Calvins Prädestinationslehre

Die historischen Entwicklungen und ihre Bezüge zur Institutio von 1536, der „Congrégation sur l’élection éternelle“ (1551) und der Institutio von 1559


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

32 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Prädestinationslehre in der ersten Ausgabe der ICR von 1536
2.1 Gott ist nicht Urheber der Sünde
2.2 Die Beständigkeit der Vorsehung Gottes zum Heil
2.3 Die Kirche als Versammlung der Erwählten
2.4 Zusammenfassung: Die Prädestinationslehre in der ICR von 1536

3. Calvin und die zeitgeschichtlichen Ereignisse von 1535 bis 1551
3.1 Von der Verfassung der ersten ICR bis zur Vertreibung aus Genf 1535-1538
3.2 Die Straßburger Zeit 1538-1541
3.3 Die zweite Genfer Phase ab 1541
3.3.1 Die Rückkehr nach Genf und die Einführung der Kirchenordnung
3.3.2 Verschiedene Streitigkeiten
3.4 Die Situation in Genf
3.4.1 Die Situation Genfs bis 1550
3.4.2 Die Situation Genfs im zeitlichen Umfeld der Auseinandersetzung mit Bolsec

4. Die Auseinandersetzung mit Hieronymus Bolsec 1551 und 1552
4.1 Hieronymus Bolsecs Hintergrund
4.2 Der Auslöser für Bolsecs Verhaftung
4.3 Die theologische Kritik Bolsecs an Calvins Prädestinationslehre
4.3.1 Fälschliches Heranziehen von Bibelstellen und Augustin
4.3.2 Die Prädestinationslehre macht Gott zum Tyrannen
4.3.3 Gott wird zum Urheber der Sünde
4.3.4 Heilsuniversalismus: Calvin beschneidet die Liebe Gottes
4.4 Der Prozessverlauf
4.4.1 Die ersten Befragungen Bolsecs (16. bis 24. Oktober)
4.4.2 Zunehmende Politisierung des Prozesses (25. Oktober bis 11. November)
4.4.3 Rundbriefe an die Schweizer evangelischen Kirchen (12. November bis 26. November)
4.4.4 Antworten aus den Schweizer evangelischen Kirchen (27. November bis 21. Dezember)
4.4.5 Verurteilung und Verbannung Bolsecs (22. Dezember bis 23. Dezember)
4.5 Die Folgezeit des Bolsec-Prozesses bis 1559

5. Die Prädestinationslehre in der „Congrégation sur l’élection éternelle“
5.1 Die Gliederung der Schrift
5.2 Die theologischen Argumente Calvins
5.2.1 Die Schriftgemäßheit der Prädestinationslehre
5.2.2 Die Unbegreiflichkeit Gottes gegen den Tyrannen-Vorwurf
5.2.3 Gott nicht als Urheber der Sünde, Schuld der Menschen
5.2.4 Heilspartikularismus mit 1.Tim 2,4
5.3 Zusammenfassung: Die Prädestinationslehre in der „Congrégation“

6. Die Endgestalt der Prädestinationslehre in der ICR von 1559
6.1 Neue Aspekte der Prädestinationslehre
6.1.1 Verwerfung des Einwands, Prädestination mache Ermahnung nutzlos
6.1.2 Der Stellenwert der Berufung
6.2 Zusammenfassung: Prädestinationslehre in der ICR von 1559

7. Kritische Würdigung und Ausblick

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der Name Johannes Calvin ist maßgeblich mit der Lehre von der Prädestination verbunden. Doch deren Gestalt und Stellenwert in Calvins Theologie war nicht von Anfang an deutlich ausgeprägt, sondern hat sich im Laufe der Zeit verändert. In dieser Arbeit möchte ich daher die Entwicklung der Prädestinationslehre in der Theologie Calvins untersuchen. Ausgangspunkt wird dabei die „Institutio christianae religionis“1 von 1536 mit Calvins erster dogmatischer Äußerung zu diesem Thema sein. In einem ersten Arbeitsschritt werde ich die ICR’36 also auf ihre Ausprägung der PL untersuchen.

