Die Ursachen der Korruption in Afrika - Eine Frage der Kultur?

Eine kommentierte Bibliographie


Magisterarbeit, 2003

99 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

TEIL 1 THEMATISCHE EINFÜHRUNG
1. Definitionen
1.1 Was ist Kultur?
1.2 Was ist Korruption?
2. Hintergründe zur kommentierten Bibliographie
3. Die Ursachen von Korruption
3.1 Von schwachen Institutionen, wirtschaftlichen Problemen und Kolonialismus
3.1.1 Der soft state
3.1.2 Schwache Institutionen und Verfahren
3.1.3 Staatliche Einflussnahme auf die Wirtschaft
3.1.4 Armut und Ungleichverteilung
3.1.5 Kolonialismus
3.1.6 Neo-patrimoniale Strukturen
3.2 Kultur und Korruption
3.2.1 Sozialkapital und Solidaritätsnetzwerke
3.2.2 Gift-giving oder die Tradition des Schenkens
3.2.3 Weitere soziokulturelle Logiken
4. Schlussfolgerungen

TEIL 2 KOMMENTIERTE BIBLIOGRAPHIE
5. Kommentierte Literatur zu den Ursachen von Korruption in Afrika
6. Literatur
7. Anhang

Einleitung

Diese Studie entstand im Auftrag der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Ziel ist es, im Vorfeld einer Analyse zur Rolle kultureller und traditioneller Strukturen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Korruption in Afrika, die vorhandene Literatur zu erfassen. Nun ist Korruption weder ein afrikanisches Problem:

„We cannot over-emphasize the fact that the problem of what is commonly called ‘corruption’ is in no way unique to Africa.” (Bayart; Ellis; Hibou 1999: 8)

Noch ist Afrika korrupter einzuschätzen als etwa Asien oder Lateinamerika, wie TREISMAN aufzeigt (vgl. 1999: 43). Er bemerkt sogar:

„Given its poverty and meager experience with democracy, Africa is in fact less corrupt than would be predicted.” (Treisman 2000: 43)

Das alles relativiert sich aber, wenn man sich die ohnehin schwachen staatlichen Strukturen in Afrika vor Augen führt und sich die ungleich schwerwiegenderen Folgen verdeutlicht, welche die Korruption dort anrichtet. Dass die Bekämpfung von Korruption in den letzten Jahren in der Politik der Entwicklungsorganisationen eine immer wichtigere Rolle einnimmt, erkennt man an der zunehmenden Anzahl von Strategiepapieren und Konferenzen in dieser Hinsicht. Die Frage stellt sich nach der Effektivität der bisher entworfenen Strategien. Um Korruption aber auch nur ansatzweise erfolgreich eindämmen zu können, muss man zunächst einmal ihre Ursachen verstehen. Ein Aspekt dabei ist die Frage, ob die soziokulturellen Faktoren bisher beachtet wurden und welche Bedeutung ihnen beigemessen wurde. Aufgabe dieser Arbeit ist es nicht, die Ursachen von Korruption zu erforschen. Ziel ist es vielmehr, zu sehen was und wieviel bisher über diese Thematik veröffentlicht wurde.

Die Arbeit teilt sich in zwei Teile. Zu Beginn des Teil 1 werden in einem ersten Schritt die Begriffe Kultur und Korruption näher definiert. Im Anschluss an einige Hintergründe zu dieser Studie werden dann die wichtigsten Ursachenblöcke aus der Literatur zusammengefasst. Getrennt davon folgen eine Beschreibung und eine Einschätzung des Verhältnisses von Kultur und Korruption. Der zweite Teil der Arbeit besteht aus der kommentierten Bibliographie zum Thema Ursachen von Korruption in Afrika. Der Anhang enthält eine Tabelle mit einer Übersicht aller kommentierten Texte und der darin aufgeführten Korruptionsursachen.

TEIL 1

THEMATISCHE EINFÜHRUNG

1. Definitionen

1.1 Was ist Kultur?

Was verstehen wir unter Kultur? Im Alltag wird der Kulturbegriff häufig auf den Bereich der Kunst reduziert. Dass Kultur jedoch viel mehr umfasst, viel weiter zu begreifen ist, zeigen zahlreiche ethnologische Definitionen. Kultur umfasst alle Bereiche einer Gesellschaft (Wissen, Glaube, Kunst, Moral, Sitte, Brauch), wobei entscheidend ist, dass sie nicht naturgegeben ist, sondern durch den Menschen geformt und verändert wird (vgl. Lentz 2002, Rudolph 1998). Kultur kann daher nicht als statisch betrachtet werden, sondern sie unterliegt einem stetigen Wandlungsprozess.

An dieser Stelle soll jedoch keine endgültige Definition von Kultur übernommen werden, da sich Kultur hier auf die in dieser Arbeit untersuchte Literatur über Korruption in Afrika bezieht. In diesen Texten wird Kultur zum einen in den wenigsten Fällen definiert, zum anderen mit anderen Konzepten, wie dem der Tradition, vermischt. Bei der Erforschung der Ursachen von Korruption – und dies beschränkt sich nicht nur auf den afrikanischen Kontinent – werden Tradition und Kultur in aller Regel als ein und dasselbe behandelt. Dann nämlich, wenn es darum geht, frühere vorkolonial]e Charakteristika afrikanischer Gesellschaften auf heutige Verhaltensweisen zu projizieren. Die Autoren nehmen mit unterschiedlicher Terminologie darauf Bezug: traditionelle Werte, kulturelle Grundmuster, soziokulturelle Normen, customary norms, primordial sentiments, etc.. Gemeint sind in der Regel soziale Verhaltensweisen und Wertesysteme, wie etwa das Prinzip der gegenseitigen Hilfe (Reziprozität) unter Verwandten und Freunden, Solidaritätsnetzwerke, das obligatorische Geben von Geschenken (gift-giving), die Zurschaustellung von Wohlstand (Ostentation), das Einschalten von Mittelsmännern (Maklern), die hohe Persönlichkeit von Beziehungen sowie in manchen Fällen die etwas spezielleren Phänomene der Zauberei oder des Tricksters1. Eine weitere definitorische Schwierigkeit ist die Tatsache, dass eine generelle Tendenz besteht, Afrika fälschlicherweise als eine kulturelle Einheit zu sehen:

„As for ‘African culture’, one need only recall the continent’s great diversity of societies, rule systems, political organizations and linguistic groups to balk at subsuming them under a single term, though it is undeniable that certain themes recur.” (Sindzingre 1992: 92)

Auf die Problematik einer derartigen begrifflichen und inhaltlichen Fülle und Diffusion wird im Laufe dieser Arbeit genauer eingegangen.

