Empathie und Perspektivenübernahme bei Straftätern


Lizentiatsarbeit, 2004

118 Seiten, Note: 5 (CH)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

1 Einleitung

2 Empathie
2.1 Historischer Rückblick
2.2 Aktuelle Definitionen von Empathie
2.3 Operationalisierung von Empathie und Kritik der Messungen
2.4 Exkurs: Neuropsychologische Befunde zur Empathie

3 Perspektivenübernahme
3.1 Historischer Rückblick
3.2 Zwei verschiedene Ansätze der Perspektivenübernahme
3.2.1 Perspektivenübernahme aus Sicht der Personenwahrnehmung
3.2.2 Perspektivenübernahme aus Sicht der Entwicklungspsychologie
3.2.2.1 Das Modell von Selman
3.3 Operationalisierung der Perspektivenübernahme
3.3.1 DreiBergeVersuch
3.3.2 Paradigma der privilegierten Information
3.3.3 Messungen durch Selbstberichte bzw. Fragebögen

4 Empathie und Perspektivenübernahme: Gemeinsamkeiten und Abgrenzung
4.1 Zusammenhang beider Konstrukte
4.2 Zusammenhänge zwischen Empathie bzw. Perspektivenübernahme und anderen Variablen
4.2.1 Empathie, Perspektivenübernahme und aggressives Verhalten
4.3 Unterschiedliche Forschungstradition, Definitionen und Operationalisierungen

5. Empathie und Perspektivenübernahme bei Straftätern
5.1 Defizithypothese
5.1.1 Generelles oder nur auf Opfer bezogenes Defizit der Empathie und PerspektivenübernahmeFähigkeit?
5.1.2 Sexualstraftäter vs. NichtSexualstraftäter
5.1.3 Gewaltstraftäter vs. NichtGewaltstraftäter
5.2 Theorien über Sexualstraftäter
5.3 Messinstrumente für Sexualstraftäter und weitere empirische Belege
5.3.1 Operationalisierung der opferspezifischen Empathie
5.3.2 Der aktuelle Stand der Forschung

6. Einfluss auf Empathie und Perspektivenübernahme bzw. Empathie und Perspektivenerweiterung
6.1 Einfluss situativer Merkmale
6.2 Aufforderungscharakter und Einfluss der Nähe
6.3 Einfluss des Konflikts
6.4 Begünstigende Bedingungen für Perspektivenübernahme

7. Zusammenfassung und Hypothesen
7.1 Hypothesen

8. Methode
8.1 Stichprobe
8.2 Messinstrumente
8.2.1 Operationalisierung der Perspektivenübernahme
8.2.2 Operationalisierung der Empathie
8.3 Durchführung
8.4 Ergebnis einer Vorstudie und ergänzender Datensatz

9. Ergebnisse
9.1 Stichprobe
9.2 Itemanalyse und Korrelationen
9.2.1 Itemanalyse Perspektivenübernahme
9.2.2 Itemanalyse Empathie
9.2.3 Korrelation der Subskalen Perspektivenübernahme
9.2.4 Korrelation der Skalen Perspektivenübernahme und Empathie
9.3 Gruppenvergleich
9.3.1 Perspektivenübernahme
9.3.2 Empathie
9.3.3 Mittelwerte der einzelnen Stichprobengruppe
9.4 Qualitative Daten
9.5 Mittelwerte der Einschätzung des eigenen Delikts
9.6 Fazit

10. Diskussion
10.1 Ergebnisse der Zusammenhänge
10.1.1 Unerwartete Korrelationen der Subskalen Perspektivenübernahme
10.1.2 Inkonsistente Ergebnisse der EmpathieAuswertung
10.2 Ergebnisse der Gruppenvergleiche
10.3 Eigenes Delikt
10.4 Weitere methodische Mängel und Schwierigkeiten
10.5 Ausblick

Literaturverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Anhangsverzeichnis

Zusammenfassung

Empathie bezeichnet die Fähigkeit, die psychischen Zustände an derer zu übernehmen und zu erleben. Perspektivenübernahme be schreibt hingegen die kognitive Fähigkeit, die Sichtweise einer anderen Person einzunehmen. Empathie und Perspektivenüber nahme werden in der Forschung oft als hoch korrelativ betrachtet.

Den beiden Konstrukten wird bei der Erklärung devianten Verhal tens von Straftätern grosse Bedeutung zugeschrieben (z. B. Ward et al., 2000). Konkret wird angenommen, dass Straftäter ein Defizit in Bezug auf Empathie und Perspektivenübernahme hätten.

Die vorliegende Lizentiatsarbeit befasst sich mit der Frage, ob die EmpathieFähigkeit von Straftätern geringer sei als jene von Nicht Straftätern. Im Weiteren wird vermutet, dass die Perspektivenüber nahme in Bezug auf Opferreaktionen bei Straftätern geringer aus geprägt sei als bei NichtStraftätern. Aufgrund des verwendeten Messverfahrens wird konkret erwartet, dass Straftäter im Vergleich zu NichtStraftätern positive/neutrale Opferreaktionen als wahr scheinlicher und negative Opferreaktionen als weniger wahrschein lich einschätzten.

Es wird zudem ein positiver Zusammenhang zwischen allgemeiner EmpathieFähigkeit und der Fähigkeit, die Perspektive speziell von Opfern übernehmen zu können, angenommen.

Unter Verwendung der einschlägigen Skalen von Oswald & Büti kofer (2003) und Mehrabian (2000) wird versucht, diese Fragen mit je einem Datensatz aus Berlin und Bern zu beantworten. Es zeigt sich, dass Straftäter positive/neutrale Opferreaktionen als wahr scheinlicher einschätzen als NichtStraftäter.

1 Einleitung

Personen, die spüren, wie sich der andere in seiner Haut fühlt, wer den als „empathisch“ bezeichnet. Sie sind fähig, aktiv zuzuhören, fragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben, und melden zurück, wie eine Botschaft bei ihnen angekommen ist. Sie können mitemp finden, was der anderen Personen widerfährt, und werden der Situation entsprechend reagieren. Es wird angenommen, dass in die sem Prozess „die Perspektive des andern“ eingenommen wird. Em pathie und Perspektivenübernahme werden deshalb als sehr eng verwandte Konstrukte angesehen oder sogar synonym gebraucht. Menschen, die eine geringe EmpathieFähigkeit haben oder nicht fähig sind, die Perspektive des anderen zu übernehmen, werden oft als egozentrisch oder asozial bezeichnet.

