Der Erwerb von Tempus in der „schwachen Sprache“ im unbalancierten 2L1-Erwerb


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. The weaker language hypothesis

3. Untersuchung der Hypothese – I Basisdaten

4. Untersuchung der Hypothese – II MLU

5. Die grammatische Kategorie Tempus

6. Untersuchung der Hypothese – III Analyse der Basisdaten

7. Untersuchung der Hypothese – IV Entwicklung der grammatischen Struktur
7.1. Die funktionale Kategorie AGR1P
7.2. Weitere funktionale Kategorien

8. Fazit – Überprüfung der Hypothese

9. Literatur

1. Einleitung

Im Rahmen des Hauptseminars zur kindlichen Mehrsprachigkeit untersuche ich die Hypothese u.a. von Schlyter (1993) und Schlyter & Håkansson (1994), nach der sich die „schwache“ Sprache im unbalancierten bilingualen Spracherwerb wie eine L2 entwickelt und sich damit fundamental von einer L1 unterscheidet.

Grundsätzlich besteht in der aktuellen Forschung Übereinstimmung, dass sich der Zweitspracherwerb (L2) vom Erstspracherwerb (L1) in vielen Punkten unterscheidet.1 Der Gegenstand aktueller Forschung geht der Frage nach, ab wann das kritische Alter einsetzt, ab dem dem Kind eine L1 verwehrt bleibt. Derzeit findet sich eine Alterspanne von etwa drei bis zehn Jahren. Interessant und weitgehend unerforscht sind bisweilen die Kinder, bei denen simultaner Erstspracherwerb, also unter drei Jahren, stattfindet, aber sich die Sprachen nicht simultan entwickeln, man spricht vom unbalancierten Erstspracherwerb.

Der Begriff „schwächere Sprache“ wird verwendet, wenn sich die grammatische Entwicklung der einen Sprache sehr viel langsamer vollzieht als die der anderen Sprache. Dies lässt sich laut Rieckborn (2006) anhand mehrerer Kriterien überprüfen: „Mean Length of Utterance (MLU), Qualitative Kriterien zur Bestimmung verschiedener Entwicklungsstadien in Anlehnung an Clahsen (1986), wie z.B. das Erscheinen von Modalverben, Sprechbereitschaft in der jeweiligen Sprache (bestimmbar durch die Anzahl an verständlichen Äußerungen), Sprachmischungen, Wortschatz (Anzahl an verschiedenen Worten pro Aufnahme) und Bevorzugte Sprache im Gespräch mit anderen bilingualen Personen.“2

Ich werde mich in meinen Untersuchungen auf den Erwerb von Tempus beschränken. Tempora drücken Zeitbezüge aus (vorzeitig, gleichzeitig und nachzeitig), die für Kinder relevanten Zeiten sind le présent, l’imparfait, le passé composé, le futur proche , le futur und le plus-que-parfait. Für einen Vergleich werden nun Daten von balancierten und unbalancierten bilingualen Kindern benötigt, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen zu können. Da es der kurze Zeitraum eines Seminars nicht zulässt, solche Daten selbst zu erheben, greife ich hierbei auf die Erkenntnisse von Rieckborn (2006) zurück. Ich versuche also Argumente dafür zu finden, dass es einen qualitativen (=fundamentalen) Unterschied im Erwerb von Tempus in der „schwachen Sprache“ im unbalancierten 2L1-Erwerb gibt. Falls sich Unterschiede bei der Untersuchung bzw. beim Vergleich der Daten feststellen lassen, ließe die Erkenntnis auf einen Unterschied zwischen den Entwicklungsverläufen schließen, was die Frage aufwirft, ob sich die schwache Sprache eventuell wie eine L2 entwickelt.

2. The weaker language hypothesis

“the stronger language exhibits all the characteristics of normal L1 development, as regards the central grammatical phenomena such as finiteness, word order, and placement of negation; whereas the weaker language exhibits great variation in these respects, from complete non-existence of the grammatical phenomena mentioned to a lower occurrence of them in a corresponding sample of the stronger language.”3

Die Hypothese der schwachen Sprache im unbalancierten 2L1-Erwerb behauptet, dass sich die schwache Sprache in diesen Fällen qualitativ anders entwickelt als die starke Sprache bzw. als eine L1 im monolingualen Erwerb. Schlyter (1993) und Schlyter & Håkansson (1994) vertreten die These, dass die schwache Sprache nicht wie eine L1, sondern wie eine L2 erworben wird. Laut Meisel (2005) stellt diese Hypothese eine sehr wichtige Behauptung dar, da sie beinhaltet, dass eine Sprache nicht wie eine Muttersprache erworben wird, obwohl das Kind dieser Sprache von Geburt an ausgesetzt ist.

