Debatten über die Nation in Tschechien - Versuch eines soziologischen Profils


Magisterarbeit, 2008

85 Seiten, Note: 2,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Kollektive Identitäten und nationale Identität
1. Kollektive Identitäten
1.1. Geschlecht
1.2. Territoriale Identitäten
1.3. Sozio-ökonomische Identitäten
1.4. Religiöse Identitäten
1.5. Religiöse und ethnische Identitäten
2. Nationale Identität
2.1. Elemente nationaler Identitäten
2.2. Nationenkonzepte
2.3. Funktionen nationaler Identitäten
2.3.1. Externe Funktionen
2.3.2. Interne Funktionen
2.4. Probleme nationaler Identitäten
2.5. Ethnische Grundlagen
2.6. Typen ethnischer Gemeinschaften
2.6.1. Laterale ethnische Gemeinschaften
2.6.2. Vertikale ethnische Gemeinschaften und ihre Transformationswege
3. Moderne und Antike in der Nation
3.1. Nationalismus und Moderne
3.2. Nationalismus und Industrialismus
3.3. Soziale Entropie
3.4. Die Bedeutung vormoderner Elemente
3.5. Die kulturelle Nation
3.6. Ethnische nationale Identitäten
3.7. Die Anwendung ethnischer Geschichte
3.8. Stärken und Schwächen
3.9. Ethnizität und Nationalismus
3.10. Ethnizität
3.11. Kollektive Identität in Krisen
3.12. Multiple Identitäten

III. Die tschechische Nationalidentität
1. Die Rolle von Ethnizität
1.1. Das Konzept der tschechoslowakischen Identität
1.1.1. Tschechoslawismus und Tschechoslowakismus
1.1.2. Das Bild der Tschechen von den Slowaken
1.1.3. Der Trennungsprozess
1.1.4. Gründe für die Trennung
1.2. Sprache und Nation
1.3. Mystifizierung auf Tschechisch
1.4. Landesname
2. Tschechische Nation und tschechische Geschichte
2.1. Das historische Gedächtnis der Nation
2.2. Das nationalistische Geschichtsbild
2.2.1. Der tschechische Mythos vom weißen Berg und sein poltitisches Potenzial
2.2.2. Das Münchner Abkommen und seine Wiedergutmachung
2.3. Das nicht-nationalistische Geschichtsbild
2.4. Tomas Masaryk & Vaclav Havel
2.5. Die Geburt der modernen tschechischen Identität
2.6. Die Sozialstruktur des Nationalbewusstseins
3. Nationale Symbole, Stereotypen, Traditionen 61
3.1. Die tschechische Nationalidentität und die postkommunistische soziale Transformation
3.1.1. Speziell tschechische Aspekte während der Revolution von 1989 und zur Zeit des Kommunismus
3.1.2. Das Öffentliche und das Private in der sozialistischen Tschechoslowakei
3.1.3. Opposition zum kommunistischen Regime
3.1.4. Symbolische Aspekte der ersten öffentlichen Demonstrationen
3.1.5. Schauplätze als nationale Symbole
3.1.5.1. Der Wenzelsplatz
3.1.5.2. Das Denkmal von Jan Hus
3.1.5.3. Die Prager Burg
3.2. Tschechische Märtyrersymbolik
3.3. Das Samt – Symbol
3.4. Die Wahrheit siegt
3.5. Stereotypen und Selbstbilder
3.6. Nationale Traditionen und ihr Einfluss auf politische Ereignisse

IV. Schlusswort

Literaturverzeichnis

Vorbemerkunge

Zitate sind schräg in Anführungszeichen dargestellt, Wörter aus dem Tschechischem bzw. Englischem, wenn es sich um kein Zitat handelt, nur schräg.

Die Hervorhebung der Bedeutung von einfachen Termina oder Eigennamen wie ‚nationale Tragödie’ wird durch einfache Anführungszeichen dargestellt.

Webseiten aus dem Internet sind als Quelle im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt, sondern nur direkt im Text als Fußnote.

Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei Professor Dr. Dieter Goetze von der Universität Regensburg für die Hilfe und gute Betreuung bei der Erstellung der Arbeit. Ihm verdanke ich nämlich auch den Kontakt mit Herrn Professor Miroslav Hroch aus Prag, dem ich an dieser Stelle auch gleich für seine Hilfsbereitschaft und Kritik danke.

Viel gelitten haben mit mir meine Eltern und Schwiegereltern, aber besonders meine Frau Katešina, denen ich für ihre Geduld und Unterstützung danke. Danke auch an Jindšich Trpak

für sein immer offenes Ohr, Dominik Kaufner und Johannes Weingartner für Schlafplätze in Regensburg, Maike Schäfer fürs Korrekturlesen, sowie Henry Dieckmann und COPY&PASTE aus Rostock für den Druck der Arbeit.

„Ich habe die Bedeutung von Nationalismus nie verstanden.“ (Carlos Santana)

„Kdo neská šenení Šech!“1

I. Einleitung

Die Diskussion in den Sozialwissenschaften um kollektive Identitäten hat seit dem Fall der Berliner Mauer scheinbar an Intensität und Ausmaß gewonnen. Der Fokus richtet sich darauf, kollektive Identitätsbildungsprozesse besser zu verstehen und Erklärungen für sogenannte