1.2 Was ist Korruption?

Die Korruption ist ein komplexes Phänomen. Nicht nur kann sie aus einer ganzen Reihe von verschiedenen Praktiken bestehen (Bestechung, Veruntreuung, Betrug, Erpressung, Nepotismus). Sie kann in verschiedenen Kontexten auch unterschiedlich stark auftreten und reicht von individuellem Fehlverhalten und nur vereinzelt vorkommenden Fällen, bis hin zu Situationen, in denen sie weit verbreitet und systemisch ist, quasi die Norm darstellt. Ebenso vielfältig wie die Erscheinungsformen der Korruption sind deren Ursachen und Konsequenzen sowie die vorhandenen Studienansätze und Lösungsvorschläge.

Die Problematik, dieses Phänomen zu fassen, spiegelt sich in den unzähligen Versuchen wider, Korruption zu definieren. So kann Korruption beispielsweise aus ökonomischer, politikwissenschaftlicher, kulturanthropologischer, juristischer oder gar aus psychologischer Sicht betrachtet werden. In einer Minimaldefinition wird Korruption häufig dargestellt als „the abuse of public power for private benefit” (Andvig; Fjeldstad 2001: 5). Es gibt allerdings verschiedene Art und Weisen, wie man diesen Missbrauch öffentlicher Macht interpretieren kann:

Der market-centered- Ansatz betrachtet Korruption aus einem ökonomischen Blickwinkel. So gesehen betrachtet ein öffentlicher Amtsinhaber sein Amt als Geschäft, dessen Ertrag er zu steigern versucht (vgl. Kpundeh 1994: 46).

Der public-office-centered -Ansatz erklärt Korruption als von den Prinzipien des öffentlichen Dienstes abweichendes Verhalten. Diese Prinzipien (siehe S. 13f dieser Arbeit) leiten sich maßgeblich von Max WEBERS Idealtyp einer rational-legalen Bürokratie ab (vgl. Ihekweme 2000: 26, Kpundeh 1994: 42).

Anhänger des public-opinion-centered -Ansatzes stellen in den Mittelpunkt, welche Handlungen in den Augen der Bevölkerung korruptes Verhalten darstellen. Diese Auffassung kann signifikant von den jeweiligen gesetzlichen Definitionen abweichen (vgl. Kpundeh 1994: 46, Theobald 1990: 7).

Der public-interest-centered -Ansatz beschäftigt sich mit der Verletzung des öffentlichen Interesses als ausschlaggebendes Kriterium für Korruption (vgl. Theobald 1990: 5).

Schließlich geht der public-choice- Ansatz davon aus, dass jede politische Entscheidung die Verteilung von politischen und wirtschaftlichen Ressourcen betrifft. Dabei versucht der Einzelne die Chancen zu erhöhen, die ihm das System bietet – daher auch die Bezeichnung post-constitunional opportunism (vgl. Mbaku 2000: 52).

Es existieren ferner mehrere Dichotomien, die das Unterscheiden verschiedener Ebenen von Korruption erleichtern sollen. Die bekanntesten sind private vs. public corruption, parochial vs. market corruption, petty vs. grand corruption und political vs bureaucratic corruption. Diese Einteilungen machen dann Sinn, wenn man einen Bereich gesondert untersuchen will, sie können für sich aber eben nur in Anspruch nehmen, einen Teilbereich der Korruption zu benennen. In vielen Fällen ist es ratsamer, sie als Pole eines Kontinuums anzusehen (vgl. Médard 1986: 120), die durchaus von verschiedenen Ursachen ausgehen können (vgl. Wraith; Simpkins 1963). Die in vielen afrikanischen Staaten zu beobachtende Verquickung von Staat und Wirtschaft sowie die Politisierung der Verwaltung machen die Einteilungen korrupten Verhaltens für die Autoren jedoch schwierig. Da Korruption letztendlich alle gesellschaftlichen Schichten und Bereiche durchdringt, empfiehlt sich hier die Auffassung von CHABAL und DALOZ:

„However interesting a focus on differently identifiable types of illegal activities might be, it is in our view often misleading as it obscures the fact that they are all part of an interconnected whole. What is […] significant for us is to establish the link between [them.]” (Chabal; Daloz 1999: 98)

Durch den breiten Kontext, in dem Korruption hier behandelt wird – nämlich in Bezug auf ihre Einbettung in gesellschaftliche Normen und Verhaltensweisen – macht die Ausdifferenzierung einzelner korrupter Handlungen wenig Sinn. Korruption wird dementsprechend im Sinne eines Korruptionskomplexes verstanden, wie er von OLIVIER DE SARDAN vorgeschlagen wird:

„From this perspective, the notion of corruption may be broadened into what may be termed a ’corruption complex’, in other words beyond corruption in the strict sense of the word, to include nepotism, abuse of power, embezzlement and various forms of misappropriation, influence-peddling, prevarication, insider trading and abuse of the public purse, in order to consider what these various practices have in common, what affinities link them together, and to what extend they enter into the same fabric of customary social norms and attitudes.” (Olivier de Sardan 1999: 27)

2. Hintergründe zur kommentierten Bibliographie

Korruption ist ein weltweit verbreitetes Problem und dies nicht erst seit ein paar Jahren. Zwar ist das Thema erst seit Anfang der 1990 Jahre – maßgeblich mit dem Entstehen von Transparency International3 – auf die Tagesordnungen wirtschaftlicher, politischer und entwicklungspolitischer Organisationen (etwa der OECD) gekommen. Ein Blick in die Literatur zeigt allerdings, dass sich die Wissenschaftler bereits früher mit der Problematik auseinandersetzten.

