Suizidalität bei Frauen und deren soziologische Ursachen

Ein Vergleich der Studie Emile Durkheims mit der modernen Selbstmordforschung


Seminararbeit, 2007

23 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Überblick über Suizidalität – Suizid vs. Suizidversuch

3 Emile Durkheims Studie
3.1 Allgemeines
3.2 Die vier Typen des Selbstmordes

4 Die sozialen Ursachen bezogen auf Frauen
4.1 Statistischer Überblick
4.2 Die sozialen Ursachen
4.2.1 Durkheims Studienergebnisse
4.2.2 Erkenntnisse aus der modernen Suizidforschung
4.2.3 Die soziale Bedeutung der Suizidalität am Beispiel des Appells
4.3 Frauen und der Suizid

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

Im Rahmen des Proseminars „Einführung in die Klassiker der soziologischen Theorie“ bei Herrn Jörg Oberthür wurde der Inhalt der dazugehörigen Vorlesung vertieft. Thematisiert wurden die „Gründer“ der Soziologie – Marx, Weber, Durkheim und Simmel – in Hinblick auf deren Struktur- und Entwicklungspläne sowie ihre je verschiedenen methodischen Vorangehensweisen, welche bis heute für die soziologische Theorie von großer Bedeutung sind. Im Verlauf des Seminars erwies sich die Studie von Emile Durkheim (1858-1917) über den Selbstmord als interessantes Thema für eine detailliertere Betrachtung, vor allem im Vergleich zur modernen Suizidforschung. Nach einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Thematik fiel auf, dass Frauen nur wenig Beachtung, in der wissenschaftlichen Betrachtungsweise finden. Denn „Ansätze zur Theoriebildung bestehen so gut wie keine, obwohl die elementarsten Veränderungen im suizidalen Geschehen auf das Konto weiblicher Personen gehen“ (Rachor 1995, S. 9). Somit erschien dieser Aspekt als besonders reizvoll.

Im ersten Kapitel der Arbeit wird versucht den Begriff „Suizidalität“ näher zu beschreiben. Dabei wird versucht die Phänomene Selbstmord und Selbstmordversuch zu definieren und gegenüberzustellen.

Anschließend wird ein allgemeiner Überblick über Durkheims Studie gegeben und aufbauend darauf genauer auf seine vier Formen des Suizides eingegangen. Des weiteren folgt eine statistische Übersicht zum Thema generell, aber auch hinsichtlich der weiblichen Suizidalität, um im folgenden die sozialen Ursachen zu untersuchen. Dabei wurden die Ergebnisse Durkheims und die Erkenntnisse der modernen Selbstmordforschung getrennt analysiert und auch auf die soziale Bedeutung wird eingegangen.

Zuletzt befasst sich diese Ausarbeitung mit der Rolle der Frau im suizidalen Geschehen und deren Gründe für solch eine Handlung, bevor alle Ergebnisse noch einmal zusammengefasst werden.

2 Überblick über Suizidalität – Suizid vs. Suizidversuch

Suizidalität umfasst die beiden Termini Suizid und Suizidversuch (Rachor 1995). Trotz der äußerlichen Ähnlichkeit dieser zwei Begriffe „ist von je einem eigenständigen sozialen, psychischen, psychopathologischen und individuellen Sachverhalt auszugehen“ (ebd, S. 11).

„Suizid“ stammt aus dem lateinischen „sua manu caedere“ und bedeutet übersetzt „mit eigener Hand fällen“ (Hillmann 2007, S. 875). Die erste Verwendung des Terminus ist umstritten. Zum einen wird behauptet, dass der Begriff zum ersten Mal 1651 von Walter Charleton gebraucht wurde. Andere wiederum, zum Beispiel Alfred Alvaraz, sagen aus der Term wäre schon im Jahr 1635 verwendet wurden (Shneidman 1994).