‚Ethnic Revivals’ zu finden. Das Phänomen Nationalismus wurde unter dem Mantel des Kalten Krieges und vielleicht auch über die Scham der Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges mehr oder weniger öffentlich totgeschwiegen (McCrone 1998, S.2). Eine schockartige Wirkung hatten dann die Vorgänge in den post-sozialistischen Ländern, das klassische Beispiel ist das ehemalige Jugoslawien, als sich Konfliktlinien zwischen einzelnen ethnischen Gruppen und kollektiven Identitäten ergaben, deren teilweise blutige Absteckung vor allen Dingen in Westeuropa nicht unbedingt so erwartet wurde. Auf der Suche nach Verständnis und Aufklärung für die gesellschaftlichen Transformations- und Identitätsbildungsprozesse ist klar geworden, dass bisherige Theorien auch um die gesellschaftliche Erfahrung der sozialistischen Erziehung und Sozialisation in den jeweiligen Staaten erweitert werden müssen. Alte Muster kollektiver Identitäten, welche in den sozialistischen Nationalstaaten auf verschiedene Weise unterdrückt und verzerrt erlebt und wahrgenommen wurden, treffen auf die Überbleibsel der kosmoplitischen sozialistischen Identitäten und Sozialstrukturen, und entwickeln mit ihnen zusammen ihre Wirkung in einer Welt der Globalisierung und neuen Wettbewerbs zwischen den Nationalstaaten.

Die heutige Tschechische Republik, die jahrzehntelang zusammen mit der Slowakei einen gemeinsamen Staat bildete, ist in ihrer jetzigen Form noch keine zwanzig Jahre alt. Die Tschechen und die Slowaken haben sich institutionell voneinander getrennt, vielleicht auch deshalb, weil die tschechische Kultur im tschechoslowakischen Bündnis immer dominiert hatte (Znoj 1997, S.261).

Um mehr über Identitätsbildungsvorgänge an einem konkreten Beispiel zu erfahren, widmet sich meine Arbeit dem Versuch, Debatten zur tschechischen Nation in ein soziologisches Profil zu fassen.

Die Arbeit ist dazu in zwei größere Teile aufgeteilt.

Der erste Teil stellt die Diskussion und die Positionen um nationale Identitäten und Nationalismus von A. Smith, einem der führenden Nationalismustheoretiker und Professor für Soziologie an der London School of Economics, und vom mittlerweile leider verstorbenen E. Gellner, der das Thema Nationalismus seinerzeit in die Sozialwissenschaften eingeführt hatte, dar.

Im zweiten Teil betrachte ich dann einzelne Elemente und Diskurse zur tschechischen Nationalidentität bzw. zur tschechischen Nation, die in Kontrast zu den vorher beschriebenen theoretischen Positionen Klarheit schaffen sollen, inspirieren, bzw. neue Fragen aufwerfen sollen, bevor zum Schluss eine kurze Zusammenfassung und meine Meinung zu der Thematik erfolgen.

II. Kollektive Identitäten und Nationale Identität

1. Kollektive Identitäten

Der Begriff Kollektive Identität führt zunächst zu Jürgen Habermas, der ihn schon vor einiger Zeit in die Sozialwissenschaften eingeführt hat. Demnach sichert die kollektive Identität einer Gruppe oder Gesellschaft Kontinuität und Wiedererkennbarkeit, beinhaltet die generations- und epochenübergeifende geschichtliche Existenz einer Gesellschaft, und grenzt diese Gesellschaft gegen ihre natürliche und soziale Umgebung ab.2

Bei Smith ist jedes Individuum aus multiplen Identitäten und Rollen aufgebaut, kategorisch definiert über Familie, Territorium, Klasse, Religion, Ethnie oder Geschlecht, wobei jede dieser Rollenidentitäten auf sozialen Klassifizierungen basiert, die sich ändern oder auch ganz aufgehoben werden können. Somit existiert also eine andere, unsichtbare Welt, die unser materielles Dasein berührt, soziale Kategorien auf den Kopf stellen und vertraute Identitäten zerstören kann (Smith 1993, S.3ff).

1.1. Geschlechterklassifizierungen

An erster Stelle stehen für Smith Geschlechterklassifizierungen. Weil sie so universal und durchdringend sind, sind sie auch nicht besonders kohäsiv, wenn sie kollektive Identitäten bilden sollen. Geographisch getrennt, in Klassen zerteilt und ethnisch fragmentiert müssen Geschlechtstrennungslinien sich mit anderen, mehr kohäsiven kollektiven Identitäten verbinden, wenn sie kollektive Bewusstsein und Aktionen inspirieren wollen (Smith 1993, S.4).

1.2. Raum, Gebiet, Territorium

Regionale und lokale Idenitäten sind besonders in vormodernen Zeiten sehr verbreitet. Da sie leicht zerfallen können, sind sie allerdings oft trügerisch, und nur sehr selten sind regionale Bewegungen wirklich kohäsiv und stark wie im Falle von Vendée während der Französischen

Revolution, obwohl da wahrscheinlich eher auf ideologische Wurzeln zurückzuführen. Regionen geographisch zu definieren, gestaltet sich wegen ihrer multiplen Zentren und unregelmäßigen Grenzen überdies als schwierig (Smith 1993, S.4).

1.3. Sozio-ökonomische Identitäten

Sozio-ökonomische Identitäten wie ‚soziale Klasse’ als Basis für eine dauerhafte kollektive Identität zu betrachten, wird auf Grund ihrer begrenzten emotionalen Wirkung sowie des Fehlens kultureller Tiefe auch als schwierig betrachtet. Breiter gefasste kollektive Identitäten fordern die begrenzten Klassenidentitäten stets heraus und können sie gegebenenfalls, durch Wirkungen auf ganz andere Kategoriekriterien, unterlaufen oder zerteilen. Religiöse und ethnische Identitäten haben sich bemüht, mehr als nur eine Klasse in ihre Gemeinschaften einzuschließen und enge Verbindungen zu Klassenidentitäten geschaffen, was dazu führt, dass häufig zwischen den Identitäten gewechselt wird (Smith 1993, S.4).

