Die Implikationen des Wahlspruchs „Sapere aude“ von Euphorie bis tödlicher Verblendung

Friedrich Schillers Kritik der Vernunft am Beispiel der Liebestheosophie Julius' in den "Philosophischen Briefen" und Ferdinands in "Kabale und Liebe"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einführung

1. Inhaltliche Parallelen und Unterschiede der Liebesphilosophie Julius’ und Ferdinands bezogen auf den gemeinsamen theoretischen Hintergrund der Lehren Shaftesburys

2. Schillers Entlarvung der Bedingtheit des menschlichen Geistes anhand der skeptizistischen Krise Julius’ und der Berechenbarkeit des Liebesabsolutisten Ferdinand

3. Julius’ Selbstheilungsprozess bzw. die Tragödie Ferdinands als Folgen der Kenntnis bzw. der durch Gefühlsüberschwang bewirkten Unkenntnis von der Fehlbarkeit des menschlichen Geistes

4. Literaturverzeichnis

Einführung

Im Jahr 1780 verfasste der Medizinstudent Friedrich Schiller während seiner Stuttgarter Akademiezeit die philosophisch-schwärmerische „Theosophie des Julius“. Diese war noch gänzlich unbeeindruckt vom erkenntniskritischen Denken Kants, das erst im Jahr darauf durch die Schrift „Kritik der reinen Vernunft“ die kopernikanische Wende in der Erkenntnisphilosophie einleiten sollte. Erst sechs Jahre später unterzieht Schiller seine „Theosophie des Julius“ im Rahmen eines fingierten Briefwechsels zwischen dem euphorischen Jüngling Julius und seinem älteren Freund Raphael einer erkenntniskritischen Analyse.[1]

Während Kant in seiner 1784 veröffentlichten Abhandlung „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ im Einklang mit seiner Erkenntnisphilosophie fordert, dass der Mensch sich aus der Gefangenschaft seines unterjochten, fremdbestimmten Verstandes befreien solle[2], verfolgt Schiller die moralische und erkenntniskritische Intention, in den „Philosophischen Briefen“, aber auch bereits in seinem 1784 sowohl veröffentlichten als auch uraufgeführten Drama[3] „Kabale und Liebe“ die mit dem freien Denken verbundenen Gefahren aufzudecken. Auf diese Weise sollen Menschen vor den „verborgenen Klippen“[4] bewahrt werden, „an denen die stolze Vernunft schon gescheitert hat“[5].

Nicht nur in den „Philosophischen Briefen“ also thematisiert Schiller die erkenntniskritische Problematik des „Sapere aude“. Auch in seinem Drama „Kabale und Liebe“ entwickelt er ein Bild von den Gefahren einer Geisteshaltung, die die Autonomie und Unbedingtheit des eigenen Geistes über die Bedingtheiten des Lebens anderer hebt und Widersprüche nicht gelten lässt. Der Idealverlauf der die „drei Epochen“[6] Euphorie, Krise und Heilung umfassende, erkenntniskritisch durch Raphael begleitete Entwicklungsprozess Julius’ besitzt seinen Vorgänger in der dramaturgisch inszenierten Experimentalanordnung des von seiner Liebestheosophie verblendeten Majors Ferdinand.[7] Dessen trotz Widerstände unverminderter Glaube an die Gültigkeit seines Liebesabsolutismus und die Autonomie seines Geistes macht ihn blind für die Hintergründe und Drahtzieher der Kabale sowie für die Pflichten Luises, deren Tod als Fanal der schiller’schen Anklage am aufgeklärten, aber dennoch kritik- und diskursunfähigen Menschen fungiert.

Da sich diese Arbeit den erkenntniskritischen Blick auf die eben erwähnten zwei Werke Schillers auf die Fahnen geschrieben hat, soll im weiteren Verlauf der Fokus auf die Einflüsse materialistischer, den unbedingten freien Geist verneinender Erkenntnistheorie auf die geistige Entwicklung der Idealisten Julius und Ferdinand gerichtet werden. Ziel dieser Arbeit ist es, die Parallelen und Unterschiede innerhalb der von Schiller dargestellten geistigen Entwicklungsprozesse von Julius und Ferdinand zu erläutern. Hierbei soll im Besonderen auf die Gefahr der ideologischen Verblendung durch den Unbedingtheitsanspruch der eigenen konstruierten metaphysischen Philosophie eingegangen werden. Des Weiteren richtet sich mein Interesse auf die Frontstellung der säkularisierten Liebesreligion des aufgeklärten Schwärmers Ferdinand sowie der christlichen Orthodoxie der unmündigen und pflichtbewussten Luise, deren Gottesbilder gleichermaßen als Projektionen des menschlichen Suchens nach einem höheren, alles Leben obwaltenden und damit auch den Menschen in körperlicher wie geistiger Unfreiheit bannenden Prinzip gedeutet werden müssen.