Es wird vermutet, dass bei der Genese und bei der Aufrechterhal tung devianten Verhaltens diese beiden Konstrukte eine bedeuten de Rolle spielen. Deswegen nimmt man an, dass Straftäter, insbe sondere Sexual und Gewaltstraftäter, ein Defizit in den Bereichen Empathie und Perspektivenübernahme hätten. Man ist sich aller dings nicht sicher, ob sich ein solches Defizit generell gegenüber allen Menschen oder nur in Bezug auf die eigenen Opfer auswirkt. Bis heute bestehen keine eindeutigen empirischen Belege weder für die eine noch für die andere dieser Defizithypothesen. Die Empa thie und PerspektivenübernahmeForschung ist von besonderem Interesse im Hinblick auf TherapieMassnahmen, die eingesetzt werden, um die EmpathieFähigkeit von Straftätern zu steigern.

Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es einerseits, einen Zu sammenhang zwischen Empathie und Perspektivenübernahme zu finden, und andererseits, Defizite im Bereich der beiden Konstrukte bei Straftätern zu bestätigen.

Die vorliegende Arbeit ist in 10 Kapitel gegliedert. Nach der Ein leitung (Kapitel 1) folgt ein historischer Rückblick zum Begriff der Empathie. Danach werden Definitionen erläutert, die in der heuti gen Forschung Verwendung finden. Gleich anschliessend folgen die Operationalisierung der Empathie und deren Kritik. Zum Abschluss dieses Kapitels (Kapitel 2) wird ein kleiner Exkurs gemacht und der Beitrag der Neuropsychologie zum EmpathieKonstrukt erläu tert.

Kapitel 3 widmet sich der Perspektivenübernahme. Nach einem historischen Überblick werden zwei wichtige Ansätze gezeigt, und zwar aus der Sicht der Personenwahrnehmung und aus der Sicht der Entwicklungspsychologie. Danach folgt die Operationalisie rung des Konstrukts.

Es folgt in Kapitel 4 eine Gegenüberstellung von Empathie und Perspektivenübernahme: Es werden einerseits Zusammenhänge beider Konstrukte diskutiert, andererseits Bezüge zu anderen Varia blen erläutert. Unterschiedliche Forschungsherkunft und Operatio nalisierung werden am Schluss dieses Kapitels einander gegen übergestellt.

In Kapitel 5 wird die Defizithypothese zu Straftätern vorgestellt so wie die Frage diskutiert, ob sich ein Defizit generell auswirkt oder nur speziell auf potenzielle Opfergruppen oder sogar nur auf die eigenen Opfer hin äussert. Weiter werden Sexual und Gewaltstraf täter den NichtSexual und NichtGewaltstraftätern gegenüber gestellt und empirische Befunde dazu präsentiert. Es folgenden dann verschiedene Theorien über Sexualstraftäter und es werden Instrumente vorgestellt, die zur Messung von Empathie und Per spektivenübernahme bei Sexualstraftätern Verwendung finden. Zu guter Letzt wird der Stand der heutigen Forschung präsentiert.

Nach Kapitel 5 werden verschiedene Variablen beleuchtet, die Ein fluss auf Empathie bzw. Perspektivenübernahme haben (Kapitel 6).

Nach einer kurzen Zusammenfassung und der Vorstellung der Hy pothesen dieser Arbeit (Kapitel 7) werden die Methodik zur Veri bzw. Falsifizierung der Hypothesen (Kapitel 8) sowie die Ergebnisse der empirischen Untersuchung (Kapitel 9) präsentiert.

Das Kapitel 10 ist der Diskussion gewidmet. Hier wird noch einmal auf die Hypothesen eingegangen und es werden inkonsistente oder unerwartete Ergebnisse diskutiert. Methodische Schwächen werden beleuchtet und dargelegt. Die Arbeit schliesst mit einem Ausblick ab.

2 Empathie

Innerhalb der allgemeinen psychologischen Literatur wird Empathie als eine intellektuelle Fähigkeit, die Perspektive einer anderen Per son zu verstehen und zu identifizieren (Mead, 1934; Regan & Totten, 1975), als eine emotionale Fähigkeit, die gleichen Gefühle des ande ren zu empfinden (McDougall, 1908; Stotland, 1969), oder als eine Wechselwirkung zwischen kognitiven und affektiven Faktoren (Feshbach, 1975) angesehen. Bevor aktuelle Definitionen von Em pathie (2.2) und deren Operationalisierung (2.3) vorgestellt werden, sehen wir uns zunächst die historischen Wurzeln des Konstrukts Empathie an.

2.1. Historischer Rückblick

Der Ursprung des Begriffs Empathie hängt eng mit der Auffassung des Ökonomen und Philosophen Adam Smith (1759/1976) zusam men. Er beobachtete, dass Menschen die Fähigkeit besitzen, den Zustand einer anderen Person in negativer oder positiver Art mit zuerleben. Diese Empfindung ist mit dem Zustand der anderen Person kongruent oder ist ihr zumindest ähnlich. Smith nannte es Sympathie (Mitgefühl). Im 19. Jahrhundert brachte der Darwinist Herbert Spencer (1870) mit seinem Text über die Sympathie das Konstrukt in die psychologische Literatur ein. Er betrachtete Sym pathie als die Fähigkeit, die Perspektive einer anderen Person zu verstehen und ihre emotionalen Reaktionen zu empfinden.

Grossen Einfluss in der Sozialpsychologie hatte McDougall (1908). Mit seinem komplexen Instinktkonzept näherte er sich der Thema tik Empathie. Als angeborene Struktur sollte der Instinkt 1) eine Akzentuierung der Wahrnehmung bewerkstelligen: Man wird be vorzugt auf bestimmte Gegenstände oder Ereignisse aufmerksam und beobachtet sie. Die so wahrgenommenen Objekte führen dann 2) zu ganz bestimmten Qualitäten emotionaler Erregung, die wie derum 3) die Tendenz erzeugen, in einer bestimmten Weise gegen über diesem Wahrnehmungsobjekt zu handeln – zumindest liefert sie den Impuls dazu. Jedoch wird in seinen Arbeiten weder der Begriff Sympathie noch Empathie erwähnt (Wispé, 1987).

Im Laufe der Zeit wurden die Konstrukte Empathie und Sympathie oft austauschbar verwendet. Nach Miller und Eisenberg (1988) ist jedoch Sympathie von Empathie abzugrenzen: Empathie ist – ähn lich wie Smith es auffasste – die emotionale Antwort auf den affek tiven Zustand oder die Situation einer anderen Person. Sympathie ist auch eine emotionale Antwort, die vom affektiven Zustand oder von einer Situation hervorgerufen wird, sie ist aber weder mit die ser Situation identisch noch ihr ähnlich. Die Sympathie beinhaltet eher Gefühle von Besorgtheit und Kummer gegenüber der anderen Person, was wir mit dem Ausdruck Mitgefühl gut umschreiben können. Aus dieser Sicht handelt es sich eher um einen passiven Lern oder Wahrnehmungsvorgang. Der eigene Zustand kann gut vom Zustand des anderen abgegrenzt werden. Empathie kann zu Sympathie führen oder gleichzeitig mit ihr auftreten. In der Litera tur ist es oft schwierig oder unmöglich, festzustellen, ob die beiden Konstrukte von den Autoren getrennt oder synonym gebraucht werden.

