Recht fertigen und rechtfertigen

John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit auf der internationalen Ebene eines Rechts der Völker


Seminararbeit, 2007

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Theorie der Gerechtigkeit
2.1 Das Individuum und der Konflikt um Grundgüter
2.2 Gesellschaftsvertrag und Urzustand
2.3 Die Gerechtigkeitsprinzipien
2.4 Zwischenergebnis und Kritik

3 Das Recht der Völker
3.1 Forderungen an ein internationales Recht der Völker
3.2 Der Urzustand auf internationaler Ebene
3.3 Die Einbeziehung der Völker
3.4 Ideale und nichtideale Theorie
3.4.1 Die ideale Theorie
3.4.1.1 Die liberalen Völker
3.4.1.2 Die nichtliberalen, aber angemessenen Völker
3.4.2 Die nichtideale Theorie
3.4.2.1 Die außerrechtlichen Staaten
3.4.2.2 Die belasteten Gesellschaften
3.4.3 Die wohlwollend absolutistischen Gesellschaften

4 Fazit und Kritik

1 Einleitung

Mit der Veröffentlichung von „A Theory Of Justice“1 stieß John Rawls 1971 eine Debatte in den Geistesund Sozialwissenschaften an, die nicht nur bis heute nachhallt, sondern anhält. Viele namhafte Autoren, unter ihnen Jürgen Habermas und H. L. A. Hart, setzten sich kritisch mit Rawls Arbeit auseinander und trugen somit zu deren ständiger Fortentwicklung - auch durch ihren Urheber - bei. Auch nach dem Tod des Autors wird dessen Theorie weiterhin rezipiert und neu interpretiert.

Während sich die theory of justice zunächst primär mit der Frage der Bedingungen für die (Be-)Gründung einer gerechten und stabilen Gesellschaft auf einer nationalstaatlichen Ebene beschäftigte, so übertrug Rawls diese Theorie später explizit – wenn auch modifiziert – auf die internationalen Beziehungen und entwickelte daraus sein eigenes Konzept eines „Rechts der Völker“.

Damit hat Rawls auch in gegenwärtigen politischen Debatten eine Heimat. Insbesondere vor dem Hintergrund internationaler militärischer Konflikte und des Problems deren völkerund menschenrechtlicher Legitimierung stellt sich die Frage nach dem „Wie“ einer gerechten und stabilen internationalen Ordnung global von Afrika über das ehemalige Jugoslawien, den Nahen Osten bis Afghanistan und darüber hinaus.

Ziel dieser Arbeit ist die Herausarbeitung und kritische Betrachtung des spezifischen Charakters einer solchen Gerechtigkeitskonstruktion, sowie der sich daraus ergebenden Konsequenzen für Qualität und Funktion eines Völkerrechts „à la Rawls“: Welches Verständnis von Staaten, Völkern und ihren Beziehungen zeichnet er? Was für ein Weltbild möchte Rawls vermitteln? Lassen sich Handlungsempfehlung an die politischen Entscheidungsträger herausdestillieren?

Hierzu werde ich zunächst Rawls Gerechtigkeitstheorie darstellen und zusammenfassen, um die basalen Bedingungen und Annahmen seiner Argumentation herauszustellen. Zwar hat der Autor seit Ersterscheinen der „Theorie der Gerechtigkeit“ sein Werk immer wieder revidiert und fortentwickelt; dennoch zieht sich eine theoretische Grundstruktur wie ein roter Faden durch Rawls Argumentation, die es aufzuzeigen gilt.

Im nächsten Schritt beschäftige ich mich mit der Anwendung der Theorie auf die internationalen Beziehungen, wie sie Rawls in „A Theory of Justice“ bereits angedeutet und später in „Law of the Peoples“2 formuliert hat. Die Folgen der hier eingeführten Modifikationen der ursprünglichen Theorie sind entscheidend für die sich daraus ableitende Qualität des Rawlsschen Verständnisses eines internationalen Rechts der Völker und bedürfen daher näherer Betrachtung.

