Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik


Klassiker, 2008

31 Seiten

Max Weber (Autor:in)


Leseprobe


Vorbemerkung

Nicht die Zustimmung, sondern der Widerspruch, welchen die nachstehenden Ausführungen bei vielen ihrer Hörer fanden, veranlaßten mich, sie zu veröffentlichen. Sachlich Neues werden sie Fachgenossen wie Andern nur in Einzelheiten bringen, und in welchem speziellen Sinn allein sie den Anspruch auf das Prädikat der „Wissenschaftlichkeit“ erheben, ergiebt sich aus der Veranlassung ihres Entstehens. Eine Antrittsrede bietet eben Gelegenheit zur offenen Darlegung und Rechtfertigung des persönlichen und insoweit „subjektiven“ Standpunktes bei der Beurteilung volkswirtschaftlicher Erscheinungen. Die Ausführungen S. 20–24 hatte ich mit Rücksicht auf Zeit und Hörerkreis fortgelassen, andere mögen beim Sprechen eine andere Form angenommen haben. Zu den Darlegungen im Eingang ist zu bemerken, daß die Vorgänge hier naturgemäß wesentlich vereinfacht gegenüber der Wirklichkeit dargestellt werden. Die Zeit von 1871–1885 zeigt in den einzelnen Kreisen und Gemeinden Westpreußens keine einheitlichen, sondern charakteristisch wechselnde Bevölkerungsbewegungen, die keineswegs durchweg so durchsichtig sind wie die herausgegriffenen Beispiele. Die Tendenz, welche an diesen zu veranschaulichen versucht ist, wird in anderen Fällen durch andere Momente durchkreuzt. Darauf werde ich demnächst ausführlicher an anderem Ort zurückkommen. Daß die Resultate, welche diese Zahlen bieten können, auf unsichereren Füßen stehen als diejenigen, welche die verdienstlichen Veröffentlichungen mehrerer Schüler Neumanns uns über die Nationalitätsverhältnisse in Posen und Westpreußen geliefert haben, liegt auf der Hand. Aber in Ermangelung korrekten Materials müssen wir uns vorerst mit ihnen begnügen, zumal die Erscheinungen, welche sie veranschaulichen, uns in ihren Hauptzügen bereits aus den ländlichen Enqueten der letzten Jahre bekannt sind.

Freiburg, Mai 1895.

Max Weber.

Die Fassung meines Themas verspricht weit mehr als ich heute halten kann und will. Was ich beabsichtige, ist zunächst: an einem Beispiel die Rolle zu veranschaulichen, welche die physischen und psychischen Rassendifferenzen zwischen Nationalitäten im ökonomischen Kampf ums Dasein spielen. Daran möchte ich einige Betrachtungen über die Stellung der auf nationaler Grundlage ruhenden Staatswesen – wie es das unsrige ist – im Rahmen der volkswirtschaftspolitischen Betrachtung knüpfen. – Ich wähle für jenes Beispiel einen Kreis von Vorgängen, die örtlich fern von uns sich abspielen, aber seit einem Jahrzehnt die öffentliche Aufmerksamkeit wiederholt erregt haben – und bitte Sie, mir in die Ostmarken des Reiches, auf das platte Land der preußischen Provinz Westpreußen zu folgen. Dieser Schauplatz verbindet die Eigenschaft eines nationalen Grenzlandes mit ungewöhnlich schroffen Unterschieden der ökonomischen und sozialen Existenzbedingungen, und dies empfiehlt ihn für unseren Zweck. Ich kann leider nicht umhin, Ihre Geduld zunächst für eine Reihe trockener Daten in Anspruch zu nehmen.

Die Provinz umschließt in ihren Landdistrikten Gegensätze von dreierlei Art.

Zunächst außerordentliche Verschiedenheiten in der Güte des Ackerbodens: – von den Zuckerrübenböden der Weichselebene bis auf die sandige kassubische Höhe liegen Unterschiede in der Steuerreinertragsschätzung um das 10- und 20fache. Selbst die Kreisdurchschnitte schwanken zwischen 4¾ und 33⅔ Mk. pro ha.