Im ersten Teil meiner Arbeit skizziere ich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Julius’ und Ferdinands Liebesphilosophie anhand zitierter Passagen aus der „Theosophie des Julius“ sowie der Figurenrede Ferdinands in „Kabale und Liebe“ und erläutere diese anhand der ihnen gemeinsam zugrunde liegenden Lehren des englischen Philosophen Anthony Ashley Cooper Shaftesbury. Die skeptizistische Krise Julius’, hervorgerufen durch die Lehren des Materialisten Raphael sowie die Eifersucht Ferdinands als Folge der Kabale und seiner Blindheit für die weltlichen und religiösen Pflichten Luises, stellen Inhalt des zweiten Teils dar. Die allein durch die Kraft des Denkens erreichte Selbstheilung Julius’ und der von Ferdinand in Verblendung begangene Mord und Selbstmord markieren den Inhalt des letzten Abschnitts.

1. Inhaltliche Parallelen und Unterschiede der Liebesphilosophie Julius’ und Ferdinands bezogen auf den gemeinsamen theoretischen Hintergrund der Lehren Shaftesburys

Folgende zwei Zitate aus dem Briefromanfragment und der Tragödie stehen stellvertretend für den inhaltlichen Kern der beide literarischen Werke prägenden Liebestheosophie. Wenn Ferdinand beschwörend auf Luise einspricht, dass sie „an [seinem] Arm […] durchs Leben hüpfen […] und [der Himmel] mit Verwunderung eingestehn [wird], dass nur die Liebe die letzte Hand an die Seelen legte“[8], so rekurriert dies auf neuplatonische und pantheistische Gedanken[9], die Julius in seiner Theosophie an der menschlichen Gabe festmacht, „alle Schönheit, Größe und Vortrefflichkeit im Kleinen und Großen der Natur aufzulesen, und zu dieser Mannichfaltigkeit die große Einheit zu finden“[10]. Die beiden Liebesenthusiasten beziehen sie sich auf den Glauben, dass durch die Anverwandlung des Schönen oder einer geliebten Person die göttlichen Schöpfungen irdische Vervollkommnung erfahren.[11]

Doch worin genau bestehen die „Grundsätze, die [Ferdinand] aus den Akademien“[12] an den Fürstenhof mitbrachte?

Der Literaturwissenschaftler Günter Sasse vertritt in seinem Aufsatz „Liebe als Macht. Kabale und Liebe“ die Ansicht, dass im Besonderen die theoretischen Inhalte der Karlsschulzeit Schillers sich sowohl in den pathetischen Reden Ferdinands als auch in den Gedanken Julius’ widerspiegeln. So stammt aus dieser Zeit die „Theosophie des Julius“, in der Schiller seine Eindrücke aus den Lehren der Philosophen Shaftesbury, Gottfried Wilhelm Leibniz und Adam Ferguson literarisch verarbeitete. Jahre später übertrug Schiller dieses liebestheosophische Gedankengut auf seine Dramenfigur Ferdinand, um innerhalb der inszenierten experimentellen Figuren- und Ereigniskonstellation die Folgen der Liebesphilosophie als Element zwischenmenschlicher Beziehungen zu simulieren.[13]

So wie Julius durch seinen Freund Raphael zum freien Gebrauch seines Verstandes angehalten wird, so übten die deistischen Gottes- und rationalistischen Erkenntnislehren des englischen Philosophen Shaftesbury auf den jungen Schiller während seiner Zeit an der Karlsschule großen Einfluss.[14] Shaftesbury vertrat ein deistisches, pantheistisches Weltbild, in dem im Unterschied zu den Offenbarungsreligionen Gott unabhängig von religiösen, kirchlichen Lehren allein an den Phänomenen und Prinzipien der Natur und der im Menschen von Natur aus angelegten Moral erkannt werden könne.[15] Es ist dies eine Vorstellung, die das Wirkungsverhältnis von Religion und menschlicher Moral zugunsten dieser umkehrt und somit Religion als Ergebnis der den Menschen angeborenen Sittlichkeit anerkennt. Kant wird 1793 in seiner Schrift „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ dieses Verhältnis von apriorischer menschlicher Moral und abgeleiteter Offenbarungsreligion weiter ausführen.

Der empfindsame Jüngling Julius, der vor der Begegnung Raphaels „mit verbundenen Augen durch das Leben taumelte“[16] und „vor dem Teufel bebte und desto herzlicher an der [christlichen] Gottheit hing“[17] lernte das freie schöpferische Denken. Wenn man voraussetzt, dass sich Raphaels Lehren mit denen Jakob Friedrich Abels, Schillers Philosophielehrer an der Karlsschule, vom Genie gleichen, so besaß Julius die Vorstellung von einem aus der menschlichen Moral entstandenen Gott, der abhängig von der ausgehenden emotionalen Grundstimmung des Gedankengangs in subjektiver Weise gestaltet werden könne und damit eine durch die individuell empfundene Emotion strukturierte Welt vor dem geistigen Auge entstünde.[18]