Es gibt eine Vielzahl von Definitionen. Zum einen wegen der verschiedenen Wissenschaften, welche den Selbstmord thematisieren (in der Rechtswissenschaft beispielsweise wird Suizid anderes definiert als in der Psychologie), zum anderen herrscht aber auch innerhalb einer Wissenschaft keine allgemeingültige Begriffsbestimmung vor. Holderegger (1979, S. 39) beispielsweise beschreibt den Selbstmord „als eine Handlung (), durch die sich eine Person absichtlich durch eigenes Tun (oder Unterlassen) den Tod gibt“. Diese Definition, und das ist allen anderen gemein, bezieht sich nur auf Personen und nicht etwa den Suizid von Tieren. Der Tod kann auf zweierlei Wege herbeigeführt werden: indirekt oder direkt. Ersteres kann auch als passive Handlung bezeichnet werden und bezieht sich auf das Unterlassen lebensnotwendiger Aktionen, zum Beispiel die Verweigerung der Nahrungsaufnahme bei Anorexie[1] erkrankten Personen. Andere Autoren, wie beispielsweise Christa Lindner-Braun (1990), distanzieren sich von solch selbstschädigendem Verhalten in ihren Erklärungen, da suizidales Verhalten für sie ein unmittelbares Eintreten des Handlungsergebnisses voraussetzt.

Der zweite Weg wird auch aktive Handlung genannt und umfasst alle Methoden, welche direkt zum Tode führen. In dieser Begriffsbestimmung ist nicht nur der Selbstmord als eine Verzweiflungstat zu sehen, sondern auch die Selbsttötung und das Selbstopfer einbezogen. Wiesenhütter (1971) fordert jedoch, aufgrund ihrer unterschiedlichen Motive, eine strikte Trennung dieser drei Termini . Im Gegensatz dazu argumentiert Peter Windt, dass es nicht darauf ankomme, ob ein Subjekt sich einer höheren Macht opfert, Selbstmord aus persönlichen Motiven begeht oder aufgrund religiöser oder kultureller Verhaltensnormen sich Selbst das Leben nimmt (Shneidman 1994). Wichtig für die Definition sei nur der Wille zu sterben und nicht aus welchen Beweggründen heraus. Diesen Punkt legte schon Jack Douglas (1967) dar, als er die bedeutensten Aspekte, auf die eine Suiziddefinition basieren sollte, darstellte. Diese sind „initiation, willing, motivation, and knowledge“ (Leenaars 1988, S. 18).[2] Ergänzend zu diesen vier Faktoren ist zu nennen, dass die Handlung letal (tödlich) verlaufen muss, denn dies ist der erste Unterschied zum Selbstmordversuch (Holderegger 1979). Bei einem nicht-letalen Suizid handelt es sich „gegenüber dem abgeschlossenem Suizid um einen eigenständigen (...) Sachverhalt“ (Schlieffen 1969, S. 18). Dies wird an den nun folgenden und gesicherten Unterschieden deutlich (Holderegger 1979).

Bei Selbstmordversuchen werden meist weiche Mittel, beispielsweise Gase oder Schlaf- und Beruhigungsmittel, bevorzugt (Böhme/ Dittbrenner 1976), während der Suizid mit harten Methoden, wie Erhängen, Erschießen, etc, und an einem speziellen sowie anonymen Platz begangen wird (Rachor 1995). Das soziale Feld wird bei einem Versuch weniger bzw. nicht verlassen und findet häufig in der Nähe von Personen und mit einer direkten Ankündigung statt. Auslöser sind in der Regel interpersonale Konflikte (familiäre Streitigkeiten oder Liebeskummer) sowie Bagatellanlässe, was sich auch in der spontanen, übereilten und ungeplanten Durchführung zeigt. Selbstmorde hingegen haben intrapersonale und existenzbedrohende Gründe, wie psychische Störungen oder tödliche Krankheiten, weswegen sie auch lange und genau geplant werden können. (Holderegger 1979, Rachor 1995, Ringel 1961). Faktoren, welche die Ursachen für einen Selbstmord verstärken und somit zu einem erfolgreichen Suizid führen können, sind beispielsweise soziale Isolation, prekäre oder traumatische Erlebnisse (Rachor 1995).

3 Emile Durkheims Studie

3.1 Allgemeines

„Der Selbstmord“, entstanden im Jahr 1897, war nach dem Hauptwerk „Über soziale Arbeitsteilung“ (1893) und der Arbeit „Die Regeln der soziologischen Methode“ (1895) Durkheims (1858-1917) drittes großes Werk (Müller 1999). Diese Studie wird als erste empirische Arbeit der Soziologie verstanden (ebd) und fungierte dazu, die in seiner zweiten Abhandlung dargelegten Grundsätze der soziologischen Vorgehensweise am Beispiel zu beweisen (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2006). Untersucht wird nicht der Selbstmord an sich, da dies die Aufgabe der Psychologie ist, sondern der Suizid als Indikator für Kollektivzustände unter Verwendung der Selbstmordrate. Hierbei wurden deren Schwankungen in Abhängigkeit des sozialen Zusammenhangs genauer betrachtet (Müller 1999).