1.4. Religiöse Identitäten

Religiöse Identitäten basieren nämlich auf ein wenig anderen Kriterien als Klassenidentitäten und entstehen aus dementsprechend anderen Sphären menschlicher Bedürfnisse und Handlungen. Anders als Klassenidentitäten, die aus den wirtschaftlichen Sphären der Produktion und des Handels entstehen, kommen religiöse Identitäten aus den Sphären der Kommunikation und Sozialisation, basierend auf Absteckungslinien von Kultur und kultureller Elemente in Form von Werten, Symbolen, Mythen und Traditionen. Oft kodifiziert in Bräuchen und Ritualen tendieren sie dazu, all diejenigen in einer Glaubensgemeinschaft zu vereinigen, die das Gefühl haben, bestimmte Symbole, Wertesysteme und Glaubenstraditionen, und Rituale zu teilen, inklusive der Beziehungen zu einer übernatürlichen Realität und der Prägung durch eine kirchliche Organisation (Smith 1993, S.6).

1.5. Religiöse und ethnische Identitäten

Während die Weltreligionen danach strebten, ethnische Grenzen zu überschreiten und zu verwischen, fallen die meisten religiösen Gemeinschaften mit ethnischen Gruppen zusammen. Klassische Beispiele sind Armenier und Juden, deutlich wird das aber auch am Beispiel der Drusen, einer abtrünnigen moslemischen Sekte. Gegründet und verfolgt in Ägypten, flüchtete diese Sekte zum Berg Libanon, wo sie Perser, Kurden wie auch Araber im frühen elften Jahrhundert für circa zehn Jahre in ihren Reihen willkommen hieß. Nach ein paar Jahren waren der Zugang zu, wie auch der Austritt aus der Glaubensgemeinschaft nicht länger gestattet, und bald wurden die Drusen eine Gemeinschaft gemeinsamer Abstammung und eines gemeinsamen Territoriums. Heute ein Druse zu sein, bedeutet, zu einer ethno- religiösen Gemeinschaft zu gehören (Smith 1993, S.7).

Wenn es auch genügend Hinweise auf enge Verbindungen zwischen Formen von religiösen Identitäten und ethnischen Gemeinschaften gibt, müssen die beiden Arten von kollektiven Identitäten analytisch klar getrennt werden, weil religiöse Gemeinschaften in ethnisch- linguistische Bevölkerungen zerfallen können.

Obwohl Weltreligionen wie der Buddhismus und das Christentum von vorher existenten ethnischen Gemeinschaften adaptiert werden können, wodurch eine verstärkende Wirkung für die ethnische Identität auftreten kann wie in Sri Lanka oder in Burma, können sie ebenso dazu beitragen, ethnische Unterschiede zu erodieren, wie es bei verschiedenen barbarischen Völkern der Fall gewesen ist, die, als sie zum Christentum konvertierten, mit benachbarten Völkern verschmolzen sind, wie zum Beispiel die Angeln, Sachsen and Jüten in England.

Beide kollektive Identitäten stammen aus ähnlichen kulturellen Klassifikationskriterien(s.o.), überlappen sich häufig, verstärken sich gegenseitig und können selbständig oder miteinander starke Gemeinschaften stützen und mobilisieren (Smith 1993, S.8).

2. Nationale Identität

‚Nationale Identität’ beinhaltet immer irgendeinen Sinn von politischer Gemeinschaft, egal wie stark oder schwach ausgeprägt, so dass die alten Griechen zwar als eine kulturelle, ethnische Gemeinschaft betrachet werden, aber nicht als Nation, weil ihnen jeglicher politischer Rahmen fehlte (Smith 1993, S.8).

Eine politische Gemeinschaft muss wenigstens ein paar gemeinsame Institutionen implizieren. Die westliche bzw. bürgerliche Konzeption von ‚Nation’ enthält als grundlegende Elemente einen Kodus von Rechten und Pflichten für alle Mitglieder, einen genau bestimmten sozialen Raum, sowie ein einigermaßen gut markiertes und begrenztes Territorium, mit dem die Mitglieder sich identifizieren, und zu dem sie sich zugehörig fühlen (Smith 1993, S.9).

2.1. Elemente nationaler Identitäten

Das westliche Nationenkonzept ist in erster Linie eine räumliche oder territoriale Konzeption. Das kann aber nicht irgendwo an einem beliebigen Ort sein, sondern das Heimatland ist und muss das ultimative Land sein, das Lager für historische Erinnerungen und Assoziationen, der Platz wo ‚unsere’ Heiligen und Helden lebten, arbeiteten, beteten und kämpften. All das macht es zu einem Unikum. Seine Flüsse, Küsten, Seen, Berge und Städte werden heilig und in Liedern verewigt. Auch die autarke Nutzung der vorhandenen Bodenschätze ist ein wichtiger Punkt. Smith bringt hier das Beispiel der Holländer, welche sich selbst vom Meer und vom Landgewinn geformt sahen, dahin führend, dass Land und Leute zueinander gehören (Smith 1993, S.9).

Ein zweites Element ist die Idee der Patria, einer Gemeinschaft von Gesetzen und Institutionen mit einem politischen Willen, der durch diese ausgedrückt wird. Das kann sich zentralisiert organisieren, wie in Frankreich nach der Revolution oder aber auch zum Schutz lokaler Einheiten, wie in den Niederlanden oder den USA.

