Staatspolitische Konzepte für die Entwicklung Russlands nach dem Umsturz. Murawjows „Projekt einer Verfassung“ und Pestels „Russkaja Prawda“

Ein Vergleich


Hausarbeit, 2005

32 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Der 14. Dezember 1825

2. Hintergründe der Dezembertragödie

3. Der Theoretiker des „Nordbundes“
3. 1. Vita und Laufbahn N . M. Murawjows
3. 2. Murawjows „Projekt einer Verfassung“

4. Der Theoretiker des „Südbundes“
4. 1. Vita und Laufbahn P. I. Pestels
4. 2. Pestels „Russkaja Prawda“

5. Murawjows „Projekt einer Verfassung“ und Pestels „Russkaja Prawda“ im Vergleich

Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

Die Dekabristen – das waren mehrere Hunderte Aristokraten und Gutsherren, die Zehntausende leibeigene Bauern besaßen, darunter junge Offiziere und Generale. Im Dezember 1825 erhoben sie sich gegen ihren Zaren, gegen ihren eigenen Stand, gegen die Leibeigenschaft, der sie eigentlich ihr Wohlergehen und ihre hohe Bildung zu verdanken hatten. In der Geschichte Russlands hatte es schon früher Bauernaufstände und Palastrevolten gegeben, die aber zum Ziel hatten, den einen Herrscher durch einen anderen zu ersetzen. Dass aber 600 Adlige, also ein gewichtiger Teil einer herrschenden Klasse, eine völlig neue Staatsordnung einführen und Russland von Grund auf verändern wollten und dabei ihre eigene Existenz aufs Spiel setzten, das hatte es in der Geschichte Russlands noch nie zuvor gegeben. Als der betagte Würdenträger Graf Rostoptschin von den Dekabristen erfuhr, rief er aus: „In Frankreich kann ich die Revolution zumindest begreifen: Dort wollten die Schuster Fürsten werden. In Russland kann ich sie nicht verstehen: Hier wollten die Fürsten offenbar Schuster werden…!“ Damit brachte er das eigentliche Problem zur Sprache. Wer waren die ersten russischen Revolutionäre und was wollten sie genau erreichen? Und wieso musste ihr Vorhaben scheitern? Eben um die Beantwortung dieser Fragen geht es in meiner Arbeit.

Im ersten Kapitel gebe ich eine kurze Beschreibung des Tagesablaufs des 14. Dezember 1825. Im zweiten Kapitel möchte ich einige Hintergründe nennen, wie es zu dem Dezemberaufstand und zu der Dezembertragödie kommen konnte. Der zweite Teil meiner Arbeit ist zwei Dekabristen gewidmet, die eine besondere Rolle bei dem Dekabristenaufstand spielten: Nikita M. Murawjow und Pawel I. Pestel. Diese beiden Männer waren die anerkannten Führer von zwei Geheimgesellschaften und sollten eine neue Verfassung für das neue Russland nach dem Umsturz entwickeln. Sie konnten keine Einigung erzielen, da Murawjow eine konstitutionelle Monarchie etwa nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika bevorzugte, Pestel aber sehr extreme, radikale Maßnahmen zum Sieg der Revolution vorschlug und die Monarchie durch eine Republik und eine starke Diktatur ersetzen wollte. Im weiteren Verlauf meiner Arbeit werde ich das Wesen der beiden unterschiedlichen Verfassungsentwürfe erläutern und diese miteinander vergleichen.

1. Der 14. Dezember 1825

Das außergewöhnliche Ereignis, das sich am 14. Dezember 1825 auf dem Senatsplatz von Sankt Petersburg zutrug, sollte der erste ernsthafte Versuch in der Geschichte Russlands werden, den Absolutismus zu vernichten und durch eine konstitutionelle Monarchie oder sogar durch eine Republik zu ersetzen. Der Dekabristenaufstand, klein, schlecht geführt und schnell zerstreut, die fehlgeschlagene Revolution, war etwas Neues in der Geschichte Russlands. Es war die erste wirklich politische Bewegung, die sich gegen das bestehende politische System gerichtet hatte und nicht bloß eine Palastrevolte war, um den einen Zaren durch den anderen zu ersetzen.