Seiner eigenen methodischen Vorgabe entsprechend führt Durkheim zuerst eine weitestgehend objektive Gegenstandsbestimmung des Selbstmordes an (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2006), welche lautet: „Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im voraus kannte“ (Durkheim 2006, S. 27).

Parallelen zu Definitionen der neueren Selbstmordforschung (siehe Kapitel 2.1) können durchaus festgestellt werden, denn auch hier ist der direkte („Handlung“) sowie der indirekte („Unterlassung“) Weg in den Suizid ein Aspekt der Begriffsbestimmung (Müller 1999) und auch Motive zum Freitod werden bei beiden nicht genannt (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2006). Jedoch ist bei Durkheims Begriffsbestimmung nur die bloße Verzweiflungstat gemeint und nicht die Selbsttötung und das Selbstopfer (siehe Kapitel 2.1) (Holderegger 1979).

Im weiteren Verlauf widmet er sich der kausale Analyse (ebd.), welche selbst wiederum in drei Punkte unterteilt wurde. Im ersten Teil prüft Durkheim den Einfluss von nichtsozialen Faktoren, wie beispielsweise die Rasse, das Klima oder die Nachahmung, und widerlegt diese Theorie, da er einen insignifikanten Zusammenhang feststellt (Müller 1999). Im zweiten Abschnitt werden die sozialen Aspekte genauer beleuchtet und zum Auslöser für den Suizid erklärt (ebd.). Zusätzlich unterscheidet Durkheim, mit Hilfe der verschiedenen Arten der sozialen Faktoren, den Freitod in vier Typen (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2006) – den egoistischen, den altruistischen, den anomischen und den, in einer Fußnote erwähnten (Durkheim 2006, S. 318), fatalistischen Selbstmord.

Abschließend folgt eine Zusammenfassung sowie Schlussfolgerung, auch als funktionale Analyse bezeichnet (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2006). Dabei führt er an, dass das Vorkommen des Phänomens keine Pathologie ist, sondern eine übliche Begleiterscheinung von Gesellschaften (ebd.).

Auch heute noch gilt diese Arbeit Durkheims „als Vorbild für methodisches Vorgehen bei empirischen Forschungen“ (Holderegger 1979, S. 110).

3.2 Die vier Typen des Selbstmordes

Wie im Verlauf des vorangegangenen Kapitels schon erwähnt, gibt es, laut Durkheim, vier Hauptformen des Selbstmordes. Diese können auf zwei Dimensionen reduziert werden, der Integration und der Regulation, welche jeweils mit „hoch“ oder „niedrig“ einzustufen sind (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2006). Jeder Haupttyp wird einer dieser Stufen zugeordnet (ebd.). Dazwischen gibt es noch unzählige weitere Nuancen, aus denen verschiedene Mischtypen hervorgehen (Müller 1999), welche jedoch, aufgrund der Menge, in dieser Arbeit nicht näher erläutert werden.

Der egoistische Selbstmord ist der „niedrigen Integration“ zuzuordnen (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2006). Die Ursache dafür ist eine übertriebene Vereinzelung des Subjektes, woraus ein Defizit an sozialen Bindungen entsteht (Müller 1999) und somit eine „soziale Desintegration“ (Rachor 1995, S. 36). Das Individuum beschäftigt sich immer öfter mit sich selbst und wird so noch stärker von der sozialen Welt ausgegrenzt, was dazu führt, dass es sich noch mehr zurückzieht und ein sogenannter Teufelskreis entsteht der im Selbstmord enden kann (Durkheim 2006). Durkheim erklärt diesen Typ anhand der Religion, insbesondere der protestantischen und der katholischen Kirche, sowie der Institution Familie (ebd.).[3] Den Untersuchen nach kommt Suizid bei verheirateten Frauen und Männern, also in einer Familie, seltener vor als bei Unverheirateten und auch Katholiken begehen aufgrund ihres weniger individualistischen Systems seltener Selbstmord als Protestanten (ebd.) (siehe Anhang: Grafiken 1 und 2).

