Ethnische Konflikte in der Sowjetunion

Eine Fallstudie am Beispiel der Tschetschenen und Inguschen während des Stalinismus


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

30 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Sowjetunion unter Stalin
2.1 Die Herrschaft Stalins
2.2 Faktoren sowjetischer Nationalitätenpolitik von 1917 bis 1953

3. Der historische Kontext der Tschetschenen-Inguschen
3.1 Ethnogenese und präsowjetische Historie der Tschetschenen-Inguschen
3.2 Tschetschenen und Inguschen in der Sowjetunion

4. Die Deportation der Tschetschenen-Inguschen 1944
4.1 Die Deportation der Tschetschenen-Inguschen 1944 – eine Chronologie
4.2 Die Mär von der kollektiven Kollaboration mit der Wehrmacht

5. Fazit – Die Deportation der Tschetschenen-Inguschen als „Endlösung“?

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Der Staat ist eine Maschine in den Händen der herrschenden Klasse zur Unterdrü- ckung des Widerstands ihrer Klassengegner." – Josef Stalin 1947

Dieses Zitat Josef Stalins beschreibt deutlich das Selbstverständnis seiner Herrschaft, gilt aber auch für das der Bolschewiki im Allgemeinen. Der Historiker Jörg Baberowski präzisiert in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. März 2007: „Dieses Regime war ein Staat gegen sein Volk. Die Bolschewiki machen die Erfahrung, dass die Mehrheit in diesem Vielvölkerimperium ihr Projekt des ‚Neuen Menschen‘ ablehnt. Und dafür müssen sie eine Begründung finden.“ (Baberowski 2007: FAZ). So war der Staat Mittel zum Zweck, ein Instrument gegen Widerstand und Feind. Integraler Bestandteil sowjetischer Innenpolitik war die Nationalitätenpolitik. Mit Hilfe dieses Steuerinstruments wurde versucht, nationale Minderheiten, vor allem an der Peripherie der Sowjetunion, zu integrieren und zu beherrschen. Davon war mehr als die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung betroffen. Ein zentraler Abschnitt im Kontext der sowjetischen Nationalitätenpolitik war die von Stalin unter massiver Gewaltanwendung oktroyierte „Revolution von oben“. Der Politikwissenschaftler Eugen Kogon schreibt zwar in einem anderen Kontext, aber dennoch auf den Stalinismus zutreffend: „(Die organisierte Repression ist) ein Ecce Homo-Spiegel (...), der nicht irgendwelche Scheusale zeigt, sondern dich und mich, sobald wir nur dem gleichen Geiste verfallen, dem jene verfallen sind, die das System geschaffen haben." (Kogon 1999: 6). Damit impliziert Kogon einerseits die Bedingtheit von staatlicher Gewalt, die organisierte Repression, also die Unterdrückung von Widerstand und Herrschaft durch Terror, erst ermöglicht. Andererseits macht er gleichzeitig auch deutlich, dass man es nicht mit einem anonymen Gebilde zu tun hat, sondern mit Menschen wie „Du“ und „Ich“. Kogon beschreibt damit passend, was politisch motivierte Verfolgung, also auch ethnische Gewalt und deren Folgen, ausmacht.

Die historische Entwicklung und Entstehung der Sowjetunion ist gekennzeichnet von Gewalt und Toten, beginnend mit dem Machtkampf der Bolschewiki gegen die Menschewiki, schließlich gesteigert und weit übertroffen durch die Herrschaft Stalins. Diese ist ein Synonym für staatliche und organisierte Repression gegenüber Andersdenkenden, politischen Gegnern, ethnischen Minderheiten, aber auch gegenü- ber der eigenen Bevölkerung. Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die ethnischen Gewalt während des Stalinismus im Kontext der sowjetischen Nationalitätenbildung – explizit in Bezug auf die Deportation der Tschetschenen und der Inguschen 1944. Die folgenden Ausführungen sollen dabei zeigen, dass der Deportation der Tschetschenen und der Inguschen ein konstruierter, kultureller Rassismus zugrunde lag, der sich aus den Freundund Feindbildern kommunistischer Ideologie im Spannungsfeld von Regime und Volk speist. Der ethnischen Komponente kam dabei eine entscheidende Rolle zu, wie der Historiker Jörg Baberowski weiter ausführt: „Der sowjetische Rassismus ist ganz klar ein kultureller Rassismus, zum Beispiel sind die Tschetschenen ein ‚Banditenvolk‘, und die Armenier sind ein ‚Händlervolk‘, die Polen sind ein ‚Verrätervolk‘.“ (Baberowski 2007: FAZ).