Gleichzeitig lässt sich ein Sinn für die Gleichheit vor dem Gesetz feststellen, was seinen Ausdruck in den verschiedenen Formen von Staatsbürgerrechten findet, d.h. bürgerlichen Rechten, politischen Rechten und Pflichten und wirtschaftlichen Rechten. Bürgerliche und politische Rechte als integraler Bestandteil der westlichen Konzeption von Nation implizieren ein Minimum von reziproken Rechten und Verpflichtungen unter seinen Mitgliedern und einen damit korrelierenden Ausschluss all jener, für welche diese nicht zutreffend sind. Genauso wichtig ist die Gleichheit vor dem Gesetz für alle Mitglieder der Nation, also auch die Bindung der Mächtigen und Reichen an die Patria (Smith 1993, S.10f).

Als eine Voraussetzung für gesetzliche Gleichheit innerhalb einer politischen Gemeinschaft müssen Nationen letztlich ein bestimmtes Maß an gemeinsamer Kultur haben, einen Kanon gemeinsamen Verstehens und Bestrebens, von Gefühlen und Ideen, welcher die Bevölkerung

in ihrem Heimatland zusammenschweißt. Die Aufgabe, eine gemeinsame, öffentliche Massenkultur sicherzustellen, ist inzwischen in die Hände populärer Sozialisationsagenturen, ganz besonders in die der öffentlichen Bildungssysteme und der Massenmedien, übergegangen, so dass in westlichen Modellen nationaler Identität Nationen als kulturelle Gemeinschaften gesehen werden, deren Mitglieder durch gemeinsame historische Erinnerungen, Mythen, Symbole und Traditionen vereinigt, wenn nicht gar homogenisiert wurden. Immigrierte Gemeinschaften und ihr kulturelles Equipment, die in solche Nationen aufgenommen wurden, brauchten immer ein paar Generationen durch die Mühlen der nationalen Massensozialisation, um dort anzukommen (Smith 1993, S.10f).

Ein historisches Territorium, eine rechtlich politische Gemeinschaft, rechtlich politische Gleichheit für alle Mitglieder und eine gemeinsame Kultur sind die Komponenten des westlichen Standardmodells der Nation, und angesichts des fortwährenden Einflusses der westlichen Welt in der Moderne auch für die meisten nicht westlichen Nationenkonzepte wesentliche Elemente geblieben, wenn auch in etwas veränderter Form (Smith 1993, S.10f). Dem stellt Smith ein anderes Nationenmodell, welches etwa zur selben Zeit besonders in Osteuropa und Asien hervorspross, gegenüber. Historisch forderte es die Dominanz des westlichen Modells heraus und fügte signifikante neue Elemente hinzu, welche mehr mit den Umständen und Entstehungen seiner nichtwestlichen Gemeinschaften zu tun hatten. Der entscheidende Unterschied dieses ethnischen Nationenkonzepts ist die Hervorhebung von Herkunft und einheimischer Kultur einer Gemeinschaft, womit die Nation in erster Linie zu einer Gemeinschaft gemeinsamer Abstammung wird (Smith 1993, S.11). Im Gegensatz zum westlichen Modell, wo die Bevölkerung als Subjekt für gemeinsame Gesetze und Institutionen auftritt, spielt sie im ethnischen Konzept von Nation die Rolle einer fiktiven

‚super-family’, wie Smith es nennt (Smith 1993, S.12). Besonders in Ost- und Mitteleuropa haben einheimische Intellektuelle Stammbäume und Genealogien aufgespürt, die Ansprüche und Forderungen solcher Gemeinschaften stärken. Berufungen auf den ‚Willen des Volkes’ dienen als Argument und sind ausreichend, um Aktionen politischer Führer zu rechtfertigen. Auf dieser populistisch gefärbten Ebene spielen Klassenunterschiede eine geringere Rolle, und dafür umso mehr die Mobilisierung der Massen mit moralischen und rhetorischen Mitteln. Lexikologen, Philologen und Folkloristen sind diejenigen, die das Material zum Nationenentwurf liefern. Die politische Herausforderung, die sich daraus ergibt, stellt sich bis heute und spiegelt einen grundlegenden Dualismus im Nationenverständnis wider (Smith 1993, S.12f).

2.2. Nationenkonzepte

Smith geht davon aus, dass jeder Nationalismus sowohl bürgerliche als auch ethnische Elemente in verschiedenen und variierenden Formen aufweist, die unterschiedlich dominieren können. Er demonstriert das am Beispiel von Frankreich, wo eine Entwicklung von einem essentiell bürgerlichem Nationalismus unter den Jakobinern zu radikal unterschiedlichen Nationenvorstellungen stattfand, seit Anfang des 19. Jahrhunderts der französische Kulturnationalismus begann, mehr ethnische Konzeptionen zu reflektieren, mit welchen sich die französische Rechte dann eher verbunden fühlte (Smith 1993, S.13). Nichtsdestotrotz fällt der ganze Diskurs in einen bestimmten Rahmen, nämlich einen nationalen, der nunmehr nur noch inhaltlich verhandelt wurde. Hinter den sich einander gegenüberstehenden Nationenmodellen stehen gemeinsame Glaubensvorstellungen über das, was eine Nation im Unterschied zu anderen kollektiven Identitäten ausmacht, woraus Smith folgende Definition entwickelt:

„A nation can therefore be defined as a named human population sharing an historic territory, common myths and historical memories, a mass, public culture, a common economy and common legal rights and duties for all members.”3