Das für diese Arbeit zur Verfügung stehende Quellenangebot ist als höchst umfangreich zu bezeichnen und spiegelt die intensiven wissenschaftlichen Debatten, auch über den Tod Rawls hinaus, wider. Viele Autoren greifen seine Ideen auf, entwickeln sie weiter oder erheben Einwände. Aus Gründen der Handhabbarkeit des Stoffes habe ich daher versucht, mich auf wenige Autoren zu beschränken, die möglichst nahe und direkt mit Rawls' Schriften arbeiten, sowie dessen Arbeiten selbst.

2 Die Theorie der Gerechtigkeit

Die „Theorie der Gerechtigkeit“ beschäftigt sich mit den Grundstrukturen einer gesellschaftlichen Ordnung, also den basalen Regeln und Rahmenbedingungen auf denen ein komplexes System sozialer und politischer Institutionen errichtet werden kann. Unter „Gesellschaft“ versteht Rawls ein kooperatives System von Akteuren zum wechselseitigen Vorteil.3

Dabei wendet er sich explizit gegen den sogenannten Utilitarismus, der als gesellschaftliches Ziel ein Maximum an „Glück“ der gesamten Gemeinschaft formuliert und die Gerechtigkeit einer Handlung von ihrer Nützlichkeit hinsichtlich der Erreichung dieses Ziels abhängig macht. Das Kollektiv steht im Mittelpunkt, das Individuum ist ihm untergeordnet. Daher dürfen die Rechte und Freiheiten des Einzelnen im Utilitarismus zum Wohle aller beschnitten oder geopfert werden.4

2.1 Das Individuum und der Konflikt um Grundgüter

Rawls dreht den Spieß um, indem er die Verwirklichung der individuellen Lebensentwürfe der Gesellschaftsmitglieder als oberste Maxime anlegt. Die soziale Ordnung und ihre Institutionen müssen auf dieses Ziel hin ausgerichtet werden.5 Diese Betonung des Individuums macht den liberalen Charakter seiner Theorie aus.

Für die Konstruktion einer dergestalten Gesellschaft geht Rawls nicht von einem anarchistischen, bzw. kriegerischem Naturzustand aus, wie es bspw. Hobbes getan hat, sondern nimmt die Existenz einer Art Urgesellschaft an, deren Bürger individuelle Lebensentwürfe verfolgen.6 Zur Umsetzung ihrer persönlichen Ziele bedürfen die Akteure verschiedener Ressourcen, wie Freiheit, (ein Minimum an) Wohlstand oder Einfluss, die außerhalb ihrer eigenen Person liegen. Rawls bezeichnet diese Ressourcen als „gesellschaftliche Grundgüter“.7

Nach Rawls' ist der Mensch ein rationales Wesen, das stets die Maximierung seines persönlichen Nutzens verfolgt und dabei rein auf Basis vernünftiger Erwägungen entscheidet. Entsprechend ist es im Interesse eines jeden Einzelnen, die höchstmögliche Menge an Grundgü­ tern für sich zu sichern.8

Deren Vorkommen innerhalb der Gesellschaft ist allerdings begrenzt. Folglich kommt es zu Konflikten, woraus sich die Frage nach einem Verfahren zu einer gerechten Verteilung dieser Güter ergibt, das diesen Konkurrenzkampf ausräumt und allen Bürgern jederzeit einen chancengleichen „Start ins Leben“ ermöglicht. Die theory of justice befasst sich also mit Aspekten der Verteilungsgerechtigkeit und der Schaffung einer sozialen Grundstruktur, die dies gewährleistet.9 Hier tritt auch das Hauptmerkmal Rawls' Theorie: Das Verständnis und die Konstruktion von Gerechtigkeit als Fairness.10

2.2 Gesellschaftsvertrag und Urzustand

Die dafür notwendigen Maßstäbe und Normen werden den Akteuren nicht aus gesellschaftsexternen Quellen vorgegeben, sondern müssen von diesen selbst in einem Diskussionsund Einigungsprozess erarbeitet und beschlossen werden. Rawls greift damit die Idee eines „Gesellschaftsvertrags“ auf, wie man sie schon bei Hobbes oder Rousseau findet: Eine Ordnung wird dadurch legitimiert, dass sie von den Betroffenen gleichberechtigt gestaltet und getragen wird. Dieser Vertragsschluss ist dabei natürlich als fiktiver zu verstehen und beschreibt keinen wirklichen Kontrakt.11