Als Hauptgrundlage der Arbeit werde ich danach die 1551 im Rahmen des Gerichtsprozesses gegen Hieronymus Bolsec entstandene Predigt Calvins – die „Congrégation“ – zur Prädestination behandeln. Anhand dieser möchte ich deutlich machen, dass die theologischen Äußerungen Calvins zunehmend von dessen Lebenssituation und biographischer Entwicklung geprägt sind. Daher ist diesem Arbeitsschritt ein Abriss von Calvins Leben zwischen 1535 und 1551 vorangestellt. Da Calvins Predigt situationsbedingt in starker Abgrenzung zu den theologischen Argumenten Bolsecs entstand, werde ich diesen und seine theologischen Argumente ebenfalls vorstellen. Mit der Beschreibung des Prozessverlaufs beschreibe ich die Folie, auf der Calvin seine PL weiter ausbaute und solider fundierte. Aus der Predigt, die Calvin im Pfarrkonvent in Genf gehalten hat, werde ich die theologischen Argumente für seine Prädestinationslehre im Vergleich zur ICR’36 herausarbeiten.

Nach einer knappen Charakterisierung der Folgezeit des Prozesses bis 1559 behandle ich als dritten Punkt die ICR’59, die als letzte große dogmatische Äußerung – auch zur Prädestination – gilt und somit die Endgestalt der Lehre darstellt. In einer vergleichenden Darstellung mit den vorangegangenen Textgrundlagen werde ich die zentralen, 1559 neu hi]nzugekommenen Aspekte beleuchten und abschließend einer kritischen Würdigung unterziehen.

Durch die Bearbeitung der PL möchte ich zeigen, dass sie sich von einem Randaspekt der Theologie Calvins zu einem zentralen und gut fundierten Lehrstück entwickelt hat. Die zentralen Punkte sind jedoch bereits 1536 angelegt und es geschieht inhaltlich hauptsächlich eine Akzentverschiebung, während die PL im Wesentlichen konstant bleibt.

2. Die Prädestinationslehre in der ersten Ausgabe der ICR von 1536

Rein quantitativ ist die erste Ausgabe der ICR die kürzeste, während die späteren Versionen bis 1559 an Länge deutlich zunehmen. Selbst wenn man die relative Knappheit des Werkes einbezieht, nimmt die PL aber dennoch einen auffallend geringen Raum ein. Dies entspricht auch ihrem Stellenwert, der noch recht gering ist. Hauptsächlich im Rahmen der Auslegung des Apostolicums geht Calvin dreimal auf die PL ein, wobei Calvin die Lehre erst im Kontext der Ekklesiologie näher entfaltet.

2.1 Gott ist nicht Urheber der Sünde

Noch bevor er zur Auslegung des ersten Artikels des Apostolicums kommt, beschäftigt sich Calvin mit der offenbar an ihn herangetragenen Frage, ob Gott der Urheber der Sünde sei.2 Dies beantwortet er mit einem klaren Nein und mahnt stattdessen immer zu einer Unterscheidung, welche Rolle Gott und welche der verworfene Mensch bei einer schlechten Tat zukommt3 Die Schuld liegt allein beim Menschen, während Gott die negative Tat nicht verursacht, sondern in die göttliche Vorsehung integriert.4 Hierdurch betont Calvin, dass mit seiner Lehre von der Vorsehung der Mensch in keiner Weise von Verantwortung und Schuldfähigkeit entbunden ist. Gleichzeitig ist Gott nicht der Urheber des Bösen oder der Sünde.

2.2 Die Beständigkeit der Vorsehung Gottes zum Heil

Im Rahmen des ersten Artikels des Apostolicums gibt Calvin eine allgemeine Erklärung, was Allmacht und Vorsehung Gottes bedeuten.5 Dabei durchdringt die Vorsehung die gesamte Welt, die durch sie von Gott gelenkt wird. Hierbei betont Calvin stark den allumfassenden Aspekt der Vorsehung, die stets das Heil für den Menschen will, auch wenn er6 dies selbst manchmal nicht erkennen kann. Alles, was einem Menschen widerfährt, kommt demnach von Gott – mit Ausnahme der Sünde. Die von Gott Erwählten fallen niemals aus seiner Vorsehung heraus. Calvin geht aber trotz des göttlichen Heilswillens nicht davon aus, dass alle Menschen zum Heil bestimmt sind. Ein Heilsuniversalismus liegt ihm fern.