Die unterschiedlichen Denkweisen über Nationalismus in Ost und West führen zu Hans Kohn, der diese Unterscheidung schon 1945 getroffen hat. Ihr kommt sowohl ideologische als auch analytische Bedeutung zu. Denn einerseits kann sich der Westen so mit seinen politischen Formen von Nationalismus gegenüber den ethnischen Formen aus dem Osten überlegen darstellen, andererseits ist dieser Erklärungsansatz aber durchaus auch nützlich, um bestimmte politische Entwicklungen zu analysieren. Westlicher Nationalismus ist demnach politisch und rational geprägt, vereinigt die Bürger eines Territoriums und Staates, und ist gekennzeichnet von Konzepten der Freiheit für den Einzelnen und kosmopolitischen Ideen. Östlicher Nationalismus hingegen hat seine Wurzeln in uralten Traditionen und Bräuchen und stellt das Volk in den Mittelpunkt. Durch die ethnisch verlaufenden Grenzen ist eine eher spaltende als vereinende Wirkung zu beobachten, zum Beispiel in Deutschland, wo diese Art von Nationalismus schon anfängt. Östlicher Nationalismus gilt als vermessen und überbetont, weil es ihm an Selbstbewusstsein fehlt und er sich durch Minderwertigkeitskomplexe auszeichnet. Dieser Ansatz von Kohn war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr

dominant, ist jedoch in den letzten Jahren durch Unterscheidungen nicht in Ost und West, sondern eher in bürgerliche/territoriale und ethnische/kulturelle Formen von Nationalismus verdrängt worden (McCrone 1998, S.8).

McCrone stellt den analytischen Wert dieser Unterscheidung in Frage. Zum einen widersprechen rassistische Tendenzen in westlichen Gesellschaften dieser Theorie, nach der sie eigentlich nicht existieren dürften. Zum anderen stellt sich die Frage, ob sich Blut und Boden nicht auch gegenseitig bedingen, McCrone erinnert hier an die Politik von Hitler, und desweiteren ist ein Verständnis von Bürgerlichkeit ein entscheidender Punkt. Herzfeld betrachtet die Sprache der Bürokratie als Symbolsystem, das ein- und ausschließen kann, und sieht bei europäischen Nationalismen denselben transzendenten Status wie bei Religionen:

“Just as nationalism can be viewed as religion, bureaucratic actions are its most commonplace rituals.“4

2.3. Funktionen nationaler Identitäten

Die besondere Funktionalität nationaler Identitäten sieht Smith in ihrer komplexen Konstruktion, die sie mit anderen kollektiven Identitäten verbindet. So entsteht ein multidimensionales Kompositum, das nationale Identitäten zu einer sehr flexiblen und widerstandsfähigen Kraft in der Moderne macht und ihnen erlaubt, effektive Kombinationen mit anderen Ideologien und Bewegungen, z.B. Kommunismus, einzugehen, ohne ihren eigentlichen Charakter zu verlieren (Smith 1993, S.15).

Eine weitere Besonderheit ist die Art der Verbindung, die das Nationenkonzept zwischen den Mitgliedern einer Nation erzeugt. Dabei handelt es sich im Unterschied zum Staat an sich nicht nur um politisch rechtliche Beziehungen. Die meisten Staaten sind zwar Nationalstaaten, können ihren Legitimationsanspruch aber nicht über ethnische Homogenität rechtfertigen, weil sie mit kulturellen Konsequenzen rechnen müssen. Das heißt nach Smith, dass wir es hier mit kulturellen Beziehungen zu tun haben und nicht mit rein politischen, welche nach Belieben gesteuert werden können (Smith 1993, S.15).

2.3.1. Externe Funktionen

Zur Verdeutlichung unterteilt Smith die Funktionen von nationaler Identität. Externe Funktionen orientieren sich an den oben schon beschriebenen Elementen nationaler Identitäten und fallen in eine Dreiteilung als:

-Territoriale Funktion: sozialer Raum für die Bevölkerung, historisches Territorium in der Dimension der Zeit und Speicher für moralische Werte an heiligen Stätten.
-Ökonomische Funktion: Kontrolle über die wirtschaftliche Nutzung der vorhandenen Ressourcen.
-Politisch Funktion: die Auswahl von Personal in der Politik im nationalen Interesse, und vor allem die Legitimation von gemeinsamen politischen Rechten und Pflichten rechtlicher Institutionen, welche die Werte und den Charakter der Nation definieren und ihre alten Traditionen reflektieren (Smith 1993, S.16).

2.3.2. Interne Funktionen

-Die individuelle Sozialisation als Nationalstaatsbürger im Nationalstaat, die heutzutage durch ein standardisiertes öffentliches Bildungs- und Erziehungssystem gewährleistet wird.
-Angebot eines Repertoires von gemeinsamen Werten, Symbolen und Traditionen.
-Orientierungsfunktion (Smith 1993, S.16f).

2.4. Probleme nationaler Identitäten

Aus der Beziehung des Individuums zum nationalen Selbstbild, an welchem es sich orientiert, resultieren die philosophischen und politischen Zweifel, welche die Menschheit an der Doktrin Nationalismus hat, was verständlich ist angesichts der potentiellen und erfahrungsgemäßen Konflikte, die sich aus ihm ergeben. Unklarheiten und willkürliche Konstruktionen des Begriffs in den Texten von Nationalisten haben seine Glaubwürdigkeit geschwächt, selbst dort wo einigen seiner Positionen gegenüber Respekt gezollt wurde, etwa der Idee von kultureller Verschiedenheit. Smith verteidigt indirekt die Verbrechen, welche im Namen nationaler Identitäten geschehen sind mit dem Argument, dass ein Ideal und eine Identität, die so viele Funktionen erfüllen können, notwendigerweise die verschiedensten

sozialen und politischen Konsequenzen nach sich ziehen müssen. Sein Fazit: Die negativen Eigenschaften stehen im Verhältnis zu den positiven Funktionen (Smith 1993, S.18).

