Werther, Literatur und Dilettantismus

Die eingenommene Seele und der tote Buchstabe


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

21 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Werther als Leser
2.1. „Laß mir sie vom Halse!“ – die Geniepose
2.2. „Klopstock“ – die Losung
2.3. „Mein Homer“ – die archaische Welt

3. „Könntest du das ausdrücken“ – Werther als Dilettant

4. Ossian – der „Homer des Nordens“
4.1. Wie mir Ossian gefiele
4.2. Ossian verdrängt Homer
4.3. Die Gesänge Ossians
4.3.1. Das Vorspiel
4.3.2. Das Vorlesen der Gesänge

5. Quintessenz

6. Literatur

1. Einleitung

Goethes schriftstellerischer Durchbruch endet blutig – mit Werthers Selbstmord. Auf dem Pult lag Emilia Galotti aufgeschlagen. Die Beziehung des Protagonisten zur Literatur ist ein Erzählstrang, der sich durch den ganzen Roman hindurchzieht: Werther ist ein lesender Held. „Werther lebt nicht nur mit und von der Literatur, er stirbt auch mit ihr, um nicht zu sagen: an ihr.“[1] Den Funktionen seiner wechselnden Lektüre nachzugehen ist Aufgabe der Hausarbeit. Dabei liegt der Betrachtungsschwerpunkt auf Werthers Lektüre von James Macphersons (1736-1796) Ossian.

Im Zusammenhang mit der Frage nach Werthers Verhältnis zu Kunst bzw. Literatur wird in der Forschung häufig auf einen Aspekt der Gesamtdeutung aufmerksam gemacht – die Betrachtung Werthers als Dilettanten. Exemplarisch sei auf Pütz’ Einleitung seines Aufsatzes Werthers Leiden an der Literatur aufmerksam gemacht, in der er die Bemerkung Thomas Manns, Goethe habe sich nicht umgebracht, weil er den Werther zu schreiben gehabt habe, umkehrt[2]:

Werther tötet sich, weil er nichts zu schreiben hatte, nichts jedenfalls, was seinen Ansprüchen genügt hätte.[3]

Einführend soll so ein Überblick über Werther als Leser und Dilettant gegeben werden, wobei die Klopstockszene und seine Lektüre der Odyssee skizziert wird. Bei diesem Überblick erwies sich Marx’ Studie Erlesene Helden[4] als unentbehrlich und für die Dilettantismusproblematik sei auf Vagets Aufsatz Die Leiden des jungen Werthers[5] hingewiesen. Für den Hauptteil der Arbeit, die Beschäftigung mit Macphersons Dichtung, erwies sich besonders das Kapitel Der ästhetisch-poetische Diskurs: Ekstase, Entsagung und Erinnerung – die Funktionen der ossianischen Gedichte im Werther[6] aus der Dissertation Schmidts als nützlich.

Wenn nicht anders angegeben, wird die Textfassung von 1787 (Leiden des jungen Werthers) zitiert. Der Briefroman erschien 1774 unter dem Titel Die Leiden des jungen Werthers.

2. Werther als Leser

2.1. „Laß mir sie vom Halse!“ – die Geniepose

Bei der ersten Erwähnung von Büchern hat es den Anschein, Werthers’ Verhältnis zur Literatur sei belastet, er stehe ihr sogar feindselig gegenüber. Er lehnt die durch seinen Freund Wilhelm zugesendeten Bücher ab.[7] Seine Begründung der Ablehnung macht jedoch ein differenzierteres Verhältnis zu seinen Büchern offenbar.

Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert seyn, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer. Wie oft lull’ ich mein empörtes Blut zur Ruhe, denn so ungleich so unstät hast du nichts gesehen als dieses Herz.[8]

Zum einem gehört zu seiner Vergangenheit auch der Umgang mit Büchern und zum anderen lehnt er nicht alle Bücher ab, seinen Homer liest er.[9]

Bei der Beschreibung eines Gespräches mit einem gerade fertig gewordenen Studenten wird deutlich, dass Werther ebenfalls die ‚hübschen Kenntnisse‘ besitzt, die er seinem Gesprächspartner attestiert.[10] Werthers Reaktion auf die selbstverherrlichende Wissensdarstellungen seines Gegenübers legt einen kühlen Gesprächsausgang nahe: „Ich ließ das gut seyn“.[11]

Marx kommentiert die Szene:

Hier streift ein Leser seine akademische Vergangenheit ab. Der Verleugnung der eigenen Bücher korrespondiert der herablassende Umgang mit der gelehrten Welt.[12]

In seiner Verachtung der vielen Bücher gebe sich Werther als Vertreter der Genie- Epoche zu erkennen, denn ein Herz, das den Anspruch erhebe, ganz aus sich selbst zu brausen, bedürfe keiner literarischen Anregung.[13] An die Stelle ‚künstlicher‘ Stimulantia trete in der Genie-Ästhetik die Natur, sodass sich das Genie auf jene Inspirationsquellen beschränke, die ‚ganz Natur‘ seien, namentlich Pindar, Plutarch, Shakespeare, Ossian oder eben Homer.[14] Marx macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Werther durch die Aussage, durch Literatur nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein zu wollen, verraten würde, dass das Naturgefühl einen ‚erlesenen‘ Hintergrund habe.[15]

2.2. „Klopstock“ – die Losung

Dass Werther der Literatur eng verbunden bleibt, machen häufige literarische Anspielungen deutlich wie auch seine Darstellung als lesender Held bis hin zum Selbstmord.

Bei seiner ersten Begegnung mit Lotte fällt der Literatur eine gewichtige Rolle zu. Schon in der Kutsche ist Werther bewegt, als Lotte Goldsmiths Landpriester von Wakefield erwähnt. Doch Übereinstimmung erzielt erst die ‚Klopstockszene‘:

Sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge thränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte – Klopstock! – Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode die ihr in Gedanken lag und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß.[16]

Deutlicher noch als das Literaturgespräch in der Kutsche lasse der empfindsame Ausklang der Ballnacht erkennen, dass die Beziehung zwischen Werther und Lotte im Zeichen erlesener Empfindung stehe und auch das abziehende Gewitter schwächer auf das Gemüt wirke als die Erinnerung an Klopstocks Ode.[17] Werther erlebe so die Natur im Medium literarischer Assoziationen.[18] Marx schlussfolgert, dass die erlesenen Empfindungen während der Ballnacht dazu angetan seien Werthers Bücherekel zu relativieren, sodass der Vorsatz sich die Bücher vom Hals zu schaffen als Pose erscheint, die der zeitgenössischen Genie-Programmatik entspreche, nicht aber den Bedürfnissen Werthers.[19]

2.3. „Mein Homer“ – die archaische Welt

Homer kann sicherlich mit Recht als zentraler Referenztext von Goethes Roman bezeichnet werden.[20] Seine Ersterwähnung wurde schon besprochen; Werther verzichtet auf alle anderen Bücher, nur seinen Homer möchte er lesen – er braucht den Wiegengesang zu seiner Beruhigung. Marx bemerkt, dass Werther der Homer -Lektüre damit eine therapeutisch Funktion zuschreibe: „Was die vielen Bücher angerichtet haben, soll das eine Buch beheben.“[21]

In dem emphatisch beginnenden Brief vom 21. Juni („Ich lebe so glückliche Tage wie sie Gott seinen Heiligen aufspart“[22] ) beschreibt Werther, wie er sich in Wahlheim im Wirtgarten seine Zuckererbsen selbst pflückt, sie zubereitet, zwischendurch in seinem Homer liest und dabei so lebhaft fühlt,

wie die übermüthigen Freyer der Penelope Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Es ist nichts, das mich so mit einer stillen wahren Empfindung ausfüllte, als die Züge patriarchialischen Lebens, die ich, Gott sey Dank ohne Affectation in meine Lebensart verwebe.[23]

Der Stellenkommentar von Wiethölter lautet dazu:

Die Bewerber um Penelopes Gunst veranstalten auf Ithaka große Festgelage […]; der Vergleich mit Werthers Zuckererbsen hat von daher eine ironische Note. Allerdings kommen auch die Freier nicht zum Besitz der Umworbenen, sondern erleiden ein schmähliches Ende.[24]

Auf dieses Ende weist auch Marx hin: Während der erste Rückgriff auf patriarchalische Lebensmuster, die Idee der Brautwerbung am Brunnen, durch das Gegenbild der Melusine konterkariert werde, sei dieser zweite Rückgriff in sich widersprüchlich – dem beschworenen Glücksgefühl bei der Zubereitung der Mahlzeit stehe der literarisch vorgezeichnete Untergang der sorglos Feiernden gegenüber.[25]

[...]


[1] Peter Pütz: „Werthers Leiden an der Literatur“. In: William J. Lillyman (Hg.): Goethes’s Narrative Fiction. The Irvine Goethe Symposium. Berlin und New York 1983. S. 55-68, hier: S. 63.

[2] Vgl. ebd., S. 55.

[3] Ebd., S. 55.

[4] Friedhelm Marx: Erlesene Helden. Don Sylvio, Werther, Wilhelm Meister und die Literatur. Heidelberg 1995.

[5] Hans Rudolf Vaget: „Die Leiden des jungen Werthers“. In: Paul Michael Lützeler/ James E. McLeod (Hg.): Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Stuttgart 1985, S. 37-72.

[6] Wolf Gerhard Schmidt: ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. (Bd. 2) Berlin 2003, S. 760-779.

[7] Vgl. Johann Wolfgang Goethe: „Werther“. In: Ders.: Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. Hg. v. Waltraud Wiethölter, in Zusammenarbeit mit Christoph Brecht. Frankfurt am Main 2006. S. 9-267, hier: S. 17.

[8] Goethe: Werther, S. 17.

[9] Die Formulierung „meinen Homer“ taucht in dem Roman an vier Stellen auf (S. 17, 27, 59 u. 143). Wenn Homer genannt wird, handelt es sich dabei um die Odyssee, nicht um die Ilias. Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Im Buch die Bücher oder Der Held als Leser. Frankfurt am Main 1980, S. 68.

[10] Vgl. Goethe: Werther, S. 21 u. 23. Genannt werden hier: Charles Batteux, Robert Wood, Roger de Piles, Johann Joachim Winkelmann, Johann Georg Sulzer und Christian Gottlieb Heyne.

[11] Goethe: Werther, S. 23.

[12] Marx: Erlesene Helden, S. 114.

[13] Vgl. Marx: Erlesene Helden, S. 112.

[14] Vgl. ebd., S. 112 u. 113.

[15] Vgl. ebd., S. 114.

[16] Goethe: Werther, S. 51 u. 53.

[17] Vgl. ebd., S. 117. Wiethölter im Stellenkommentar: „Gemeint ist Klopstocks Ode Die Frühlingsfeyer (1759).“ S. 964. Der Kommentar bzw. Stellenkommentar von Wiethölter befindet sich in Goethe: Werther, S. 909-972. Im Folgenden wird er immer mit Kommentar bzw. Stellenkommentar angegeben.

[18] Vgl. ebd., S. 117.

[19] Vgl. ebd., S. 117.

[20] Vgl. Wiethölter: Kommentar, S. 962.

[21] Marx: Erlesene Helden, S. 112.

[22] Goethe: Werther, S. 55.

[23] Ebd., S. 59.

[24] Wiethölter: Kommentar, S. 965.

[25] Vgl. Marx: Erlesene Helden, S. 125.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Werther, Literatur und Dilettantismus
Untertitel
Die eingenommene Seele und der tote Buchstabe
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Veranstaltung
Hauptseminar "Goethes Romane"
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
21
Katalognummer
V119038
ISBN (eBook)
9783640221950
ISBN (Buch)
9783640223732
Dateigröße
494 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Werther, Literatur, Dilettantismus, Hauptseminar, Goethes, Romane
Arbeit zitieren
Philipp vom Stein (Autor:in), 2008, Werther, Literatur und Dilettantismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119038

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