Zu diesem Zweck wählen die Gesellschaftsmitglieder eine Gruppe Repräsentanten aus ihrer Mitte (die Theorie lässt auch einen einzelnen Vertreter zu), die sie mit der Einigung auf entsprechende Gerechtigkeitsprinzipien beauftragen. Zugelassen zur „Wahl“ sind allerdings nur Bürger mit gewissen persönlichen Eigenschaften, die sie als „kompetente Moralbeurteiler“ qualifizieren und somit für die restlichen Bürger als Repräsentanten akzeptabel sind.12

Für die eigentliche Verfassungswahl versetzt Rawls sie in einen hypothetischen Ur-, bzw. Ausgangszustand („original position“), der die Rahmenbedingungen dieser Wahl definiert. Dieses Vorgehensweise erscheint zunächst problematisch: Da die Repräsentanten aufgrund ihrer oben erwähnten Beschaffenheit als egoistische, sachlich-rationale Nutzenmaximierer keinen Sinn für Konzeptionen wie die eines kollektiven Nutzens oder überhaupt von Moral haben, ist nicht anzunehmen, dass sie in diesem Zustand jemals zu einer Einigung gelangen werden. Statt Gerechtigkeit für alle würden sie nur versuchen sich und bestenfalls ihre Freunde, Verwandte etc. möglichst gut zu stellen.13

An dieser Stelle greift Rawls zu einem theoretischen Kniff, indem er ein weiteres Element in den Urzustand einführt, das das gerade dargestellte Defizit der rationalen Verfassungswähler im Sinne der Theorie ausnutzt: den „Schleier des Nichtwissens“ („veil of ignorance”).14

Rawls senkt den Schleier des Nichtwissens von Anbeginn über die Repräsentanten und sorgt dafür, dass sich deren Blickfeld drastisch einengt und ihnen wichtige Informationen über sich selbst und die anderen Mitglieder der (zukünftigen) Gesellschaft nicht mehr zugänglich sind. Weder haben die Parteien Kenntnis über die konkrete Ausgestaltung der Gesellschaft, deren Prinzipien sie beschließen sollen, noch über ihre eigene Stellung oder die der anderen in eben dieser. Jegliche Form von Partikularinteressen sind ihrem Zugriff entzogen.15

Den Akteuren bleiben ihre persönliche Eigenschaften erhalten, aber die Situation, unter deren Bedingungen sie zu einer Einigung gelangen sollen, hat sich durch den Schleier nun entscheidend verändert:

Die Parteien können keine Prognosen über die positiven oder negativen Konsequenzen einer Entscheidung für sie persönlich, bzw. die Gruppe, die sie vertreten, treffen; sie sind ihrer „partikularen Deutungsperspektiven“ beraubt. Daher sind sie sozusagen genötigt, alle denkbaren Gesellschaftsszenarien zu berücksichtigen und Normen zu formulieren, die ihnen in jeder dieser Varianten einen Maximalnutzen bescheren würde und darüber hinaus von allen anderen Teilnehmern jetzt und in Zukunft akzeptiert werden können.16

Weiterhin knüpft Rawls einige Vorbedingungen an die zu entwickelnden Prinzipien: Sie müssen allgemein und uneingeschränkt anwendbar sein (Generalität und Universalität), der Öffentlichkeit zugänglich, in einer hierarchischen Ordnung stehen und das Kriterium der Letztinstanzlichkeit erfüllen.17

2.3 Die Gerechtigkeitsprinzipien

Durch diese Vorbedingungen und die Konstruktion des Urzustands lenkt Rawls die Verfassungswahl von vornherein in eine bestimmte Richtung. Die Rawlssche These ist nun, dass sich die Parteien unter Achtung dieser Kriterien zwangsläufig immer und zu jeder Zeit auf die folgenden Gerechtigkeitsprinzipien einigen würden:18

„Erster Grundsatz: Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.