Die ethnische Komponente stalinistischer Herrschaft war demnach eine Tatsache, stand aber im krassen Gegensatz zur Nationalitätenpolitik der 20er Jahre. Dabei möchte ich am Beispiel der Deportation der Tschetschenen und Inguschen der Frage nachgehen, ob die stalinistische Nationalitätenpolitik einer pragmatisch-motivierten oder einer ideologischen Maxime folgte. Um diese Frage zu präzisieren und dann zu klären, erfolgt zunächst eine prägnante Zusammenfassung der wesentlichen Merkmale des Stalinismus, insbesondere der Faktoren sowjetischer Nationalitätenpolitik bis zum Ende von Stalins Herrschaft. Sodann erfolgt eine kurze Ethnogenese der Tschetschenen und Inguschen sowie deren historische Entwicklung von der blutigen Integrierung in das russische Reich ab 1824 bis zum Beginn des „großen vaterländischen Krieges“ 1941. Den Schwerpunkt dieser Arbeit bildet die chronologische Beschreibung der Deportation der Tschetschenen und der Inguschen 1944 sowie deren Motive und Folgen.

Der Konflikt mit den Tschetschenen und den Inguschen ist meiner Meinung nach von besonderer Bedeutung, da die Deportation dieser ethnischen Gruppen keinesfalls den Beginn oder gar das Ende eines Konfliktes im 20. Jahrhundert darstellt, sondern vielmehr den tragischen Höhepunkt in einer kausalen Entwicklung bildet, der, wie schon im 19. Jahrhundert und nun auch im 21. Jahrhundert, für die Macht und Ohnmacht Russlands im Kaukasus steht.

Die wissenschaftliche Forschung und Diskussion zum Thema Stalin und Stalinismus bietet eine umfangreiche Grundlage meiner Arbeit. Dabei beziehe ich mich vor allem auf die Ausführungen des Historikers Jörg Baberowski, der viele (Standard-)Werke zu diesem Thema veröffentlichte sowie auf das Schwarzbuch des Kommunismus von Stephane Courtois, der darin die wesentlichen Merkmale des Stalinismus treffend beschreibt. Weniger erforscht in diesen Werken ist die historische Entwicklung der Tschetschenen und der Inguschen sowie deren Deportation. Daniel Bohse setzt sich mit dieser Frage, auf der Grundlage der Vorarbeit und Quellen russischer Historiker wie J. A. Ajdaev, C. Bokov oder N. F. Bugaj, intensiv auseinander.

2. Die Sowjetunion unter Stalin

Im folgenden Kapitel sollen die wesentlichen Merkmale des Stalinismus zusammengefasst und die Entwicklung der Nationalitätenpolitik der Bolschewiki zwischen 1917 und 1953 rekapituliert werden. Diese Ausführungen bilden die wissenschaftliche Grundlage für das Fallbeispiel der Tschetschenen und Inguschen.

2.1 Die Herrschaft Stalins

In der westlichen Forschung wird der Begriff Stalinismus als Synonym für den ideologischen Dogmatismus und die totalitäre Herrschaft Josef Stalins zwischen 1924 und 1953 gesehen. Charakteristisch für die Herrschaft Stalins war die massive Anwendung von Gewalt in jeglicher Hinsicht, seiner Maxime folgend: ,,Überzeugungen können sich ändern, aber die Furcht bleibt." (Bullock 1999: 1248). Entsprechend bleibt als Substrat stalinistischer Herrschaft die Verfolgung politischer Gegner („gro- ße Säuberungen“[1]) gekoppelt an einen umfassenden Personenkult. Die Kollektivierung[2] der Landwirtschaft, die ebenfalls den Tod von hunderttausenden Menschen zur Folge hatte, sowie die Sowjetisierung[3] sind als weitere zentrale Merkmale hervorzuheben.