2.3 Die Kirche als Versammlung der Erwählten

Im Rahmen der Ekklesiologie geht Calvin nun zum einzigen Mal in der ICR’36 etwas ausführlicher auf die Lehre von der Prädestination ein. Die Kirche besteht demnach aus der Zahl der Erwählten,7 die schon vor der Erschaffung der Welt festgelegt wurde, wozu er als Belege Eph 1 und Kol 1 heranzieht. Daraus folgert er mit Röm 8, dass Berufung (vocatio), Rechtfertigung (iustificatio) und schließlich Heiligung nur zur Bekräftigung der ewigen Erwählung Gottes vor aller Zeit dienen.8 Dies nennt er auch das Offenbarwerden der Erwählung im Leben der Menschen. Am Ende wird niemand verdammt sein, der wirklich zur Kirche gehört.

Der Glaube an die Kirche verhilft dem Einzelnen zum Vertrauen auf seine eigene Erwählung und schon teilweise realisierte Rechtfertigung. Mit Röm 11 [sc. Verse 33- 35] betont Calvin, dass niemand in der Lage ist, sicher über die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit anderer zur Kirche zu urteilen. Jeder Einzelne weiß allein aus seiner Gemeinschaft mit Christus von sich selbst,9 dass er zur Kirche gehört.

Aber einige Merkmale für die Zugehörigkeit sind nach Calvin doch aus der Schrift ableitbar: Wer nämlich durch sein Glaubensbekenntnis, seinen Lebenswandel und die Teilnahme an den Sakramenten zeigt, dass er den einen Gott und Christus bekennt, gehört sicherlich zur Zahl der Erwählten.10 Verraten durch diese Merkmale aber einige, dass sie „ad praesens“11 nicht zur Kirche gehören, so dient es dem Wohl der gesamten Kirche sie zu exkommunizieren, wobei man sie aber nicht gänzlich aufgeben soll. Völlig als verloren abzuschreiben sind nur solche Menschen, die schon durch Gott selbst verdammt sind, was sich durch außerordentliche Bosheit, Bekämpfung der Wahrheit, Unterdrückung des Evangeliums, Widerstand gegen den Heiligen Geist etc. zeigt.12 All dies ist aber so schwer festzustellen, dass man es besser nicht versucht.

2.4 Zusammenfassung: Die Prädestinationslehre in der ICR von 1536

Nach dem bisher Gesagten ist festzuhalten, dass schon rein quantitativ die PL einen sehr kleinen Raum in der ersten Ausgabe von Calvins ICR hat. An den drei Stellen, an denen er sich mit ihr beschäftigt, wird sie jeweils zu einem bestimmten Zweck entfaltet. Erstens wird mit ihrer Konkretisierung der Vorwurf abgewehrt, Gott sei der Urheber der Sünde. Zweitens stärkt Calvin durch den allumfassenden Charakter der Prädestination den Gedanken der Treue Gottes zu seiner Verheißung und zu den Glaubenden. Drittens ist die PL ein Mittel der Kirchenzucht, denn sie dient als Begründung der Möglichkeit des Ausschlusses von Einzelnen, von denen man aufgrund ihres Verhaltens sagen kann, dass sie „ad praesens“ nicht zur Kirche gehören. Von einer starken Ausprägung der PL an sich kann bei Calvin 1536 noch nicht gesprochen werden.

3. Calvin und die zeitgeschichtlichen Ereignisse von 1535 bis 1551

In den folgenden Abschnitten werde ich einen Überblick über die Biographie Calvins zwischen der Erstausgabe der ICR und der Auseinandersetzung mit Hieronymus Bolsec geben. Des Weiteren werde ich kurz die politische und soziale Situation Genfs skizzieren. Daraus ergibt sich der Hintergrund für den Prozess gegen Bolsec, der ohne diese Einbettung in den Kontext nicht zu verstehen ist. Zudem ist die Biographie Calvins entscheidend für seine theologische Entwicklung.

3.1 Von der Verfassung der ersten ICR bis zur Vertreibung aus Genf 1535-1538

Calvin hatte im Jahr 1535 seine ICR in Basel geschrieben, wohin er nach der „affaire des placards“ in Frankreich am 17./18. Oktober 1534 und deren Folgen mit einigen Zwischenstationen geflohen war.13 Hier wird in seinem öffentlichen Brief an Franz I., der der ICR vorangestellt war, ein Problem deutlich, das ihn Zeit seines Lebens beschäftigte: die Gefahr des Aufruhrs durch die neue Lehre oder zumindest eine derartige Unterstellung durch seine Gegner. Das Argument eines drohenden Aufruhrs spielte auch beim späteren Vorgehen gegen abweichende Meinungen eine starke Rolle und hat großen Einfluss auf den Ausgang des Prozesses gegen Bolsec.