Das Konzept Empathie, wie wir es heute kennen, entstammt der deutschen Bezeichnung Einfühlung, die in der Ästhetik Verwendung gefunden hat. Dabei ging es um die Wahrnehmung des Objekts bzw. darum, sich in das beobachtete Objekt der Bewunderung zu proji zieren. Lipps (1903, 1905) beschäftigte sich im Zusammenhang mit der Psychologie der Ästhetik intensiv mit dem Begriff der Einfüh lung. Die Wahrnehmung eines emotionalen Zustandes einer anderen Person löst im Beobachter innere Nachahmung aus. Daraus resul tiert ein imitatives Verhalten. Titchener (1909) übersetzte schliess lich die Bezeichnung Einfühlung mit dem englischen Empathy .

Obwohl Empathie durch ihre affektive Komponente charakterisiert wird, nehmen die meisten Autoren an, dass dieses Konstrukt zusätz lich durch kognitive Elemente gekennzeichnet ist. Köhler (1929) betont, dass es um das Verstehen einer anderen Person gehe und nicht primär um das Einfühlen in den anderen. Diese kognitive Fä higkeit wird in der Literatur oft als Perspektivenübernahme bezeich net.

Die Sichtweise des anderen zu übernehmen und in die eigene ein zubeziehen stellt für Mead (1934, 1980) den sozialen Ursprung des Subjekts und dessen Identität dar. Auch für Piaget (1932) spielen diese kognitiven Elemente in seinen Experimenten zur kognitiven Entwicklung eine grosse Rolle. Beide bezeichnen diese kognitive Komponente als Perspektivenübernahme. Wir gehen in Kapitel 3 näher darauf ein.

2.2 Aktuelle Definitionen von Empathie

Nach dem kurzen Überblick über die Entstehungsgeschichte des EmpathieBegriffs wenden wir uns einigen in der heutigen For schung verwendeten Definitionen von Empathie zu.

Hogan’s (1969) Definition beruht stark auf dem moralischen Ge danken, wonach eine empathische Person aufgrund der Auswirkun gen urteilt, die eigene Handlungen auf das Wohlergehen anderer haben. „Empathy is an everyday manifestation of the disposition to adopt a broad moral perspective, to take the ‘moral point of view’.” Er erwähnt jedoch ausdrücklich, dass das Begreifen des Zustands einer anderen Person nichts über die Genauigkeit der Wahrneh mung aussage.

Mehrabian und Epstein (1972) betonen vor allem den emotionalen Aspekt und definieren Empathie folgendermassen: „Empathy as the vicarious response to the perceived emotional experiences of others. Empathy includes the sharing of those feelings, at least at the gross affect level.” Mehrabian (2000) sieht emotionale Empathie als ein Trait (Persönlichkeitszug). Als positiver Aspekt dieser Eigenschaft tendieren empathische Menschen stärker zu interpersonaler Anglie derung und Erfahrung.

Cohen und Strayer teilen Empathie in zwei Prozesse auf: Einerseits in einen kognitiven Prozess „the ability to understand another’s emotional state“, andererseits in einen affektiven Prozess „the sha ring of the emotional state of another“ (1996, S. 988).

Davis (1983) schlägt Empathie als multikomponentes Modell vor. Er postuliert vier Dimensionen: 1) Perspektivenübernahme ist die Fähigkeit, die Sicht der anderen Person zu übernehmen (kognitive Komponente); 2) Vorstellungsvermögen ist die Fähigkeit, sich in die Emotionen und Handlungen einer anderen Person zu versetzen (kognitive Komponente); 3) empathische Anteilnahme ist die Fähig keit, Mitgefühl zu erleben (ähnlich der Sympathie); und 4) persön liches Unbehagen ist der eigene Kummer, den man für den anderen erlebt (affektive Komponente).

Pithers (1994) und Marshall et al. (1995) haben sich eingehend mit der Thematik der Empathie bei Sexualstraftätern auseinander ge setzt. Deswegen werden ihre Modelle in diesem Kapitel vorweg genommen und dann im Kapitel 5.2 näher betrachtet. Pithers (1994) schlägt drei Komponenten vor: 1) die Fähigkeit, kognitiv die Per spektive einer anderen Person wahrnehmen zu können; 2) eine Erkennung des eigenen affektiven Arousals (Aktivation); 3) die Aktivierung einer mitleidenden Handlung oder eines Verhaltens.

Das Verhalten wiederum wird durch die Wahrnehmung (Komponente 1) motiviert.

Ähnlich begründen Marshall et al. (1995): Empathie ist ein Prozess stadium, beeinflusst durch emotionale Erkennung, Perspektiven übernahme, emotionale Erwiderung und Entscheidung einer Re aktion.

Neben den kognitiven und affektiven Komponenten erwäh nen beide Modelle eine verhaltensbezogene Komponente bzw. Ant wort. Diese konzeptuellen Definitionen versuchen auf diese Weise einen Erklärungsversuch für Empathie oder Perspektivenübernah meDefizite von Straftätern zu geben.

Frühere sowie neuzeitlichere Definitionen, so unterschiedlich sie auch lauten mögen, lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Empathie ist ein auf die emotionalen Reaktionen anderer Personen gerichteter Prozess, der eine eigene emotionale Reaktion mit einschliesst (Steins, 1998).

2.3 Operationalisierung von Empathie und Kritik der Messungen

Viele Autoren, die sich mit den Definitionen von Empathie auseinan der gesetzt haben, entwickelten Instrumente, um dieses Konstrukt zu messen. Einige davon werden im Folgenden vorgestellt:

Empathie wird oft anhand von Aufgabenstellungen im Bereich Imagination gemessen (Batson et al., 1988). Die Testpersonen sollen sich in eine andere Person hineinversetzen, „in ihre Haut schlüpfen“ (siehe auch Regan & Totten, 1975). Das Ausmass der Empathie wird dann meistens anhand eines Fragebogens durch Selbstbe richte gemessen, seltener durch die Messung physiologischen Arou sals (siehe z. B. Stotland, Mathews, Sherman, Hansson & Richardson, 1978) oder durch Verhaltensbeobachtungen.

Die meistverwendeten Fragebögen sind Hogan’s Empathy Scale (HES, 1969), The Questionnaire Measure of Emotional Empathy (QMEE, 1972) von Mehrabian und Epstein und Davis’ Interperso nal Reactivity Index (IRI, 1980), wobei das IRI eine Unterskala hat, welche die Perspektivenübernahme misst. Eine neuere Version des QMEE, das Balanced Emotional Empathy Scale (2000), wurde von Mehrabian weiterentwickelt. Dieser Fragebogen ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit und wird deshalb im Kapitel 8.2.2 näher vor gestellt.