Diese Entwicklung begann bereits damit, dass Stalin, die an sich oligarchisch konstituierte Staatsform der Sowjetunion in eine auf ihn zugeschnittene Zentralisierung der Staatsgewalt transformierte – also in eine Diktatur. Dies erreichte er durch die Ausschaltung und Absetzung unliebsamer Konkurrenten, ohne dabei die formell oligarchischen Strukturen aufzulösen (Hoffmann 2004: 15). Stalin sicherte sich seine Macht durch loyale Unterstützer vor allem innerhalb der politischen Polizei der SU, der Tscheka (später GPU, ab 1934 NKWD). Dieses Instrument diente vor allem einem Zweck: der Kontrolle und Machtsicherung durch Terror (Suny 2004: 16). Dadurch sicherte Stalin sich die Treue seiner Untergebenen und des Volkes. Auch im Bereich der sowjetischen Nationalitätenpolitik war Stalins Polizeisystem integriert und aktiv. Der Historiker Norman Naimark schreibt dazu: „Diese repressiven Organe (GPU, OGPU, NKWD) waren für die Erhaltung der Sowjetmacht und die Lenkung der Nationalitäten in ihren Republiken oder autonomen Regionen entscheidend.“ (Naimark 2004: 113). Um dies zu gewährleisten, wurden die Kompetenzen des Polizeisystems seit der Revolution von 1917 ständig erweitert und unter Stalin bewusst zur planmäßigen Unterdrückung seiner politischen Gegner eingesetzt. Dazu galt es zunächst, Feinde zu identifizieren und zu klassifizieren, um diese dann gezielt ausschalten zu können.

Typisch für den Sozialismus war die Verwendung von Feindbildern, wie die Historiker Silke Satjukow und Rainer Gries verdeutlichen: „Die bolschewistische Gesellschaft verstand sich von Anfang an als selektive Gesellschaft, die in ‚gut‘ und ‚böse‘ aufteilte, die wirkliche und vermeintliche Feinde in ihrer Mitte ideologisch markierte, öffentlich entlarvte und rigoros entfernte.“ (Satjukow/ Gries 2004: 15). Solche Kategorien waren z. B. „feindliche Elemente“, „politisch rückständige Elemente“, „Kapitalisten“, „Kulaken“ und „politisch bewusste“ Personen (Satjukow/ Gries 2004: 15). Aber auch ethnische Faktoren spielten zunehmend (vor allem seit 1937) eine Rolle, nachdem durch die Installation der (Stalin) -Verfassung von 1936 das Erreichen des Sozialismus verkündet wurde und die stalinistische Rhetorik zunehmend aggressiv-nationalistische Formen annahm (Naimark 2004: 114). Darüber hinaus fiel der staatlich instrumentalisierten Judikative durch die Schauprozesse, u. a. der ,,großen Säuberung" von 1936 bis 1939, eine entscheidende Rolle zu. Durch sie ließ die kommunistische Führung dem Volk mitteilen, wie sie über die Welt dachte. Auch in die sowjetischen Teilrepubliken wurden ,,außerordentliche Kommissionen" oder ,,Stoßbrigaden" entsendet. Diese bestanden aus Mitarbeitern der politischen Polizei, des Militärs, der Komsomol - Gruppen (die Jugendorganisation der KPdSU), höheren Mitgliedern des Zentralkomitees oder des Politbüros sowie aus regionalen Aktivisten. Der Auftrag lautete meist, verordnete Aktivitäten zu beaufsichtigen oder diejenigen, die wegen ,,Sabotage“ ins Stocken geraten waren, zu forcieren. All diese Maßnahmen sorgten für einen hohen Grad an Agonie der sowjetischen Bevölkerung (Satjukow/ Gries 2004: 15-16).