2.5. Die ethnische Grundlage von nationalen Identitäten

Smith verwendet einen Zugang, welcher die historischen und symbolisch-kulturellen Eigenschaften von Ethnizität und ethnischen Gruppen in den Vordergrund stellt. Ein entscheidendes Argument ist, dass die Verbindung zwischen Ethnizität und Nationalität vor allem in Traditionen besteht, die weiterhin bestehen und am Leben erhalten werden. Als Träger von Erinnerungen, Symbolen, Mythen und Legenden, und Werten aus vergangenen Zeiten des Lebens einer Bevölkerung, einer Gemeinschaft oder eines Gebietes können sie eine unermessliche Wirkung haben (Smith 1993, S.20f).

Smith zählt sechs hauptsächliche Eigenschaften von ethnischen Gemeinschaften auf:

- ein eigener kollektiver Name
- ein Mythos einer gemeinsamen Abstammung
- ein gemeinsames historisches Gedächtnis
- ein oder mehrere differenzierende Elemente einer gemeinsamen Kultur
- eine Assoziation mit einem speziellen ‚Heimatland’
- einen Sinn für Solidarität für signifikante Teile der Bevölkerung5

Daraus ergibt sich ganz klar ein Idealtyp einer ethnischen Gemeinschaft, der von subjektiven Zügen dominiert wird. Es geht also nicht um Fakten, sondern vielmehr um die Fiktion einer gemeinsamen Herkunft, welche die entscheidende Rolle bei ethnischer Identifikation spielt. Das gilt nicht nur für Herkunft und Abstammung, sondern auch für das Heimatland. Auch hier sind Gründungsmythen und andere Assoziationen ausschlaggebend, die als Quelle politischer Kohäsion eine soziale Wirkung entfalten können, so dass, wie im Falle der Juden oder Armenier, eine ethnische Gemeinschaft auch überlebensfähig ist, wenn sie von diesem Ort für längere Zeit getrennt ist (Smith 1993, S.21f). Auch objektive Eigenschaften wie Sprache, Religion oder Hautfarbe, die lediglich das, manchmal gleichwohl vielleicht zwingende Potential besitzen, Gemeinschaften voneinander zu trennen, erhalten einen eher subjektiven Charakter dadurch, dass die ihnen zugemessene Bedeutung viel wichtiger für ethnische Identifikation ist als die Tatsache ihrer voneinander unabhängigen Existenz. Der

Zusammenhalt und das Selbstbewusstsein der Mitglieder als solche einer ethnischen Gemeinschaft steigen und fallen also mit der Intensität und der Eindeutigkeit der einzelnen Komponenten dieses Idealtyps und damit auch die Bedeutung und der Sinn von ethnischer Identität an sich (Smith 1993, S.23).

Wie wechselhaft und anpassungsfähig ethnische Identitäten sein können, zeigt die Häufigkeit, mit der sich ethnische Gruppen durch Spaltung oder Vereinigung neu definieren und auch in der Vergangenheit gebildet haben. Aufgrund dieser Beweglichkeit ist es ebenfalls möglich, dass Loyalität zu verschiedenen ethnischen Gemeinschaften gleichzeitig empfunden werden kann, genauso wie zu anderen kollektiven Identitäten, ähnlich einem Modell verschiebbarer konzentrischer Kreise (Smith 1993, S.24).

Für solche Veränderungen bei kulturellen Identitäten dürften in erster Linie traumatische Ereignisse wie Krieg, Eroberung, Vertreibung, Unterwerfung u.ä. verantwortlich sein, wobei kulturelle Muster einerseits an Bedeutung verlieren können, andererseits es aber auch den Effekt geben kann, dass ethnische Identitäten sich auch unter widrigen Umständen dauerhaft und klar herauskristallisieren, wie ein Blick auf die Geschichte der Armenier zeigt (Smith 1993, S.26).

Die Dauerhaftigkeit ethnischer Bindungen, manchmal über Jahrtausende, lässt sich über vier Mechanismen für ethnische Selbsterneuerung erklären:6

- Religiöse Reformen (Juden, Griechen)
- Kultureller Austausch (Juden von den Griechen)
- Soziale, religiöse Bewegungen
- Mythen ethnischer Auserwähltheit7

2.6. Typen ethnischer Gemeinschaften

Smith unterteilt in zwei Idealtypen, und zwar in laterale und in vertikale ethnische Gemeinschaften. Beide Typen sind prozesshaft und nicht fix und von daher beweglich, was bedeutet, dass Elemente sowohl des einen, als auch des anderen Typs vorkommen können (Smith 1993, S.52).

2.6.1. Laterale ethnische Gemeinschaften

Laterale Ethnien sind Gemeinschaften, die sozial nur auf eine Oberschicht begrenzt waren und kulturell kein Interesse an den unteren Bevölkerungsschichten zeigten, wodurch es ihnen an sozialer Tiefe fehlte. Gemeinschaftssinn, Herkunftslegenden und historische Erinnerungen waren lediglich mit dem Herrschschaftshaus verbunden, an das die Kulturen eroberter Gebiete gegebenenfalls einfach angefügt wurden. Die Mitglieder dieser Gruppen waren für gewöhnlich Aristokraten und höhere Kleriker, manchmal Bürokraten, höhere Militäroffizielle und reichere Kaufmänner (Smith 1993, S.53). Der Prozess der ethnischen Verschmelzung, besonders offensichtlich in England und Frankreich, wo die Bürokratisierung diese Entwicklung entsprechend beförderte, war nur möglich, weil es eine relativ homogene ethnische Kerngemeinschaft gab (Smith 1994, S.151). Mit ihnen und mit den früheren Königreichen und Völkern ist die Entstehung der Staaten, die immerhin eine notwendige Bedingung für die Entstehung der Nation sind, insoweit sehr eng verbunden.