Viele Autoren zweifeln die Validität sowie weitere methodische Eigenheiten der erwähnten Messinstrumenten an (z. B. Chlopan et al., 1985, Kline, 1992). So misst z. B. das HES die kognitiven Ele mente der Empathie, was wiederum für viele Theoretiker die Per spektivenübernahme darstellt (Chlopan et al., 1985). Langevin, Wright & Handy (1988) fanden eine niedrige interne Konsistenz (Alpha = 0.59); Dillards und Hunters Analysen (1989) stellten im QMEE eine schlechte Konstruktvalidität fest. Selbstberichte in Form von Fragebögen zur Erfassung von Empathie werden häufig durch soziale Erwünschtheitstendenzen verzerrt und bilden daher keine tauglichen Messinstrumente (Miller & Eisenberg, 1988).

2.4 Exkurs: Neuropsychologische Befunde zur Empathie

Schlechte EmpathieFähigkeit kann auch in Zusammenhang mit Defiziten der „exekutiven Funktionen“ des Gehirns stehen. Die exe kutiven Funktionen dienen der Aufmerksamkeit, der Konzentra tion, der Bildung von Konzepten sowie abstrakten Schlussfolge rungen (Moffit, 1990). Defizite dieser Funktionen zeigen einen Zusammenhang zu Straffälligkeit und niedriger Intelligenz (Moffit & Henry, 1989).

Rizzolatti et al. (1995) haben bei Affen Hirnregionen gefunden, die „Mirror Neurons“ (MN) oder „Mirror cells“ genannt werden. Diese werden durch motorische Reize wie auch durch soziale Interaktion aktiviert und mit dem Prozess der Kommunikation und der sozialen Interaktion in Zusammenhang gebracht. Ähnliche Regionen sind auch bei Menschen zu finden. Die Spiegelneuronen werden automa tisch aktiviert, sobald jemand den Schmerz oder das Leiden anderer wahrnimmt. Demnach ist der Mensch von Natur aus empathisch. Aus der Forschung mit Autisten wird vermutet, dass neben anderen komplexen Mechanismen eine Dysfunktion dieser Spiegelneuronen Einfluss auf die Entwicklung der EmpathieFähigkeit haben könnte (Kohut, 1984).

3 Perspektivenübernahme

Das zweite zentrale Konstrukt – die Perspektivenübernahme – wird in diesem Kapitel vorgestellt. Wir werden wiederum eine kurze Zeit reise in die Vergangenheit machen (3.1), danach die verschiedenen Ansätze dieses Konstrukts kennen lernen (3.2) und uns anschlies send die möglichen Messungen anschauen (3.3).

3.1 Historischer Rückblick

Der Philosoph Hegel (1770–1831) hat den Grundstein für das Kon strukt der Perspektivenübernahme gelegt. Er hat sich mit der Dia lektik von Ich und Anderen auseinander gesetzt (vgl. Kap. IV der Phänomenologie des Geistes, 1807). Mead und Piaget haben sich von ihm stark beeinflussen lassen. Neben dem Begriff Perspektiven übernahme, der dem englischen „perspective taking“ von Selman (1971a) entlehnt ist, hat z. B. Cooley (1902) den englischen Begriff „reflexive role taking“ eingeführt. Er verwendete auch den Begriff „lookingglass self“, der für einen Prozess steht, bei dem man den anderen dazu benutzt, die eigenen Haltungen und Einstellungen zu reflektieren.

George Herbert Mead entwickelte die Theorie des symbolischen Interaktionismus’. Die Sichtweisen und Erwartungen anderer anti zipieren wir. Zugleich haben wir Erwartungen an deren Verhalten und nehmen an, dass sich die anderen genauso an uns orientieren. Das eigene Selbstbild wird geschaffen und dadurch eine Person zum gesellschaftlichen Leben befähigt. Durch diesen Prozess der Per spektivenübernahme orientiert man sich an Haltungen und Ein stellungen anderer und strahlt zugleich wieder auf andere aus. Das Individuum besitzt sogar die Fähigkeit, die Perspektive einer Gruppe als Ganzes und nicht nur eines Einzelnen zu übernehmen. Diese kognitive Fähigkeit zur Antizipation der Reaktionen anderer und der Einbezug dieser Reaktionen in die Planung des eigenen Verhaltens werden als Basis der sozialen Intelligenz angesehen. Für Mead geht es aber vor allem um den sozialen Ursprung des Sub jekts und dessen Identität und nicht nur um soziale Kognition, Kom munikation oder Kooperation (Mead, 1934, 1980). Er wird oft als der Begründer des Ansatzes der Perspektivenübernahme angesehen.

Im Gegensatz zu Mead, der Perspektivenübernahme als Bildung der Identität ansieht, sieht Piaget Perspektivenübernahme als Ergebnis eines kognitiven Entwicklungsprozesses. Das Ergebnis ist die Vor aussetzung für soziales Verhalten. Dieser bedeutende Beitrag von Piaget aus der entwicklungspsychologischen Sicht wird im nach folgenden Kapitel näher erläutert.

3.2 Zwei verschiedene Ansätze der Perspektivenübernahme

Die Perspektivenübernahme entstand hauptsächlich aus zwei ver schiedenen Blickwinkeln, nämlich aus der Sicht der Personenwahr nehmung (3.2.1) und der Entwicklungspsychologie (3.2.2).

3.2.1 Perspektivenübernahme aus Sicht der Personenwahrnehmung

Im Bereich der Personenwahrnehmung wird die wahrgenommene Person aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften bewertet (z. B. Cunningham, 1986). Die Merkmale der Person sind direkt beo bachtbar und die Wahrnehmung dieser Merkmale kann unmittelbar auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Es werden jedoch diejenigen Aspekte der Person vernachlässigt, die als sehr wichtig erachtet werden und nicht direkt beobachtbar sind. Dem Selbstbericht der wahrgenommenen Person zufolge sind das beispielsweise Emotio nen, Einstellungen, Gedanken, perzeptive und intellektuelle Fä higkeiten (z. B. Andersen, 1984). Ein Beobachter erschliesst die Emotionen, Gedanken, Motive einer anderen Person aufgrund beo bachtbarer Informationen, übernimmt also dabei die Perspektive des anderen. Diese Eigenschaften, die man erschliessen muss und die nicht direkt wahrgenommen werden können, sind Spekulatio nen, Unterstellungen und grobe Schätzungen, die verzerrt oder falsch sein können[1].