In diesem Kapitel meiner Arbeit möchte ich kurz auf die Ereignisse dieses Tages eingehen.

Am 14. Dezember 1825, dem Tag, an dem der Senat sich versammelt hatte, um Nikolaus I, dem neuen Zaren, den Treueid zu schwören, versammelten sich am selben Platz etwa dreitausend Soldaten und Offiziere, um „ihr Land aus dem Würgegriff des Absolutismus zu befreien“. [1] Die Wirklichkeit sah jedoch etwas anders aus. Die Anführer der Erhebung waren sich in ihren Zielen nicht einig. Die einen wollten dem Zaren eine Verfassung aufzwingen, andere ihn absetzen und eine Republik ausrufen, andere wollten ihn sogar umbringen. Die Truppen, meist Bauernrekruten, ahnten nichts von den Zielen und Vorstellungen ihrer Offiziere, sondern waren davon überzeugt, dass sie dem „richtigen“ Zaren Konstantin auf den Thron verhelfen und den „falschen“ Zaren Nikolaus schlagen sollten. Es hieße, es gebe ein Testament des toten Zaren Alexander I., nach dem sein Bruder Konstantin in Warschau auf dem Thron nachfolgen sollte, dass dieses Testament sich im Besitz des Senats befinde und öffentlich auf dem Senatsplatz verlesen werden sollte. [2] Dieses Testament gab es tatsächlich, allerdings war dort von Nikolaus die Rede, weil Konstantin schon vor Jahren auf seine Rechte verzichtet hatte. So hatte sich der Senat in aller Frühe auf dem Senatsplatz versammelt, auf den Nikolaus den Treueid geschworen und war dann wieder auseinander gegangen. Die Revolutionäre hatten geplant, auf dem Senatsplatz ihr Hauptquartier zu errichten, aber es kam nicht dazu, weil die Anführer der Revolte einfach vom Schauplatz verschwunden waren und die dreitausend Männer, die den Platz besetzt hielten, auf die Befehle warteten. Ihnen gegenüber standen 9000 regierungstreue Soldaten mit Kavallerie und Artillerie, die ebenfalls auf die Befehle des neuen Zaren warteten. Lange Zeit tat sich nichts, Nikolaus wollte keinen Schießbefehl geben, sondern den Konflikt auf friedliche Art und Weise lösen, was allerdings gründlich misslang. Der General Miloradowitsch, der Generalgouverneur von St. Petersburg und einer der engsten und vertrautesten Ratgeber des neuen Zaren, wurde bei dem Versuch, mit den Meuterern zu reden und sie dazu zu bewegen, in ihre Kasernen zurückzukehren, von einem Zivilisten, Peter Kachowskij, niedergeschossen und getötet, ebenso ein weiterer hoher Offizier. Dann kam die Reihe an den Metropoliten Serafim, mit den Rebellen zu reden. Er wurde aber mit Entschiedenheit aufgefordert, wieder zu gehen, und man ließ ihn auch in Ruhe ziehen. Einen letzten Versuch der friedlichen Überredung unternahm der Großfürst Michail, der jüngere Bruder des Zaren. Er wurde niedergeschrieen, angeschossen und kam gerade noch mit dem Leben davon. [3] Nikolaus weigerte sich immer noch, seinen Truppen den Schießbefehl zu geben. Stattdessen beschloss er, den Platz durch eine Kavallerieattacke räumen zu lassen, was aber misslang. Kurz darauf wurde General Suchosanet, der Kommandeur der Artilleriegarde, entsandt, um mit den Rebellen erneut zu verhandeln, aber