Bedeutende Personen innerhalb der wichtigsten Institutionen wie z. B. Mitglieder des Politbüros, des Zentralkomitees, der regionalen Vertretungen der Partei, des NKWD, der Roten Armee, der Komsomol, der Staatsbank sowie Volkskommissare und Parteifunktionäre wurden auf Befehl Stalins durch loyal ergebene Kräfte ersetzt (Werth 1998: 206). Die Repressionen des Stalinismus waren jedoch von einem gewissen Pragmatismus geprägt, der den Terror nicht nur auf einen ähnlichen Personenkreis begrenzte, wie eben politische Feinde Stalins, sondern auch die Unterdrückung von ethnischen Minderheiten bis hin zu minoritären Nationalitäten in den besetzten Teilrepubliken der Sowjetunion umfasste, um so den Zusammenhalt der Union zu gewährleisten und die staatliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Davon betroffen waren z. B. Tschetschenen, Inguschen, Ukrainer, Krimtataren und Krimarmenier, Karatschaier, Balkaren, Kalmüken, Griechen, Bulgaren, Kurden, Turkmescheten, Balten, Jakuten, Burjat - Mongolen, Kasachen, Koreaner und weitere Minoritäten, die Opfer des stalinistischen Terrors wurden (ebd. 1998: 241-256). Den quantitativen und qualitativen Hauptteil der unter Stalin bekämpften Gruppierungen bildeten ,,in sozialer Hinsicht“ fremde Gruppierungen, die nicht in eine kommunistische Gesellschaft passten oder ständig - nach Stalins Ansicht - gegen die Sowjetmacht konspirierten (ebd. 1998: 189).

Durch die Übertragung dieses Begriffes auf unterschiedliche Kreise konnte Stalin, unter Rückgriff auf die Motive der Verschwörung und der Sabotage als Legitimation der vehementen staatlichen Repression, sich und seiner Politik eine fortwährende mehrheitliche Unterstützung durch die Partei sichern. In diese Gruppe fielen Streikende, Geistliche aller in der Sowjetunion vorkommenden Religionen, vermeintlich opponierende Studenten und Intellektuelle, wie auch Mitglieder verbotener politischer Parteien, Mitglieder der ehemaligen zaristischen Beamtenschaft, der zaristischen Polizei und des zaristischen Militärs, des weiteren Kosaken, Adlige, ehemalige Tschekisten, Ingenieure, Werksdirektoren, Besitzer von Handwerksbetrieben oder Ackerfläche, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion zurückgekehrten Zwangsarbeiter, die in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten verbliebene Zivilbevölkerung und als Großgruppe die als Kulaken verunglimpfte sowjetische Bauernschaft (Baberowski (1) 2003: 182-183).

2.2 Faktoren sowjetischer Nationalitätenpolitik bis 1953

Die Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion stellt eine umfangreiche Thematik dar, die auch in der Wissenschaft kontrovers diskutiert wird. Grundsätzlich lässt sie sich in zwei Phasen einteilen, die erste Phase erstreckt sich vom Ende des russischen Bürgerkriegs bis etwa 1929 bzw. 1934. Diese, vor allem von der Idee Lenins der Nation-fördernden Politik geprägt, wurde während der 30er Jahren von Stalin im Zuge seiner Modernisierungspolitik gewaltsam verkehrt und bildet somit die zweite Phase der Nationalitätenpolitik.

Das Erbe der zaristischen Expansion, welches die Bolschewiki mit ihrem Sieg 1917 übernahmen, war enorm. Der Historiker Jörg Baberowski beschreibt dieses Erbe folgendermaßen: „Die Sowjetunion aber war ein Vielvölkerreich, in dem mehr als hundert Sprachen und Dialekte gesprochen wurden, das sesshafte und nomadische, städtische und ländliche Lebensformen beherbergte und in dem mehrere Millionen Muslime und Buddhisten lebten. Kurz: Das Sowjetimperium bestand nicht allein aus Russen und Slawen. Niemand, weder die zarischen Bürokraten noch ihre bolschewistischen Nachfolger, konnten in ihren politischen Entscheidungen von dieser Vielfalt der Ethnien, Sprachen und Kulturen absehen.“ (Baberowski (2) 2003: 1). Diesem Schluss entsprechend verstand sich die sowjetische Nationalitätenpolitik vordergründig als neue Integrationsideologie, eingebettet im Kommunismus, bewies in der Praxis jedoch Kontinuität mit der zarischen Nationalitätenpolitik (Baberowski (1) 2003: 17).