Nach einer kurzen Zeit am Hof der Herzogin Renata von Ferrara im Frühjahr 1536 zog sich Calvin wegen deiner drohenden Protestantenverfolgung wieder nach Basel zurück. Als er auf einer weiteren Reise Genf passierte, traf er Wilhelm Farel, der ihn beschwor, bei der Konsolidierung der neuen Lehre zu helfen. Calvin willigte ein und betrachtete durch Farels Eindringlichkeit die neue Aufgabe so dringlich, „als ob Gott vom Himmel her gewaltsam seine Hand“14 auf ihn gelegt hätte. Diese Identifikation der Sache Gottes mit seiner Person verlieh Calvin einerseits eine enorme Durchsetzungsstärke, führte andererseits aber zu starkem Zorn, wenn sich jemand gegen ihn und damit gegen Gott stellte. Dieser Zug Calvins spielt demnach in den folgenden Auseinandersetzung eine große Rolle.

Obwohl Calvin keine theologische Ausbildung hatte, brachte er sich mit Farel stark in die Arbeit in Genf ein.15 Als er 1537 seine Kirchenordnung vorlegte, sorgte diese erst für seine gesteigerte Bekanntheit, löste aber gleichzeitig Kontroversen aus. Streitpunkt mit dem Rat war hauptsächlich die Frage, ob die Kirchenzucht in kirchlicher oder weltlicher Hand sein sollte, was über lange Jahre in Genf nicht abschließend geklärt werden konnte und immer wieder Ursache für Kontroversen war. Die Streitigkeiten spitzten sich immer mehr zu, bis Farel und Calvin am Ostersonntag die Austeilung des Abendmahls verweigerten und daraufhin im April 1538 die Stadt verlassen mussten.16

3.2 Die Straßburger Zeit 1538-1541

Nach einer kurzen Zeit in Basel folgte Calvin der Einladung Martin Bucers nach Straßburg, wo er für die französische Flüchtlingsgemeinde zuständig war und gleichzeitig einen Lehrauftrag für Exegese an der neu gegründeten Hochschule erhielt.17 Durch diese neuen Aufgaben konnte er einerseits unter dem Einfluss Bucers sein theologisches Profil schärfen. Andererseits konnte er die kleine Gemeinde weitgehend selbständig organisieren und so seine Vorstellungen einer Kirchenordnung in der Praxis konkretisieren.18 Es ist anzunehmen, dass er einige der strukturell bereits vorhandenen Elemente als Vorlage für seine später in Genf durchgesetzte Kirchenordnung nutzte, z. B. die regelmäßige Zusammenkunft der Prediger und die Neuordnung des Gottesdienstes. Seine Tätigkeit floss sicherlich in die erste Überarbeitung seiner ICR’39 und in seine spätere Arbeit in Genf ein.

Prägend war für Calvin in dieser Zeit auch seine Teilnahme an ökumenischen Ereignissen. Er nahm an der Frankfurter Konferenz 1539 sowie Gesprächen in Hagenau, Worms (1540) und am Rande des Reichstags auch in Regensburg (1541) teil.19 Calvins wachsende Bekanntheit und seine zunehmende Anerkennung bei den Evangelischen prägten auch seine spätere Arbeit in Genf, wo ihm über die Schweizer Grenzen hinaus stets der Kontakt mit anderen Theologen wichtig war.

3.3 Die zweite Genfer Phase ab 1541

3.3.1 Die Rückkehr nach Genf und die Einführung der Kirchenordnung

Schon bald nach dem Weggang Calvins und Farels sorgten deren Anhänger, die Guillermins, in Genf für Unruhe, da sie die ernannten Nachfolger nicht anerkennen wollten. Die Situation eskalierte, und als in der Folge schließlich die Guillermins politisch eine Übermacht im Rat gewonnen hatten, baten sie am 20. Oktober 1540 Calvin und Farel um ihre Rückkehr. Nach langem Zögern kehrte Calvin fast ein Jahr später, am 13. September 1541, nach Genf zurück.20

