informationen zu Richard Oswalds Dreyfus
5.2. Richard Oswald – ein Meister auf der Klaviatur der Filmkunst: Macher leichtverdaulichen Publikumserfolge, „Provokateur“ in Sachen Sexualität und politischer Visionär
5.3. Der Ensemblefilm „Dreyfus“ : Schauspieler im Fokus der Politik
5.3.1. Die Metamorphose des „Emile Zola“ alias Heinrich George
5.3.2. Fritz Kortner
5.3.3. Grete Mosheim
5. 4. Die literarische Vorlage „L’Affaire Dreyfus“
5.5. Richard Oswalds „Dreyfus“: ein historischer Film als visualisierter und verbalisierter Spiegel aktueller politischer Gefahr
5.5.1. Die Opfer: Alfred Dreyfus und rechtsstaatliche Werte wie Gleichheit, Wahrheit und Gerechtigkeit
5.5.2. Die Täter
5.5.3. Symbolik
5.5.4. Die Rolle der Öffentlichkeit
5.6. Richard Oswalds Dreyfus in den Augen zeitgenössischer Kritik

6. Epilog

7. Anhang
7.1. Literaturverzeichnis:
7.2. Filmbeispiele zur Affäre Dreyfus
7.3. Richard Oswald: Schauspieler, Autor, Regisseur und Produzent
7.4. Heinrich George Filmografie

1. Prolog

Wilhelm Herzog beschreibt Hauptmann Dreyfus als einen in den Anschauungen seiner Kaste völlig befangenen, ziemlich naiven Menschen: „ Einer, den man plötzlich aus seiner blendenden Karriere und aus dem Glück seines Familienlebens herausgerissen hat. (…) Ein armer Kerl, der sich gegen den Justizmord natürlich aufbäumt (…), klagt und jammert, der aber von den Ursachen und Zusammenhängen seiner Affäre nicht das Geringste ahnt.“[1] Dreyfus scheint vielleicht nicht der geborene Haudegen und strahlende Held gewesen zu sein, dennoch kämpfte die Elite der französischen Intellektuellen – allen voran Emile Zola – leidenschaftlich um seine Freiheit.

Was steckt also hinter seiner Geschichte, die nicht nur in Frankreich, sondern auch jenseits seiner geographischen Grenzen die Gemüter erhitze? Warum haben sich so viele zeitgenössische, aber auch spätere Künstler mit der Affäre Dreyfus beschäftigt? Und – last, but not least – warum griff der gebürtige Österreicher, Richard Oswald dieses Thema zu Beginn der Dreißigerjahre wieder auf und wie setzte er den historischen Sachverhalt schließlich um?

Ausgehend vom Kernthema des Kurses, „Geschichte und Perspektivenwechsel: Judendarstellungen auf der Leinwand“, möchte ich mich im ersten Kapitel den Ursprüngen und dem Verlauf des realen Falles widmen, um anschließend nach zeitgenössischen filmischen Reflexionen zu fahnden. Im Hauptteil beschäftige ich mich einerseits mit der Rezeptionsgeschichte und zeitgenössischen Kritiken zum Film, versuche andererseits aber auch, eine praktische Filmanalyse anhand von Beispielkadern durchzuführen. Nicht zu vergessen ist in diesem Fall die grundsätzliche Frage, was eine Affäre nun eigentlich ausmacht.

Als Material für diese Arbeit dienen neben historischen Werken wie dem Tagebuch von Dreyfus auch deutsche und französische Publikationen zur Affäre Dreyfus sowie filmhistorische Nachschlagewerke wie die lose CineGraphensammlung, politisch-historische Literatur zur Zeit sowie ein Vergleich verschiedener Filmfassungen.