Smith spricht nach eigenen Worten hier nicht von Herkunft und noch weniger von Rasse, sondern vom Sinn der Abstammung und Identität, die Menschen sich zu eigen machen, und somit von der Bedeutung von Mythen und Erinnerungen, Symbolen und Werten, verkörpert in Bräuchen und Traditionen und in Kunst, rechtlichen Kodes und Institutionen. In diesem Sinne von Ethnizität entwickelten sich in England und später in Frankreich homogene Ethnien, die die Entwicklung homogener Staaten begünstigten, in welchen sich die Idee der Nation entwickeln konnte (Smith 1994, S.150). Auf administrativem Gebiet die Bürokratisierung, auf ökonomischem die kapitalistische Revolution und auf kulturellem der kirchliche Authoritätsverlust durch die Wissenschaften - dies sind drei Prozesse, durch welche weiter entfernte Regionen mit ihren dazugehörigen Ethnien, sowie untere und mittlere Schichten der Bevölkerung in die dominante laterale ethnische Kultur integriert wurden (Smith 1993, S.60). In England verschmilzt die Oberschicht der Aristokratie mit den unteren Schichten zu einer lateralen ethnischen Gemeinschaft, seit eine Bürokratisierung besonders ab dem dreizehnten Jahrhundert ein erhebliches Maß an kultureller Fusion und sozialer Vermischung zwischen angelsächsischen, dänischen und normannischen Elementen nach sich zog (Smith 1994, S.148). Historisch betrachtet entsteht der Eindruck, dass die Bildung moderner Nationen sehr stark das Ergebnis der Entwicklungen in England, Frankreich und Spanien sind, die als die großen Mächte zu dieser Zeit unvermeidlich zu Nationenmodellen wurden. Auch wenn die massenkulturellen Nationen erst im neunzehnten Jahrhundert

entstanden, gibt es einen nationalen Charaktereinfluss von England und Frankreich als Nationen auf die Wahrnehmung anderer Gruppen (Smith 1993, S.61).

2.6.2. Vertikale ethnische Gemeinschaften und ihre Transformationswege

Vertikale Ethnien hingegen sind in ihrer Konstruktion nur indirekt durch den Prozess der Bürokratisierung betroffen. Ihre Kompaktheit und Popularität erklärt sich aus einer Herausbildung sehr durchdringender und dichter Beziehungen aller Schichten und Klassen einer Gemeinschaft über organisierte Religion, wie zum Beispiel bei den Basken und Iren (Smith 1993, S.62). Wie in diesen beiden Fällen, handelte es sich um untergeordnete, d.h. regierte oder verstreute Ethnien, die meist mittels einer Heilsbringerreligion unter Kontrolle gehalten wurden, die sie auf einen Erlöser warten ließ. Religion bedeutete eine Lebenseinstellung.

Die Versuche alter Reiche ihre Strukturen zu modernisieren, störten alsdann alte Beziehungen zu den Ethnien in ihnen.Von der Erwartungsrolle auf einen Erlöser emanzipierten die Völker sich selbst, wobei die entscheidende Rolle der sogenannten ‚Intelligenz’zukam, indem diese das neue Selbstverständnis und die Ziele der Gemeinschaft ausgab. Abgeleitet von einem Prozess der Wiederentdeckung einer ethnischen Vergangenheit handelte es sich dabei jedoch nicht um reine Erfindungen oder Adaptionen westlicher Modelle. Oft musste zwischen einheimischen Traditionen und kolonialen Interessen eine doppelte Strategie gefahren werden, um eine nationale Zukunft anbieten zu können (Smith 1994, S.154).

Die Transformation solcher ethnischen Gruppen in politisch - institutionelle Parameter einer Nation konnte sehr schwierig und traumatisch sein oder, im Falle der Araber, gar unmöglich aufgrund ihrer geopolitischen Lage, der verschiedenen Geschichten der Teilungen der arabischen Nation und vor allem wegen der verschiedenen Ausprägungen des Islam als ambivalenter Kraft.

Der Übergang war durch verschiedene Prozesse und Bewegungen gekennzeichnet. u.a.:

-Die Bewegung von untergeordneter Anpassung und Passivität einer Randminderheit hin zu einer aktiven, bestimmten und politisierten Gemeinschaft mit einer einheitlichen Politik.
-Die Bewegung hin zu einem allgemein anerkannten Heimatland für die Gemeinschaft als ein kompaktes, klar markiertes Territorium.
-Die ökonomische Vereinigung aller Mitglieder der territorial markierten Gemeinschaft mit Kontrolle über die eigenen Ressourcen, sowie die Bestrebung hin zu einer ökonomisch autarken Nation.
-Ethnische Mitglieder werden zu legalen Bürgern, für politische Ziele mobilisiert, und an alle gemeinsame bürgerliche, soziale und politische Rechte und Pflichten übertragen.
-Das Volk rückt ins Zentrum der moralischen und politischen Angelegenheiten, und es gibt eine Zelebrierung der neuen Rolle der Massen, wobei diese in nationalen Werten, Mythen und Erinnerungen gebildet wird.8

Die Konstruktion einer Transformation von vertikalen Ethnien in politische Nationen aus einer lebendigen ethnischen Vergangenheit heraus vollzog sich auf hauptsächlich zwei Wegen. Beide ziehen sich durch das Leben und die Symbolik der Völker. Der erste Weg sieht das Heimatland nicht nur als Bühne für die nationale Geschichte, sondern darüber hinaus als Protagonisten. Charakteristische Besonderheiten der Natur in Form von Seen, Tälern, Bergen, Flüssen usw. bekommen für die Menschen eine historische Bedeutung. Naturschauplätze werden literarisch verarbeitet und dienen als Inspirationsstätte, um sich bestimmter Werte bewusst werden zu können. Allerdings gibt es auch den Fall, dass historische Ereignisse und Denkmäler mit der Natur verschmelzen. Stonehenge in Großbritannien zum Beispiel wird als natürlicher Bestandteil der Landschaft empfunden (Smith 1993, S.64ff).