Gegensätze ferner in der sozialen Schichtung der Bevölkerung, die diesen Boden bebaut. Wie im Osten überhaupt, kennen auch hier die amtlichen Aufnahmen neben der „Landgemeinde” eine zweite dem Süden unbekannte Form der kommunalen Einheit: den „Gutsbezirk“. Und dem entsprechend heben sich im Landschaftsbilde zwischen den Dörfern der Bauern die Rittergüter ab, die Sitze der Klasse, welche dem Osten sein soziales Gepräge giebt: der Junker –, Herrenhöfe, umgeben von den einstöckigen Kathen, welche der Gutsherr nebst Ackerstücken und Weide den Tagelöhnern anweist, die das Jahr über zur Arbeit auf dem Hofe verpflichtet sind. Etwa je zur Hälfte ist die Fläche der Provinz zwischen beide verteilt. Aber in den einzelnen Regionen schwankt der Anteil der Gutsbezirke von wenigen Prozenten bis zu ⅔ der Fläche der Kreise.

Endlich innerhalb dieser dergestalt in zweifacher Art sozial geschichteten Bevölkerung der dritte Gegensatz: derjenige der Nationalitäten. Und auch die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung der einzelnen Gemeindeeinheiten ist regional eine verschiedene. Diese Verschiedenheit ist es, welche uns interessiert. Dichter wird das Polentum zunächst – natürlich – mit Annäherung an die Grenze. Es nimmt aber ferner, wie jede Sprachenkarte zeigt, zu mit ab nehmender Güte des Bodens. Das wird man – nicht überall mit Unrecht – zunächst historisch erklären wollen aus der Art der deutschen Okkupation, welche zuerst das fruchtbare Weichselthal überflutete. Allein wenn man nun weiter fragt: welche sozialen Schichten sind auf dem Lande die Träger des Deutschtums und des Polentums? – so zeigen uns die Ziffern der bisher zuletzt publizierten [i] Bevölkerungsaufnahme von 1885 ein merkwürdiges Bild. Aus dieser Aufnahme können wir zwar die nationale Zusammensetzung der Gemeinden nicht direkt, wohl aber – wenn wir uns mit einer nur annähernden Richtigkeit der Ziffern zufrieden geben – indirekt entnehmen: durch das Mittelglied der Konfession, die innerhalb des für uns in Betracht kommenden national gemischten Gebietes mit der Nationalität bis auf wenige Prozente zusammentrifft. Scheiden wir die ökonomischen Kategorien der Bauerndörfer und der Rittergüter in den einzelnen Gegenden, indem wir sie, gleichfalls ungenau, mit den Kommunaleinheiten [ii] der Landgemeinden bezw. Gutsbezirken identifizieren, so zeigt sich, daß sie sich je nach der Bodengüte in Bezug auf ihre nationale Zusammensetzung entgegengesetzt von einander verhalten: in den fruchtbaren Kreisen sind die Katholiken, d. h. die Polen, relativ am stärksten auf den Gütern und die Evangelischen, d. h. die Deutschen, in den Dörfern zu finden, – und gerade umgekehrt steht es in den Kreisen mit schlechtem Boden. Faßt man z. B. die Kreise mit unter fünf Mark Durchschnittssteuerreinertrag pro Hektar zusammen, so sind in den Dörfern nur 35,5 %, auf den Gütern 50,2 % Evangelische, nimmt man dagegen die Kreisgruppe, welche 10 bis 15 Mark Durchschnittssteuerreinertrag pro Hektar umfaßt, so sind die Evangelischen in den Dörfern mit 60,7 %, auf den Gütern nur mit 42,1 % beteiligt. Wie kommt das? Warum sind in der Ebene die Güter, auf der Höhe die Dörfer die Sammelbecken des Polentums? Eins sieht man alsbald: die Polen haben die Tendenz sich in der ökonomisch und sozial niedrigst stehenden Schicht der Bevölkerung anzusammeln. Auf den guten Böden, zumal der Weichselebene, stand der Bauer in seiner Lebenshaltung stets über dem Gutstagelöhner, auf den schlechten Böden dagegen, die rationell nur im Großen zu bewirtschaften waren, war das Rittergut der Träger der Kultur und damit des Deutschtums, die kümmerlichen Kleinbauern stehen dort in ihrer Lebenshaltung noch heute unter den Gutstagelöhnern. Wüßten wir das nicht ohnehin – der Altersaufbau der Bevölkerung ließe es uns vermuthen. Steigt man in den Dörfern von der Ebene zum Höhenrücken hinauf, so steigt der Anteil der Kinder unter 14 Jahren von 35–36 % mit abnehmender Bodengüte bis auf 40–41 %, – und wenn man damit die Güter vergleicht, so ist in der Ebene der Anteil der Kinder größer als in den Dörfern, steigt nach der Höhe zu, aber langsamer als in den Dörfern, und bleibt auf derselben hinter ihnen zurück. Die große Kinderzahl heftet sich hier wie überall an die Fersen der niedrigen Lebenshaltung, welche die Erwägungen der Fürsorge für die Zukunft erstickt. – Wirtschaftliche Kultur, relative Höhe der Lebenshaltung und Deutschtum sind in Westpreußen identisch.