3.2.2 Perspektivenübernahme aus Sicht der Entwicklungspsychologie

Piaget (1932) erwähnt erstmals den Begriff Egozentrismus. Er be zeichnet damit die Unfähigkeit, sich in die Rolle eines anderen hineinzuversetzen, die Unfähigkeit, den Blickwinkel eines anderen einzunehmen oder die eigene aktuelle Sichtweise (Wahrnehmung oder Meinung) als eine unter mehreren möglichen zu begreifen. Ein Kind unter 9 oder 10 Jahren hat noch keine Zweifel, ob der Ge sprächspartner verstanden hat, was es sagt; es fragt nicht nach. Es weiss nicht, dass der andere die Dinge vielleicht nicht so versteht und wahrnimmt wie es selbst. Es sieht daher auch keine Veran lassung, seine Ansichten zu rechtfertigen und zu begründen.

Kommunikativer Egozentrismus wird durch die Entwicklung von Kompetenzen zur Perspektiven und Rollenübernahme überwunden: Das Kind wird zunehmend fähig, die Perspektive anderer zu er kennen und sich in seinem eigenen Handeln und Reden auf die Verständnismöglichkeiten des anderen einzustellen.

Piaget hat folgenden Schluss gezogen: Kinder, die jünger sind als 9 oder 10, sind unfähig, diese Aufgabe zu leisten. Kinder unter 6 haben das Verständnis noch nicht, dass es andere Perspektiven als die ihren gibt.

Die Überwindung des Egozentrismus wird nach Piaget möglich durch Erfahrung und Speicherung unterschiedlicher Ansichten so wie durch sozialen Austausch, durch Widerspruch und Konflikt der „Ansichten“. Auch der Erwachsene muss egozentrische Sichtweisen ständig neu überwinden. Man denke z. B. an Selbstverständlich keiten in einer sozialen Gruppe, an Vorurteile und unreflektierte Ideologien. Die Weiterentwicklung will im Erwachsenen wie im Kindesalter angeregt sein durch Austausch von Meinungen, durch Widerspruch, durch Erfahrung, die mit den eigenen Vorurteilen nicht in Einklang steht. Das ist Piagets plausible Hypothese.

Auch Flavell meint, dass die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme mit dem Alter zunimmt (Flavell, Botkin, Fry, Wright, & Jarvis, 1968; Flavell, Speer, Green, & August, 1981).

3.2.2.1 Das Modell von Selman

Selmans (1971a) Modell der Entwicklung von Perspektivenüber nahme ist ähnlich wie das von Piaget. Selman (1971b) meint dazu, dass vorgehend die Fähigkeit nötig sei, Erwartungen, Gefühle und potenzielle Reaktionen eines anderen erschliessen zu können. Um die Entwicklung dieser Form von Perspektivenübernahme festzu stellen, haben Flavell und seine Mitarbeiter Kindern verschiedenen Alters die Aufgabe gestellt, hypothetische interpersonelle Konflikte zu lösen. Anschliessend wurden den Kindern offene Fragen gestellt.

Entwicklungsstufen: Selman fand heraus, dass sich die Fähigkeit zur Differenzierung und Integrierung der eigenen sozialen Per spektiven sowie jenen anderer mit dem Alter entwickelt und in fünf Stufen unterteilen lässt: Kinder zwischen 3 und 7 Jahren sind auf Stufe 0 (egozentrisch und undifferenzierte Perspektive). Ihnen fehlt die Unterscheidung zwischen sich selber und den anderen in physischer und psychischer Hinsicht. Auf dieser Stufe sind sich die Kinder nicht bewusst, dass es noch andere Gedanken und Emo tionen gibt als die ihren. Auf Stufe 1 (subjektive oder differenzierte Perspektive) sind die Kinder zwischen 4 und 9 Jahre alt. Sie sind sich zwar bewusst, dass andere eigene, subjektive, physische und emotionale Perspektiven haben, jedoch nicht, dass diese Gedanken, Emotionen und Motive in bestimmten Situationen in Konflikt gera ten können. 6 bis 12Jährige auf Stufe 2 (selbstreflektierte oder reziproke Perspektive) haben die Fähigkeit, ihre eigenen Gedan ken und Emotionen und die anderer zu reflektieren. Sie verstehen, dass jemand gegenüber einem sozialen Ereignis mehrere subjekti ve Haltungen haben kann. Auf dieser Stufe entwickeln die Kinder das Verständnis, dass die Perspektive der anderen das Verhalten be einflussen kann. Die Fähigkeit, aus der DrittPersonenPerspektive beobachten zu können, ist auf Stufe 3 (DrittePerson oder Mutuale Perspektive) im Alter zwischen 9 und 15 entwickelt. Zusätzlich be ginnen sie die Individuen in Stereotypen zu klassifizieren. Erst auf Stufe 4 (Societal oder IndepthPerspektive), nach dem 15. Lebens jahr, können die Jugendlichen die vermischten Gefühle in distinkte Emotionen unterscheiden. Sie urteilen über Individuen aus der interpersonellen Interaktion. Von der Jugend bis zum Erwachsenen alter gewinnen sie mehr Verständnis von komplexeren sozialen Systemen.

Implikation einer Stufentheorie: Selmans Stufentheorie beinhaltet qualitative Schichten der Entwicklung von Perspektivenübernahme bei Kindern. Diese Schichten zeigen Veränderungen des Verständ nisses von Personen, die wiederum in unabänderlichen Sequenzen ablaufen. Obwohl Umweltfaktoren oder physiologische Faktoren die Entwicklung in ihrem Ausmass beeinflussen, verändern sie nicht die Sequenz. Entwicklungsgestörte Kinder funktionieren vermutlich auf einer tieferen Ebene, aber die Sequenz bleibt erhalten. Selman et al. (1979) bezeichnen diese Ebene als Entwicklungsverzögerung und sehen sie nicht als Anormalität. Die Stufen sind hierarchisch, d. h., jede Stufe baut auf der vorherigen auf. Kinder in einer unteren Stufe können nicht auf Lösungen der höheren Stufen zugreifen.

Weiterführende Gedanken von Selman im Zusammenhang mit Mo ral wird in Kapitel 4.2 ergänzt. Die Entwicklung von Moral ist abhän gig durch die Fähigkeit der Perspektivenübernahme (Kohlberg, 1969).

3.3 Operationalisierung der Perspektivenübernahme

In diesem Kapitel werden die Methoden zur Messung der Perspek tivenübernahme erläutert. Die wohl bekannteste Methode ist die von Piaget und Inhelder (3.3.1). Danach wird das Paradigma der privile gierten Information von Flavell (3.3.2) und zum Schluss die Messung durch Selbstberichte (3.3.3) vorgestellt.