Nachdem sich Calvin mit einem Ratsausschuss sofort an die Ausarbeitung einer neuen Kirchenordnung gemacht hatte, stieß er dabei erneut auf Widerstand.21 Im Wesentlichen ging es um den Machtkonflikt, wieder anhand der Kirchenzucht: Der Rat wollte nichts von seinen Befugnissen abgeben, aber Calvin wollte die Kirchenzucht möglichst unabhängig von der Weltlichkeit halten. Im Einzelnen stritt man um die Wahl der Pfarrer, die Kontrolle von deren Lebensführung und vor allem um die Kompetenzen, mit denen das Konsistorium zur Kirchenzucht ausgestattet werden sollte. Zwar einigte man sich in den Punkten zunächst, und die Ordonnances ecclésiastiques wurden am 20. November 1541 veröffentlicht, aber eine klare Durchsetzung seiner Standpunkte erreichte Calvin erst nach 1555.22 Mit der Einführung dieser Kirchenordnung wurde immerhin generell dem Wunsch Calvins entsprochen: Kirchenzucht wurde ausgeübt!

3.3.2 Verschiedene Streitigkeiten

Zum Verständnis der Auseinandersetzung mit Hieronymus Bolsec ist es wichtig zu beachten, dass diese – trotz ihrer Besonderheiten – in einer Reihe von Streitigkeiten stand, die Calvin und die Genfer Pfarrer ausfochten. Neben sich oft wiederholenden Diskussionen mit dem Rat über Machtfragen nennt Holtrop acht Auseinandersetzungen Calvins mit verschiedenen Personen im Zeitraum von 1546 bis 1555.23 Dazu kommen noch weitere Streitigkeiten, wie beispielsweise mit Albert Pighius, oder Robert Lemoine.24 Daraus lässt sich erkennen, dass Calvins theologische Stellung in Genf im Zeitraum bis zum Konflikt mit Bolsec keineswegs unangefochten war. Dies setzte ihn natürlich unter Druck, da er bei fast jedem Konflikt um seine Position und – nach seiner Ansicht – um die Sache Gottes fürchten musste.

Von einiger Bedeutung ist hier die Auseinandersetzung mit Albert Pighius, da Calvin sich bereits ihm gegenüber intensiver mit der PL auseinandersetzen wollte.25 Als katholischer Propst in Utrecht hatte Pighius 1542 die Schrift „De libero arbitrio et gratia divina“ verfasst, in der er gegen Luthers und Calvins Lehre vom unfreien menschlichen Willen sowie gegen die PL argumentierte. Calvin antwortete mit einer Gegenschrift, die den unfreien Willen verteidigte. Durch den Tod von Pighius noch 1542 ließ Calvin das Vorhaben einer Schrift zur Präzisierung der PL fallen. Eine solche Schrift stellte dann die fast zehn Jahre später erschienene „De aeterna Dei praedestinatione“ 1552 dar, die aus der Auseinandersetzung mit Bolsec und der vor dem Pfarrerkonvent gehaltenen Predigt über die Prädestination erwuchs.

Im Jahr 1551 schienen sich die Konflikte zu ballen. Direkt vor der Auseinandersetzung mit Bolsec im Oktober 1551 sorgten bereits der Pfarrer Philip de Ecclesia und der Mönch Francis Maurice für Unruhe.26

3.4 Die Situation in Genf

3.4.1 Die Situation Genfs bis 1550

Aufgrund seiner geographischen Lage stand Genf lange Zeit in der Abhängigkeit des italienischen Herzogtums Savoyen. Obwohl die Stadt nach Unabhängigkeit strebte, geriet sie nach dem Bruch mit Savoyen 1526 faktisch in erneute Abhängigkeit, dieses Mal von der Schweizer Eidgenossenschaft und Bern im Besonderen, das seine Truppen bis an das Genfer Gebiet geführt hatte. Genf lag zwischen den Fronten seiner Nachbarn Frankreich und Bern, wenn sich das Verhältnis zu Bern auch später entspannte.27

Nach der Einführung der Reformation wurde 1536 das Konsistorium als Gremium zur Ausübung der Kirchenzucht eingeführt.28 In der Folge kam es zu Spaltungen innerhalb der Genfer Bevölkerung, da diese z. T. befürchtete, von der gerade abgeschüttelten katholischen Unterdrückung nun unter das Joch protestantischer Kirchenzucht zu geraten. Entscheidend war dafür auch hier die lange umstrittene Frage der politischen Macht, da der Rat fürchtete, durch die vom Konsistorium ausgeübte Sittenkontrolle an Einfluss zu verlieren. Es bildete sich eine politische Oppositionspartei, die „Libertiner“, gegen die von Calvin und Farel geforderte strenge Kirchenzucht.29 Wendel spricht aufgrund der wachsenden sittlichen Kontrolle durch das Konsistorium von einem in Genf aufgerichteten „kirchlichen Polizeiregiment[...]“.30 Dieses zog sich an vielen Stellen auch den Unmut der Bevölkerung zu.