Und doch konkurrieren beide Nationalitäten seit Jahrhunderten auf demselben Boden unter wesentlich gleichen Chancen mit einander. Worin ist also jene Scheidung begründet? Man ist alsbald versucht, an eine auf physischen und psychischen Rassenqualitäten beruhende Verschiedenheit der Anpassungsfähigkeit der beiden Nationalitäten an die verschiedenen ökonomischen und sozialen Existenzbedingungen zu glauben. Und in der That ist dies der Grund, – der Beweis dafür liegt in der Tendenz, welche in der Verschiebung der Bevölkerung und der Nationalitäten zu Tage tritt und welche zugleich das Verhängnißvolle jener verschiedenen Anpassungsfähigkeit für das Deutschtum des Ostens erkennen läßt.

Es stehen uns zur Beobachtung der Verschiebungen in den einzelnen Gemeinden allerdings nur die Zahlen von 1871 bis 1885 zum Vergleich zur Verfügung, und diese lassen uns den Anfang einer Entwicklung erst undeutlich erkennen, die sich seither nach allem, was wir wissen, außerordentlich verstärkt fortsetzt. Die Deutlichkeit des Zahlenbildes leidet ja überdies naturgemäß durch die notgedrungene, aber nicht ganz genaue Gleichsetzung von Konfession und Nationalität einerseits, Verwaltungseinteilung und sozialer Gliederung andererseits. Allein trotzdem sehen wir das, worauf es ankommt, deutlich genug. – Die Landbevölkerung der Provinz, wie diejenige großer Teile des Ostens überhaupt, zeigte während des Zeitraumes von 1880–1885 eine Tendenz zur Abnahme: in Westpreußen betrug sie 12 700 Köpfe, d. h., während die Bevölkerung des Reiches sich um etwa 3½ % vermehrt hat, verminderte sie sich um 1¼ %. Auch diese Erscheinung, wie die bisher besprochenen, verteilt sich aber ungleich: in manchen Kreisen steht ihr eine Zunahme der Landbevölkerung gegenüber. Und zwar ist die Art, wie sich beide verteilen, recht eigentümlich. Nehmen wir zunächst die verschiedenen Bodenqualitäten, so wird Jeder vermuten: die Abnahme wird am stärksten die schlechtesten Böden betroffen haben, wo unter dem Druck der sinkenden Preise der Nahrungsspielraum zuerst zu eng werden mußte. Sieht man sich die Zahlen an, so zeigt sich: das Umgekehrte ist der Fall: gerade eine Reihe der gesegnetsten Kreise: Stuhm und Marienwerder z. B. mit rund 15–17 Mark Durchschnittsreinertrag, hatten den stärksten Abfluß: 7–8 %, während auf der Höhe die Kreise Konitz, Tuchel mit 5–6 Mark Reinertrag mit die stärkste schon seit 1871 konstante Vermehrung erlebten. Man sucht nach Erklärung und fragt zunächst: welche sozialen Schichten sind es, denen einerseits jener Abfluß entstammte, und denen andererseits diese Vermehrung zu Gute kam? Sieht man sich die Kreise mit starken Verminderungsziffern an, Stuhm, Marienwerder, Rosenberg, so sind es durchweg solche, in denen der große Grundbesitz besonders stark herrscht, und betrachtet man nun weiter die Guts bezirke der ganzen Provinz zusammen, so kommen, trotzdem sie 1880 auf derselben Bodenfläche ohnehin eine um zwei Drittel geringere Volkszahl aufwiesen als die Dörfer, doch fast ¾ der Verminderung der Landbevölkerung, über 9000 Köpfe, auf sie allein: ihre Bevölkerung hat um etwa 3¾ % abgenommen. Aber auch innerhalb der Güter ist diese Abnahme wieder verschieden verteilt, teilweise fand Zunahme statt, und wenn man die Gegenden mit starker Abnahme der Gutsbevölkerung aussondert, so zeigt sich: gerade die Güter auf guten Böden haben einen besonders starken Abfluß erlebt.