2. „Die Affäre Dreyfus“

„L’affaire Dreyfus se présente sous deux faces intimement liées l’une á l’autre: une face judiciaire – une face politique: celle-ci dominant l’autre par l’importance de ses conséquences sur les destinées politiques du pays: une évolution radicale et néfaste de la direction de la France au point de vue national.“[2]

2.1. Politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen

„Die Menschen meiner Generation errangen zwei Siege: in der Dreyfus-Affäre und 1918. Und nun erscheinen beide gewonnenen Schlachten wieder verloren.“[3]

Das Ende des 19. Jahrhunderts war für die französische Republik eine politisch stürmische Zeit, denn innerhalb von knapp fünf Jahren – zwischen 1889 und 1894 – schlitterte sie in gleich drei große Krisen: 1889 bedrohte die nationalistische Oppositionspartei der Boulangisten die Republik, 1892 kam es zum Panama-Skandal und zwei Jahre darauf wurde auch noch der amtierende Präsident, Sadi Carnot, ermordet.[4] Der Historiker Guy Chapman charakterisiert die Lage kurz und prägnant: „In the early eighteen-nineties France was not a happy country.“[5]

Unter der Präsidentschaft des gemäßigten Republikaners Casimir-Perier versuchte die so genannte „opportunistische Regierung“[6] wieder zur Normalität zurückzukehren, jedoch ohne auf die brennenden sozialen Fragen der Zeit zu reagieren – trotz guter Konjunktur ging es vielen Franzosen schlecht.[7] Parallel zur politischen Organisation der Arbeiter, griffen einzelne anarchistische Verzweiflungstäter wie Auguste Vaillant oder Emile Henry zur „Selbsthilfe“ mittels Bombenattentaten, um auf ihr persönliches Elend aufmerksam zu machen. Die daraus resultierende öffentliche Verunsicherung auf diese „Propaganda der Tat“[8] wurde wiederum von der Regierung genützt, um bürgerliche Demokratie und unbequeme Medien in die Schranken zu weisen.[9]

Die Republik stand nun auf tönernen Füßen: Der Staat war in liberal republikanische, sozialistische und monarchistische Interessensgruppen unterschiedlichster Schattierungen gespalten, wobei auch die katholische Kirche ihren Einfluss – insbesondere im Schulwesen – wieder stärken wollte.[10] Die Niederlage im deutsch-französischen Krieg sowie die Zustimmung der Regierung zum darauf folgenden harten Friedensvertrag von Mai 1871, der eine Abtretung von Elsass und Lothringen sowie eine Forderung von fünf Milliarden Franc Kriegsentschädigung vorsah, vertieften politische Gräben und hinterließen Kratzer im französischen Nationalstolz.[11] So wurde dieser, als Demütigung empfundene Frieden immer wieder von konservativen Kräften genutzt, um gegen die Französische Republik zu agitieren.[12]

Selbst die Grande Armee, früher praktisch ein Staat im Staat[13], befand sich durch zeitgemäße Reformen in einer Phase der Verunsicherung, da die hohen Militärs um ihre Exklusivität fürchteten. Eine Institution unter vielen zu sein, noch dazu unter der Befehlsgewalt demokratisch gewählter Zivilisten war nicht nach ihrem Geschmack.[14] Demokratisierung und Modernisierung spiegelten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch in der Ausbildung der zukünftigen militärischen Elite wider, denn die weltoffenere „Ecole Polytechnique“, welche bereits seit 1848 eine republikanische Aura umgab, konkurrierte erfolgreich mit der traditionellen Militärakademie von Saint-Cyr.[15] Diese neuen bürgerlichen Eliten verunsicherten sukzessive große Teile des traditionsbewussten, überwiegend monarchistisch-konservativ geprägten Generalstabs.[16]

2.2. Vom Justizirrtum zur Affäre: Versuch einer Definition

Affaire (Affäre):

Ursprünglich wahrscheinlich aus (avoir) á fair – „zu tun haben“ entstanden:

1.) besondere, oft unangenehme Sache; peinlicher, skandalöser Vor-, Zwischenfall
2.) Liebesabenteuer[17]