auch auf ihn wurde geschossen und er kam gerade noch mit dem Leben davon. Als der Zaren selbst unter Beschuss geriet, gab er dem Druck seiner Generäle nach und willigte ein, Artillerie auffahren zu lassen. Drei Kanonen wurden herbeigeschafft und direkt in die Menge abgefeuert. Es gab kaum Widerstand, die Menschenmassen brachen auseinander und flohen, Tote und Verwundete waren über den Platz verstreut. Später in der Nacht wurden die Leichen und auch die Verwundeten von den Polizisten eingesammelt und in der Newa versenkt. Danach setzten Verhaftungen, Verhöre, Gerichtsverhandlungen und Verurteilungen ein. Der neue Zar führte bei den Vernehmungen persönlich den Vorsitz, er „fragte sie einzeln und des langen und breiten aus, hielt ihnen Strafpredigten, beschwor sie, drohte ihnen – wie er es gerade richtig fand. Er verordnete jedem seine Einzelzelle in der Peter –und –Paul -Festung auf der anderen Seite des Flusses gegenüber dem Winterpalast; er schrieb vor, wie jeder einzelne behandelt werden und was er zu essen bekommen sollte. Als alles vorüber war – einige der Verschwörer wurden gehenkt, andere auf Lebenszeit nach Sibirien geschickt -, hatte er sich mit neunundzwanzig als oberster Polizist seines Reiches etabliert. Und dabei blieb es.“ [4]

2. Hintergründe der Dezembertragödie

Es gab viele Gründe dafür, wieso es zu dem Dezemberaufstand gekommen ist, und auch viele Gründe, wieso es zu der Dezembertragödie gekommen ist. In diesem Kapitel möchte ich einige Gründe, die schwerwiegenden, nennen.

Der unmittelbare Grund war, dass Zar Alexander I die Hoffnungen, die er anfangs geweckt hatte, nicht erfüllen konnte. Bei seiner Thronbesteigung glaubte jedermann, der neue Zar, der mit dem Rousseauschen Gedankengut groß geworden war, die bedrückenden Vorschriften seines Vaters aufheben und den starren Absolutismus in eine konstitutionelle Monarchie verwandeln würde, und auch Alexander selbst betonte immer wieder, dass „ er abdanken würde, sobald er eine aufgeklärte Regierung eingesetzt und seinem Land eine Konstitution geschenkt hätte.“ [5] Dass daraus nichts wurde, lag nicht nur daran, dass Alexander ein „Bündel von Widersprüchen“ [6] war, sondern auch daran, dass das Land selbst und dessen Bewohner für eine neue Regierungsform noch nicht soweit waren.

Für eine ganze Generation von jungen russischen Offizieren waren die napoleonischen Befreiungskriege zu einem „Europaerlebnis“ geworden. [7] Es waren alles gebildete junge Menschen aus den besten russischen Adelsfamilien, die eine hervorragende Bildung genossen hatten und in einem empfänglichen Lebensalter Jahre in verschiedenen Ländern Europas verbracht hatten. Sie hatten das neue Europa gesehen, sie hatten Vergleiche zu ihrem eigenen Land gezogen und nachdem sie dieses Europa von der Tyrannei Napoleons befreit und erfahren hatten, welchen Gebrauch die europäischen Völker von ihrer neuen Freiheit machen wollten, kehrten sie mit Hoffnung nach Hause zurück, dass sich nun auch in ihrer Heimat alles zum Besseren wenden würde. Diese Hoffnung wurde allerdings bitter enttäuscht, denn

Alexander, der „Befreier Europas“ [8], der sich zum König von Polen proklamierte und dem Land eine verhältnismäßig liberale Verfassung gab, machte keine Anstalten, in Russland etwas zum Besser zu verändern. Stattdessen begann „der Krieg gegen die Lehrfreiheit der Universitäten, Zensur und Polizei vereinten und verstärkten ihre Bemühungen im Kampf gegen alles, was aufgeklärter, freiheitlicher Ideen verdächtig schien“. [9] Die russische Regierung ging sogar soweit, 1816 bei Nowgorod, Mogilew, Charkow, Cherson und Jekaterinoslaw Militärkolonien einzurichten. Diese Militärkolonien, die nach dem österreichischen Vorbild errichtet wurden, stellten eine besondere Organisation von Truppen dar, die sich hauptsächlich aus Staatsbauern rekrutierten und die neben dem Militärdienst sich mit ihren Familien landwirtschaftlich betätigen mussten, um sich selbst zu unterhalten. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Kolonien waren fast genauso schlecht und grausam wie die der Leibeigenen, was dazu führte, dass viele adlige Offiziere ihren Dienst quittierten. [10]