Die Zunahme der Bevölkerung dagegen, welche auf den schlechten Böden der Höhe stattfand, ist vornehmlich den Dörfern zu Gute gekommen, und gerade den Dörfern auf schlechten Böden am stärksten, im Gegensatz zu den Dörfern der Ebene. Abnahme der Tagelöhner der Güter auf den besten Böden, Zunahme der Bauern auf den schlechten also ist die Tendenz. Um was es sich dabei handelt und wie das zu erklären ist, wird klar, wenn man schließlich auch hier fragt: wie sich die Nationalitäten zu diesen Verschiebungen verhalten.

Das Polentum im Osten schien in der ersten Hälfte des Jahrhunderts langsam und stetig zurückgedrängt zu werden, seit den 60iger Jahren aber ist es, wie bekannt, ebenso langsam und stetig im Vordringen begriffen. Das letztere ergeben für Westpreußen die Spracherhebungen trotz ihrer mangelhaften Grundlagen doch auf das Deutlichste. Nun kann die Verschiebung einer Nationalitätengrenze auf zweierlei, grundsätzlich zu scheidende, Arten sich vollziehen. – Einmal so, daß nationalen Minderheiten im national gemischten Gebiet Sprache und Sitte der Mehrheit allmählich oktroyiert wird, daß sie „aufgesogen“ werden. Auch diese Erscheinung findet sich im Osten: sie vollzieht sich statistisch nachweisbar an den Deutschen katholischer Konfession. Das kirchliche Band ist hier stärker als das nationale, Reminiszenzen aus dem Kulturkampf spielen mit, und der Mangel eines deutsch erzogenen Klerus läßt sie der nationalen Kulturgemeinschaft verloren gehen. Wichtiger aber und für uns interessanter ist die zweite Form der Nationalitätenverschiebung: die ökonomische Verdrängung. – Diese liegt hier vor. Prüft man die Verschiebungen des Anteils der Konfessionen in den ländlichen Gemeindeeinheiten 1871–1885, so zeigt sich: der Abfluß der Gutstagelöhner ist regelmäßig mit einer relativen Abnahme des Protestantismus in der Ebene, die Zunahme der Dorfbevölkerung auf der Höhe mit einer relativen Zunahme des Katholizismus verknüpft [iii]. Es sind vornehmlich deutsche Tagelöhner, die aus den Gegenden mit hoher Kultur abziehen, es sind vornehmlich polnisch Bauern, die in den Gegenden mit tiefem Kulturstand sich vermehren.

[...]


[i] „Gemeindelexikon“ Berlin 1887.

[ii] Für die soziale Schichtung ist diese Verwaltungseinteilung dennoch charakteristischer als die Zugrundlegung der Betriebsverteilung. In der Ebene sind Gutsbetriebe unter 100, auf der Höhe Bauernbetriebe über 200 Hektar nichts seltenes.

[iii] Z. B. hatten die Gutsbezirke des Kreises Stuhm 1871–1885 einen Bevölkerungsrückgang um 6,7 %, der Anteil der Protestanten an der christlichen Bevölkerung ging von 33,4 auf 31,3 zurück. Die Dörfer der Kreise Konitz und Tuchel hatten + 8 %, der Anteil der Katholiken steig von 84,7 auf 86,0 %.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik
Autor
Jahr
2008
Seiten
31
Katalognummer
V120310
ISBN (eBook)
9783640237234
ISBN (Buch)
9783640239047
Dateigröße
530 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nationalstaat, Volkswirtschaftspolitik
Arbeit zitieren
Max Weber (Autor:in), 2008, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120310

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