Der Begriff Affäre steht im weitesten Sinne auch im Zusammenhang mit Kontroverse, Kampf, Rivalität sowie opportunem Denken und menschlichem Fehlverhalten in hohen politischen und wirtschaftlichen Positionen, wobei folgende Aspekte von Bedeutung erscheinen:

- ein hoher emotionaler Faktor, der sich über längere Zeit erstreckt,
- Menschenmassen müssen mobilisiert werden können, die aktiv an Kundgebungen teilnehmen oder sich in anderer Form, etwa durch das Unterzeichnen von Petitionen, für eine bestimmte Sache engagieren,
- große Teile der Gesellschaft müssen leidenschaftlich an die Schuld oder Unschuld eines Beschuldigten glauben,
- es sollte darüber hinaus eine ideologische Tragweite vorhanden sein, um die Angelegenheit über einen „normalen“ Gerichtsfall zu heben.[18]

Die Geisteshaltung hoher Entscheidungsträger, die zum provokanten Gerichtsurteil führte, bzw. die Folgen desselben, die in der Sache weit über einen bedauerlichen Justizirrtum hinausgingen, ließen den „Fall Dreyfus“ zur bis heute bekannten „Affäre Dreyfus“ mutieren.

2.3. Herkunft und beruflicher Werdegang von Alfred Dreyfus

„(…) Meine Karriere lag glänzend und vielversprechend vor mir, die Zukunft stand unter den besten Vorzeichen. (…) Alles im Leben schien mir freundlich gesonnen.“[19]

Bereits aufgrund seines Geburtsortes und seiner Herkunft schien Alfred Dreyfus nicht das einfachste Los gezogen zu haben, denn seine Familie war nicht nur jüdischer Abstammung, sondern überdies im heiß umkämpften deutsch-französischen Elsass ansässig.

In der jüngeren Vergangenheit hatten viele jüdische Familien, darunter auch die Vorfahren von Alfred Dreyfus, mit Hilfe des Emanzipationsediktes von 1791 einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg errungen, um sich in Frankreich eine gutbürgerliche Existenz zu schaffen. Das familiäre Idyll wurde jedoch bereits in der Kindheit des Alfred Dreyfus getrübt: „Mein erstes trauriges Erlebnis, das mir immer schmerzlich in Erinnerung blieb, ist der Krieg 1870. Mein Vater entschied sich nach dem Friedensschluss für die französische Nationalität, wir mussten daher das Elsass verlassen. Ich begab mich nach Paris, um dort meine Studien fortzusetzen.“[20] Nationale Loyalität, wie die der Familie Dreyfus war jedoch keine Ausnahme, sondern stellte eher die Regel dar.

Durch das vermögende Elternhaus finanziell abgesichert, besucht der junge Dreyfus die Ecole Polytechnique, um eine Offizierslaufbahn einzuschlagen.[21] Für Franzosen jüdischer Herkunft – wie Alfred Dreyfus – bot die Armee jedoch nicht nur militärische Aufstiegschancen, sondern ebenso die Chance, Patriotismus zu demonstrieren. Dreyfus war wiederum „nur“ einer unter vielen, da die Ecole Polytechnique bei Söhnen jüdischer Familien sehr beliebt gewesen sein dürfte, wie die Statistik zeigt: 1894 befanden sich mehr als 300 Offiziere jüdischer Herkunft im Dienste der Grande Armee und stellten damit im Vergleich zum sehr geringen Anteil an der französischen Gesamtbevölkerung stolze 1 Prozent des gesamten Offizierkorps.[22]

2.4. Der Prozess

„Die unbefangene öffentliche Meinung wird immer nur feststellen können, dass der Hauptmann Dreyfus vom Augenblicke seiner Verhaftung an … nicht als ein Angeklagter, sondern ein überführter Verbrecher behandelt worden ist.“[23]

Die Entwicklung des Prozesses mit seinen zahlreichen Wendungen im Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit hat bis heute nichts von ihrer Brisanz verloren. Der Fall Dreyfus, schon aus zeitgenössischer Sicht als „Affäre“ bezeichnet[24], war jedoch mehr als ein „gewöhnlicher“ Prozess. Spannend wie ein moderner Thriller ging es dabei um wesentlich mehr: Inwiefern sind alle Staatsbürger in einer demokratischen Republik gleich – oder sprechen bereits Herkunft und/oder Glaubensbekenntnis für die Schuld eines Angeklagten?