Doch die Kriege gegen Napoleon sorgten nicht nur dafür, dass jungen Adligen bewusst wurde, wie tief der Abgrund zwischen Russland und dem Rest des Europas war, sondern sie kamen auch in einen engeren Kontakt mit ihrem eigenen Volk, den Bauern, die gemeinsam mit ihnen kämpften, und sie wurden auch für deren Elend empfänglich. Die Lage der Bauernschaft in Russland hatte sich nach den Kriegen gegen Napoleon sogar noch verschlimmert. Hohe Menschenverluste, Verwüstung weiter Landstriche, Zerstörung von Dörfern und Städten, erhöhte Fronleistungen und neue Staatssteuern erschwerten das Leben der Bauern noch zusätzlich. Dazu kam noch, dass ihre Hoffnungen auf Befreiung aus der Leibeigenschaft unerfüllt blieben. [11] Doch die Bauernrevolten und Soldatenaufstände waren unorganisiert und spontan und wurden schnell niedergeschlagen und eine selbständige Arbeiterklasse existierte nicht. [12] Wenn also noch Hoffnung bestand, in Russland alles zum Besseren zu wenden, dann ruhte diese nur auf den aufgeklärten Adeligen.

1816 wurde in Sankt Petersburg nach dem Vorbild der Freimaurern, aber mit ganz anderen Zielsetzungen von einigen Gardeoffizieren, darunter Nikita Murawjow und Pawel Pestel, die Geheimgesellschaft „Bund der Rettung“ (Sojuz spasenija) oder „der wahrhaften und treuen Söhne des Vaterlandes“, der 1818 in den „Wohlfahrtsbund“ (Sojuz blagodenstvija) umgewandelt wurde, gegründet. [13] Die Zahl der Mitglieder war gering und es herrschten strenge Aufnahmebedingungen. Über die Ziele der Gesellschaft bestand in den Hauptzügen Einmütigkeit, aber hinsichtlich des Weges zu ihrer Verwirklichung war man sich im Unklaren. Pestels Aussagen zufolge war die „anfängliche Absicht der Gesellschaft (…) die Befreiung der Bauern, und das Mittel, das man anwenden wollte, um sie zu erreichen – die Einwirkung auf den Adel, diese Maßnahme zu befürworten und sie im Namen des ganzen Adelstandes untertänigst vom Kaiser zu erbitten.“ [14] Nikita Murawjow gab an, dass „das anfängliche Ziel der Gründer der Gesellschaft ’die Einführung einer repräsentativen Regierung in Russland’ war.“ [15]