Schon vor der Unabhängigkeit der afrikanischen Kolonien war Korruption dort Teil der politischen Tagesordnung und Gegenstand mancher Prüfungskommission, wie Robert TIGNOR (1993) aufzeigt. Im Laufe der Geschichte wurde Korruption in der einen oder anderen Form immer wieder angesprochen, wurde jedoch jeweils realpolitischen Interessen oder wissenschaftlichen Paradigmen unterworfen. So fällt das internationale Interesse an der Problematik nicht zufällig mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes zusammen. Zugegebenermaßen gab es vorher schon Bemühungen – gerade von Seiten der USA durch ihren Foreign Corrupt Practices Act von 1977 – nationale und internationale Korruption in den Griff zu bekommen. Die Wirkung solcher nationalen Alleingänge blieb jedoch begrenzt, nicht zuletzt aufgrund mangelnder internationaler Zusammenarbeit. Viel wichtiger wiegt aber die Tatsache, dass Regime im Lichte strategischer Überlegungen gefördert oder bekämpft wurden. Das Maß ihrer Korruptheit war dabei höchstens interessant, wenn es darum ging, sie auf die „richtige“ Seite zu bekommen. Die Ignoranz gegenüber Korruption innerhalb der vielen Entwicklungshilfeorganisationen wurde vielleicht auch von der Überzeugung geleitet, ohne die nötigen Gelder nichts erreichen zu können, wussten doch viele Regierungen geschickt zu manipulieren, um an Entwicklungsgelder für kommen. Gestützt wurde diese Ignoranz lange auch von wissenschaftlicher Seite, als man im Zuge der Modernisierungstheorien davon ausging, Korruption sei auf einen unvollständigen Modernisierungsprozess zurückzuführen. Eine Gegenantwort kam mit dem Aufkommen der Dependenztheorie, die wie alle anderen wirtschaftlichen und politischen Aspekte auch die Korruption in den Kontext der Abhängigkeit Zentrum – Peripherie rückte. Im Zuge dieser Ideen kamen gerade auch marxistische Theorien hervor, die die Korruption als wesentliches Merkmal kapitalistischer Entwicklung plakatierten (vgl. Andvig; Fjeldstad 2001: 39).

Während die Erforschung von Korruption, ihren Ursachen und ihren Folgen in der Vergangenheit hauptsächlich von politikwissenschaftlicher und wirtschafts- wissenschaftlicher Seite stattfand, kommen heute zunehmend auch kulturanthropologische Ansätze zum Einsatz. Neben der bisher starken Fokussierung auf staatliche Institutionen, Machtstrukturen und wirtschaftliche Prozesse werden nun vermehrt die tiefer liegenden sozialen Prozesse und Strukturen betrachtet. Wie der Literaturüberblick zeigt, wurde zu jeder Zeit auf kulturelle oder traditionelle Werte und Strukturen als Ursache von Korruption verwiesen. Eine ernste Auseinandersetzung mit diesen gesellschaftlichen Besonderheiten oder mit dem Konzept Kultur fand bis in die jüngste Zeit jedoch nicht statt.

Der regionale Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf Afrika allgemein, wobei sich dies – bedingt durch die Ausrichtung der Literatur – im Wesentlichen auf Afrika südlich der Sahara beschränkt. Einige Texte behandeln das Verhältnis von Kultur und Korruption in einem globalen Kontext und wurden aufgenommen, da Afrika mit einbezogen ist.

Die Ergebnisse der Kommentare sind in einer Tabelle am Ende dieser Arbeit zusammengefasst. Dieser knappe Überblick soll die Möglichkeit bieten, jedem Text die wichtigsten Standpunkte zuzuordnen.

3. Die Ursachen von Korruption

Die zahlreichen Arbeiten über Korruption in Afrika identifizieren eine Vielzahl unterschiedlicher Ursachen, die für die Entstehung dieses Phänomens in Frage kommen. Welche Autoren welche Ursachen favorisieren, kann von mehreren Faktoren abhängen, wie etwa von der fachlichen Ausrichtung, von wissenschaftlichen Paradigmen, vielleicht auch von der eigenen Herkunft. Warum aber suchen wir nach den Ursachen von Korruption? Wie eingangs erwähnt, muss man die Ursachen eines Problems kennen, um es erfolgreich bekämpfen oder eindämmen zu können. Dass Korruption in Afrika ein Problem darstellt, dürfte nicht zu leugnen sein angesichts immenser Summen fehlender öffentlicher Gelder, welche in der Folge nicht nur einen effizient arbeitenden Staatsapparat, sondern auch wirtschaftliche und soziale Entwicklung verhindern. Im Prinzip, so führt MÉDARD an, sei es aber falsch, die Frage nach den Ursachen von Korruption zu stellen, da dies Korruption als Abweichen von der Regel, quasi als Pathologie, darstelle. Die Verhältnisse in Afrika seien aber vielmehr umgekehrt:

„If we take normality as what is statistically probable, then we can consider that with the scale of corruption we generally observe in African countries, it is corruption which is normal and the absence of corruption which is abnormal. In a continent where corruption is very widespread, it is not so much corruption which is in need of explanation as the absence of it.” (Médard 1986: 124)

Insofern hat er nicht unrecht, eine Betrachtung genau dieser Ausnahmefälle in Afrika (zum Beispiel Botswana und Namibia) vorzuschlagen. Und obwohl es Ansätze in diese Richtung gibt4, zeigt die mehrheitliche Ausrichtung der Arbeiten auf jene Länder Afrikas mit der höchsten Korruption (Nigeria, das ehemalige Zaire, Sierra Leone, Ghana) doch eine Orientierung der herkömmlichen Denkart. Ohnehin wäre nur eine Kombination beider Sichtweisen sinnvoll.

Die angefügte Bibliographie gibt einen Einblick in die Fülle der von Wissenschaftlern zusammengetragenen Ursachen von Korruption, so dass es wenig Sinn machen würde, diese alle an dieser Stelle ebenfalls aufzuführen. Es sollen daher hier nur die wichtigsten Ursachenblöcke genannt werden, um sie mit dem Hauptanliegen dieser Arbeit – der Einordnung von kulturellen Strukturen als mögliche Ursache korrupten Verhaltens – in Relation zu setzen. Die unterschiedlichen Ursachen werden zwar getrennt dargestellt, sie sind aber stark miteinander verwoben und bedingen sich zu großen Teilen gegenseitig.

3.1 Von schwachen Institutionen, wirtschaftlichen Problemen und Kolonialismus

3.1.1 Der soft state

Ursprünglich von Gunnar MYRDAL in Bezug auf Asien erdacht, wurde die Idee des soft state schnell auch auf afrikanische Staaten übertragen.