Der deutsche Militärattaché Oberstleutnant Max von Schwartzkoppen sollte im Auftrag seines Generalstabes Infiltrationsmöglichleiten auskundschaften, wobei dies auch der französischen Seite bekannt sein musste, denn man reagierte darauf: Schwartzkoppens Korrespondenz sollte mit Hilfe einer, als Putzfrau getarnten Agentin diskret abgefangen werden.[25] Alfred Dreyfus wurde unfreiwillig und unwissend in diesen „Krieg der Spione“[26] involviert, weil er sich mehr oder weniger zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielt.

Im Rahmen des planmäßigen Durchlaufs durch alle Abteilungen des Generalstabes war er seit Beginn des Jahres 1894 zufällig in der „Statistischen Sektion“ – dem Nachrichtenbüro – tätig, das sich durch besonders hohe Spionage- und Gegenspionageaktivitäten[27], speziell gegen Deutschland, auszeichnete.[28] Im Zuge der Aufklärungsversuche bot sich Hauptmann Dreyfus rasch als idealer Verdächtiger an, denn er war nicht nur Artillerist und hatte als Probeoffizier in verschiedenen Büros des Generalstabes gedient, sondern war überdies ein Jude, der aus dem – beinahe deutschen – Elsass kam. „Der Generalstab war heilig und unantastbar, wer ihn angriff, griff die Armee an, und wer die Armee angriff, war Feind der Nation“[29], daher musste der mutmaßliche Spion ein Fremdkörper, ein Außenseiter sein, um die „Ehre“ der Grande Armee zu bewahren.

Für viele konservative Kräfte war bereits die Karriere des „fast deutschen“ Dreyfus, ein Zeichen für die „marode, bürgerliche, von Juden unterwanderte und zersetze Republik“[30]. Nur aus diesen Gründen war eine Anklage ohne handfestes Beweismaterial gegen Dreyfus überhaupt möglich, obwohl Außenminister Hanotaux die Angelegenheit lieber diskret gelöst hätte, um die angespannten deutsch-französischen Beziehungen nicht zusätzlich zu belasten.

Als Hauptmann Alfred Dreyfus am 15. Oktober in das Kriegsministerium zitiert wurde, stand er bereits als Verräter fest.[31] Um die auf wackeligen Beinen stehenden Anschuldigungen glaubwürdiger erscheinen zu lassen, wurde im Auftrag von Kriegsminister Mercier zusätzliches „Beweismaterial“ angelegt. Selbst als die wahren Sachverhalte durch Oberstleutnant Picquart, den neuen Chef des Nachrichtenbüros, ans Licht kamen, blieb der degradierte Dreyfus auf der Teufelsinsel gefangen. Statt einer Wiederaufnahme des Prozesses zu veranlassen, wurde Oberst Picquart nach Tunesien strafversetzt und später sogar verhaftet.[32]

2.5. Die Rolle des Antisemitismus am Beispiel der Affäre Alfred Dreyfus

„Dreyfus war Soldat, aber er war Jude. Als Jude vor allem ist er verfolgt worden. Weil er Jude war, hat man ihn verhaftet, und weil er Jude war, hat man ihn vor Gericht gestellt. Weil er Jude war, hat man ihn verurteilt, weil er Jude ist, will man zu seinen Gunsten nicht die Stimme der Gerechtigkeit und Wahrheit hören. Die Verantwortung für die Verurteilung dieses Unschuldigen fällt auf die zurück, die sie durch ihre gemeine Hetze, durch ihre Lügen und ihre Verleumdungen herbeigeführt haben.“[33]