Weiteren Aussagen zufolge „ beabsichtigte der Wohlfahrtsbund (…), ohne zu irgendwelchen Zwangsmaßnahmen zu greifen, (…) auf die russische Gesellschaft mit moralischen und wissenschaftlichen Mitteln einzuwirken, nach Möglichkeit die Unwissenheit und die Missbräuche zu beseitigen, indem er zu überzeugen und ein gutes Beispiel bieten suchte; er wollte der Erziehung der Jugend eine gute Richtung geben, sich um die Beseitigung der Leibeigenschaft bemühen und die Regierung eifrig bei ihren guten Vorsätzen unterstützen. Alexander I. hätte natürlich in den ersten Jahren seiner Herrschaft nicht gezögert, sich zum Haupt des Wohlfahrtsbundes zu erklären; doch blieb dessen geheimes Ziel das ursprüngliche: für Russland eine gesetzmäßig -freie Einrichtung zu erwirken.“ [16] Der Dekabrist Alexander Murawjow formulierte die Forderungen etwas konkreter, es waren: „Befreiung der Bauern, Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, Öffentlichkeit der staatlichen Funktionen, öffentliches Gerichtsverfahren, Beseitigung des Alkoholmonopols, Abschaffung der militärischen Ansiedlungen, Verbesserung der Lage der Soldaten, Verringerung ihrer Dienstzeit, Verbesserung der Lage der orthodoxen Geistlichkeit, Verkleinerung der Armee in Friedenszeiten.“ [17] Das Wohl Russlands war das Hauptziel der Geheimgesellschaft, doch es herrschte Unstimmigkeit darüber, wie dieses Ziel zu erreichen war. Das erkannte auch Pestel: „Alle Mitglieder des Wohlfahrtsbundes waren einmütig in ihrer Absicht, zur Einführung einer neuen Ordnung der Dinge in Russland beizutragen … Sie waren verschiedener Meinung hauptsächlich in Bezug auf die Maßnahmen, mit Hilfe derer eine Veränderung in Russland herbeigeführt werden sollte, in Bezug auf die Neueinrichtung und die Form der Regierung; … diese zwei Probleme scheinen in der Gesellschaft noch nicht ausgereift zu sein … Von daher muss sich eine große Mannigfaltigkeit in den Aussagen der Mitglieder der Vereinigung über diesen Gegenstand ergeben, je nachdem, von was für Ansichten sie gehört hatten oder welche Meinung sie selber hegten.“ [18] Wegen der Verschiedenheit der Meinungen und der Unstimmigkeiten löste sich der „Wohlfahrtsbund“ im Januar 1821 selbst auf. Es folgte die Gründung von zwei Geheimgesellschaften: eines „Nordbundes“ mit dem Zentrum in Petersburg, in dem Fürst S. P. Trubeckoj, N. M. Murawjow und der Dichter K. F. Ryleev die führende Rolle spielten, und eines „Südbundes“ mit dem Zentrum in der Ukraine unter der Führung des Obersten P. I. Pestel, der S. I. Murawjow-Apostol und M. P. Bestuzev-Rjumin. Beide Gesellschaften setzten ihre Tätigkeit fort, auch als 1822 sämtliche Geheimgesellschaften verboten wurden, und beide erfuhren Verstärkung durch gleichgesinnte Geheimzirkel, die sich unabhängig von ihnen gebildet hatten – die südliche Gesellschaft durch die „Gesellschaft der vereinten Slaven“ in Kiev, die nördliche Gesellschaft durch eine Gruppe von Marineoffizieren. [19] Beide Gesellschaften hatten ihre Theoretiker, die zwei einander widersprechenden Verfassungen entwarfen und nicht einig werden konnten. Der schlecht geplante und noch schlechter ausgeführte Aufstand führte zu der Tragödie des 14. Dezember 1825. Es gab unzählige Tote und Verletzte. 579 Personen wurden verhaftet und vor Gericht gestellt, 5 wurden hingerichtet, über 120 andere zu 2 bis 20 Jahren Verbannung und Strafarbeit nach Sibirien verurteilt, den Rest verurteilte man zur Kerkerhaft. [20]

3. Der Theoretiker des „Nordbundes“

3.1. Vita und Laufbahn N. M. Murawjows

Im weiteren Verlauf meiner Arbeit möchte ich auf die beiden doch sehr unterschiedlichen Verfassungsentwürfe, „das Projekt einer Konstitution“ von Nikita M. Murawjow, und „Russkaja Pravda“ von Pavel I. Pestel, zu sprechen kommen. Zuerst stelle ich kurz ihre Lebensläufe vor, die meiner Meinung nach deswegen von Bedeutung sind, weil der Mensch und seine Vorstellungen durch seine Familienverhältnisse, Bildung und Werdegang geformt werden. Danach komme ich auf das Wesen der Verfassungen und deren Vergleich untereinander zu sprechen.

„Nikita Murawjow war das Muster eines verstockten Bösewichts. Mit ungewöhnlichem Verstand begabt, war er, der eine vorzügliche Erziehung, wenn auch nach ausländischer Art, genossen hatte, in seinen Gedanken frech und voll Selbstvertrauen bis zum Wahnsinn, zugleich aber versteckt und ungewöhnlich fest.“ [21]

(Nikolaus I.)

„Mehr als andere vermochte ich seine seltenen Verstandesgaben zu schätzen und die prachtvollen Eigenschaften seiner edlen Seele zu verehren; mehr als viele war ich stolz auf seine Freundschaft und werde es bleiben. Meine Liebe und Verehrung für ihn sind mit seinem Unglück noch gewachsen.“ [22]

(Schriftsteller Gneditsch)

„Ich war geblendet von dem glühenden Wunsch, Russland auf der höchsten Stufe des Wohlstandes zu erblicken; der sollte erzielt werden mit Hilfe von Einrichtungen, die gleicherweise wohltätig für alle Stände Russlands gewesen wären; ich strebte nach einer festen Einrichtung des Gerichtswesens in den unteren Instanzen und wollte, dass die Tätigkeit der Regierung ganz öffentlich erfolgen solle, nach dem Vorbild der englischen.“ [23]