[...]


1 Im folgenden Fließtext verwende ich ICR als Abkürzung für „Institutio christianae religionis“ mit dem Erscheinungsjahr der jeweiligen Auflage und PL als Abkürzung für „Prädestinationslehre“.

2 Vgl. CO 1,60, OS II,73: „qaestio: an Deus autor sit peccati […]?“ Diese eigentlich schon hier beantwortete Frage wird später von Bolsec und danach immer wieder als Vorwurf und Kritik an Calvin gerichtet.

3 Vgl. CO 1,60, OS II,73: „in eodem facto respiciendum perversi hominis, ac iusti Dei opus.“

4 Vgl. CO 1,60f, OS II,72-74.

5 Vgl. für das Folgende CO 1,63, OS II,75f.

6 Ich verwende in dieser Arbeit aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit die grammatikalisch maskuline Form, wobei die feminine jeweils mit gemeint ist.

7 CO 1,72, OS II,86: „universum electorum numerum“.

8 CO 1,73, OS II,87: „aeternam suam electionem declarat“.

9 CO 1,74, OS II,88: „si Christo communicamus…“

10 CO 1,75, OS II,89: „qui et fidei confessione et vitae exemplo et sacramentorum participatione eundem nobiscum Deum ac Christum profitentur…“

11 CO 1,75, OS II,89.

12 Vgl. CO 1,76f, OS II,89-92.

13 Vgl. Neuser: Calvin, 26f.

14 Neuser: Calvin, 30.

15 Vgl. Hauschild: Lehrbuch, 198, der Calvins Tätigkeitsfeld während des ersten Genfer Aufenthalts beschreibt. Vgl. auch Neuser: Calvin, 34 und Nijenhus: Calvin, 571, zu Calvins Rolle bei der Disputation in Lausanne 1536 und der daraus resultierenden Einführung der Reformation in der Stadt.

16 Vgl. Neuser: Calvin, 37-39.

17 Vgl. Hauschild: Lehrbuch, 345f.

18 Vgl. Neuser: Calvin, 41f.

19 Zur Teilnahme Calvins an Religionsgesprächen ab 1539, zu seiner Bekanntschaft mit Melanchthon und seinem Versuch einer Vermittlung in den Abendmahlsstreitigkeiten zwischen Zürich und Wittenberg vgl. Neuser: Calvin, 47-49.

20 Vgl. Neuser: Calvin, 54-57 und Nijenhus: Calvin, 572.

21 Vgl. dazu und für das Folgende: Wendel: Calvin, 53-63.

22 Vgl. Wendel: Calvin, 57 und Holtrop: Controversy, 672 u. ö.

23 Vgl. Holtrop, Controversy, 764-767.

24 Vgl. Link: Einleitung, 80 und Cottret: Calvin, 255f.

25 Vgl. Link: Einleitung, 80f.

26 Vgl. Holtrop: Controversy, 49f.

27 Vgl. Neuser: Calvin, 31f, Naphy: Geneva, 27 und Wendel, Calvin, 63.

28 Vgl. Hauschild: Lehrbuch,198, für eine übersichtlich systematisierte Darstellung der Regierungs- struktur Genfs, für die von Calvin eingeführten vier Ämter und den Aufbau des Konsistoriums.

29 Vgl. Neuser: Calvin, 32 und Nijenhus: Calvin, 571-573.

30 Wendel: Calvin, 67, vgl. zur Vierämter-Struktur auch Hauschild: Lehrbuch, 200.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Calvins Prädestinationslehre
Untertitel
Die historischen Entwicklungen und ihre Bezüge zur Institutio von 1536, der „Congrégation sur l’élection éternelle“ (1551) und der Institutio von 1559
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Theologische Fakultät)
Veranstaltung
Seminar Calvins Institutio christianae religionis
Note
1,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
32
Katalognummer
V119686
ISBN (eBook)
9783640236268
ISBN (Buch)
9783640238330
Dateigröße
598 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Prädestinationslehre, Seminar, Institutio, Bolsec, Calvin, Kirchengeschichte, Dogmengeschichte
Arbeit zitieren
Eric Weidner (Autor:in), 2006, Calvins Prädestinationslehre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119686

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