Die Ausgangshypothese beruht auf der Untersuchung von Schlyter (1993), bei der sechs bilinguale Französisch-Schwedische Kinder analysiert wurden. Von den sechs Kindern hatten drei Französisch und drei Schwedisch als schwache Sprache. Der Hauptunterschied zwischen Französisch und Schwedisch ist, dass Schwedisch (wie Deutsch) eine V2-Sprache ist. Das eingangs genannte Zitat resultiert aus diesen Untersuchungen und beinhaltet das Ergebnis, dass sich die starke Sprache bei diesen Kindern in jeder Hinsicht wie eine L1 entwickelt, während in der schwächeren Sprache eine große Variabilität zu beobachten ist. So findet Schlyter u.a. zahlreiche nichtzielsprachliche Subjektauslassungen, Kongruenzfehler und Wortstellungsfehler in der jeweiligen schwachen Sprache der Kinder.

Speziell bei den Wortstellungsfehlern stellt sie V3-Stellungen im Schwedischen fest. V3-Stellungen bedeuten, dass das Verb dem Subjekt folgt, obwohl die erste Stelle durch ein Adverb besetzt ist. Diese Wortstellung ist im Schwedischen nicht zielsprachlich. Nach den Regeln der generativen Grammatik hieße es, dass das Verb nicht in die Position bewegt wurde, in der es Finitheit erlangt hätte, d.h. der V2- Parameter wurde nicht gesetzt.4 Diese V3-Stellungen beobachteten Schlyter & Håkansson (1994) auch bei kindlichen L2-Lernern im Gegensatz zu monolingualen L1- Lernern und schließen daraus, dass die schwache Sprache eher wie eine L2 erworben wird. Meisel (2005) kritisiert diese Argumentation allerdings, in dem er die Untersuchungsergebnisse weit weniger drastisch analysiert, da die V3-Stellungen lediglich auf einen Unterschied in der Verwendung verschiedener Strukturen hinweisen. Au- ßerdem sei die schwächere Sprache nur langsamer entwickelt. Die Schlussfolgerung, dass der V2-Parameter nicht zielsprachlich gesetzt wurde und die schwächere Sprache daher nicht wie eine L1 erworben wird, ist seiner Meinung nach jedoch nicht haltbar. Mehr noch, er zeigt anhand der Daten von Schlyter & Håkansson (1994), dass keine Hinweise auf ein fehlerhaftes grammatisches Wissen vorliegen, da die Kinder bereits von früh an V2-Strukturen verwenden und sich dies nicht plötzlich ändert, nachdem Schwedisch die schwächere Sprache wurde5.

Nachdem die Untersuchungshypothese vorgestellt wurde, sollen nun zunächst die Daten sowie das Erhebungsverfahren und die Kinder vorgestellt werden. Im Anschluss daran werden die Analyseergebnisse dargestellt und ausgewertet.

3. Untersuchung der Hypothese – I Basisdaten

Im Folgenden möchte ich diese Hypothese von Schlyter & Håkansson (1994) an anderen Daten überprüfen. Die Basisdaten zur Untersuchung entnehme ich aus dem DuFDE-Korpus6, wobei speziell die sprachliche Entwicklung der Französisch-Deutsch bilingualen Kinder Christophe und François7 im Vordergrund steht. Zum Vergleich ziehe ich die Daten der Kinder Annika, Pascal und Ivar heran, die ebenfalls aus dem DuFDE-Korpus stammen und deren Erwerb von Tempus bereits bei Rieckborn (2005) ausführlich dokumentiert ist.

Christophe wächst in einer deutschsprachigen Umgebung auf. Seine Mutter spricht bis zum Alter von 2;68 Französisch mit ihm. Da er von da an jedoch immer seltener auf Französisch antwortet, gibt sie es zeitweise auf, Französisch mit ihm zu reden. Als Christophe ca. 3 Jahre alt ist, werden die Aufnahmen eingestellt, da Christophe praktisch keine französischen Äußerungen mehr produziert (vgl. Schlyter 1990b, S.82). Nachdem Christophe mehrmals in Frankreich bei seinen Großeltern war, wurden die Aufnahmen nach ca. drei Monaten jedoch wieder aufgenommen. Über einen Zeitraum von einem halben Jahr werden wieder regelmäßig Aufnahmen durchgeführt, da Christophe zu dieser Zeit bereit ist, Französisch zu sprechen. Das lässt mit dem Alter von 3;10 jedoch erneut nach, so dass die Aufnahmen schließlich nur noch im Abstand von drei Monaten durchgeführt werden.9