(Nikita Murawjow)

Nikita Michajlowitsch Murawjow wurde am 9(20).9.1795 in Petersburg geboren. Er entstammte einem alten und reichen Adelsgeschlecht. Sein Vater, Michail Nikitisch Murawjow, war Dichter, Schriftsteller, Kurator der Moskauer Universität und Unterstaatssekretärs im Ministerium für Volksaufklärung, Senator und einer der Lehrer des jungen Alexander I. [24] Murawjow erhielt einen ausgezeichneten Hausunterricht in Mathematik, Geschichte und Sprachen. Von 1810 bis 1812 studierte er an der Moskauer Universität, machte allerdings seinen Abschluss nicht. Schon recht früh schwärmte er für liberale griechische und römische Staatsmänner und war ein begeisterter Patriot seines Heimatlandes. 1812 verließ er mit 16 Jahren heimlich sein Elternhaus, um sich der Armee

anzuschließen. [25] Er wurde jedoch verhaftet, nach Moskau in das Stadtgefängnis gebracht und vom Generalgouverneur verhört, der sehr erstaunt war über einen solchen Patriotismus in so jungen Jahren. Er schickte den Jungen zur Mutter zurück und gratulierte ihr zu einem Sohn, „der von so hochsinnigen Gefühlen erfüllt sei.“ [26] Ein Jahr später zog er als siebzehnjähriger Offizier ins Feld. Die Kämpfe führten ihn durch ganz Europa bis nach Paris, wo er ziemlich lange lebte und sich mit politischen Fragen beschäftigte. [27] Dort hatte er die Gelegenheit, mit berühmten und glänzenden Persönlichkeiten der französischen Hauptstadt zu sprechen: „Das vorzügliche Gedächtnis, schnelles Reagieren, die gute Auffassungsgabe des 17jährigen Leutnants, die zahlreichen Sprachen, die er beherrschte, all das verblüffte die weisen Herren in Paris, und sie prophezeien Murawjow eine glänzende Zukunft.“ [28] Nach seiner Rückkehr nach Russland diente Murawjow weiter in der Garde, wurde zum Hauptmann ernannt und heiratete Alexandra Tschernyschowa, die ihm später auch nach Sibirien folgte. [29]

Murawjow gehörte zu den Begründern des „Rettungsbundes“, des „Wohlfahrtbundes“ und des „Nordbundes“, er sorgte für die Verbindung des „Südbundes“ zum „Nordbund“ und entwarf 1821/1824 einen Verfassungsentwurf, in dem er für konstitutionelle Monarchie eintrat. Murawjow nahm an dem Aufstand der Dekabristen nicht unmittelbar teil, da er sich zu dieser Zeit auf Urlaub befand. Aber als aktiver Führer der Bewegung wurde er verhaftet und auf Grund des Urteils des Obersten Kriminalgerichts 1826 zum Tode verurteilt, dann aber zum Verlust seines Ranges und Adels und zur Deportation auf die Dauer von 20 Jahren zu Zwangsarbeiten begnadigt. Durch Allerhöchste Verfügung wurde befohlen, ihn nur 15 Jahre arbeiten zu lassen und ihm dann die Ansiedlung in Sibirien zu gestatten. [30]

Selbst in Sibirien blieb Murawjow eine zentrale Figur der Dekabristen. Seine Mutter, Jekaterina Fjodorowna Murawjowa (1771-1848), unterstützte ihre beiden Söhne, Nikita und Alexander, mit Geld und Kleidungsstücken und brach auch nie den Briefkontakt zu ihnen ab. Die Ehefrau des Murawjow, Alexandra Grigorjewna (1804-32), war ihrem Mann nach Sibirien gefolgt und musste ihre drei Kinder unter der Obhut der Schwiegermutter zurücklassen. Dank der Bemühungen seiner Frau und seiner Mutter konnte Murawjows reiche Bibliothek nach Sibirien gebracht werden, so dass er seine Studien fortsetzen konnte. [31] Seine Frau starb 1832, nachdem sie eine Frühgeburt gehabt hatte, und hinterließ dem Mann die in Sibirien geborene vier Jahre alte Tochter Sofja, um deren Erziehung Murawjow sich allein kümmern musste. Zwei von seinen drei in Moskau zurückgelassenen Kindern waren früh gestorben, die andere Tochter verlor in jungen Jahren den Verstand. [32] Der plötzliche Tod seiner jungen Frau, die als „Schutzengel“ der Dekabristen bezeichnet wurde, traf Murawjow sehr schwer, er zog sich zurück und verbrachte die meiste Zeit in Gebeten oder beim Lesen der Bücher. 1837 wurde ihm erlaubt, sich in der Siedlung Urik in der Nähe von Irkutsk niederzulassen, wo er in einem Haus mit seiner Tochter und seinem Bruder Alexander wohnte und sich erfolgreich als Agronom betätigte.