3.3.1 DreiBergeVersuch

Um die Fähigkeit der Perspektivenübernahme festzustellen, hat Piaget den „DreiBergeVersuch“ entwickelt. Vierjährigen Kindern wird ein Modell mit drei Bergen vorgesetzt, die sich deutlich von einander unterscheiden. Jedes Kind setzt sich vor das Modell in eine bestimmte Position 1 und muss Zeichnungen und Fotografien auswählen, die seine eigene Ansicht der drei Berge am besten abbilden. Sie werden vermutlich diese Aufgabe bewältigen. Nun fragt man die Kinder, wie die Berge wohl aus der Perspektive eines Betrachters aussehen, der in einer anderen Position 2 oder 3 sitzt. Die Mehrzahl der Kinder wird die eigene Ansicht der drei

Berge auswählen. Daraufhin werden die Kinder in die Position 2 bzw. 3 geführt. Die Berge werden von der neuen Position aus be trachtet und die jeweilige Ansicht ausgewählt. Diese neue Auf gabe wird wiederum ohne Probleme geleistet. Schliesslich führt man die Kinder wieder in die Position 1. Sie müssen nun diejenige An sicht bestimmen, die ein Betrachter aus der Position 2 oder 3 hat, aus jener Position also, die sie gerade vorhin selbst auch eingenom men haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird als Lösung wiede rum die aktuelle eigene Ansicht von Position 1 angeboten (Piaget und Inhelder, 1947).

3.3.2 Paradigma der privilegierten Information

Bevor wir zur eigentlichen Operationalisierung von Flavell et al. (1968) übergehen, werden noch einige theoretische Grundsätze über das Paradigma der privilegierten Information erwähnt.

Gegenstand der Analyse von Flavell und seinen Mitarbeitern ist die elementare Fähigkeit eines Individuums, bestimmte Merkmale eines anderen Individuums wahrzunehmen, zu verstehen und dar aus die Verhaltensweisen des anderen in bestimmten Interaktions situationen zu antizipieren und in die eigene Verhaltensstrategie einzuplanen. Dieser Prozess wird „Rollenübernahme“ genannt, ein Begriff, der als „role taking“ aus dem symbolischen Interaktionismus stammt. Dabei sind nicht die Rollen einer gesellschaftlich festge legten Position in einem System gemeint, an die mehr oder weniger genau definierte Verhaltenserwartungen gestellt werden, sondern Schlussfolgerungen über eher individuelle Wahrnehmungsperspek tiven oder (kognitive) Informiertheit einer einzelnen Person. Es geht um die Einschätzung der Kognition eines anderen aus der aktuellen Situation (Flavell, 1968). Selman (1971a) hat aus diesem Grund den Vorschlag gemacht, von „perspective taking“, also Perspektiven übernahme oder Übernahme der Perspektive anderer, zu sprechen. Dieser Terminus trifft den formalen Charakter der angesprochenen Leistung besser. Flavell et al. sehen „Rollenübernahme“ als einen Komplex unterschiedlicher Teilfähigkeiten. Diese lassen sich in einige homogene Gruppen zusammenfassen, wie z. B. die Fähig keit zur Informationsübermittlung unter Berücksichtigung der Infor mationsbedürfnisse des Zuhörers, die Fähigkeit zur Vorhersage des Verhaltens anderer (kognitive Rollenübernahme) oder zur Vorher sage der Kognitionen anderer (rekursives Denken)[2]. Flavell leitet seine theoretischen Positionen aus einer Integration der Ansätze von Mead (1934), Piaget (1923) und Wygotski (1962) ab. Wygotski beschäftigte sich mit der unterschiedlichen Kodierung der inneren und äusseren Sprache bzw. ihrem allmählichen Divergieren im Zusammenhang mit der Perspektivenübernahme.

Flavell strebt eine möglichst genaue Deskription der kindlichen Fähigkeiten auf verschiedenen Alterstufen an, die beim Egozentris mus anfängt und bis zur Fähigkeit der Perspektivenübernahme geht.

Flavell et al. (1968) haben 160 Schüler verschiedenen Alters eines New Yorker Vorortes hinsichtlich der Perspektivenübernahme ge testet: Das Untersuchungsmaterial bestand aus sieben Karten. Aus diesen Karten lässt sich in bestimmter Reihenfolge eine Geschichte erstellen. „Ein bösartiger Hund jagt einen ängstlichen Jungen, der sich in Sicherheit bringt, indem er auf einen Baum in der Nähe klettert. Als er dort sicher ist und der Hund von der Verfolgung ablässt, bemerkt er die Vorteile des Baumes, auf dem er zufällig sitzt, und isst einen Apfel.“ Die sieben Bilder wurden der Versuchs person (Vp) präsentiert, und diese wurde vom Versuchsleiter (Vl) aufgefordert, eine passende Geschichte zu erzählen. Die meisten Vpn. hatten damit keine Schwierigkeiten. Danach holte der Vl einen zweiten Vl aus dem Nebenzimmer und legte ihm vier der sieben Bilder vor, auf denen kein bösartiger Hund zu sehen war. Der Inhalt der Geschichte änderte sich nun. Die Vpn. wurden gebeten, sich in die Lage des zweiten Vl zu versetzen und die Geschichte so zu erzählen, wie sie der zweite Vl erzählen würde. Die Vpn. sollten sich von der 7BilderGeschichte loslösen und zur 4BilderGeschichte übergehen. Ältere Probanden erzählten eher als jüngere die 4BilderGeschichte. Sie zeigten also tendenziell eine bessere PerspektivenübernahmeLeistung, da sie die Geschichte aus der Sicht des zweiten Vls erzählen konnten. Der Leistungsbruch hin zu funktionierender Perspektivenübernahme scheint aufgrund dieses Versuchs vor allem zwischen dem 9. und 10. Altersjahr zu liegen.

Zwei Aspekte sind für die unterschiedliche Perspektivenübernahme Leistung zwischen jüngeren und älteren Menschen massgebend (Flavell et al., 1968): Die Erinnerung der Bilder in der kurzen Ge schichte an die erste Geschichte stellt für die jüngeren Vpn. ein grösseres Hindernis dar als für die älteren Vpn., und zudem fehlt es den Jüngeren an der kognitiven Fähigkeit zu dezentrieren (d. h. sich von der bereits bekannten Perspektive zu lösen). Beide Erklä rungen für die mangelhafte PerspektivenübernahmeLeistung jün gerer Vpn. sind ein Indiz für einen noch nicht überwundenen Ego zentrismus.

3.3.3 Messungen durch Selbstberichte bzw. Fragebögen

In den letzten Jahren wurden auch im Bereich der Perspektiven übernahmeForschung verstärkt SelbstberichtMessinstrumente ein gesetzt, insbesondere in Untersuchungen mit Erwachsenen, in denen Perspektivenübernahme mit einer Reihe theoretischer und angewandter Fragen verbunden waren. Ein Beispiel aus Davis’ Interpersonal Reactivity Index (IRI, 1983) lautet: „Bevor ich jeman den kritisiere, versuche ich mir vorzustellen, wie ich mich an seiner Stelle fühlen würde.“ Diese Art Items messen die selbstberichtete Tendenz von Personen, auf psychische Zustände anderer Personen einzugehen und diese zu übernehmen. Steins nennt das eine Art „Gefühlsansteckung“ (1998).