Julius und Ferdinand entscheiden sich gleichermaßen zum einen für eine deistische, pantheistische Gottesbetrachtung und zum anderen für das Bild einer aus der Liebe Gottes entstandenen Welt, in der die tierischen und menschlichen Geschöpfe durch das Ausleben partnerschaftlicher Liebe Teil der durch das Prinzip der Liebe strukturierten Welt werden und den in den Einzelwesen fragmentarisierten Gott wiederherstellen.[19] Julius schreibt in seiner Theosophie, dass „[d]ie Natur […] ein unendlich geteilter Gott“[20] sei und „sich das göttliche Ich in zahllose empfindende Substanzen gebrochen“[21] habe. „Der Mensch“, der – wie oben zitiert – sich durch die Fähigkeit der Liebe das Schöne, das Liebenswerte aneignet, mit ihnen verschmilzt und sich damit erweitert, „ist der Gottheit schon sehr viel näher gerückt“[22]. Liebe sei laut Julius „die Leiter, worauf [die Menschen] emporklimmen zu Gottähnlichkeit“[23].

Die philosophische Lehre der Aufklärung von einem moralisch guten Menschen mit seiner natürlichen Anlage der Sittlichkeit zeigt sich innerhalb der Theosophie des Julius in der Annahme, dass die Liebe als Form der apriorischen Sittlichkeit den Menschen befähige, das die Welt strukturierende Prinzip der Liebe zu erkennen und durch ihre Praxis einen entsprechenden „Gott hervor[zu]bringen“[24] bzw. sich zur Gottähnlichkeit aufzuwerten.[25] Es spielt hier also im Besonderen der eingangs des ersten Kapitels angesprochene Glaube an die Kraft der Liebe zur Vervollkommnung des Menschen eine große Rolle. In Ferdinands Überzeugung, dass Luise „an seinem Arm“, also in der Erfahrung seiner Liebe und in der Bindung an ihn „schöner“[26] werde als Gott „[sie] von sich ließ“[27], spielen neben den erwähnten deistischen, pantheistischen Vorstellungen einer natürlichen Liebesreligion neuplatonische Gedanken mit hinein.

Ferdinands Bestreben sich durch die Verbindung mit Luise, dem Gott seiner Liebesreligion anzunähern, sich mithin zu vervollkommnen, entspricht der von Julius in seiner Theosophie aufgestellten These, dass „alle den gemeinschaftlichen Trieb [besitzen], alles an sich zu ziehen, was sie als […] reizend erkennen“[28]. Durch die Ansammlung von ästhetischen Dingen könne der Mensch die in seiner Natur verborgenen Anlagen der Liebe und der Sittlichkeit materialisieren.

[...]


[1] Vgl. Safranski 2004: 530, 532 f.

[2] Vgl. ders.: 220 f.

[3] Vgl. Hofmann 2003: 50.

[4] FA: 208; die Sigle FA werde ich im fortlaufenden Fußnotenapparat verwenden für: Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Otto Dann, Axel Gellhaus, Klaus Harro u. a.. Bd. 8: Friedrich Schiller. Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992.

[5] Ebd.

[6] Ebd.: 209.

[7] Vgl. Sasse 2005: 52.

[8] KL: 16 f. (I, 4); die Sigle KL werde ich im fortlaufenden Fußnotenapparat verwenden für: Schiller, Friedrich: Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel. Durchgesehene Ausgabe auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln. Stuttgart: Reclams Universal-Bibliothek 2001.

[9] Vgl. Sasse 2005: 40.

[10] FA: 224.

[11] Vgl. Safranski 2004: 224 f.

[12] KL: 53 (III, 1).

[13] Vgl. Sasse 2005: 40 f.

[14] Vgl. Sasse 2005: 40 f.

[15] Vgl. Safranski 2004: 68 - 70.

[16] FA: 211.

[17] Ebd.

[18] Vgl. Sasse 2005: 37 f.

[19] Vgl. Alt 2000: 369.

[20] FA: 227.

[21] Ebd.

[22] FA: 224.

[23] Ebd.: 227.

[24] Ebd.

[25] Vgl. ebd.: 1270.

[26] KL: 16 (I, 4).

[27] Ebd.

[28] FA: 219.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die Implikationen des Wahlspruchs „Sapere aude“ von Euphorie bis tödlicher Verblendung
Untertitel
Friedrich Schillers Kritik der Vernunft am Beispiel der Liebestheosophie Julius' in den "Philosophischen Briefen" und Ferdinands in "Kabale und Liebe"
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
21
Katalognummer
V119331
ISBN (eBook)
9783640233366
ISBN (Buch)
9783640439386
Dateigröße
477 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Implikationen, Wahlspruchs, Euphorie, Verblendung, Friedrich, Schillers, Kritik, Vernunft, Beispiel, Liebestheosophie, Julius, Philosophischen, Briefen, Ferdinands, Kabale, Liebe, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Stephan Onken (Autor:in), 2006, Die Implikationen des Wahlspruchs „Sapere aude“ von Euphorie bis tödlicher Verblendung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119331

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