Chancengleichheit im dreigliedrigen Schulsystem?

Soziale Benachteiligung auf Grund schulischer Selektion am Beispiel Hauptschule


Seminararbeit, 2008

16 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Das dreigliedrige Schulsystem

2. Der Übergang von der Primarstufe zum Sekundarbereich I
2.1. Primäre Effekte
2.2. Sekundäre Effekte

3. Die Hauptschule als Glied des deutschen Schulsystems
3.1. Perspektiven für Hauptschulabsolventen
3.2. Doppelte Benachteiligung der Hauptschüler
3.3. Lernmilieus in der Hauptschule
3.4. Durchlässigkeit im gegliederten Schulsystem
3.5. Kinder mit Migrationshintergrund in der Hauptschule

Resümee

Literaturverzeichnis

Einleitung

„Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft [...] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ So sieht es Artikel 3 des Grundgesetzes in Deutschland[1] vor. Dementsprechend sollte Selektion im Bildungssystem gemäß den Leistungen und Fähigkeiten eines Schülers und unabhängig von leistungsfremden Kriterien wie Geschlecht, sozialer Herkunft und finanzieller Ressourcen erfolgen. Schulische Leistung bestimmt, wie weit jemand im Bildungswesen kommt, welchen Abschluss er erhält und somit auch über seinen zukünftigen Stand in der Gesellschaft.

Das deutsche Schulsystem ist mit seiner Dreigliedrigkeit so ausgelegt, dass es die heterogene Schülerschaft entsprechend ihrer Leistungen auf die verschiedenen Schularten verteilt. Man geht dabei davon aus, dass ein effektives Lernen nur in leistungshomogenen Gruppen möglich ist.

Wir wollen untersuchen, inwieweit das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland diesen Grundannahmen gerecht wird. Dabei möchte ich insbesondere auf die Hauptschule eingehen und näher beleuchten, welche Rolle sie dabei spielt.

Zuerst stelle ich unter 1. Das dreigliedrige Schulsystem das Bildungswesen in Deutschland ein wenig näher vor. Dabei gebe ich einen Überblick über die Vielzahl der verschiedenen Schulformen, die hier wie in wohl kaum einem anderen Land vorherrschen.

Anschließend möchte ich mich dann näher mit dem Übergang von der Primarstufe zur Sekundarstufe I beschäftigen (2. Der Übergang von der Primarstufe zum Sekundarbereich I). Ich untersuche, welche möglichen Ursachen zu Ungleichheiten führen und gehe dabei nicht nur auf die Rolle der Institution Schule und des Lehrers ein, sondern betrachte ebenfalls den Einfluss der Eltern.

Unter 3. Die Hauptschule als Glied des deutschen Schulsystems widme ich mich speziell dieser Schulart. Ich stelle Perspektiven vor, die ein Hauptschulabschluss bietet, zeige auf, inwiefern Hauptschüler gegenüber Schülern anderer Schulformen doppelt benachteiligt sind und gehe anschließend auf das besonders schwierige Lernmilieu der Hauptschule ein.

Als besonderen Vorteil sehen Befürwörter des dreigliedrigen Schulsystem bei aller intendierten Homogenität die Durchlässigkeit zwischen den Schularten. Ich lege dar, wie durchlässig die Schule tatsächlich ist. Schließlich widme ich mich einer besonderen Gruppe von Hauptschülern: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund.

1. Das dreigliedrige Schulsystem

Das Schulsystem in Deutschland kann man einfach nicht kurz und bündig beschreiben: Zu groß sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Nach der Grundschule, die gemeinsam von allen Schülerinnen und Schülern[2] einer Jahrgangsstufe besucht wird, folgt die Aufteilung der Schülerschaft auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Das sind die drei Hauptsäulen der Dreigliedrigkeit. Daneben gibt es aber in vielen Bundesländern noch Gesamtschulen (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen) sowie Schulen mit mehreren Bildungsgängen (Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen; Konsortium Bildungsberichterstattung 2006). Egal wie vielfältig sich die Sekundarstufe I gestaltet: In allen Bundesländern (außer Berlin, Brandenburg) erfolgt die Selektion nach der 4. Jahrgangsstufe. Dabei werden die Schüler mit dem Ziel der Bildung homogener Lerngruppen auf die unterschiedlichen Schulformen verteilt.

Studien belegen allerdings, dass dies nicht gelingt: Man findet Kinder aus jedem Leistungsspektrum an der Hauptschule wie auch an jeder anderen Schulart. Die Internationale Grundschul-Lese- Untersuchung (IGLU, Bos et al. 2003) hat dies für die Lesekompetenz gezeigt: Die leistungsstärksten Hauptschüler haben dieselben Kompetenzstufen erreicht wie die leistungsschwächsten Gymnasiasten (Tillmann 2007).

Diese Leistungsstreuung deutet also darauf hin, dass das gegliederte Schulsystem seinem Grundanspruch, durch Selektion und Verteilung der Schülerschaft eines Jahrgangs auf verschiedene Schulformen Homogenität herzustellen, nicht gerecht wird. „So gesehen ist die „homogene Lerngruppe“ auch im gegliederten Schulsystem eine „Fiktion“, der nachgejagt wird, ohne sie zu erreichen [Hervorhebungen im Original]“ (ebd., S. 57).

Wenn nun allerdings Schüler mit derselben Leistung auf unterschiedliche Schularten mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen verteilt werden, kann man nicht mehr von einem gerechten Bildungswesen und Chancengleichheit für alle sprechen.

2. Der Übergang von der Primarstufe zum Sekundarbereich I

Wie aber kommt es, dass Schüler gleicher Kompetenzstufen auf unterschiedlichen Schulformen landen? Dazu müssen wir uns näher mit dem Übergang von der Primarstufe zum Sekundarbereich I beschäftigen. Am Ende der 4. Klasse, im internationalen Vergleich ungewöhnlich früh (Wößmann 2007), stellen die Lehrer der Grundschule eine Bildungsempfehlung aus. Diese Empfehlung führt zusammen mit der Elternentscheidung zum Besuch der jeweiligen weiterführenden Schule. Dabei soll die Empfehlung – so ein Beschluss der Kultusministerkonferenz - „nicht nur die Leistungen in bezug auf die fachlichen Ziele der Lehrpläne, sondern auch die für den Schulerfolg wichtigen allgemeinen Fähigkeiten“ berücksichtigen (KMK 2006).

2.1. Primäre Effekte

Die kurze Grundschulzeit bietet in Armut aufwachsenden Kindern allerdings zu wenig Möglichkeiten, den bildungsnahen Habitus zu erleben, der ihnen für den Besuch höherer Schulen dienlich wäre. Der Umgang mit lebensfernen, abstrakten Inhalten, wie sie in der Schule gelehrt werden, ist Kindern bildungsnaher Familien schon vor Schulbeginn geläufig, während Kinder bildungsferner Schichten sich diese erst im Laufe der Schulzeit aneignen müssen. Ein weiterer Faktor, der nicht direkt mit der tatsächlichen Leistung zusammenhängt, sich aber oft auf die Beurteilung eines Schülers auswirkt, ist die Beherrschung des in der Schule verwendeten „elaborierten Sprachcodes“[3], der in der Unterschicht kaum vorkommt (Brunsch 2008).

Kinder kommen also schon mit einem gewissen Vorwissen, das ihnen vom Elternhaus mitgegeben wird, in die Schule. Diese setzt dieses Wissen voraus, obwohl sie es als Institution nicht gelehrt hat. Kinder, die Schichten entstammen, die weniger vertraut mit diesen Konventionen sind, haben auf Grund der differenten familialen Sozialisation bei Schulbeginn Nachteile gegenüber Kindern aus bildungsnahen Schichten. Indem es der Schule nicht gelingt, diese so genannten primären Effekte[4] zu kompensieren und diese Schüler zu fördern, löst sie auch das Versprechen der leistungsgerechten Bewertung nicht ein und spielt somit selbst eine aktive Rolle bei der (Re-)Produktion von Bildungsungleichheiten.

Außerdem benachteiligt die Lehrerempfehlung Kinder unterer Gesellschaftsschichten zusätzlich, da deren schulisches Leistungsvermögen oft unterschätzt und das von Kindern höherer Schichten meist überschätzt wird. So müssen Kinder sozial schwächerer Familien gegenüber Kindern der Mittel- und Oberschicht deutlich bessere Leistungen erbringen, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten (vgl. Bellenberg et al. 2004, Tillmann 2007). Fraglich ist auch, inwiefern Grundschullehrer die nötige diagnostische Kompetenz haben, eine solche Entscheidung vorurteilsfrei und den tatsächlichen Leistungen entsprechend zu treffen.

Betrachtet man beispielsweise die Schullaufbahnempfehlungen von Lehrkräften, differenziert nach den Testleistungen im Lesen (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. 2007), so stellt man fest, dass zwar 57,8 % der Schüler im unteren Leistungsbereich eine Empfehlung für die Hauptschule bekommen, aber immerhin noch 32,9 % für die Realschule und sogar 9,4 % für das Gymnasium.

Schüler mit demselben Kompetenzniveau werden also auf drei verschiedene Schularten geschickt. Die Mehrheit wird in die angemessene Schulart empfohlen, aber mehr als ein Drittel nicht.

Wenn man unter diesem Gesichtspunkt beachtet, dass sich die Mehrheit der Elternentscheidungen an der Empfehlung des Lehrers orientiert (bei der Hauptschule zu rund drei Viertel, vgl. ebd., Hovestadt & Eggers 2007), dann ist dies nicht sehr zufriedenstellend.

Das Phänomen der unterschiedlichen Bewertung bei gleicher Leistung lässt sich auch bei der Notenvergabe feststellen. Auch hier erkennt man eindeutig versetzte Mittelwerte mit hohen Überlappungsbereichen (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. 2007). Somit kann auch der potenziell messbare Bereich der Schullaufbahnempfehlung, nämlich die Durchschnittsnote der Hauptfächer, die zum Besuch des Gymnasiums entsprechend gut ausfallen muss[5], in Frage gestellt werden.

„Es gibt keinen Grund davon auszugehen, dass Lehrkräfte gezielt sozial diskriminieren. Von Bedeutung scheinen eher implizite Persönlichkeits- und Begabungstheorien zu sein, teils in Form stereotyper Erwartungshaltungen, die sich auf die Diagnosekompetenz auswirken und in der Notengebung niederschlagen.

[...]


[1]. Das dreigliedrige Schulsystem

[2] Wenn im Folgenden auf die weibliche Form verzichtet wird, geschieht dies nur auf Grund besserer Leserlichkeit.

[3] Als „Sprachcodes“ bezeichnet man die unterschiedliche Verwendung derselben Kultursprache in verschiedenen Varianten. Diese Unterschiede beruhen auf verschiedener Schichtzugehörigkeit verschiedener Gruppen. Sie sind schichtspezifische Formen des Sprachgebrauchs. Es gibt sowohl den restringierten, als auch den elaborierten Sprachcode. Der restringierte (beschränkte, eingeschränkte) Sprachcode herrscht bei Familien der Unterschicht vor und ist gekennzeichnet durch einen kurzen, grammatisch einfachen und oft unvollständigen Satzbau. Auf Grund eines bescheidenen Wortschatzes besteht eine große Vorhersehbarkeit bezüglich des Satzaufbaus und der Wortwahl. Angehörige der Mittel- und Oberschicht weisen hingegen oft einen elaborierten (reichhaltigen) Sprachcode auf, bei dem die häufige Verwendung von Konjunktionen, Nebensätzen, Präpositionen sowie Adjektiven und Adverbien zu grammatischer Komplexität, Symbolik, Bildhaftigkeit und einem reicheren Wortschatz führen. Sprache spielt sowohl schriftlich als auch mündlich in der Schule eine zentrale Rolle, wobei hier der elaborierte Sprachcode vorherrscht. Indem man sich aber primär am Sprachcode der oberen Schichten orientiert, erfährt der restringierte Sprachcode in der Schule eine Nichtakzeptanz und Abwertung und setzt somit den Schulerfolg der Schüler unabhängig von ihrer Intelligenz herab. (vgl. Brunsch 2008)

[4] Primäre Effekte sind soziale Unterschiede, die ein tatsächliches Leistungsgefälle zwischen sozialen Schichten beschreiben. Sekundäre Effekte nennt man die sozialen Ungleichheiten des Bildungserfolgs, die auch bei gleichen Leistungen bestehen bleiben, dazu zählt beispielsweise die Elternentscheidung (siehe auch 2.2. Sekundäre Effekte).

[5] Die Mehrheit der deutschen Bundesländer richtet ihre Übergangsempfehlung nach dem Notendurchschnitt der Fächer Mathematik und Deutsch (und evtl. ein weiteres Fach). Detaillierte Informationen zu den Regelungen in den einzelnen Bundesländern bei Bellenberg et al. 2004.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Chancengleichheit im dreigliedrigen Schulsystem?
Untertitel
Soziale Benachteiligung auf Grund schulischer Selektion am Beispiel Hauptschule
Hochschule
Pädagogische Hochschule Freiburg im Breisgau  (Institut für Erziehungswissenschaft I)
Veranstaltung
Soziale Benachteiligung durch Schule
Note
1,5
Autor
Jahr
2008
Seiten
16
Katalognummer
V119059
ISBN (eBook)
9783640222056
ISBN (Buch)
9783640223800
Dateigröße
462 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
viel &amp, genau gelesen, super Struktur
Schlagworte
Chancengleichheit, Schulsystem, Soziale, Benachteiligung, Schule
Arbeit zitieren
Luisa Liebold (Autor:in), 2008, Chancengleichheit im dreigliedrigen Schulsystem?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119059

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