[...]


[1] Crankshaw, Edward: Winter Palast. Russland auf dem Weg zur Revolution 1825-1917. Wilhelm Heyne Verlag, München, 1978. S. 9

[2] Vgl. Crankshaw, a. a. O., S. 10

[3] Vgl. Crankshaw, a. a. O., S. 10 ff.

[4] Crankshaw, a. a. O., S. 14

[5] Vgl. Crankshaw, a. a. O., S. 17

[6] Ebd., S.17

[7] Stökl, Günther: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Alfred Kröner Verlag Stuttgart, 1990. S. 470

[8] Ebd., S. 470

[9] Ebd., S. 470

[10] Vgl. Straube, Fritz/ Zeil, Wilhelm: Geschichte Russlands 1789-1861. Der Feudalismus in der Krise. Akademie-Verlag, Berlin, 1978. S. 79 f.

[11] Ebd., S. 79

[12] Ebd., S. 83 f.

[13] Vgl. Stökl, a. a. O., S. 470

[14] Wolkonskij, Michael: Die ersten russischen Freiheitskämpfer des 19. Jahrhunderts. Die Dekabristen. Artemis-Verlag Zürich, 1946. S. 97

[15] Ebd., S. 96

[16] Ebd., S. 99

[17] Ebd., S. 100

[18] Ebd., S. 99 f.

[19] Vgl. Stökl, a. a. O., S. 471

[20] Vgl. Thomas, Ludmila: Geschichte Sibiriens. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Akademie-Verlag, Berlin, 1982. S. 75

[21] Wolkonskij, Michael, a. a. O., S.111

[22] Ebd., S. 112

[23] Ebd., S. 111

[24] Vgl. П. А. Николаев (главный редактор): Русские писатели 1800 - 1917, библиографический словарь. 4. Москва, научное издательство «большая российская энциклопедия», научно- внедренческое предприятие фианит, 1999. S. 160

[25] Ebd., S. 160

[26] Edelman, N. J.: Verschwörung gegen den Zaren. Porträts der Dekabristen. Verlag Progress Moskau, 1984. S. 23

[27] Vgl. Wolkonskij, a. a. O., S.110

[28] Edelman, a. a. O., S. 23

[29] Vgl. Edelman, S. 24

[30] Vgl. Wolkonskij, a. a. O., S. 111

[31] Vgl. Фёдоров, В. А.: Декабристы в воспоминаниях современников. Издательство Московского университета, 1988. S. 146 f.

[32] Ebd., S. 148

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Staatspolitische Konzepte für die Entwicklung Russlands nach dem Umsturz. Murawjows „Projekt einer Verfassung“ und Pestels „Russkaja Prawda“
Untertitel
Ein Vergleich
Hochschule
Universität Potsdam  (Universität Potsdam/ Institut für Slavistik/ Kulturwissenschaft)
Veranstaltung
Proseminar: Die Dekabristen: Denker, Dichter, Träumer (WiSe 2004/2005)
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
32
Katalognummer
V120116
ISBN (eBook)
9783640240661
ISBN (Buch)
9783640244744
Dateigröße
620 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Staatspolitische, Konzepte, Entwicklung, Russlands, Umsturz, Verfassung“, Murawjow, Prawda“, Pestel, Vergleich, Proseminar, Dekabristen, Denker, Dichter, Träumer
Arbeit zitieren
Julia-Maria Warkentin (Autor:in), 2005, Staatspolitische Konzepte für die Entwicklung Russlands nach dem Umsturz. Murawjows „Projekt einer Verfassung“ und Pestels „Russkaja Prawda“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120116

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