Antisemitische Strömungen waren sowohl innerhalb der Armee als auch der zivilen Gesellschaft anzutreffen. Politisch ungeklärte soziale Fragen und tiefe innenpolitische Gräben provozierten ein Klima der Verunsicherung. Im Kampf gegen die Republik waren sich konservative Kräfte wie Klerus und Militär nicht zu schade, für ihre Ziele auch antisemitische Propaganda einzusetzen[34], obwohl damals mit 75.000, davon 40.000 in Paris, im europäischen Vergleich nur relativ wenige Juden in Frankreich lebten und Ehen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Familien, besonders im bürgerlich akkulturierten Milieu, durchaus üblich waren.[35] Hinzu kamen aktuelle Skandale wie eine Schmiergeldaffäre im Rahmen des Baus des Panama-Kanals, in die auch jüdische Bankiers verwickelt waren, die alte antisemitische Klischees wieder aufleben ließen.[36]

Diese Tendenz wurde im Heer laut William Serman noch verstärkt:[37] „In den Jahren um 1890 verbreitete sich durch Edouard Drumonts einflussreiches Buch „La France juive“ (1886) und auch durch Artikel in seiner Zeitung „La Libre Parole“ der Antisemitismus im französischen Offizierskorps mit ansteckender Geschwindigkeit.“ Zuvor – 1889 – zählte Drumont[38] bereits zu den Mitbegründern einer antisemitischen Liga, die gegen die „verderblichen Einflüsse der jüdischen Finanzherrschaft, deren verborgene und schonungslose Verschwörung tagtäglich den Wohlstand, die Ehre und Sicherheit Frankreichs gefährde“ entgegentreten wollte.[39] Lindemann beschreibt einen der lautstärksten Dreyfus-Gegner folgendermaßen: „Drumonts Bücher waren schwerverdauliche, leichtgläubige, abgeleitete, journalistische Grundrisse. Nur eines schien ihn zu interessieren: So viel wie möglich Negatives über die Juden auszugraben, je übertriebener desto besser, auch wenn sich manches widerspricht, (…) kurz ein Potpourri von antisemitischen Anekdoten, Legenden, Gerüchten und unbeholfenen Witzen.“[40]

Drumont und seine antisemitischen Mitstreiter[41] versuchten, durch massive Propaganda jene zu ködern, die sich als Opfer der kapitalistischen Entwicklungen empfanden. Darunter waren auch nicht sehr begüterte Offiziere, die sich vor allem über ihre Position in der Armee definierten und nun durch die sich verändernden Strukturen verunsichert waren.[42] Immer wieder versuchte man, das Thema Antisemitismus mit der deutschen Gefahr, speziell nach der Niederlage 1870, zu verbinden, indem Frankreich von außen durch Deutschland bedroht und im Inneren von Juden korrumpiert würde.[43]

Der Antisemitismus, der im Verfahren um Alfred Dreyfus offen zu Tage getreten war, spiegelte sich aufgrund des „außerordentlichen, leidenschaftlichen Interesses“[44] der Bevölkerung in Liedern, Büchern, Bildern und Alltagsgegenständen wie Zigarettensorten („Le Borderau“), Spielkarten mit den Portraits von Dreyfus und Drumont, ja sogar Gesellschaftsspielen und antisemitisch bebilderter Verpackung von Kinderschokolade wider – ein Indiz für die Wechselwirkung zwischen Massenkultur und Politik im ausgehenden 19. Jahrhundert, die sich nicht nur auf die Medien beschränkte.[45]

Seine Identität wurde im Zuge der fortegesetzten antisemitischen Propaganda bereits in den Augen vieler als eindeutige Beweislast gegen Dreyfus gewertet, wie auch sein Bruder Mathieu bemerkte: „Wenn Alfred kein Jude gewesen wäre, hätte man ihn auch nicht auf die Teufelsinsel geschickt.“[46]