Oswald und Bütikofer haben im Rahmen ihrer TaWiEvaluation einen Fragebogen entwickelt, der als Gegenstand der vorliegenden Arbeit gebraucht wurde und deswegen im Kapitel 8.2.1 vorgestellt wird.

4 Empathie und Perspektivenübernahme: Gemeinsamkeiten und Abgrenzung

Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die Konstrukte Empathie und Per spektivenübernahme getrennt behandelt, obwohl Überschneidun gen unumgänglich waren. Deswegen wird im Kapitel 4.1 der Zusam menhang der beiden Konstrukte bzw. der Zusammenhang beider Konstrukte mit anderen Variablen (4.2) angesprochen, vor allem der mögliche Zusammenhang mit aggressivem Verhalten (4.2.1). Darauffolgend erfahren wir etwas über Unterschiede der beiden Konstrukte (4.3).

4.1 Zusammenhang beider Konstrukte

Empathie und Perspektivenübernahme sollten positiv zusammen hängen. Eine Person, die empathisch ist, kann auch gut die Perspek tive des anderen übernehmen. Eigentlich führt uns die Intuition zu diesem Gedanken. Doch wie sieht es in der Wissenschaft aus? Batson (1987) nimmt an, dass Empathie eine vorauslaufende Reaktion der Perspektivenübernahme aufgrund der Notlage einer anderen Person ist. Perspektivenübernahme wiederum führt zu Hilfeverhalten. Auch Hoffmann (1977) sieht einen ähnlichen Zusammenhang: Seiner Mei nung nach stellt Empathie eine notwendige Bedingung für Per spektivenübernahme dar, die wiederum zu prosozialem Verhalten führt.

Steins und Wicklund (1998) sehen keine positivlineare Beziehung für diese beiden Konstrukte, sondern einen kurvilinearen Zusam menhang: Besonders empathische Personen können die Perspek tive eines Interaktionspartners im Vergleich zu wenig empathischen Personen besser übernehmen, wenn dieser ihnen auch wichtig ist. Besteht jedoch ein Konflikt zwischen den beiden interagierenden Personen, kehrt sich der positive Zusammenhang in einen negati ven. Hoch empathische Personen übernehmen die Perspektive der anderen Person schlechter als niedrig empathische Personen[3].

4.2 Zusammenhänge zwischen Empathie bzw.

Perspektivenübernahme und anderen Variablen

Viele Jahre lang haben Philosophen versucht, zugrunde liegende Mechanismen von prosozialem oder moralischem Verhalten aufzu decken. Der Vorschlag von Kant (1788/1949) zum Beispiel war, dass Verhalten und moralische Prinzipien von rationalen Prozessen her vorgerufen und weniger von Emotionen beeinflusst würden. Hume (1777/1966) hingegen nahm an, dass affektive Reaktionen dem moralischen Verhalten unterlägen.

Die Fähigkeit, die Emotionen anderer nachzuvollziehen, tritt in der Kindheit auf. Steigt das Verständnis des Selbstkonzepts oder das Konzept vom andern, nimmt diese Fähigkeit zu (Hoffman, 1979; ZahnWaxler, RadkeYarrow, Wagner, & Chapman, 1992).

Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme wird in der neueren Literatur mit Moral in Verbindung gebracht. Kohlberg (1969) meint, dass höhere Moralgedanken durch die Fähigkeit zur Perspek tivenübernahme bedingt seien. Um auf eine konventionelle Ebene der Moral, auf der sich die meisten Jugendliche und Erwachsene befinden, zu gelangen, müsse das Individuum die Fähigkeit besit zen, mehrere Perspektiven zu berücksichtigen. Selman (1971b) ver glich die Leistung der Kinder in Kohlbergs MoralDilemmata und zog daraus den Schluss, dass die Entwicklung hin zu einer kon ventionellen Moralebene teilweise von der Entwicklung der Per spektivenübernahmeFähigkeit (role taking skills) abhängig sei. Andere Autoren bekräftigen diesen Befund, indem sie einen signi fikanten Zusammenhang zwischen Perspektivenübernahme und moralischem Urteilen bei Delinquenten und NichtDelinquenten festgestellt haben (Lee & Prentice, 1988).

Empathie wird ebenfalls mit der Fähigkeit zur sozialen Anpassung in Zusammenhang gebracht. Der Mensch, der sich sozial gut an passen kann, übernimmt auch Perspektiven anderer Personen bes ser. So nehmen Norman und Ainsworth (1954) einen positiven Zu sammenhang zwischen guter sozialer Anpassung, Empathie und Selbstsicherheit an, wobei sie unter Empathie das Gleiche wie unter Perspektivenübernahme verstehen. Straker und Jacobson (1981) finden bei Kindern, die von Eltern oder Pflegepersonen körperlich

misshandelt wurden, weniger Empathie und höhere emotionale Fehlangepasstheit als bei Kindern, die nicht körperlich misshandelt wurden, und deuten diesen Befund als Beleg für einen engen Zu sammenhang zwischen sozialer Anpassung und Empathie.

4.2.1 Empathie, Perspektivenübernahme und aggressives Verhalten

Feshbach (1964) hat die Hypothese aufgestellt, dass die Reaktion eines Opfers auf einen aggressiven Angriff eine emotionale empa thische Antwort im Beobachter auslöse, sogar dann, wenn der Beo bachter der Angreifer selbst sei. Deswegen wählt eine empathische Person kein aggressives Verhalten, um ein nicht aggressives Ziel zu erreichen. Zusätzlich meint Feshbach, dass die unmittelbare und intensive Empfindung der Opferreaktion ein wichtiger Hem mer für Aggression sei. Die „empathynonaggression“ und die „immediacynonaggression“Hypothesen werden durch die Experi mente von Mehrabian und Epstein (1972) bestätigt. Diese zeigten, dass ein hoher Grad an Empathie alleine nicht ausreicht, um Aggres sionen zu hemmen, jedoch spielt geringere bzw. höhere Empathie bei der unterschiedlichen physischen Nähe des Opfers eine Rolle. Personen mit höherer Empathie waren weniger aggressiv zu Perso nen, die ihnen physisch näher waren, als Personen mit geringerer Empathie. Das Experiment von Milgram (1965) war ähnlich ange legt, jedoch nicht unter dem Aspekt der „empathynonaggression“ Hypothese untersucht worden. Wir werden uns später eingehend mit diesem Thema befassen (5.1.2).