„A soft state is characterized by: (a) high dependence of external assistance – the extent of development being largely determined and limited by outside opportunities and constraints; (b) widespread social indiscipline and disobedience to public authority; (c) overcentralized government, thereby undermining local initiatives and expanding opportunities for bureaucratic corruption; and (d) rigid bureaucracy unable to adjust to changing circumstances, persisting with outmoded attitudes and arrangements and relying heavy-handed enforcement.” (Gould; Mukendi 1989: 434f)

Die Schwäche des Staates hat unter anderem ein geschlossenes politisches System zur Folge, in dem sich der Staat immer weiter von der Bevölkerung distanziert und im Wesentlichen als eine Einkommensquelle angesehen wird, um deren Erlangung und Kontrolle sich die politische Realität hauptsächlich dreht. Das Konzept des soft state ist dann interessant, wenn es – wie im Rahmen dieser Arbeit – um eine zusammenhängende Darstellung staatlicher Defizite geht, ohne sich zu sehr auf die verschiedenen institutionellen Mängel zu fokussieren. Zudem schließt es in diesem Fall ebenso Arbeiten ein, welche in ihrer Ursachenforschung nur Teilbereiche dieses Konzeptes abdecken.

3.1.2 Schwache Institutionen und Verfahren

Sowohl als Ursache als auch als Folge von Korruption in gewisser Weise schon im Konzept des soft state enthalten, verdient dieser Punkt doch eine weitere Erläuterung. Im Mittelpunkt steht dabei die Ineffizienz der Verwaltung vieler afrikanischer Staaten, welche hauptsächlich durch unqualifiziertes Personal, uneffiziente bürokratische Prozeduren sowie durch das Fehlen von Kontrollmechanismen und Verantwortlichkeit verursacht wird. Schwache Institutionen und Verfahren treten ebenfalls im rechtlichen Bereich auf, wo in der Regel die Gesetze zum einen durch ihre koloniale, europäische Herkunft und Struktur selten wirklich den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen und zum anderen keine konsequente Durchsetzung von Gesetzen herrscht. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bevölkerung in der Mehrheit nicht über die notwendige Bildung verfügt, um sich über den Inhalt und die Konsequenzen gesetzlicher Regelungen im Klaren zu sein. Es ist nicht unbedingt nur die Tatsache, dass der Bürger nicht weiß, wann er etwas Ungesetzliches tut. Er kann oft auch nicht beurteilen, welche Rechte er gegenüber dem Staat und seinen Bediensteten hat (vgl. Gould; Mukendi 1989: 440).

3.1.3 Staatliche Einflussnahme auf die Wirtschaft

Mit Beginn der Unabhängigkeit der afrikanischen Kolonien kam dem Staat eine wichtige Rolle zu. Im Staatsapparat liefen alle Fäden zusammen, er war Quelle wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen. Der Staat wurde zum größten Investor und zum Hauptimporteur der für die Entwicklung der Länder so wichtigen Güter und Devisen. Diese Monopolstellung ging einher mit einer Flut von Regulierungen zum Steuern all dieser Prozesse. Die in den Schlüsselpositionen sitzenden Beamten wussten ihre Machtstellung geschickt einzusetzen, um sich zusätzliche Einkommen zu verschaffen (vgl. Gould; Mukendi 1989: 436). Der public-choice- Ansatz sieht eine direkte Verbindung zwischen Korruption und dem Ausmaß staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft. Laut MBAKU ist der einzelne Bürger daran interessiert, Anteil an der staatlichen Macht und den damit verbundenen Ressourcen zu haben. Die Anreize, ihr Einkommen durch korrupte Praktiken zu erhöhen, erhalten die Beamten von den staatlichen Strukturen, also der großen Machtfülle die ihnen eingeräumt wird (vgl. Mbaku 2000: 52f). In Verbindung mit den bereits genannten Punkten (soft state und schwache Institutionen) entsteht das, was MBAKU perverse Anreizstrukturen nennt:

„To understand corruption in Africa, it is necessary to remind ourselves of the fact that Africans are not that different from people in other regions of the world. As a consequence, Africans respond to market incentives in a manner similar to the way people in other societies respond to their incentive structures. Thus, the key to understanding the pervasiveness of corruption is to begin by taking a close look at laws and institutions and subsequently, the incentive structures that regulate the behaviour of market participants.” (Mbaku 2000: 36)

3.1.4 Armut und Ungleichverteilung

Ein weiterer Faktor, welcher generell mit Korruption in Verbindung gebracht wird, ist chronische Armut und eine extreme Ungleichverteilung von Einkommen und Wohlstand. In der Regel wird hierbei auf die Rolle Afrikas als Schlusslicht wirtschaftlicher Entwicklung und auf die starke Konzentration der Haupteinkommen in den Händen einiger Weniger eingegangen (vgl. Mbaku 2000: 48). Obwohl damit immer auf die Lage der Gesamtbevölkerung hingewiesen wird, bezieht sich Armut als Ursache von Korruption stets nur auf die Situation öffentlicher Bediensteter. Zu niedrige und unregelmäßig gezahlte Gehälter, die oft nicht einmal für das Nötigste reichen, geschweige denn die hohe Inflation ausgleichen, zwingen die Beamten zur Suche nach zusätzlichen Einnahmequellen. Es finden sich jedoch auch Argumente, dass viele Beamte bemüht sind, einen luxuriösen Lebensstil zu halten, um sich von den have-nots – den Mittellosen – abzugrenzen. Einen Lebensstil, den sie sich ohne korrupte Praktiken nicht leisten können (vgl. Kpundeh 1994: 56).

Die in vielen Texten angesprochene extreme Ungleichverteilung bezieht sich auf die Einkommensverteilung bei staatlichen Gehältern. Wo sich das Einkommen höherer Beamter nur unwesentlich von dem niedriger Beamter unterscheidet, ist kein Anreiz gegeben, sich durch qualifizierte Arbeit und Engagement auszuzeichnen. Zudem kommt es hier zur Abwanderung der besten Arbeitskräfte in den privaten Sektor.

3.1.5 Kolonialismus

„The colonial phase of African history gave rise to major changes which had far reaching consequences for the nature and extent of corruption.“ (Williams 1991: 33)

WILLIAMS geht in seiner Arbeit detailliert auf diese Phase der afrikanischen Geschichte ein, wohl wissend, dass sie nicht pauschal als Erklärung für Korruption herangezogen werden sollte. Seit jeher wurden und werden die Eingriffe der europäischen Kolonialherrschaft stets als Ursache für Afrikas Probleme herangezogen. Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass mit Ankunft der Europäer auf dem afrikanischen Kontinent sämtliche Strukturen grundlegenden Änderungen unterworfen waren. Der Kolonialismus kann so in mehrfacher Hinsicht mit Korruption in Verbindung gebracht werden:

Abgesehen von den wenigen Siedlerkolonien war der Zweck der meisten Kolonien schlicht die Ausbeutung der vorhandenen Rohstoffe. Dies zeigte sich in der wirtschaftlichen, politischen und bürokratischen Ausprägung der Kolonialsysteme, deren Instrumentarium zum Beispiel Zwangsarbeit, Besteuerung, Landenteignungen und Militärpflicht einschloss (vgl. Williams 1991: 36). Diese Maßnahmen erforderten einen hohen Verwaltungsaufwand und autoritäres Durchgreifen. Die Folge war eine umfangreiche Verwaltung und die exzessive Regulierung aller Lebensbereiche – Merkmale wie sie auch heute noch den afrikanischen Staaten zugeschrieben werden. Zudem waren Kolonialbeamte durchaus selbst korrupt:

„[…] although the upper levels of the colonial bureaucracy were generally free of bribery and venality, the same could not be said of the lower reaches of the political system. […] A few of the more astute observers realised […] that lower-level political corruption helped to maintain the colonial system itself.” (Tignor 1993: 178)

So trugen diese ersten Erfahrungen mit den neuen politischen Strukturen nicht gerade zum Entstehen eines offenen politischen Systems bei, welches durch checks-and- balances in der Lage ist die politische Macht zu kontrollieren. Zwar statteten die Europäer im Prozess der Unabhängigkeit die zukünftigen Staaten mit politischen und juristischen Strukturen aus, wie sie den eigenen im Mutterland entsprachen. Wie bereits angesprochen waren diese Strukturen und gerade die Gesetze jedoch nicht wirklich auf die tatsächliche gesellschaftliche Realität ausgerichtet. Die „Implantierung“ westlicher Normen kollidierte mit bestehenden, alten Werten und führte zu einem Normendualismus sowie zu einer moralischen Desorientierung (vgl. Agbaje 1992: 47). AGBAJE verweist außerdem auf die Tatsache, dass die von den Kolonialmächten forcierten und teilweise sogar konstruierten ethnischen Differenzierungen einen Tribalismus förderten, der in der post-kolonialen Zeit seinerseits zum „major raison d’être, instrument and facilitator of corruption“ wurde (Agbaje 1992: 49).

Schließlich verhalf das koloniale System durch den dringenden Bedarf an Vermittlung zwischen Kolonialverwaltung und Bevölkerung der Rolle des Maklers oder Brokers zu herausragender Bedeutung (vgl. Olivier de Sardan 1999: 38). Wie die Tätigkeit dieser Mittelsmänner zur Entstehung von Korruption beitragen kann, wird an anderer Stelle ausführlicher behandelt (siehe S. 23 dieser Arbeit). Nichtsdestotrotz blieben die Kolonialregierungen stets Fremdkörper, die zu hintergehen in der Bevölkerung durchaus geachtet wurde (vgl. Edevbaro 1998: 43f).

Obwohl zu sehen ist, dass einige aus dem Kolonialismus hervorgegangene Strukturen Korruptionsfördernd sind, darf dies wie gesagt nicht zu seiner Pauschalisierung als Ursache führen. Denn dazu waren zum einen die kolonialen Einflüsse in den verschiedenen Kolonien nicht immer einheitlich genug. Zum anderen erklärt es kaum die Existenz von Korruption in Ländern, die nicht dauerhaft einer fremden Macht unterworfen waren (beispielsweise Äthiopien, Liberia, Südafrika). Noch viel wichtiger ist aber die Tatsache, dass die Kolonialzeit zwar Hintergrundinformationen zu heutigen Strukturen liefern kann, der Blick in die Vergangenheit jedoch für all diejenigen, die an der Eindämmung von Korruption interessiert sind, nicht allzu hilfreich sein wird:

“If the actions of man today were only determined by those of the past, the people of today will be completely helpless to determine the course of their lives. For how can we modify the effect if we cannot have any influence over the cause? The past can never be changed. Consequently, although it may give us some insight, a historical explanation is of no use to us in our endeavour to combat contemporary pathological phenomena.” (Titi Nwel 1999: 50)

3.1.6 Neo-patrimoniale Strukturen

Dieser Ursachenblock beschäftigt sich mit der Verbindung zwischen (neo-) patrimonialen Strukturen und Korruption. In den Texten über Korruption und deren Ursachen wird nicht immer explizit auf Patrimonialismus eingegangen. Aber auch wenn Autoren etwa von einem hohen Grad an Personalismus in der afrikanischen Politik oder von der Privatisierung der Politik sprechen, passen solche Punkte in diesen Ursachenblock hinein, da sie Teil des folgenden Konzeptes sind.

Die Konzeption des Neo-Patrimonialismus geht zurück auf eine Typisierung Max WEBERS, wonach der Patrimonialismus eine Weiterentwicklung und Ausdehnung patriarchalischer Strukturen auf eine größere Herrschaftseinheit (Staat) ist (vgl. Theobald 1990: 20). Der patrimoniale Staat dreht sich im Wesentlichen um die Bedürfnisse der herrschenden Familie. Hauptmerkmal im Gegensatz zum patriarchalischen System ist die Entstehung eines Verwaltungsapparates, wobei jegliche Beziehungen stark personalisiert sind und die Ämter aufgrund familiärer Bande und anderer Loyalitäten vergeben werden.

„The essential point is that patrimonialism signifies a particular type of administration, one that differs very markedly from its more familiar successor, rational-legal bureaucracy. The essential features of rational-legal bureaucracy – hierarchy of graded authority, fixed jurisdictional areas with clear-cut procedures, salaried officials who are recruited and promoted according to objective qualifications and experience and, above all, the strict separation between incumbent and office, between the private and the public spheres – these are almost entirely absent from patrimonial administration.” (Theobald 1990: 21)

Nach WEBERS Vorstellung sind patrimoniale Strukturen ein Merkmal aller vormodernen Staaten. Im Zuge einer Industrialisierung führt der zunehmende Bedarf an administrativer Organisation zu einer Entwicklung der oben beschriebenen modernen Bürokratie. WEBERS Soziologie der Bürokratie stellt jedoch einen Idealtypus dar. Patrimoniale Strukturen sind auch in den industrialisierten Staaten noch weit verbreitet – ihre Präsenz scheint allerdings in den Entwicklungsländern ungleich höher. In Bezug auf die afrikanischen Staaten, erklärt MÉDARD, habe keine endogene Entwicklung vom patrimonialen hin zum modernen Staat stattgefunden. Der moderne Staat wurde von den Kolonialmächten – in seiner autoritärsten Form – dorthin exportiert. Es entstand eine Verbindung zwischen patrimonialer und bürokratischer Logik, weshalb MÉDARD den Begriff des Neo-Patrimonialismus verwendet. Im Gegensatz zum Patrimonialismus ist dieser keine Form traditioneller Herrschaft, sondern ein Produkt der Modernisierung (vgl. Médard 1982: 179, Médard 1986: 125).