Der altruistische Selbstmord ist der Gegenpart zu egoistischen Suizid, ist also durch eine hohe Integration gekennzeichnet (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2006). Dem Subjekt wird ein prosoziales Verhalten zugeschrieben, d.h. die gesellschaftlichen Anliegen werden über die persönlichen Bedürfnisse gestellt (Müller 1999) und das Individuum wird so von den sozialen Bindungen vereinnahmt (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2006). Als Beispiel dafür ist zu nennen der religiöse, moralische oder politische Glaube und explizit führt Durkheim das Militär an (Durkheim 2006).

Der anomische Selbstmord tritt vorwiegend in Zeiten außergewöhnlicher Gesellschafts- und Wirtschaftentwicklungen auf, zum Beispiel während ökonomischen Krisen aber auch bei unerwartetem Reichtum (Müller 1999; Rosa/ Strecker/ Kottmann 2006). In diesen Zeitpunkten gehen „sozial-moralische Leitideen“ (Holderegger 1979, S. 114) verloren und mit ihnen die Orientierung des Einzelnen an den gewohnten Verhältnissen sowie Normen, da Regeln die Aufgabe haben das grenzenlose Verlangen des Individuums zu begrenzen und eine Richtung vorzugeben (ebd.). Aus diesem Grund ist der dieser Typ des Suizids auch einer niedrigen Regulation zuzuordnen (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2006).

Der von Durkheim sehr kurze vierte Typ wird als fatalistischer Selbstmord bezeichnet und ist dem anomischen entgegengesetzt, weist also ein „Übermaß an Reglementierung“ auf (Durkheim 2006, S. 318) sowie „Zukunfts- und Hoffnungslosigkeit und starker Disziplinierung“ (Rachor 1995, S. 36). Durkheim nahm an, dass diese Form vermehrt bei Sklaven auftrat ( Durkheim 2006).

4 Die sozialen Ursachen bezogen auf Frauen

4.1 Statistischer Überblick

Suizidale Akte werden mit Hilfe der sogenannten Suizidziffer gemessen, welche die Häufigkeit der Selbstmorde für die jeweils gemessene Bevölkerung(-sgruppe) angibt (Felber 2007). Berechnet wird diese indem die absolute Anzahl von Suiziden eines Jahres durch hunderttausend Einwohner dividiert wird (Suizide/ 100.000 Einwohner/ Jahre) (ebd.).

Laut Statistik[4] sinkt die Suizidziffer, auch Suizidrate genannt (Rachor 1995), in Deutschland seit den 70/80er Jahren langsam (Felber 2007). Gegenwärtig ist die niedrigste Ratenhöhe seit 100 Jahren zu verzeichnen (Siehe Anhang: Grafik 3) (ebd.). In den 70er Jahren begingen noch an die 20.000 Menschen Selbstmord. Bis 2005 hat sich die Zahl fast halbiert, denn es wurden „nur“ noch 10.260 Menschen gezählt, was einer Suizidrate von 12,4 entspricht (ebd.).

[...]


[1] Magersucht

[2] die Einleitung einer Handlung die zum Tode führt, das Wollen und die Motivation zu sterben und das Wissen des Subjektes, dass sein Agieren den Tod zur Folge hat

[3] Institution bedeutet in diesem Kontext „jegliche Form bewusst gestalteter oder ungeplant entstandener stabiler, dauerhafter Muster menschl. Beziehungen, die in einer Gesellschaft erzwungen oder durch die allseits als legitim geltenden Ordnungsvorstellungen getragen und tatsächlich >>gelebt<< werden“ (Hillmann 2007, S. 381).

[4] Die ersten Suizidstatistiken wurden vor 160 Jahren angelegt (Holderegger 1979).

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Suizidalität bei Frauen und deren soziologische Ursachen
Untertitel
Ein Vergleich der Studie Emile Durkheims mit der modernen Selbstmordforschung
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Einführung in die Klassiker der soziologischen Theorie
Note
2,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
23
Katalognummer
V119235
ISBN (eBook)
9783640233342
ISBN (Buch)
9783640235933
Dateigröße
946 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Suizidalität, Frauen, Ursachen, Einführung, Klassiker, Theorie
Arbeit zitieren
Sara Weber (Autor:in), 2007, Suizidalität bei Frauen und deren soziologische Ursachen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119235

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