Der Dreyfus-Prozess schien die Gelegenheit zu bieten, das blutig erkämpfte Erbe der Revolution von 1789 – die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – im Sinne antidemokratischer Kräfte zu revidieren. Die alten Grundsätze wie „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“ verloren selbst in Dreyfus’ direktem beruflichem Umfeld an Gültigkeit: „Die Aussagen seiner Kameraden waren für Dreyfus das Bitterste. (…)Er musste sich anhören, dass einige ihn als verschlossen, hochmütig, neugierig oder schroff schilderten, andere ihn als Schwätzer bezeichneten, der mit seinem Geld angebe und sich mit Weiberbekanntschaften brüste.“[47]

Bernard-Lazare resümierte den Fall folgendermaßen:

„Der wahre Grund ist die Tatsache, dass Dreyfus einer Klasse von Parias angehört. Er war zwar Soldat, aber er war Jude. Als Jude hat man ihn verfolgt. Weil er Jude ist, hat man ihn verhaftet und vor Gericht gestellt. Weil er Jude ist, ignoriert man die Stimme der Gerechtigkeit und Wahrheit, die zu seinen Gunsten spricht. Die Menschen brauchten einen jüdischen Verräter, der den klassischen Judas ersetzte. Einen jüdischen Verräter, auf den man immer wieder zeigen konnte, um seine Schande einem ganzen Volk anzulasten. Man brauchte ihn, um einen raffinierten Feldzug erfolgreich zu beenden, dessen letzte Schlacht der Prozess Dreyfus war.“[48]

2.6. Die Rolle der Medienberichterstattung: Presse und Film

Hetzkampagne antisemitischer Zeitungen wie „Libre Parole“ und „Intransigeant“ heizten die Stimmung gegen Dreyfus permanent an, sodass seine Verurteilung nach Ansicht eines Zeitgenossen fast allgemeine Zustimmung fand: „Heute morgen kennt die ganze Pariser Presse – von der äußersten Linken bis zur äußersten Rechten, von klerikalen und monarchistischen Blättern bis zu den avantgardistischen Organen der Sozialisten – in ihren Kommentaren über das Urteil des Kriegsgerichts nur eine einzige Tonart: Zustimmung, Erleichterung, Aufatmen, Freude – eine triumphierende, wilde, rachsüchtige Freude.“ [49] Selbst Emile Zola, der sich später leidenschaftlich für die Revision des Verfahrens gegen Dreyfus einsetzte, erlag zu Anfang den Meinungsmachern der Presse und stellte das Urteil nicht infrage.[50]

Auch nach der Urteilsverkündung wurden immer wieder Falschmeldungen zum Fall Dreyfus veröffentlicht, die den Kreis um Dreyfus diffamierten. So sollte beispielsweise auch sein Anwalt Demange ein Mittäter sein. Aufgrund der massiven Propaganda gegen Dreyfus, fanden sich zu Beginn nur sehr wenige, die an seine Unschuld glaubten, darunter der jüdische Abgeordnete Joseph Reinach, Dreifus’ Rechtsanwalt Demange, der Direktor des Militärgefängnisses, in dem er einige Zeit inhaftiert gewesen war und natürlich seine Frau und sein Bruder Mathieu. Selbst auf jüdischer Seite konnte Dreyfus in Frankreich mit keiner umfassenden Solidarisierung rechnen, da so mancher die Integration in die bürgerliche Gesellschaft nicht durch das Eintreten für einen vermeintlichen Staatsverräter aufs Spiel setzen wollte.[51]

Mit Hilfe der Presse kam aber auch wieder Schwung in die verfahrene Situation: Um nach zwei Jahren das Interesse der Öffentlichkeit wieder zu wecken, ließ sein Bruder Mathieu in einer englischen Zeitung eine Falschmeldung über die Flucht Alfreds von der Teufelsinsel veröffentlichen. Für den Betroffenen selbst, hatte dies jedoch unangenehme Folgen: „Gestern hat man mich in Eisen gelegt! Warum? Ich weiß es nicht…Ich will nicht einmal von der körperlichen Qual sprechen, sondern nur von der seelischen! Und das ohne Erklärung, ohne dass ich weiß, warum oder um welcher Sache willen! In was für einem fürchterlichen, grauenhaften Traum lebe ich seit bald zwei Jahren?“[52]

[...]