Was hat Neo-Patrimonialismus nun aber mit Korruption zu tun? Durch die Beschreibung patrimonialer Strukturen wird deutlich, was die Hauptmerkmale der ihnen zugrunde liegenden Beziehungen sind: Loyalitäten, die häufig auf familiären und ethnischen Banden beruhen, sowie der hohe Grad an Personalisierung der Beziehungen schaffen keine optimalen Voraussetzungen für eine moderne Bürokratie, wie sie oben beschrieben wird. Sie bilden vielmehr den Ausgangspunkt für die dem Neo- Patrimonialismus eigene Privatisierung der Politik – ideale Grundlage für die Entstehung von Korruption und Nepotismus.

„The notion of the privatization of public affairs, which is at the core of the concept of neo- patrimonialism, is common to all the elements we have reviewed [corruption, nepotism, clientelism, factionalism, ethnicity]. It best expresses the logic of political and administrative behaviour in Africa. We certainly are aware that these practices are not a monopoly of African or underdeveloped politics. But they are so widespread that the whole functioning of the political system is transformed. A difference in quantity generates a difference in quality.” (Médard 1982: 185)

Eine Verbindung zwischen Neo-Patrimonialismus und Korruption lässt sich außerdem durch die Reduzierung politischer Ressourcen auf rein ökonomische Gesichtspunkte erklären. Wo politische Macht, Wohlstand und Prestige so eng miteinander verbunden sind, ist es wahrscheinlich, dass politische Macht ein Hauptgarant für Wohlstand wird – Politik wird zum Geschäft, in dem Beziehungen und Geld die Hauptkriterien sind (vgl. Médard 1982: 182).

Da Korruption per Definition in Bezug zu öffentlichen Normen steht, setzt sie eine Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre voraus. So kann im Patrimonialismus nicht wirklich von Korruption im heutigen Sinne gesprochen werden. Die Möglichkeit, diese beiden Bereiche zu unterscheiden, kam erst durch den Kontakt mit dem modernen Staat, den die Europäer in Afrika einführten. Obwohl diese Trennung in neo-patrimonialen Staaten manchmal ähnlich undeutlich verläuft, so ist sie doch vorhanden, da sich diese Staaten über universelle Normen legitimieren (vgl. Médard 1982: 180). Hier stellt sich allerdings auch heute noch die Frage, wie internalisiert diese importierten Normen tatsächlich in Afrika sind. Was angesichts universeller Normen als korrupt gilt, muss in einer bestimmten Gesellschaft nicht ebenso angesehen werden.

3.2 Kultur und Korruption

Wie bereits erwähnt, wird Kultur unter verschiedenen Bezeichnungen immer wieder mit Korruption in Verbindung gebracht. Die Durchsicht der im zweiten Teil dieser Arbeit kommentierten Artikel zeigt, dass sich immerhin fast die Hälfte der Texte mit diesem Zusammenhang auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung vollzieht sich in ganz unterschiedlichen Facetten: In vielen Fällen wird das Thema nur kurz angesprochen, oft nur in Teilbereichen als Ursache herangezogen, andere Texte schließen Kultur und Tradition als Ursache kategorisch aus. Nur wenige Texte haben sich der Thematik wirklich in der Hauptsache gewidmet, was eine diesbezügliche Analyse nicht leicht macht. Als bedeutendste Arbeit kann OLIVIER DE SARDANS „ A Moral Economy of Corruption in Africa?“ (1999) angesehen werden. Die verschiedenen Logiken, in welche OLIVIER DE SARDAN (später auch in Zusammenarbeit mit BLUNDO) soziales Verhalten einbettet, werden im Folgenden mehrfach eine Rolle spielen.

In diesem Kapitel soll nun versucht werden zu klären, in welcher Weise sich die Literatur mit diesem Thema bereits auseinandergesetzt hat und inwieweit soziokulturelle Normen und Strukturen zur Erklärung der Korruption wirklich herangezogen werden können. Zu diesem Zweck werden zunächst die verschiedenen soziokulturellen Faktoren vorgestellt.

3.2.1 Sozialkapital und Solidaritätsnetzwerke

Dieser Punkt wird in der Literatur am häufigsten genannt. Mit Schlüsselbegriffen wie kinship ties, extended family, familism, communialism, loyalties, social capital und solidarity networks beziehen sich die Autoren auf verschiedene Netzwerke gegenseitiger Hilfe, welche in Afrika weit verbreitet sind und von denen die Familie eines der wichtigsten darstellt. Familie im afrikanischen Sinne ist dabei nicht mit der europäischen Vorstellung von Familie zu vergleichen, die damit in der Regel nur die Kernfamilie meint. In Afrika, wie in vielen anderen Gegenden der Welt, definiert sich Familie jedoch viel weiter, und schließt dabei die entfernteste Verwandtschaft mit ein5. Für HILLEBRAND „ist die Idee der gegenseitigen Hilfe und der Solidarität unter Verwandten “ gar das „zentrale Element des sozialen Normensystems der afrikanischen Gesellschaften“, und weiter identifiziert er die Ursprünge dieser Normen „in den Agrargesellschaften des vorkolonialen Afrika, mit ihrer vordringlich reproduktionsorientierten Subsistenzwirtschaft“6 (Hillebrand 1994: 59).

Netzwerke entstehen aber auch durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen anderen Gruppen (Ethnie, Kirche, Schule, etc.) und dem Rückgriff auf die daraus hervorgehenden sozialen Beziehungen. Der Einzelne kann demnach nicht als Individuum angesehen werden – wie dies ökonomische Ansätze beispielsweise vorziehen – sondern als Teil einer Gemeinschaft, über die er und sein Verhalten sich definieren. Für jeden Einzelnen ergeben sich aus diesen Beziehungen eine Vielzahl von Möglichkeiten aber auch Verpflichtungen. Die Summe dieser sozialen Beziehungen wird in der Literatur – in Anlehnung an James COLEMAN und Robert PUTNAM – als social capital bezeichnet (vgl. Tanzi 2000, Bouju 2000, Lemarchand 1998).

„The existence of social capital links individuals in a network of obligations that both increases their opportunities and reduces their individual freedom. It puts strong pressures on individuals to accommodate the needs of friends or relatives and creates a presumption that they will in turn accommodate the individuals’ needs.” (Tanzi 2000: 93)

Existenzbedingungen auf verschiedenen Kontinenten zu ähnlichen Lebensweisen, Werten, Vorstellungen und Riten geführt. Diese Traditionen mögen also so spezifisch afrikanisch gar nicht sein (vgl. Harding 1998: 10f).