Zweiter Grundsatz: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:

(a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und

(b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.“19

Der erste Grundsatz beschäftigt sich also mit den Rechten des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft, der zweite wird als „Differenzprinzip“ bezeichnet. Diese Prinzipien stehen bei Rawls in „lexikalischer Ordnung“, d. h. in fester, unabänderlicher Reihenfolge.20

Diesen Umstand betont er durch die Formulierung zweier Vorrangregeln: Den Vorrang der Freiheit und den Vorrang der Gerechtigkeit vor Leistungsfähigkeit und Lebensstandard. So darf der erste Grundsatz nie um des zweiten Willen angetastet werden. Die Freiheit hat absolute und oberste Priorität.21

Die so gewonnen Prinzipien zeichnen ein recht genaues Bild der Gesellschaft, die Rawls im Sinn hat und das Ergebnis der Anwendung der Theorie darstellen: ein demokratischer Verfassungsstaat, der die Rechte des Individuums garantiert und dessen Gerechtigkeitsmaxime die Chancengleichheit seiner Bürger ist.

2.4 Zwischenergebnis und Kritik

Rawls' Gerechtigkeitstheorie ist eine liberale: Sie favorisiert das Individuum gegenüber dem Kollektiv und grenzt sich somit vom Utilitarismus ab. Alle haben die gleichen Rechte und Pflichten. Die Freiheit gilt als höchstes, absolutes Gut. Das Streben des Einzelnen nach Selbstverwirklichung bildet den Ausgangspunkt für die Suche nach allgemeinen Regeln für das Leben in Gemeinschaft.

Entsprechend konstruiert wirkt auch die „Theorie der Gerechtigkeit“: Ausgehend von einem gewünschten Ergebnis, das Rawls als gerecht bezeichnet, beginnt er mit der Bestimmung von Annahmen und Vorbedingungen, die sich letztlich dermaßen aufsummieren, dass das Ergebnis bereits zu Beginn der Verfassungswahl feststeht und von den Repräsentanten praktisch nur noch erkannt werden muss.

[...]


1 Vgl. Rawls, John: A Theory of Justice, Oxford 1973.

2 Vgl. Rawls, John: The Law of Peoples; in: Critical Inquiry, Vol. 20, No. 1, 1993, S. 36-68 (im folgenden zitiert als Rawls: LoP 93).

3 Vgl. Höffe, Otfried: Einführung in Rawls' Theorie der Gerechtigkeit; in: Höffe, Otfried: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 2. Auflage, Berlin 2006 (im folgenden zitiert als Höffe: Einführung).

4 Vgl. Ebd., S. 14.

5 Vgl. Ebd., S. 16.

6 Vgl. Kersting, Wolfgang: John Rawls zur Einführung, Hamburg 2001, S. 33 (im folgenden zitiert als Kersting: Rawls).

7 Vgl. Koller, Peter: Die Grundsätze der Gerechtigkeit; in: Höffe, Otfried: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 2. Auflage, Berlin 2006, S. 45.

8 Vgl. Kersting: Rawls, S. 36.

9 Vgl. Ebd., S. 107.

10 Vgl. Höffe: Einführung, S. 5.

11 Vgl. Höffe: Einführung, S. 18; Kersting: Rawls, S. 40f.

12 Vgl. Kersting: Rawls, S. 118.

13 Vgl. Maus, Ingeborg: Der Urzustand; in: Höffe, Otfried: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 2. Auflage, Berlin 2006, S. 74.

14 Vgl. Ebd., S. 76f.

15 Vgl. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1. Auflage, Frankfurt am Main 1975, S. 29/S. 160 (im folgenden zitiert als Rawls: TdG); Kersting: Rawls, S. 43.

16 Vgl. Kersting: Rawls, S. 44.

17 Vgl. Ebd., S. 137.

18 Vgl. Rawls: TdG, S. 336f.

19 Ebd.

20 Vgl. Ebd.

21 Vgl. Höffe: Einführung, S. 12.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Recht fertigen und rechtfertigen
Untertitel
John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit auf der internationalen Ebene eines Rechts der Völker
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen  (Institut für Politische Wissenschaft)
Veranstaltung
Recht und Gerechtigkeit in postnationalen Konstellationen
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
19
Katalognummer
V118673
ISBN (eBook)
9783640220762
ISBN (Buch)
9783640222971
Dateigröße
582 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Recht, Gerechtigkeit, Konstellationen
Arbeit zitieren
Hendrik Neumann (Autor:in), 2007, Recht fertigen und rechtfertigen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118673

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