[1] Wilhelm Herzog, Der Kampf einer Republik. Die Affäre Dreyfus. Dokumente und Tatsachen, ed. Büchergilde Gutenberg (Zürich, Wien, Prag 1933) 75.

[2] Henriette Dardenne, Lumiére sur l’affaire Dreyfus (Paris 1964) 9.

[3] Philosoph Léon Brunschweig im Gespräch mit Emmanuel Levinas. In: Vincent Duclert, Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhass (Paris 1994) 7.

[4] Wilhelm Herzog, Der Kampf einer Republik. Die Affäre Dreyfus. Dokumente und Tatsachen, ed. Büchergilde Gutenberg (Zürich, Wien, Prag 1933) 39.

[5] Guy Chapman,The Dreyfus case. A Reassessment (London 1955) 11.

[6] Duclert, Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhass 9.

[7] Siehe: Herzog, Der Kampf einer Republik. Die Affäre Dreyfus. Dokumente und Tatsachen, ed. Büchergilde Gutenberg (Zürich, Wien, Prag 1933) 39.

[8] Eckhardt Fuchs, Günther Fuchs, „J’accuse!“. Zur Affäre Dreyfus (Mainz 1994) 25.

[9] Siehe: Das beunruhigte Bürgertum. In: Wilhelm Herzog 1933 101-106.

[10] Duclert, Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhass 9. Siehe auch: Chapman, The Dreyfus Case 19f. Und: Wilhelm Herzog, Der Kampf einer Republik. Die Affäre Dreyfus. Dokumente und Tatsachen, ed. Büchergilde Gutenberg (Zürich, Wien, Prag 1933)28-32.

[11] Eckhardt Fuchs, Günther Fuchs, „J’accuse!“. Zur Affäre Dreyfus (Mainz 1994) 15.

[12] Ebd.19f.

[13] Siehe auch: Wolfgang J. Mommsen, Das Zeitalter des Imperialismus (Frankfurt am Main 1969) 106. Siehe auch: Chapman, The Dreyfus Case 37-44.

[14] Duclert, Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhass 10.

[15] Ebd. 11.

[16] Siehe auch: Jean Estèbe, Un théâtre politique renouvelé. In: La France De L’Affaire Dreyfus, ed. Pierre Birnbaum (Mensil-sur-l’Estree 1994)19-49.

[17] Duden. Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter, ed. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2000) 51.

[18] Siehe: Albert S. Lindemann, The Jew Accused (Cambridge 1991) 5.

[19] Alfred Dreyfus, Fünf Jahre meines Lebens 1894-1899 (Weimar 1962) 9f. Siehe auch: „(…) Meine Karriere lag glänzend und vielversprechend vor mir, und die Zukunft zeigte mir nur frohe Auspicien. (…) Ein frohes Leben schien mir zu lächeln.“ In: Alfred Dreyfus, Fünf Jahre meines Lebens. Mit 8 Zeichnungen und Faksimiles (Berlin 1901) 14.

[20] Dreyfus, Fünf Jahre meines Lebens 1894-1899 (Weimar 1962) 9f.

[21] Eckhardt Fuchs, Günther Fuchs, „J’accuse!“. Zur Affäre Dreyfus (Mainz 1994) 13f.

[22] Léon Poliakov, Die Affäre Dreyfus. In: Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, ed. Jüdisches Museum der Stadt Wien (Wien 1995) 163.

[23] Rückblickender Kommentar der Vossichen Zeitung. In: Maurice Paléologue, Tagebuch der Affäre Dreyfus (Stuttgart 1957) 24.

[24] Duclert, Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhass 7.

[25] Ebd. 12.

[26] Fuchs, Fuchs, „J’accuse!“. Zur Affäre Dreyfus 28.

[27] Siehe auch: Dardenne, 30f.