OLIVIER DE SARDAN stellt dazu fest, dass das Kapital an sozialen Beziehungen in Afrika wesentlich größer ist, als das anderer Kontinente (vgl. 1999: 40). Es ist dieses Sozialkapital, was in den Augen vieler Autoren durch die Größe und Anzahl der Netzwerke einen übermäßig hohen Druck auf den Einzelnen ausübt. Sich dem zu entziehen, würde soziale Schande bedeuten. Eine Verbindung zwischen diesem sozialen Druck und der Entstehung von Korruption kann nun auf unterschiedlichen Wegen hergestellt werden.

Einerseits sind die Forderungen durch die Mitglieder der Netzwerke oft so hoch, dass den Verpflichtungen nachzukommen kaum jemand wirtschaftlich in der Lage ist, ohne sich nach zusätzlichen Einkommen umzusehen. Für Staatsbedienstete können sich solche Zusatzeinkommen durch das Ausnutzen ihrer öffentlichen Position ergeben, was dann auf Korruption hinausliefe. Dieses Argument gerät allerdings in Konflikt mit dem bereits erwähnten und durchaus häufig vertretenen Standpunkt, viele Beamte müssten sich der Korruption verdingen, um ihre basic needs zu decken. Aufgrund der Beschreibungen ist anzunehmen, dass zu den Grundbedürfnissen kaum der Unterhalt sozialer Netzwerke zählt.

Auf andere Weise wirkt sich der soziale Druck aus, wenn es um die Objektivität des Verhaltens im Dienst geht. Hier wird argumentiert, dass der Beamte einen Verwandten oder Freund gegenüber einem Fremden immer bevorzugt behandeln wird (vgl. Tanzi 2000: 91). Dies kann von der Gewährung kleiner Gefallen bis hin zur Beschaffung von Jobs reichen – eine Praxis, die unter der Bezeichnung Nepotismus in den Komplex der Korruption mit einfließt. Dahinter steht nicht selten auch die Begleichung einer Schuld, insofern als sich der Beamte bei seiner Familie zum Beispiel für die Tatsache bedankt, dass er eine höhere Ausbildung genießen durfte.

Korruption kann aber auch durch eine Abwesenheit von sozialem Kapital entstehen:

„Woe betide the man who knows no one, either directly or indirectly. He is left with no solution but bribery, if his means permit. […] Engrained, commodified corruption is, in this perspective, a mere symptom of the lack of an activatable network, a temporary deficit in ‘social capital’.” (Olivier de Sardan 1999: 41)

Es ist allerdings fraglich, ob dieser Standpunkt das Konzept des social capital nicht etwas überstrapaziert. Mit einer solchen Argumentation kann Sozialkapital immer als Ursache für Korruption herhalten, egal wie man die Sache dreht und wendet.

Das Sozialkapital einer Person, beziehungsweise insgesamt betrachtet das einer Gesellschaft, ist ohne Frage ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens in afrikanischen Staaten. In einem Kontinent, wo vielfach soziale und wirtschaftliche Unsicherheit herrscht, sind die meisten Menschen mangels Alternativen darauf angewiesen, alle zur Verfügung stehenden Kanäle zu nutzen. Die Fähigkeit, das soziale Kapital auszuschöpfen, ist hauptsächlicher Bestandteil einer afrikanischen Überlebensstrategie, der man Bewunderung zollen sollte. Dass hieraus auch Korruption entstehen kann, ist die Kehrseite der Medaille. Hier stellt sich die Frage, ob sich nicht im Falle einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation die Bedeutung solcher Solidaritätsnetzwerke verringert? Wenn die Mehrheit der Gesellschaft über geregelte Einkommen verfügte, würden dann nicht viele soziale Beziehungen – zumindest solche mit hauptsächlich wirtschaftlichem Hintergrund – obsolet werden? Leider werden sich diese Fragen, angesichts der derzeitigen, wirtschaftlichen Lage der afrikanischen Staaten, wohl nicht in absehbarer Zeit beantworten lassen.

Nun gibt es aber auch Autoren, die die Entstehung von Korruption und anderen kriminellen Machenschaften nicht primär durch die Existenz oder Anwendung soziokultureller Logiken erklären, sondern im Gegenteil, durch individualistische, einem Gemeinschaftssinn entgegen gesetzte Bestrebungen. Dies geschieht zum einen über den Hinweis, afrikanische Gesellschaften seien nicht unbedingt immer so Gemeinschaftsorientiert, wie das oft dargestellt wird:

„African societies are characterized less by their communalism than by the almost frenetic individualism of those who comprise them. It is certainly the case that African societies feature strong collective constraints which are enforced by political and judicial institutions endowed with considerable powers of coercion. Nevertheless, individuals can and do ceaselessly strive to improve themselves, including in the political arena.” (Bayart; Ellis; Hibou 1999: 34)

Zum anderen sind es gerade traditionelle und soziokulturelle Strukturen, die durch ihre Manipulierbarkeit immer wieder und überall individuellem Machtstreben zum Opfer fallen. Und es ist wieder BAYART, der diesen Zusammenhang für den afrikanischen Kontinent wie folgt beschreibt:

„In order to understand ‘governmentality’7 in Africa we need to understand the concrete procedures by which social actors simultaneously borrow from a range of discursive genres, intermix them and, as a result, are able to invent original cultures of the State.“ (Bayart 1993: 249)

Eine derartige Machtstrategie ist es, für die er die Bezeichnung „Politik des Bauches“8 verwendet und die gekennzeichnet ist von einem ständigen Drang zur Akkumulation durch die Kapitalisierung sozialer Netzwerke. Diese Art der Politik existiert nicht nur in Afrika und manifestiert sich unter anderem als Korruption (sowohl petty als auch grand corruption). BAYART sieht demzufolge Korruption nicht als Tradition, sondern als Resultat einer Durchmischung vor- und postkolonialer sowie insbesondere kolonialer Praktiken und Institutionen.