Auch François wächst in einer deutschsprachigen Umgebung auf, in der er mit seinem Vater Deutsch und mit seiner Mutter Französisch spricht. Zwischen 2;09 und 4;03 spricht François nur sehr wenig Französisch, so dass seine Mutter vorübergehend aufhört, Französisch mit ihm zu sprechen. Als François mit 4 Jahren in den Kindergarten kommt, spricht er gar kein Französisch mehr. Dies ändert sich erst nach einem Frankreichaufenthalt mit 4;3. Von da an nimmt das sprachliche Niveau bis zum Ende der Aufnahmen zu.10

Die drei „Vergleichskinder“ Annika, Pascal und Ivar wuchsen ebenfalls alle in deutschsprachigen Gebieten auf und sprachen mit ihrer Mutter Französisch und mit ihrem Vater Deutsch. Alle drei Kinder wurden nach dem Prinzip „une personne – une langue“ (Ronjat 1913) erzogen. Zu keinem Zeitpunkt wurde eine Sprache aufgegeben. Als Kriterium zur Überprüfung des Entwicklungszustandes kann -wie bereits gesagt- unter anderem der MLU dienen. Dieser Wert berechnet sich aus der durchschnittlichen Anzahl der Morpheme, die in einer Äußerung auftreten. Laut Rieckborn (2005) sei der MLU das bekannteste und meist verwendete Kriterium zur Bestimmung des sprachlichen Entwicklungsstands. Durch die relative Einfachheit der Erhebung und Berechnung und dennoch aussagekräftigen Behauptung ist die Popularität dieser Methode zu erklären. Ein morphembasierter MLU berücksichtigt neben lexikalischen Morphemen auch funktionale Morpheme, so dass ein steigender MLU-Wert eine zunehmende grammatische Komplexität widerspiegelt.

4. Untersuchung der Hypothese – II MLU

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1 MLU Christoph11

Abbildung 1 zeigt, dass sich die beiden Sprachen bei Christophe bis zum Alter von 2;4 relativ gleichmäßig entwickeln. Es fällt jedoch auf, dass die MLU-Werte im Französischen nach 2;4 bereits abfallen. Es folgt eine längere Phase, in der kein MLU für das Französische ermittelt werden konnte, da die Anzahl der Äußerungen pro Aufnahme die als Basis zur Ermittlung dient, zu niedrig ist.12 Diese Lücke entspricht der Phase, in der Christophe nahezu aufgehört hat, Französisch zu sprechen. Erst ab ca. 3 Jahren können wieder MLU-Werte berechnet werden. Auch wenn die Kurve in beiden Sprachen nun deutlich ansteigt, so liegt die Französische stets unter der Deutschen, was darauf schließen lässt, dass die grammatische Komplexität im Deutschen permanent über der des Französischen liegt. Dies ist ein deutliches Zeichen für die verlangsamte Entwicklung des Französischen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.2 MLU François

Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch in der Abbildung 2 erkennen, dem MLU von François. Generell fällt auf, dass sich beide Sprachen sehr langsam entwickeln. Weder im Deutschen noch im Französischen erreicht er vor dem Alter von 3 Jahren einen Wert über 3. Der deutsche MLU von Christophe beträgt in diesem Alter bereits 4. Interessant ist, dass in den ersten Monaten das Französische stärker ausgeprägt zu

[...]


1 Vgl. z.B. Guasti (2002).

2 Rieckborn (2006), S.5.

3 Schlyter (1993), S.305.

4 Schlyter & Håkansson (1994), S.50.

5 Vgl. Meisel (2005)

6 Das DuFDE-Projekt (Deutsch und Französisch – Doppelter Erstspracherwerb) wurde in der Zeit von 1986 – 1992 unter der Leitung von J.M. Meisel an der Universität Hamburg durchgeführt.

7 Angaben zu den Kindern sowie MLU-Werte vgl. Schlyter (1990b) und Köppe (2004).

8 Ließt sich Jahre, Monate, (Tage)

9 Vgl. Schlyter (1990b), S.82.

10 Vgl. Schlyter (1990b), S.83.

11 Abb.1+2 aus Rieckborn (2006), S.6f.

12 Vgl. Rieckborn (2006)

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Der Erwerb von Tempus in der „schwachen Sprache“ im unbalancierten 2L1-Erwerb
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Romanistik)
Veranstaltung
Simultaner und sukzessiver Erwerb des Französischen: Kindliche Mehrsprachigkeit
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
22
Katalognummer
V120019
ISBN (eBook)
9783640240227
Dateigröße
1548 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erwerb, Tempus, Spracherwerb, Erstspracherwerb
Arbeit zitieren
Malte Sorgenfrei (Autor:in), 2008, Der Erwerb von Tempus in der „schwachen Sprache“ im unbalancierten 2L1-Erwerb, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120019

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