Mit dem Sieg über die Menschewiki und der anschließenden Wiederherstellung des Imperiums suchten die Bolschewiki Antworten zu finden, wie Kernrussland und die Gebiete an der Peripherie politisch zu vereinigen seien. Baberowski führt im Interview mit der FAZ dazu aus: „Die Bolschewiki haben in den zwanziger Jahren versucht, ihr Imperium neu zu ordnen, um die Bevölkerung, die sie beherrschen wollten, für sich erst einmal erklärbar zu machen. Einem unbekannten Land eine Struktur zu geben.“ (FAZ). Zunächst wurden also die alten zarischen Strukturen aufgebrochen und neue Territorien konstruiert, welche die ethnische Vielfalt besser und differenzierter darstellen sollten, in der Praxis aber ein genaues Abbild der ethnischen Vielfalt versäumte (ebd. (2) 2003: 212-213). Während Lenin für eine umfassende Kulturautonomie[4] der neugegründeten Staaten und Republiken im Kontext der Sowjetunion eintrat, um so den Zerfall des Zarenreiches entgegenzuwirken, verfolgte Stalin, der von 1917 bis 1923 Volkskommissar für Nationalitäten gewesen war und damit erheblichen Einfluss in dieser Frage hatte, andere Konzepte (Baberowski (2) 2003: 198-200). Der Historiker Erwin Oberländer schreibt dazu: „Diese äußerten sich in erster Linie in dem besonders von Stalin forcierten Bestreben, die Vielzahl der Völker der Sowjetunion mithilfe einer intensiven Russifizierungspolitik in ein einheitliches Staatsvolk zu verwandeln.“ (Oberländer 1975: 730). Zu beachten ist dabei, dass im marxistischen Denken die nationale Frage weniger von Bedeutung war, da diese eher Ursache bürgerlichen Kapitalismus sei und mit Hilfe des Sozialismus überwunden werden könne (Kappeler 2001: 301).

Real waren dennoch die vielen Nationen im Kontext der multiethnischen Strukturen Russlands. Mit seiner Idee von einem starken Zentralstaat, in dem die vielen Völker und Gebiete an der Peripherie eingebunden waren, stand Stalin in Kontrast zu Lenin, der den Machtkern der Sowjetunion nur auf das russische Kerngebiet und nicht auf die Satellitenstaaten und Republiken ausweiten wollte. In einem Brief an Lenin erklärte Stalin 1920, dass man den "sowjetischen (zentralisierenden) Typ des Föderalismus" sofort allen Völkern des ehemaligen Zarenreiches auferlegen könne, also das alte Reich als Machtkern des erwarteten Weltstaates betrachten solle (Oberländer 1975: 730). Dies erklärte er in einer Rede um 1920 folgendermaßen: „Die Forderung der Abtrennung der Grenzgebiete von Russland als Ausdruck der Beziehungen zwischen Zentrum und Grenzgebieten muss ausgeschlossen werden, nicht nur deshalb, weil es der Herstellung des Bundes zwischen dem Zentrum und den Grenzgebieten widerspricht, sondern auch weil es grundsätzlich den Interessen der Massen sowohl im Zentrum wie auch in den Grenzgebieten widerspräche.“ (Oberländer 1975: 728). Dieses Verständnis entwickelte sich im Laufe der Zwanzigerjahre immer weiter und Stalin war schließlich der Auffassung, dass die Eigenständigkeit scheinbar „vormoderner“ Kulturen im Widerspruch zur Industrialisierungsund Modernisierungsideologie des Bolschewismus und somit dem Zivilisierungsprozess der Sowjetunion im Wege standen (Baberowski (2) 2003: 194). Damit knüpfte Stalin an die Tradition des Zarenreiches an, das eine ähnliche Politik gegenüber den unterworfenen Völkern verfolgte, wie in Kapitel drei beschrieben wird. Dafür spricht auch das Vorgehen der Roten Armee zwischen 1918 und 1924, die mit dem Ende des Bürgerkriegs separatistische Kräfte während der Autonomiebewegung in Weißrussland, Mittelasien, im nördlichen Kaukasus, im Wolga-Uralgebiet und in Sibirien zu unterbinden suchte (Kappeler 2001: 300).