Bei der Unterdrückung von Aggression spielt es bei Kindern eine grosse Rolle, ob sie den Schmerz eines anderen verstehen bzw. ob sie abschätzen können, dass ihre Handlung bei einer anderen Person einen bestimmten Schmerz auslösen kann. Im Alter von 6 Jahren zeigen Kinder eine Abnahme von physischaggressivem Verhalten wegen der Zunahme der PerspektivenübernahmeFähigkeit und an deren kognitiven Fähigkeiten wie Sprache, Empathie und der Fähig keit, Vergnügen aufzuschieben (Coie & Dodge, 1998). Die Steige rung der PerspektivenübernahmeFähigkeit zeichnet sich nicht immer durch Hemmung aus. Mit dem Bewusstsein, dass bestimmtes Verhalten Schmerz bei anderen auslösen kann, steigt auch die persönlich orientierte Form von Aggression, wie z. B. Kritik und Spott. Crick & Dodge (1994) haben nachgewiesen, dass stark aggres sive Kinder die Handlung anderer weniger genau interpretieren können. Bei ambivalenten Situationen nehmen diese Kinder eher feindseliges als friedliches Verhalten beim Gegenüber an.

4.3 Unterschiedliche Forschungstradition, Definitionen und Operationalisierungen

Betrachtet man die Forschungstradition der beiden Konzepte sowie deren Definitionen und Operationalisierungen, zeigen sich beachtli che Unterschiede, die der intuitiven Annahme, dass Empathie und Perspektivenübernahme zusammenhängen, widersprechen. Die un terschiedlichen Forschungsfelder zeigen den ersten grundlegenden Unterschied: Perspektivenübernahme spielt in der Entwicklungs psychologie eine grosse Rolle. Ebenfalls ist Perspektivenübernahme innerhalb der Theorie des symbolischen Interaktionismus’ bedeut sam, insofern angenommen wird, dass die Fähigkeit zur Perspek tivenübernahme eine notwendige Voraussetzung für eine adäquate soziale Entwicklung darstellt (Cooley, 1902; Mead, 1934). Empathie wird im Gegensatz zur Perspektivenübernahme im Zusammenhang mit moralischer Entwicklung (Kohlberg, 1976), Altruismus (Batson, 1987) und im weiteren Sinne mit sozialer Angepasstheit (z. B. Johnson, Cheek, & Smith, 1983) untersucht. Weiterhin nimmt Em pathie in manchen Modellen der Persönlichkeitsforschung einen bedeutsamen Platz ein (Eysenck & Eysenck, 1978).

Wenn wir die Definitionen von Empathie und Perspektivenübernah me kritisch betrachten, entdecken wir einen wichtigen Unterschied: Nahezu alle Definitionen, die von verschiedenen Autoren hinsicht lich Perspektivenübernahme formuliert wurden, weisen darauf hin, dass dieses Konstrukt ein kognitiver Prozess ist, der auf die Per spektive anderer Personen gerichtet ist, d. h. auf Aspekte der wahr genommenen Person, die objektiv wahrnehmbar sind und durch Kombinationen zu bestimmten Schlussfolgerungen über die wahr genommene Person führen können. Die Definitionen von Empa thie hingegen sind ein auf die emotionalen Reaktionen anderer Personen gerichteter Prozess, der die eigenen emotionalen Reak tionen mit einschliesst. Empathie beinhaltet also auch eine eigene emotionale Reaktion, welche derjenigen der betroffenen Person ähnlich ist. Perspektivenübernahme scheint also eine kognitive Variable, Empathie hingegen eine affektive Variable darzustellen. Daraus lässt sich jedoch nicht unbedingt die Schlussfolgerung zie hen, dass Empathie eine affektive Komponente der Perspektiven übernahme sein müsse. Vielmehr scheinen die Definitionen beider Konzepte einen Kontrast zu bilden: Während Perspektivenübernah me eine gewisse optimale Distanz zu der wahrgenommenen Person erfordert (Piaget, 1924), damit deren Perspektive überhaupt erkenn bar werden kann, bildet das Kernstück der Definition von Empathie eine intensive emotionale Nähe zur wahrgenommenen Person.

In den Theorien zur Entwicklung von Empathie versus Perspektiven übernahme stösst man auch auf Unterschiede: Perspektivenüber nahme scheint einerseits eine Fähigkeit zu sein, deren Entwicklung parallel zur kognitiven Entwicklung verläuft (Piaget, 1924), ande rerseits eine Fähigkeit, die in klar vorhersehbarer Weise von sozia len Faktoren determiniert wird, insofern ein Minimum an sozialer Anregung eine notwendige Bedingung zum Erwerb dieser Fähig keit darstellt (z. B. Hollos & Cowan, 1973). Empathie scheint in der Erziehung eine wichtige Rolle zu spielen: Förderlich für die Ent wicklung von Empathie scheint es zu sein, wenn sich die Mutter ebenfalls empathisch verhält (z. B. ZahnWaxler, Robinson, & Emde, 1992) und wenn bestimmte Erziehungsmethoden angewendet wer den: wenn etwa Einsicht und Sanktionen genügend kombiniert werden und ausbalanciert sind (z. B. Grusec, 1991).

In der Operationalisierung und Messung zeigen sich weitere Un terschiede: Der Grad an Empathie wird in den meisten Fällen durch Selbstberichte (z. B. Davis, 1983; Mehrabian & Epstein, 1972) ge messen. Perspektivenübernahme hingegen kann durch eine Reihe von Verfahren erhoben werden, die nicht nur auf Selbstberichte der Teilnehmenden beruhen. Wie wir im Kapitel 3.3 „Operationalisie rung der Perspektivenübernahme“ gesehen haben, gibt es die Drei BergeMethode (Piaget & Inhelder, 1947) oder das Paradigma der privilegierten Information von Flavell et al. (1968) zur Erfassung der PerspektivenübernahmeFähigkeit.

[...]


[1] Eine ausführlichere Darstellung von Personenwahrnehmung und deren Schlussfolgerung findet man in Wicklund & Steins, 1996

[2] Für eine weitere Darstellung sei auf das Buch von Flavell et al. (1968) „Rollenübernahme und Kommunikation bei Kindern“ verwiesen.

[3] Für eine ausführliche Darstellung zu dieser Theorie von Steins und Wicklund siehe Steins, G. (1998): „Diagnostik von Empathie und Perspektivenübernahme“

Ende der Leseprobe aus 118 Seiten

Details

Titel
Empathie und Perspektivenübernahme bei Straftätern
Hochschule
Universität Bern
Veranstaltung
Lizentiat Kolloquium
Note
5 (CH)
Autor
Jahr
2004
Seiten
118
Katalognummer
V120451
ISBN (eBook)
9783640322084
Dateigröße
1311 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Empathie, Perspektivenübernahme, Straftätern, Lizentiat, Kolloquium
Arbeit zitieren
lic. phil. Psychologe/Diplompsychologe Dung-Tam Nguyen (Autor:in), 2004, Empathie und Perspektivenübernahme bei Straftätern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120451

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