[28] Siehe: Fuchs, Fuchs, „J’accuse!“. Zur Affäre Dreyfus 28f.

[29] Wilhelm Herzog, Kampf einer Republik .Die Affäre Dreyfus (Zürich, Wien, Prag 1933) 27.

[30] Fuchs, Fuchs, „J’accuse!“. Zur Affäre Dreyfus 31.

[31] Ebd. 31-33.

[32] Ebd. 37f.

[33] Die Affäre Dreyfus, ed. Siegfried Thalheimer (München 1963) 98.

[34] Siehe: J’Accuse…! ...ich klage an! Zur Affäre Dreyfus. Eine Dokumentation. Begleitkatalog zur Wanderausstellung in Deutschland Mai bis November 2005, ed. Moses Mendelsohn Zentrum (Berlin 2005) 18.

[35] Fuchs, Fuchs, „J’accuse!“. Zur Affäre Dreyfus (Mainz 1994) 20. Und: Chapman, The Dreyfus Case 28.

[36] Wilhelm Herzog, Die Affäre Dreyfus (Frankfurt am Main 1958) 12.

[37] William Serman, Les Officiers francais dans la nation 1848-1914 (Aubier 1982) 102. In: Duclert, Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhass 13.

[38] Siehe: Aufstieg und Sturz eines Antisemitenführers. In: Herzog, Der Kampf einer Republik. Die Affäre Dreyfus. Dokumente und Tatsachen, ed. Büchergilde Gutenberg (Zürich, Wien, Prag 1933) 44-71.

[39] Fuchs, Fuchs, „J’accuse!“. Zur Affäre Dreyfus (Mainz 1994) 20f. Und: Léon Poliakov, Die Affäre Dreyfus 163f.

[40] Lindemann 79.

[41] Siehe auch: Die nationale Antisemitenliga Frankreichs. In: Herzog, Der Kampf einer Republik. Die Affäre Dreyfus. Dokumente und Tatsachen, ed. Büchergilde Gutenberg (Zürich, Wien, Prag 1933) 40-44.

[42] Duclert, Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhass 13. Und: Fuchs, Fuchs 21.

[43] Fuchs, Fuchs, „J’accuse!“. Zur Affäre Dreyfus 21.

[44] Theodor Herzl. Zitiert nach: Léon Poliakov, Die Affäre Dreyfus 164.

[45] Fuchs, Fuchs 90f.

[46] Michael Burns, Histoire d’une famille française, les Dreyfus: L’emancipation, l’Affaire (Paris 1994) 339.

[47] Matrey, Dreyfus 62.

[48] Bernard-Lazare zitiert nach Maria Matray, Dreyfus. Ein französisches Trauma (München, Wien 1986) 90.

[49] Notizen aus dem Tagebuch von Maurice Paléologue, 23. 12. 1894. Zitiert nach Fuchs 34.

[50] Fuchs, Fuchs, „J’accuse!“. Zur Affäre Dreyfus 39.

[51] Ebd. 38-40. Und: Alfred Dreyfus, Fünf Jahre meines Lebens (Berlin 1901) 122.

[52] Dreyfus, Fünf Jahre meines Lebens 144f.

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Richard Oswalds "Dreyfus" - ein Film als zeitgenössische Warnung vor Antisemitismus und Faschismus
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Zeitgeschichte)
Veranstaltung
Geschichte und Perspektivenwechsel: Judendarstellung auf der Leinwand
Note
Sehr Gut
Autor
Jahr
2007
Seiten
45
Katalognummer
V120457
ISBN (eBook)
9783640242009
ISBN (Buch)
9783640245529
Dateigröße
596 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Richard, Oswalds, Dreyfus, Film, Warnung, Antisemitismus, Faschismus, Geschichte, Perspektivenwechsel, Judendarstellung, Leinwand
Arbeit zitieren
MMag. Silvia Kornberger (Autor:in), 2007, Richard Oswalds "Dreyfus" - ein Film als zeitgenössische Warnung vor Antisemitismus und Faschismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120457

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