In einer innerparteilichen Diskussion hatte man sich zunächst auf eine endgültige Richtlinie geeinigt, die Stalin auf dem XII. Parteitag im April 1923 bekannt gab und in der das Konzept der Ethnitisierung des Politischen, der sogenannten „korenizacija“ – der Einwurzelung - vorgestellt wurde (Baberowski (2) 2003: 197). Hier hatte sich vor allem Lenin durchgesetzt (Baberowski (1) 2003: 75). Dieser Idee entsprechend sollte die sowjetische Staatsgewalt, im Kontext eines föderalen Systems, von lokalen Funktionsträgern übernommen werden (ebd. (2) 2003: 204). Diese Praxis der Bevorzugung von einheimischen Ethnien und der Kooperation mit gefügigen Eliten in den neu gebildeten Republiken wird vom Historiker Terry Martin auch als „Affirmative Action Empire“ beschrieben (Martin 2001). Es folgte eine Phase der Autonomie, in der die Völker weitgehend frei agieren und eine Art Nationalbewusstsein entwickeln konnten, welches sogar gefördert wurde, mit dem Ziel: „to prevent the growth of nationalism.“ (ebd. 2001: 1). In Kontrast zu dieser Politik der Unterstützung kultureller Entfaltung stand jedoch die kommunistische Vorstellung, dass es die Pflicht der Bolschewiki sei, die kleinen Völker bei ihrer Entwicklung zu unterstützen alte Reich als Machtkern des erwarteten Weltstaates betrachten solle (Oberländer 1975: 730).

[...]


[1] In ihnen ließ Stalin (zwischen 1934-38) einen Großteil der alten Parteielite und der Führung der Roten Armee nicht nur aus der Führungsposition entfernen, sondern auch physisch liquidieren. Im weiteren Sinne zählt dazu ebenso die Verfolgung von Intellektuellen und Kulaken (Großbauern) (Torke, H-J. 1993: 144-145).

[2] Kollektivierung: bezeichnet den Prozess des Zusammenschlusses bäuerlicher Privatwirtschaften zu Kollektivbetrieben und landwirtschaftlichen Arteli. Die forcierte K. der Landwirtschaft in den Jahren 1929-32 veränderte die sozialen und ökonomischen Grundlagen des sozialistischen Herrschaftssystems […] und leitete die Phase des Stalinismus ein. Noch unter Lenin war der Beitritt der Bauern zu den Kolchosen freiwillig. Diese sollten durch größere Effektivität und Produktivität gegenüber der privaten Form der Landwirtschaft von sich aus als Beispiel gelten. Bis zum Jahr 1929 waren aber erst knapp zwei Prozent der Bauern in Kolchosen organisiert. Der schlechte Zustand der Landwirtschaft und die nur schleppend voranschreitende Industrialisierung in der Sowjetunion bedingten und verstärkten sich gegenseitig (Torke, H-J. 1993: 144-145).

[3] Sowjetisierung: die Einflussnahme der Sowjetunion auf die politische Gestaltung der Staaten in ihrem Einflussgebiet in Osteuropa nach dem 2. Weltkrieg. Die Sowjetisierung beinhaltete die Errichtung kommunistischer Systeme, die Abstimmung der Außenpolitik und die wirtschaftliche und soziale Umgestaltung der Gesellschaft nach sowjetischem Vorbild (ebd. 1993: 305-307).

[4] Extraterritoriale Kulturautonomie, nach Otto Bauer, definierte Nationen als Verbände von Menschen mit gleicher Kulturzugehörigkeit, die nicht im Nationalstaat aufgeht (Baberowski 2003: 192)

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Ethnische Konflikte in der Sowjetunion
Untertitel
Eine Fallstudie am Beispiel der Tschetschenen und Inguschen während des Stalinismus
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Note
2,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
30
Katalognummer
V119840
ISBN (eBook)
9783640235674
ISBN (Buch)
9783640235759
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ethnische, Konflikte, Sowjetunion
Arbeit zitieren
Alexander Boettcher (Autor:in), 2008, Ethnische Konflikte in der Sowjetunion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119840

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Ethnische Konflikte in der Sowjetunion



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden