Die Tugenden als Wegweiser auf dem Weg zur Liebe. Hadewijchs Baumallegorie und ihre Bedeutung im Aufstiegsprozess der Seele zu Gott


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Die Tugenden als Wegweiser auf dem Weg zur Liebe

1. Einleitung

2. Die Tugenden als Wegweiser für die imitatio christi

3. Die Tugenden der Baumallegorie

4. Die Stufen des Aufstiegs bei Hadewijch
4.1 Die Tugenden als Stufentreppe zu Gott
4.2 Die Auserwähltheit Hadewijchs bestimmt ihren Weg
4.3 Theorie und Praxis im Tugendleben
4.4 Die Kraft des Vollkommenen Willens

5. Schlussfolgerungen und Gesamtbetrachtung

6. Literaturverzeichnis

Einleitung

Die niederländische Mystikerin Hadewijch berichtet im 12. Jahrhundert in ihrem „Buch der Visionen“[1] von persönlichen Erlebnissen außerhalb der natürlichen Welt. Oft sind es religiöse Feiertage, an denen sie sich durch göttliches Wirken in andere Sphären versetzt sieht: Sie begegnet Engeln, Heiligen, Christus und Gott. Hadewijch befindet sich meist in einer Mette oder hört eine Messe, manchmal geschieht es aber auch, während sie zu Bette liegt, dass sie, wie sie es meistens schlicht beschreibt, „in den Geist aufgenommen“[2] wird oder auch, wie ihre „Sinne durch das heftige, ungestüme Gebaren eines grauenerweckenden Geistes nach innen gezogen“[3] werden. Der Eintritt in ihre Visionen ist begleitet von dem innerlichen Verlangen, „mit Gott im Genießen eins zu sein“. Ihr Wunsch wird manchmal erfüllt. Gott nimmt sie aus dem Geist auf in das höchste Genießen, „einen wunderbaren Zustand, der dem Verstande verschlossen ist“[4], wie sie in der 5. Vision berichtet.

Die andere Welt, die Hadewijch im Geist betritt, ihre Begegnung mit Gott, beschreibt sie nicht als Traum, sondern als reales Ereignis. Dem heutigen Leser, der in der Regel nicht über derartige mystische Erfahrungen verfügt, fällt es schwer, diese Visionen als Ausdruck wirklichen Erlebens zu akzeptieren.

Borchert sieht allerdings im mystischen Erleben eine anthropologische Grunderfahrung, die potentiell jedem Menschen zugänglich ist. Er beschreibt Mystik als ein Phänomen, das in allen Kulturen und Religionen existiert und das trotz unterschiedlicher kulturabhängiger Äußerungsformen den gleichen Kern besitzt: „aus Erfahrung wissen, dass alles irgendwie zusammenhängt, dass alles im Ursprung eins ist.“[5] Für diese Erfahrung, die eine tiefere Wirklichkeit erkennen lässt, eine Einheit, in der alles mit allem zusammenhängt, wurden viele Namen geprägt: „das Absolute, das Sein, Alles-ist-eins / eins-ist-Alles, die Einheit von allem, der Erschaffende Grund, Brahman“[6]. Mystik ist auf das Übersinnliche, das Erfassen des Göttlichen, Transzendenten gerichtet. Der Begriff „Mystik“ ist abgeleitet vom griechischen „myô“, das „schließen“ bedeutet.[7] Damit ist der Bezug auf das Augenschließen hergestellt, eine Technik, mit der oft die Versenkung in die Innenwelt eingeleitet wird. Das Mystische ist also etwas, was wir in uns suchen und zu dem wir über die eigene Innenwelt einen Zugang bekommen können. Damit ist Mystik ein unmittelbares, individuelles Erlebnis.

In der mystischen Literatur wird von diesen persönlichen Erfahrungen berichtet. Die Texte haben deshalb immer einen Anspruch auf Authentizität, auch wenn sich die Autoren in ihren Berichten ähnlicher Bilderwelten und Darstellungsformen bedienen. Neben Hadewijch finden sich noch viele andere Mystiker und Mystikerinnen, die ihr Erleben in einen christlich-religiösen Kontext stellen. Borchert verweist in diesen Zusammenhang auf das Phänomen der Verliebtheit, das wie die Mystik „in allen Kulturen und Zeiten vorkommt“[8], sich jedoch generations- und kulturabhängig äußert. Die mittelalterliche Frauenmystik, zu der Hadewijchs Visionen zählen, ist eine generations-, kultur- und im gewisser Hinsicht auch geschlechtsspezifische Ausdrucksform mystischen Erlebens. Auch Dinzelbacher weist darauf hin, dass die Offenbarungsempfängerinnen des 12. und 13. Jahrhunderts „an ein und demselben kulturspezifischen Fundus an religiösen Themen- und Sprachbildern partizipierten“[9]. Der Nachweis eines Topos, (das Vorhandenseins eines literarischen Clichés)[10], kann nicht als ein Symptom für literarische Fiktionalität gewertet werden. Dinzelbacher führt hierzu als Beispiel die Berichterstattung über Verkehrunfälle an, die ob ihrer Häufigkeit und ähnlicher Darstellung deswegen nicht weniger wahr sind.[11]

Ein charakteristisches Merkmal, das die westeuropäischen Mystik im 12. und 13. Jahrhundert bestimmt, ist die zentrale Bedeutung der Liebe, der Liebe zu Gott. Man kommt „zu dem Bewusstsein, dass Gott Mensch geworden ist und dass Er Liebe ist.“[12] Bernhard von Clairvaux (1090-1153) stellt in seinen Interpretationen des Hohen Liedes aus dem Alten Testament die Liebe zu Gott als eine Liebe von Mensch zu Mensch dar. Gott, Jesu ist der Geliebte - der himmlische Bräutigam, und die Seele des Menschen ist die liebende Frau - die Braut. Bernhard gilt als der Begründer der Brautmystik.[13] Die Schule von St. Viktor in Paris beschäftigte sich mit dieser neuen Form der Mystik, von der auch Hadewijch maßgeblich beeinflusst wurde. Gedanken der nachchristlichen Mystiker Augustinus (354 – 430) und Dionysius Areopagita (vermutl. 5. Jh.) werden übernommen: Zum Beispiel die Vorstellung, dass die Seele des Menschen im Gegensatz zum Körper zu Gott aufsteigen kann. Richard von St. Viktor (gest. 1173) erforschte den mystischen Aufstiegsprozess zu Gott.[14] Er beschreibt ihn wie schon Augustinus als einen geistigen Stufenweg. Bei Hugo von St. Viktor (gest. 1141) ist der Aufstieg zu Gott ein Treppenweg des Lernens, also ein Bildungsweg wie bei Dionysius. Während für die ersten Stufen auf dem Weg zu Gott bei Hugo das Denken (cogitatio) und die Betrachtung (meditatio) maßgeblich sind (bei Richard ist es die Vernunft), so wird die letzte Stufe, die Gottesschau (contemplatio) nur erreicht, indem der Mensch seine Logik aufgibt und sich auf das Göttliche, unfassbare Eine einlässt[15]. Im christlichen Kontext ist die Vereinigung auf den dreieinigen Gott, Vater, Sohn und heiliger Geist gerichtet, welche an sich schon nicht durch Logik, sondern nur durch Glauben erfasst werden kann. Die Verschmelzung mit dem Einen ist der Höhepunkt, die unio mystica, eine unmittelbare Erfahrung des Göttlichen. Der menschliche Geist gerät außer sich, er entrückt, weil er sich in seiner Verfasstheit nicht mehr wahrnehmen kann. Sein und Denken fallen in dem dreieinigen Gott zusammen. Im Moment der unio werden die Grenzen zwischen der menschlichen Seele und Gott, zwischen Subjekt und Objekt, aufgehoben. Hadewijch stellt fest, dass dies ein Zustand ist „worüber irgendetwas auszusagen man niemals imstande sein wird“[16]. Offenbar scheint die unio aber ein beglückendes Erlebnis zu sein, denn Hadewijch beschreibt sie als „das höchste Genießen“[17].

Die Visionen erweisen sich zunächst als eine Wegbeschreibung, wie Hadewijch ihrem Verlangen, „mit Gott im Genießen eins zu sein“[18] näher kommt. Der Ausgangspunkt der ersten Vision ist der Wunsch nach einer Vereinigung mit Gott. Die Mystikerin betont, dass sie dafür allerdings „noch nicht genug Mühe“[19] auf sich genommen, „und auch nicht entsprechend dem Anspruch einer so hohen Würde gelebt “[20] hat. Zu diesem Zeitpunkt sei sie noch „zu sehr wie ein Kind“[21] und „zu wenig erwachsen“[22] gewesen. Es ist der Blick einer gereiften Frau zurück auf den Anfang ihres Weges. Hadewijch schrieb ihre Visionen also nicht unmittelbar nach ihrem Erleben auf, sondern rückblickend nach einem Abstand von mehreren Jahren. Die Mystikerin verwendet einen autobiografischen Stil, nicht streng chronologisch, aber in dem doch eine gewisse Abfolge, der Anfang, der Verlauf und das Ende eines Entwicklungsprozesses erkennbar sind.

Vermutlich hat Hadewijch die Visionen für einen bestimmten Leserkreis geschrieben. Es existieren nur sehr wenige biografische Zeugnisse über die Mystikerin. Als relativ gesichert gilt, dass sie eine gewisse Zeitspanne ihres Lebens im Umfeld der mulieres religiosae verbrachte[23], zu denen auch die Beginen zählten und denen sie wahrscheinlich zuzurechnen ist. Die Beginen befolgten die Regeln des religiösen Lebens wie Nonnen, gehörten aber keinem Orden an und waren durch kein Gelübde gebunden. Sie lebten unabhängig und sich selbstverwaltend auf sogenannten Beginenhöfen. Willaert ist überzeugt, dass Hadewijch ihre Visionen für diese ihr nahestehenden, gleichgesinnten Frauen aufgeschrieben hat. Neben einer didaktischen Funktion sieht er in ihnen vor allem den Versuch, Hoffnung zu geben. Im Kreis der mulieres religiosae wurde die Frage diskutiert, ob und wie es überhaupt möglich war, schon zu Lebzeiten die über alles herbeigesehnte göttliche Vereinigung zu vollziehen.[24]

Hadewijch benutzt, um ihr Verhältnis mit Gott zu beschreiben, die Bilder der Brautmystik: Sie nennt Gott Geliebten und sieht sich selbst als seine Braut an. Zu Beginn ihrer Beziehung überwiegt die Sehnsucht. Der Vermählung in der 12. Vision geht ein langer Aufstiegsprozess voraus, bei dem sie verschiedene Stadien der Liebe unterscheidet: Die Liebe tragen, die Liebe fühlen, die Liebe sein.[25] Hadewijch gelangt zu Gott über die Liebe, denn er ist in allen Dingen die Liebe. Dies wird sie begreifen, wenn sie seinen Geist empfängt, sagt er zu ihr in der 3. Vision. Das Wachstum der Liebe, über das man von einer Stufe zur nächsten gelangt, ist gekennzeichnet von einer zunehmenden Angleichung zwischen Gott und der menschlichen Seele. Bei Hadewijch steht am Ende dieses Prozesses die Vergöttlichung (deficatio). In der Schlussvision berichtet sie, dass Gott ihr eine neue Macht gegeben hat, die „Kraft seines eigenen Wesens“[26]. In der letzten Entwicklungsstufe wird sie selbst zur Liebe und damit zu Gott, was sehr selbstbewusst wirkt, innerhalb der mystischen Literatur dieser Zeit.

[...]


[1] Für die Hausarbeit wurde die deutsche Übersetzung von Gerald Hoffmann als Textgrundlage herangezogen. Auf die Wiedergabe der mittelniederländischen Originalzitate wurde verzichtet, da sich die Hausarbeit nicht mit sprachgeschichtlichen Fragestellungen befasst.

[2] vgl. Hadewijch: Das Buch der Visionen, 3. Vision, S. 71, Z. 2-3, 4. Vision,S. 73, Z. 6-7.

[3] 4. Vision, S. 73, Z. 3-5.

[4] 5. Vision, S. 83, Z. 63-64.

[5] Borchert: Mystik, S. 11.

[6] Borchert: Mystik, S. 35.

[7] Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 3281.

[8] Borchert: Mystik, S. 11.

[9] Dinzelbacher: Mittelalterliche Frauenmystik, S. 314.

[10] im Sinne von E.R. Curtius

[11] vgl. Dinzelbacher: Mittelalterliche Frauenmystik, S. 313.

[12] Borchert: Mystik, S. 210.

[13] vgl. Störmer-Caysa: Entrückte Welten, S. 13.

[14] vgl. Borchert: Mystik, S. 212.

[15] vgl. Störmer-Caysa: Entrückte Welten, S. 76.

[16] 13. Vision, S. 151, Z. 257-258.

[17] 5. Vision, S. 83, Z. 62-63.

[18] 1. Vision, S. 45, Z. 4-5.

[19] 1. Vision, S. 45, Z. 8.

[20] 1. Vision, S. 45, Z. 9-10.

[21] 1. Vision, S. 45, Z. 7.

[22] 1. Vision, S. 45, Z. 7-8.

[23] vgl. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band XVIII (2001), Spalten 549-563.

[24] Willaert: Hadewijch und ihr Kreis in den „Visionen“ [1], S. 379ff.

[25] vgl. 1. Vision, S. 57, Z. 225-234.

[26] 14. Vision, S. 153, Z. 13.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Die Tugenden als Wegweiser auf dem Weg zur Liebe. Hadewijchs Baumallegorie und ihre Bedeutung im Aufstiegsprozess der Seele zu Gott
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Germanistische Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Haupseminar Frauenmystik
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
22
Katalognummer
V11881
ISBN (eBook)
9783638179263
Dateigröße
587 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Zu: Hadewijch - Das Buch der Visionen. 237 KB
Schlagworte
Frauenmystik, Aufstiegsprozesse, Tugenden
Arbeit zitieren
Antje Hellmann (Autor:in), 2003, Die Tugenden als Wegweiser auf dem Weg zur Liebe. Hadewijchs Baumallegorie und ihre Bedeutung im Aufstiegsprozess der Seele zu Gott, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11881

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