Es soll hier noch abschließend erwähnt werden, dass über soziale Beziehungen in Afrika viel geschrieben worden ist und es dementsprechend unterschiedliche Konzepte für deren Beschreibung gibt. Dies bringt wiederum Überschneidung, Widersprüche und Missverständnisse mit sich, wie etwa bei BOUJU (2000), in dessen Text eine Vermischung zwischen dem Konzept des Klientelismus und dem Phänomen sozialer Netzwerke vorkommt. Beide Ideen unterscheiden sich aber ganz grundlegend voneinander: Klientelistische Beziehungen stellen einen reziproken, direkten Austausch unterschiedlicher Ressourcen (zum Beispiel spezielle Gefälligkeiten im Gegenzug für Wahlunterstützung) zwischen zwei Personen unterschiedlicher Position (Patron – Klient) dar (vgl. Médard 1982: 166). Im Gegensatz dazu beinhalten Solidaritätsnetzwerke – gerade solche, die sich auf die Familie stützen – Gruppenbeziehungen auf gleicher Ebene mit einem eher indirekten Austausch (vgl. Médard 1982: 172). Solche Unterscheidungen sind äußerst wichtig, wenn es sich um ein so komplexes und weit verzweigtes Phänomen wie das der Korruption handelt. Die verschiedenen Hintergründe sozialer Beziehungen dürften unterschiedlichen Einfluss auf Verhalten und Motivation der einzelnen Teilnehmer haben – gerade auch in Bezug auf korruptes Verhalten.

3.2.2 Gift-giving oder die Tradition des Schenkens

An dieser Stelle wird vermehrt der englische Begriff des gift-giving verwendet, da er erstens mehr Aussagekraft besitzt als das deutsche Schenken und zweitens durch die größtenteils englischsprachige Literatur geläufiger ist. Das gift-giving taucht in Verbindung mit Korruption in einigen Arbeiten auf. Erstaunlicherweise wird in den meisten Fällen auf andere Autoren verwiesen, die eine solche Verbindung herstellen. Schaut man sich die Literatur genauer an, so ist außer der Arbeit von EKPO aus dem Jahre 1979 – welche Korruption in Nigeria gewissermaßen als eine moderne Erweiterung der Tradition des Schenkens betrachtet – keine nennenswerte Arbeit zu diesem Thema erschienen. Alle anderen Autoren, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, erkennen ein Fortbestehen der Tradition und ihre wichtige Bedeutung in Afrika durchaus an, ziehen aber immer eine Trennlinie zwischen dem Schenken und der Korruption, respektive dem Bestechen als die dem Schenken ähnlichste Form der Korruption (vgl. Wraith; Simpkins 1963, Werlin 1972, Wamalwa 1993). OLIVIER DE SARDAN (1999) zeigt in seiner Arbeit auf, dass auch heute noch zu zahlreichen Gelegenheiten Geschenke erwartet werden – allerdings hat dies mit der „Kolanuss“, welche einst zu vielen Anlässen in Westafrika geschenkt wurde, nicht mehr viel zu tun. Durch die Monetarisierung des Alltags werden Geschenke mittlerweile überwiegend in Form von Geld gemacht. Dies findet besonders häufig im Rahmen von ausschweifenden Festlichkeiten statt, kann aber ebenfalls die Gabe eines Teils des Lohnes an einen Vorgesetzten bedeuten. Das Geschenk kann auch als Dank an einen entgegenkommenden Beamten gedacht sein und es ist durchaus denkbar, eine Gabe im Vorhinein zu vergeben, sozusagen, um die zukünftige Zusammenarbeit zu begünstigen. Sich den Erwartungen des Schenkens zu entziehen, würde im Endeffekt bedeuten, sich den Zorn und die Schande der Gesellschaft zuzuziehen und sich so potentielles Unglück einzuhandeln (vgl. Olivier de Sardan 1999: 38ff).

Nach OLIVIER DE SARDAN ist es schwierig abzuwägen, an welcher Stelle das gift- giving aufhört und wo petty corruption beginnt, und so ist für ihn das gift-giving eine von insgesamt sechs gesellschaftlichen Logiken9, die zwar für sich genommen keine Korruption darstellen, aber durch ihre Nähe zu korrupten Praktiken leicht in diesen Verdacht geraten. Diese Logikenkönnen durch ihre Anwendung die Ausbreitung und Akzeptanz von Korruption fördern, oder auch nur den Raum bieten, um korruptes Verhalten zu verstecken oder zu rechtfertigen.

[...]


1 Der Trickster ist ein Charakter, der in vielen afrikanischen Märchen und Fabeln in unterschiedlicher Gestalt vorkommt. Seine Eigenschaften sind List und Schläue, wobei er sich nicht immer an die Regeln hält (siehe S. 24 dieser Arbeit).

2 Die Arbeit lag als Word-Dokument (Ausgabe der Verfasserin) vor, weshalb nur ungefähre Seitenangaben gemacht werden können.

3 Internationale Nichtregierungsorganisation, gegründet 1993, die sich die Bekämpfung von Korruption zum Ziel gesetzt hat und einen jährlichen Korruptionsindex (CPI – Corruption Perception Index) aller Länder veröffentlicht.

4 Beispielsweise Charlton, R. (1990): Exploring the Byways of African Political Corruption – Botswana and Deviant Case Analysis. In: Corruption and Reform, 5: 1-27

5 Eine Einführung in das Thema gibt zum Beispiel Siegel, Brian (1996): Family and Kinship. In: Gordon, A.; Gordon, D. (Hrsg.): Understanding Contemporary Africa. 2. Aufl., Boulder: 221-47

6 Leonhard HARDING bringt in seiner Arbeit über Tradition in Afrika ebenfalls diesen agrarischen Kontext zur Sprache, allerdings in einem ganz anderen Licht. So haben vergleichbare

7 Unter governmentality versteht BAYART Regieren im Sinne einer Machtausübung durch das Bestimmen des Verhaltens und des Verhaltensspielraums von Individuen und Gruppen (vgl. 1993: 268).

8 Im Original: La politique du ventre – nach einer Redensart aus Kamerun.

9 In ähnlicher Weise auch 2001 in einer Zusammenarbeit mit Giorgio BLUNDO vorgestellt: La corruption quotidien en Afrique de l’Ouest. Politique africaine, 83: 8-37

Ende der Leseprobe aus 99 Seiten

Details

Titel
Die Ursachen der Korruption in Afrika - Eine Frage der Kultur?
Untertitel
Eine kommentierte Bibliographie
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
2
Autor
Jahr
2003
Seiten
99
Katalognummer
V120197
ISBN (eBook)
9783640239399
Dateigröße
705 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ursachen, Korruption, Afrika, Eine, Frage, Kultur
Arbeit zitieren
Hannes Hechler (Autor:in), 2003, Die Ursachen der Korruption in Afrika - Eine Frage der Kultur? , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120197

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