Der zweite Weg führt über Geschichte, und zwar speziell über den Bezug auf ein sogenanntes goldenes Zeitalter. Aus einer glorreichen ethnischen Vergangenheit werden moralische Muster rekonstruiert mit dem Ziel, die Menschen zu läutern und zu aktivieren. So geschehen unter anderem in Finnland, das sich kulturell gegen Schweden und politisch gegen Russland durchsetzen musste. Im Jahre 1835 schuf Doktor Elias Lonnröt dort die Kalevala, eine Sammlung von alten Balladen und Gedichten aus Karelien, was ausreichend war, um für die modernen Finnen ein goldenes Zeitalter mit den Helden Väinämöinen und Lemminkainen zu schaffen, und die Kunst und die schöpferischen Geister von Sibelius und Gallen-Kalla inspirierte. Damit gab es ein ideales Selbstverständnis des neuen Finnland, das für die Transformation der Ethnie zur Nation sehr wichtig war (Smith 1993, S.66f).

Die Durchführung solcher Transformationen fand nicht ohne Konflikte statt. Smith macht abermals eine Zweiteilung und sieht zwei Arten von kulturellen Konflikten. Es konnte kulturellen Widerstand gegen imperialen Kosmopolitismus bzw. dessen koloniale Variante

geben, oder aber gegen mächtige Nachbarn wie es zum Beispiel die Tschechen für die Slowaken waren. Der zweite Konflikt ist ein Generationenkonflikt, bei dem die ältere Generation als Wächter alter Traditionen einer Verwandlung der Ethnie in eine politische Nation im Wege steht. Die junge Generation wendet sich dagegen, um die Menschen zu mobilisieren und den Transformationsprozess einzuleiten. Das kann mittels selektiver Assimilation zumeist westlicher Elemente geschehen. Es ist allerdings auch notwendig, durch zielgerichtete Kommunikation die neue Generation in der wiederentdeckten ethnischen Geschichte und der wiederbelebten Sprache der Gemeinschaft zu sozialisieren.

So entsteht ein neues Selbstverständnis der Gemeinschaften für den Eintritt in den Kreis der Nationen (Smith 1993, S.67f).

3. Moderne und Antike in der Nation

Die verschiedenen Transformationswege deuten schon auf unterschiedliche Verständnisse von Nation und Nationalismus hin, und zwar haben sich tendenziell zwei verschiedene Orientierungen entwickelt, die sich in der heutigen wissenschaftlichen Diskussion widerspiegeln.

Mal abgesehen von wissenschaftlich nicht sonderlich akzeptierten Sichtweisen, die Ethnizität als etwas biologisch Natürliches, schon immer Dagewesenes betrachten, besteht ein Meinungsunterschied über das Ausmaß, in welchem Nationen entweder als Erfindungen, oder als Rekonstruktionen früherer ethnischer Empfindungen gesehen werden können. Während weitgehend instrumentalistische oder modernisierungstheoretische Ansätze argumentieren, dass Ethnizität ein Instrument für soziale Interessen ist, entgegnen die Ethniker, die mit kulturellen Ansätzen arbeiten, dass Nationalismus eine Resonance haben muss und nicht auf soziale Termina reduziert werden kann. Die nationale Vergangenheit sei keine Tabula rasa, die ununterbrochen neu erfunden werden kann, sondern entscheidendes Mittel, um die Gegenwart mit der Vergangenheit zu verbinden. Es gibt also unterschiedliche Auffassungen über das Ausmaß des Unterschiedes von Ethnizität und Nationalität (Hutchinson in McCrone 1998, S.12).

Die Modernisten sehen Nationalismus als kulturelle und politische Ideologie der Moderne, als entscheidendes Vehikel bei der großen Transformation von Traditionalismus zum Industrialismus, ganz besonders bei der Bildung von modernen Staaten. Demnach liegen seine Ursprünge im 18. Jahrhundert mit seiner rationalen politischen Philosophie, wonach

[...]


1 Slogan und Schlachtruf für die tschechischen Fußballfans, der auf die Zeit der Republikgründung 1918 zurückgeht. Übersetzt heißt das in etwa:“Wer nicht springt, ist kein Tscheche.“

2 Vgl. Behrens, Ulrich auf http://www.follow-me-now.de/html/body_kollektive_identitat.html am 4.8.2007

3 Smith 1993, S.14

4 Herzberg zitiert in McCrone 1998, S.9

5 Vgl. Smith 1993, S.21

6 Die Griechen haben ihre ethnischen Wurzeln trotz vielfacher sozialer Veränderungen(v.a. Migration) über zweitausend Jahre erhalten können. Und auch die ökonomische Nische, die Diasporas wie die Juden in anderen Gesellschaften besetzen, ist keine Garantie für das Überleben der Ethnie, genauso wie eine eigene Kirche allein dafür auch nicht ausreichen dürfte. – vgl. Smith 1993, S.28ff

7 Vgl. Smith 1993, S.35ff

8 Vgl. Smith 1993, S.64ff

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Debatten über die Nation in Tschechien - Versuch eines soziologischen Profils
Hochschule
Universität Regensburg  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Magisterarbeit
Note
2,1
Autor
Jahr
2008
Seiten
85
Katalognummer
V119181
ISBN (eBook)
9783640225996
ISBN (Buch)
9783640227426
Dateigröße
952 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Debatten, Nation, Tschechien, Versuch, Profils, Magisterarbeit
Arbeit zitieren
Jan Fischer (Autor:in), 2008, Debatten über die Nation in Tschechien - Versuch eines soziologischen Profils, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119181

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